Der empathische Polizist

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Der empathische Polizist
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LITERATUR
Samstag, 18. Januar 2014
Von Schmerz zu Schmerz
Sphinx des 19. Jahrhunderts
„Madame Blavatsky“ – eine Biographie über die
Begründerin von Theosophie und moderner Esoterik
Von Dr. Oliver Pfohlmann
1886, fünf Jahre vor ihrem Tod,
platzte Helena Blavatsky der Kragen. Wieder und wieder war die Begründerin der Theosophie als Hochstaplerin und Spionin des Zaren denunziert worden, etliche Affären
und illegitime Schwangerschaften
hatten ihre Gegner ihr angehängt.
Alles mit dem Ziel, die Okkultistin
als raffinierte Betrügerin bloßzustellen – Blavatskys wachsende Popularität nicht nur in Europa und
den USA, sondern auch in Indien
alarmierte Vertreter der Kirche
ebenso wie der Naturwissenschaften und des britischen Empires. Von
ihrem damaligen Würzburger Exil
aus kündigte die Autorin des Weltbestsellers „Isis entschleiert“ (1877)
nun zornig an, „die gesamte Wahrheit nieder(zu)schreiben“; das Ergebnis werde „ein Schatz für die
Wissenschaften und für die Skandalchroniken sein“.
Eingelöst hat Helena Blavatsky
ihr Versprechen nie. Dafür ließ sich
die damals 55-Jährige, die in ihrem
Leben gleich zwei Ehemännern davongelaufen war, von einem Gynäkologen stolz ihre Jungfräulichkeit
attestieren und prophezeite allen
kommenden Biographen, „die ganze unverhüllte Wahrheit über mein
Leben jemals zu offenbaren, ist unmöglich“. In der Tat scheint jeder
Versuch, das abenteuerliche Leben
dieser „Sphinx des 19. Jahrhunderts“, wie sie genannt wurde, zu
schildern, zum Scheitern verurteilt.
Besteht doch ihre Vita zu einem
Gutteil aus Legenden, Stilisierungen und Fiktionen.
Nahm sie beispielsweise wirklich
1867 an der Seite italienischer Frei-
Und nicht mehr versprechen als
eine von etwas mehr kritischer
Distanz geprägte Darstellung über
„eine
der
bemerkenswertesten
Frauenpersönlichkeiten des 19.
Jahrhunderts“ als die einschlägigen
Hagiographien
theosophienaher
Biographen. Das gelingt dem Autorinnenduo zumindest streckenweise
auch überzeugend: Dass etwa Blavatsky, die 1831 als Helena von
Hahn im russischen Jekaterinoslaw
geboren wurde und einer Familie
höchster deutscher, französischer
und russischer Aristokratie entstammte, tatsächlich als eine der
ersten Europäerinnen bereits 1856
das damals nahezu unzugängliche
Tibet bereiste, erscheint Keller und
Sharandak als unwahrscheinlich,
ganz ausschließen wollen sie es jedoch nicht.
Ihre Vergleiche mit den einschlägigen Berichten anderer Tibet-Reisender des 19. Jahrhunderts sind jedoch ebenso aufschlussreich wie
ihre Berufung auf ein ominöses
„Buch Dzyan“ aus einer tibetanischen Felsenbibliothek, angeblich
die Grundlage von Blavatskys
Hauptwerk „Die Geheimlehre“
(1888), weil dies ganz der Praxis anderer Esoteriker entspricht: Ob Rudolf Steiner und seine „AkashaChronik“ oder Joseph Smith und
sein „Buch Mormon“ – alle erzielten
Autoritätsgewinne, indem sie sich
auf okkulte, nur ihnen zugängliche
Schriften beriefen.
Zu den Vorzügen der neuen Blavatsky-Biographie gehört, dass sie
die historischen Leistungen dieser
russischen Weltreisenden in Sachen
Okkultismus auch jenen Lesern begreiflich macht, denen Esoterik
fremd ist. Dass sich so unterschied-
„Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ von Haruki Murakami
Von Peter Mohr
In den letzten Jahren wurde der
japanische Schriftsteller Haruki
Murakami regelmäßig als heißer
Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Im deutschen
Sprachraum erfreut er sich schon
seit dem Sommer 2000 großer Popularität. Damals war es im „Literarischen Quartett“ des ZDF über Murakamis Roman „Gefährliche Geliebte“ zum öffentlichen Zerwürfnis
zwischen dem im September 2013
verstorbenen Marcel Reich-Ranicki
und Sigrid Löffler gekommen.
Reich-Ranicki hatte einen „hocherotischen Roman“ gelesen, und seine Wiener Kollegin sprach von „trivialer Pornographie“. Fortan waren
die in deutscher Übersetzung erschienenen Werke von Murakami
echte Verkaufsschlager: „Wilde
Schafsjagd“ (1991), „Hard-Boiled
Wonderland“ (1995), „Tanz mit dem
Schafsmann“ (2002), „1Q84“ (2010).
