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Sabine Horn
Erinnerungsbilder
Auschwitz-Prozess und Majdanek-Prozess
im westdeutschen Fernsehen
Sabine Horn
Erinnerungsbilder
© Klartext Verlag 2010
Das Titelbild zeigt die Fotografie eines Fernsehgerätes der Firma Braun.
Sie wurde vom Rundfunkmuseum Fürth zur Verfügung gestellt.
Dissertation, 2007 eingereicht an der Universität Bremen
Die Drucklegung wurde von der Konferenz für Geschichtsdidaktik gefördert.
1. Auflage Dezember 2009
Satz und Gestaltung: Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen
Umschlaggestaltung: Volker Pecher, Essen
Druck und Bindung: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
© Klartext Verlag, Essen 2009
ISBN 978-3-8375-0077-6
Alle Rechte vorbehalten
www.klartext-verlag.de
Sabine Horn
Erinnerungsbilder
© Klartext Verlag 2010
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Inhalt
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Begriffe und Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erinnerungskultur und Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Rolle des Fernsehens innerhalb der Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . .
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Geschichte im Fernsehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Medium Fernsehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Geschichte im Fernsehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Nationalsozialismus und Holocaust im Fernsehen –
Eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die historischen Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Auschwitz-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Majdanek-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Recherchewege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rechercheergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abdeckung und Verlauf im Nachrichtenformat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Methodischer Zugriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Protokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quantitative Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Definition der Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Grafiken Auschwitz-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Grafiken Majdanek-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Qualitative Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Verfolgten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine
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Eberhard Fechner – Der Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Geschlechterbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Journalisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erinnerungskultur und Regeln des Sagbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Close Reading . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Statistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sprecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dank
Das Zustandekommen dieser Arbeit habe ich vielen Kolleginnen und Kollegen,
Freundinnen und Freunden zu verdanken.
Mein besonderer Dank gilt Inge Marszolek, die mich nicht nur unterstützend
durch die Höhen und Tiefen der Dissertation, sondern auch bei den ersten Schritten der wissenschaftlichen Sozialisation begleitet hat. Ebenfalls danken möchte ich
Michael Sauer und Manfred Hahn, die die Arbeit in wichtigen Abschnitten des Prozesses betreut und begleitet haben. Ihr Rat und ihre Unterstützung waren mir eine
wertvolle Begleitung. Ohne die Unterstützung von Hanno Loewy wäre das Projekt
beinahe aufgrund der Schwierigkeiten beim Zugang zu den Archiven gescheitert. Ihm
gilt mein Dank für die spontane Fürsprache und den unkonventionellen Einsatz. Seinem Bruder Ronny danke ich für die zahlreichen filmhistorischen Hinweise.
Das Bremer Kolloquium von Inge Marszolek hat mir in seiner konstruktiven Streitlust viele wertvolle Hinweise gegeben. Hier gilt der Dank allen Beteiligten für eine
kritische, dabei aber stets atmosphärisch angenehme Auseinandersetzung. Besonders
lange und intensiv begleitet haben mich in diesem Rahmen Esther Almstadt, Hanno
Balz, Silke Betscher, Marc Buggeln, Stefan Mörchen, Mieke Roscher. Ihnen möchte
ich auch für viele Gespräche außerhalb dieses Rahmens danken.
Viele Kolleginnen und Kollegen haben meine Arbeit durch anregende Gespräche
bereichert. Danken möchte ich an dieser Stelle besonders Judith Keilbach, Martina
Thiele und Ulrike Weckel für den sympathischen Austausch unserer verwandten Themen. Ebenfalls erhielt ich interessante Hinweise von Annette Weinke, Devin Pendas,
Werner Renz, Wulf Kansteiner, Bodo von Borries, Cornelia Brink und David Bankier. Mein Dank gilt der Unterstützung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Archive der Anstalten der ARD und des ZDF, des Fritz-Bauer-Instituts und des International Institute for Holocaust Research Yad Vashem ebenso Angela Genger von der
Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Heiner Lichtenstein und Ingrid Müller-Münch.
Hilfreiche Korrekturhinweise erhielt ich von Esther Almstadt, Frank Beck und Karolin Oppermann.
Dank schulde ich auch der Heinrich-Böll-Stiftung, die die Arbeit durch ein Promotionsstipendium gefördert hat.
Ohne Bert wäre ich im Bereich IT verloren gewesen – und nicht nur dort. Ich
danke meinen Eltern für das Verständnis und die Geduld.
Sabine Horn
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Einleitung
Der Auschwitz-Prozess (1963–1965 in Frankfurt am Main) war das erste groß angelegte westdeutsche Verfahren, das sich mit Verbrechen auseinander setzte, die in den
Konzentrations- und Vernichtungslagern begangen wurden. 20 ehemalige Angehörige der Wachmannschaften des Lagers Auschwitz saßen auf der Anklagebank. Mehr
als 300 Überlebende kamen aus aller Welt nach Frankfurt, um im Prozess ihre Aussage zu machen. Der Prozess gilt als Meilenstein in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der Bundesrepublik und nimmt in der zeithistorischen
Forschung zur Bundesrepublik einen prominenten Platz ein. Das Verfahren setzte
eine ganze Reihe von weiteren NS-Prozessen in Gang.1
Der Majdanek-Prozess (1975–1981 in Düsseldorf) war das letzte der großen westdeutschen Komplexverfahren,2 die die nationalsozialistischen Verbrechen in den
Vernichtungslagern zum Gegenstand hatten. Auf der Anklagebank saßen neben neun
Männern – und das unterscheidet diesen Prozess von vielen anderen NS-Verfahren –
auch sechs Frauen, die den Wachmannschaften des Lagers Majdanek angehörten.
Der Majdanek-Prozess ist, obwohl er der umfangreichste und möglicherweise auch
skandalumwittertste von allen NS-Prozessen in der Bundesrepublik war, von der Forschung bislang kaum beachtet worden.3
In der vorliegenden Arbeit analysiere ich anhand eines diachronen Vergleichs
der westdeutschen Fernsehberichterstattungen über beide Prozesse, wie sich der
mediale Umgang mit den NS-Verbrechen im Fernsehen veränderte.4 Dabei geht die
1
2
3
4
Einen guten Überblick über die Anzahl der westdeutschen NS-Prozesse einschließlich des
letzten Verfahrens, dem Majdanek-Prozess, bietet Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von
NS-Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation, Heidelberg/Karlsruhe 1979.
Der Begriff „Komplexverfahren“ bezeichnet solche NS-Prozesse, in denen nicht nur eine einzelne Person, sondern mehrere Angehörige der Lagermannschaften eines Konzentrationslagers angeklagt wurden. In diesen Komplexverfahren bildete zugleich die Aufarbeitung des
gesamten Lagerkomplexes einen bedeutsamen Ausgangspunkt für das Gericht, um sich ein
Bild von den Befehls- und Organisationsstrukturen machen zu können. In den Komplexverfahren spielten Gutachten von Historikern, die das System des Lagerkomplexes analysierten,
eine wichtige Rolle.
Dies liegt allerdings auch in der Sperrfrist der Prozessakten begründet, die erst kürzlich ausgelaufen ist.
Folgende Beiträge sind bislang veröffentlicht: Sabine Horn, „… jetzt aber zu einem Thema,
das uns in dieser Woche alle beschäftigt.“ Die westdeutsche Fernsehberichterstattung über
den Frankfurter Auschwitz-Prozeß (1963–1965) und den Düsseldorfer Majdanek-Prozeß
Sabine
Horn
(1975–1981) – ein Vergleich, in: 1999 –
Zeitschrift
für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhun-
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10
Einleitung
Untersuchung folgenden Fragen nach: Welche Konzeptionen der Verfahren und der
Geschichte der Vernichtung sind erkennbar und welche Inszenierungsstrategien verbanden die Beiträge jeweils mit den Prozessen? Wie gestalteten sich die medialen
Repräsentationen von Recht und Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang? Welche
Bilder wurden über die juristischen Aushandlungsprozesse hergestellt? Welche Bilder
der Täter und der Verfolgten hatten Bestand und welche veränderten sich? Welches
Bild der bundesrepublikanischen Gesellschaft wurde gezeichnet? Welche Bezüge zu
aktuellen gesellschaftlich verhandelten Themen stellten die Journalisten her? Welche
Bilder über die Geschichte des Holocaust wurden gezeichnet? Es handelt sich bei den
Beiträgen zwar einerseits um aktuelle Prozessberichterstattungen andererseits aber
auch um Geschichtsfernsehen. Und schließlich: Welche (pädagogische) Sinngebung
wurde den Prozessen jeweils beigemessen?
Nur sehr zögerlich scheint sich eine Forschungsrichtung durchzusetzen, die neben
der Kontextualisierung der NS-Verfahren innerhalb eines politikgeschichtlichen Rahmens diese nunmehr auch im Hinblick auf ihre vielfältigen gesellschaftlichen, kulturellen und vor allem medialen Bezüge betrachtet. Die Berichterstattung in den Medien
spielte bei der öffentlichen Rezeption der Verfahren jedoch eine bedeutende Rolle.
Die Mehrheit der Gesellschaft konnte die NS-Verfahren nur anhand der medialen
Aufbereitung wahrnehmen. Das Fernsehen avancierte in dieser Zeit in Westdeutschland zum Informationsleitmedium und lief dem Radio und den Zeitungen im agenda
setting der ausgestrahlten Themen allmählich den Rang ab.5 Die auffällige inhaltliche
und methodische Blickverengung der Zeitgeschichte auf das klassische Feld der Politikgeschichte – insbesondere im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust – wurde bereits von Annette Weinke kritisiert.6 Das Wechselverhältnis von juristischer Aufarbeitung, Historie und Erinnerungskultur ist bisher
5
6
derts 17 (2002) 2, S. 13–43; Dies., „… ich fühlte mich damals als Soldat und nicht als Nazi.“ Der
Majdanek-Prozess im Fernsehen – aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive betrachtet, in:
Ulrike Weckel/Edgar Wolfrum (Hg.), „Bestien“ und „Befehlsempfänger“. Frauen und Männer
in NS-Prozessen nach 1945, Göttingen 2003, S. 222–249; Dies., Für die Erziehung der Jugend!
NS-Prozesse und mediale Geschichtsvermittlung, in: Christian Hißnauer/Andreas Jahn-Sudmann (Hg.), Medien – Zeit – Zeichen, Marburg 2006, S. 27–36.
Vgl. dazu Peter Ludes, Vom neuen Stichwortgeber zum überforderten Welterklärer und Synchron-Regisseur: Nachrichtensendungen, in: Peter Ludes/Heidemarie Schumacher/Peter
Zimmermann (Hg.), Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3:
Informations- und Dokumentarsendungen, München 1994, S. 17–100, hier S. 26; vgl. Helmut
Kreuzer/Christian W. Thomsen (Hg.), Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik
Deutschland, München 1994, S. 74.
Annette Weinke, Rezension zu: Lawrence Douglas, The Memory of Judgement. Making Law
and History in the Trials of the Holocaust, London 2000, in: H-Soz-u-Kult, 16.8.2002, http://
Sabine Horn
hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/NS-2002–019.
(Letzter Zugriff 13.11.2008.)
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Einleitung
kaum erforscht, wird aber stets als bedeutsam konstatiert, so bemühen Autorinnen
und Autoren in den zahlreichen bisherigen Arbeiten über den Auschwitz-Prozess
stets den Topos der immensen gesellschaftlichen Bedeutung des Verfahrens, wobei
oft von einer Zäsur im Umgang mit der NS-Vergangenheit gesprochen wird.7 Doch
darüber, wie sich die Wechselverhältnisse gestalteten, ist bislang wenig bekannt.
Meine Arbeit versteht sich als ein empirischer Beitrag zum Nachdenken darüber,
ob und wie der juridische Diskurs über die NS-Verbrechen das kollektive Gedächtnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft geprägt hat, und wie sich wiederum die
gesellschaftlichen Rezeptionen der Verfahren über die Jahre veränderten. Das Fernsehen eignet sich dabei hervorragend als Untersuchungsgegenstand, versteht es sich
doch als „das gesellschaftliche Uhrwerk“8. Die TV-Beiträge sind dabei als soziale
Akte zu verstehen, sie sind Produkte und Teile des Diskurses zugleich; ähnlich wie
Fotografien, zu deren Funktion innerhalb der Erinnerungskultur Cornelia Brink feststellt: „Fotografien sind mit anderen Worten ein soziales Faktum. Der fotografische
Diskurs – Authentizität und Vieldeutigkeit des Bildes – knüpft dabei, wie jeder Diskurs, an andere an: an den der Moral, der Religion, des Rechts, der Politik oder der
Medien.“9
Zunächst gehe ich der theoretischen Frage nach, welchen Stellenwert das Fernsehen im Bereich der Erinnerungskultur einnehmen konnte. Die NS-Prozesse selber
werden im Anschluss skizziert. Die Recherchewege und die Probleme der Materialbeschaffung, die einen nicht unbedeutenden Einfluss auf den Bereich des Fernsehens
als Quelle für geschichtswissenschaftliche Forschung haben, finden ebenfalls Erwähnung. Als Quellenbasis der Arbeit dienten mir sämtliche Fernsehformate: TV-Dokumentationen, Features, politische Magazinsendungen und Nachrichtenbeiträge. Zur
Zeit beider Prozesse waren in Westdeutschland noch keine privaten Anstalten auf
Sendung. Lediglich die ARD und das ZDF strahlten ihr Programm aus. Das ZDF ging
gerade im Jahr 1963, dem Jahr der Eröffnung des Auschwitz-Prozesses, als zweite Fernseh-Rundfunkanstalt auf Sendung. Beide Anstalten verfügten gemeinsam aufgrund
der Monopolstellung also über eine relativ große Diskursmacht – und somit Macht
7
8
9
So beispielsweise in mehreren wissenschaftlichen Beiträgen des umfangreichen Kataloges
zur Ausstellung über den Auschwitz-Prozess im Jahr 2004 in Frankfurt a. M. (Irmtrud Wojak
(Hg.), Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main. Ausstellungskatalog. Herausgegeben
im Auftrag des Fritz-Bauer-Instituts, Köln 2004.) Siehe auch Norbert Frei, 1945 und Wir. Das
Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, S. 34 ff.
Vgl. Michèle Lagny, Historischer Film und Geschichtsdarstellungen im Fernsehen, in: Eva
Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm,
Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, S. 115–128, hier S. 115.
Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung: Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalSabine
sozialistischen Konzentrationslagern
nach 1945,Horn
Berlin 1998, S. 96.
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Einleitung
über die öffentliche Auseinandersetzung mit den NS-Prozessen und den mit ihnen
verbundenen Sinngebungspraktiken.
Im Hinblick auf die mediale Repräsentation der NS-Zeit in den vergangenen Jahrzehnten liegen bislang vornehmlich Studien im Bereich der Zeitungsanalyse oder
einzelner prominenter Spiel- und Dokumentarfilme vor.10 Dass kaum Studien zum
Fernsehen als Medium der Geschichtsvermittlung für diesen Zeitraum existieren,
liegt einerseits an dem erschwerten Zugang zu den Fernseh-Archiven in Deutschland
und den damit verbundenen rechtlichen Problemen. Andererseits sind für diese Desiderata Gründe in der methodischen Unsicherheit der Film- und Fernsehanalyse im
geschichtswissenschaftlichen Bereich zu finden. Ideologiekritische Ansätze der Filmanalyse waren bis in die 1990er Jahre in einer sich als kritisch verstehenden Filmwissenschaft verbreitet. Diesen Ansätzen sind analytische Verfahren inhärent, die ideologische und somit manipulative Verfahren offen legen. Ihnen liegen – ob implizit oder
explizit – spezifische Authentizitätsvorstellungen zugrunde. Sie verweisen dokumentarische Filme und entsprechende Fernsehformate in ein Abbildverhältnis zur Realität.11 Daneben steht der Zugang über Film-Text-Analysen, die ihr Augenmerk auf
das filmisch-erzählerische Handwerk, inklusive der Kunstgriffe und Ellipsen, richten.
Hier besteht das theoretische Fundament in der Auffassung, dass Filme ästhetische
Zeichen sind. Meist handelt es sich um werkimmanente Arbeiten bestimmter Regisseure, denen eine zeithistorische Kontextualisierung fern liegt.
Will die Filmanalyse mehr sein als das arbiträre Aufstöbern der Fülle auditiver und
visueller Partikel, aus denen sich ein Film zusammensetzt, muss sie ein klares Ziel der
Analyse formulieren, eine bestimmte Frage an den Film richten. Filmanalyse sollte
aus geschichtswissenschaftlicher Sicht also nicht bedeuten, erst einen Film werkimmanent in all seinen Details zu beschreiben, bevor ein analytisches Urteil abgegeben
wird, sondern sollte – wie es bei auf schriftlichen Dokumenten basierenden Arbeiten
selbstverständlich ist – auf ein vorformuliertes Erkenntnisinteresse rekurrieren, vor
dessen Hintergrund ein Film gezielt untersucht werden sollte.12 Aus diesem Grund
spielten sowohl die gezielten Fragestellungen als auch der breite methodische Zugriff,
10 Zur printmedialen Berichterstattung über die NS-Prozesse liegt lediglich die Veröffentlichung
von Jürgen Wilke vor. Jürgen Wilke u. a. (Hg.), Holocaust und NS-Prozesse. Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr, Köln/Weimar/
Wien 1995.
11 Vgl. Birgit Maier, Zur Methodik der Filmanalyse von ethnographischen Filmen, in: Edmund
Ballhaus/Beate Engelbrecht (Hg.), Der ethnographische Film: Eine Einführung in Methoden
und Praxis, Berlin 1995, S. 223–239. Bernward Wember hat beispielsweise mildernde Totaleinstellungen, abschwächende Kameraperspektiven usw. als Verschleierungstaktiken „entlarvt“.
Vgl. Bernward Wember, Wie informiert das Fernsehen? Ein Indizienbeweis, München 31983.
Sabine
Horn
12 Vgl. Maier, Zur Methodik der Filmanalyse,
S. 226.
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13
Einleitung
den ich für meine Arbeit gewählt habe, eine bedeutende Rolle. Ich habe mich für
einen Methodenmix aus quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse der Medienprodukte entschieden, wobei der Schwerpunkt deutlich auf der qualitativen Untersuchung (Kapitel „Qualitative Inhaltsanalyse“) liegt. Da quantitative Inhaltsanalysen
relativ selten Eingang in geschichtswissenschaftliche Arbeiten finden, wird dieses Verfahren in gesonderten Kapiteln näher erläutert.
Das tiefe analytische Eintauchen in das Material spielt in dieser Arbeit eine
besondere Rolle. Die wenigen bisher veröffentlichten Arbeiten zur Geschichte des
Geschichtsfernsehens betrachten jedoch die Medienprodukte selbst nicht genauer;
sie haben eher Überblickscharakter und legen den Fokus vornehmlich auf Sendetermine und -protokolle und weniger auf die Analyse der Sendungen selbst.13 Dies ist für
einen ersten Schritt, der Orientierung in einem noch kaum bearbeiteten Feld bieten
soll, sicherlich hilfreich; jedoch muss der genaue Blick in das gesendete Fernsehmaterial, also die Medienproduktanalyse, folgen. Es ist zudem bezeichnend für das noch
weitgehend unbekannte Forschungsterrain der Geschichte des Geschichtsfernsehens, dass die bisherigen Veröffentlichungen zu dem Thema ohne die Untersuchung
der Bilder auskommen.14 Diesem Desiderat sollte in dieser Arbeit ebenfalls durch den
gleichberechtigten Blick auf das Wort und das Bild Rechnung getragen werden.
In eigenständigen Kapiteln wird dem Autorenfilm Der Prozeß von Eberhard Fechner zum Majdanek-Verfahren ein gesonderter Blick gewidmet. Dies geschieht in
einem Exkurs, da sich dieser herausragende Fernsehfilm aufgrund seines künstlerischen Anspruchs und seines ungewöhnlichen Formates vom Quellenkorpus deutlich
abhebt – der Film hat eine Länge von fünfeinhalb Stunden und ist von einer prägnanten ästhetischen Widerborstigkeit innerhalb der TV-Landschaft gekennzeichnet.
Nicht nur die beiden Prozesse, sondern auch ihre jeweiligen gesellschaftlichen
Kontexte sind bislang von der zeithistorischen Forschung unterschiedlich gut
beleuchtet. Konnten die Ergebnisse zu den TV-Beiträgen über das Auschwitz-Ver-
13 So bieten die Arbeiten von Wulf Kansteiner und Christoph Classen durch ihren breit angelegten Charakter eine Orientierung und Periodisierung der Behandlung des Themas Nationalsozialismus und Holocaust im westdeutschen Fernsehen. Siehe Christoph Classen, Bilder der
Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955–1965, Köln/Weimar/Wien 1999; Wulf Kansteiner, The Pursuit of German Memory.
History, Television and Politics after Auschwitz, Ohio 2006; Ders., Ein Völkermord ohne
Täter? Die Darstellung der „Endlösung“ in den Sendungen des Zweiten Deutschen Fernsehens, in: Tel Aviver Jahrbuch Jahrbuch für deutsche Geschichte 31 (2003), S. 253–286.
14 So vernachlässigt neben Wulf Kansteiner beispielsweise auch die Arbeit von Andrea Brockmann zur Repräsentation des 17. Juni im Fernsehen die visuelle Ebene und konzentriert sich
auf das gesprochene Wort. Die Arbeit ist ohne eine einzige Abbildung erschienen. Siehe AndHorn
rea Brockmann, ErinnerungsarbeitSabine
im Fernsehen.
Das Beispiel des 17. Juni 1953, Köln 2006.
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14
Einleitung
fahren teilweise in einem fundierten wissenschaftlichen Referenzrahmen gedeutet
werden,15 so musste eine historische Kontextualisierung der Beiträge zum MajdanekProzess auf vergleichsweise kleinere Forschungsbestände zurückgreifen. Hier zeigte
sich deutlich, dass die relevante zeithistorische Forschung zur Geschichte der Bundesrepublik der 1970/1980er Jahren noch relativ jung ist.16
Im Fazit werden die empirischen Ergebnisse an die theoretischen Vorüberlegungen rückgebunden. Welche Rolle konnten die untersuchten Fernsehbeiträge innerhalb der Erinnerungskultur an den Holocaust einnehmen? Wie ist der thematische
und formale Wandel, der in den Beiträgen sichtbar wird, zu erklären? Dieser Wandel,
das zeigt die Arbeit, war beachtlich und fand auf vielen Ebenen seinen Ausdruck – in
der Sprache und in den Bildern.
15 Ich denke dabei besonders an die Arbeiten von Cornelia Brink und Habbo Knoch. Siehe
Brink, Ikonen der Vernichtung; Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in
der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.
16 Einzige Ausnahme bildet das Kapitel „Die Jugend“. Zu diesem Themenfeld liegt interessanterweise mehr einschlägige historische Forschungsliteratur für die 1970er Jahre vor als für die
1960er Jahre. Die 1970er Jahre stellten für die Allgemeine Erziehungswissenschaft und die
Geschichtsdidaktik bedeutende Umbruchjahre dar. Mittlerweile wurden diese Umbruchjahre
in der historischen Bildungsforschung genauer untersucht. Für diesen Zusammenhang ist
besonders die folgende Publikation von Interesse: Wolfgang Meseth, Aus der Geschichte lernen. Über die Rolle der Erziehung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, Frankfurt am
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Main 2005.
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