Murakami, der am 12. Januar
1949 als Sohn eines buddhistischen
Priesters in Kyoto geboren wurde,
studierte Theaterwissenschaft, arbeitete in einem Plattenladen und
als Geschäftsführer einer Jazzbar,
ehe er den Weg zur Literatur fand –
nach eigenem Bekunden stark beeinflusst von seinen Vorbildern Kafka und Dostojewski. Auch als Übersetzer (u. a. Scott Fitzgerald, John
Irving, Raymond Chandler) hat sich
der begeisterte Marathonläufer, der
noch bis 85 laufen will, in Japan einen Namen gemacht.
Inzwischen ist Haruki Murakami
in Japan zu einer Art „Marke“ geworden. Sein neuer, soeben in deutscher Übersetzung erschienener Roman „Die Pilgerjahre des farblosen
Herrn Tazaki“ brachte es im letzten
April binnen einer Woche auf mehr
als eine Million verkaufte Exemplare. Darüber hinaus war Lazar Bermans Einspielung der im Roman erwähnten „Années de pèlerinage“
von Franz Liszt im Handumdrehen
vergriffen.
Im Mittelpunkt des neuen Romans steht Tsukuru Tazaki, ein
grüblerischer Mann von Ende dreißig, der sich selbst für einen Langweiler hält und der beruflich damit
beschäftigt ist, den Alltag in Bahnhöfen zu strukturieren und zu optimieren, wie z. B. Passagierströme zu
untersuchen und zu lenken. Im
Rückblick erfahren wir, dass der
Protagonist in jungen Jahren Teil
eines verschworenen Quintetts war,
das ihn mit Anfang zwanzig plötzlich verstoßen hat. Darüber ist Tazaki nur schwer hinweggekommen.
Er wurde noch introvertierter, versuchte mehr und mehr seine Emotionen zu unterdrücken: „Viel tiefer
war die Verbindung von Wunde zu
Wunde. Von Schmerz zu Schmerz.
Von Schwäche zu Schwäche.“
Die Hauptfigur ist nicht etwa
liche Größen wie Thomas Alva Edison, William Butler Yeats, Wassily
Kandinsky, Rudolf Steiner, James
Joyce oder Mahatma Ghandi von
Blavatsky beeinflussen ließen, hatte
schon seine Gründe: Die Idee einer
alle Hautfarben, Nationen, Konfessionen und Klassen transzendierenden „universalen Religionsphilosophie“ war im Zeitalter von Rassismus und aufkommendem Nationalismus schlicht revolutionär. Nachdrücklich erinnern Ursula Keller
und Natalja Sharandak daran, wie
sehr Blavatskys Aktivitäten in Indien und Ceylon zwischen 1879 und
1885 die indische Freiheits- und
Reformbewegung enthusiasmierten
und ihr zu Selbstbewusstsein gegenüber den europäischen Kolonialherren verhalfen.
Ursula Keller / Natalja Sharandak: Madame Blavatsky. Eine Biographie. Insel Verlag, Berlin 2013.
357 Seiten, 24,95 Euro.
Single aus Überzeugung, sondern
weil sich nach mehreren gescheiterten Anläufen keine adäquate Partnerin gefunden hat. Materielle Sorgen gibt es in diesem Roman nicht,
als Leser gewinnt man den Eindruck, sich lesend in einem Ensemble weltabgewandter Lebenskünstler zu bewegen.
In Murakamis neuem Roman sind
die von ihm geschaffenen, sonst
dauerpräsenten Traumfrauen, die
nicht nur hübsch und erotisch, sondern auch höchst intelligent sind,
eine absolute Rarität. Tazaki bleiben nur seine geradezu obsessiven
sexuellen Fantasien. „Ich sehe Bilder und verknüpfe sie. Das ist die
Handlung. Dann versuche ich, die
Handlung dem Leser zu erklären“,
hat Murakami jüngst in einem
Interview seine schriftstellerische
Vorgehensweise zu erklären versucht.
Die „Pilgerjahre“ beinhalten
auch viele Reisen mit selbstfinderischem, autotherapeutischem Charakter. So liest sich Tazakis Buch
wie ein fragmentarischer Entwicklungsroman über das Leben eines
Foto: epa
Mannes in den besten Jahren, der
beruflich einigermaßen erfolgreich
ist, sich aber irgendwie immer noch
in einer Art postpubertärer Suchphase befindet. Am Ende hat er sich
zumindest von einigen Altlasten der
Vergangenheit befreit.
Haruki Murakamis neuer Roman
ist weder Weltliteratur noch eine
Empfehlung für den Nobelpreis,
aber er ist ein herrlich unangestrengt erzähltes Buch, das an die literarischen Anfänge des japanischen Autors („Naokos Lächeln“,
im Original 1987) erinnert und weit
weniger allegorisch und artifiziell
daherkommt als viele seiner späteren Werke. Geblieben ist über all die
Jahre der Typus des Protagonisten –
ein zur Melancholie neigender, beruflich gut situierter, privat eher
unzufriedener, mit sexuellen Obsessionen kämpfender introvertierter
Mann mittleren Alters.
Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, Köln
2014. 318 Seiten, 22,99 Euro.
Der empathische Polizist
Legenden, Fiktionen, Stilisierungen: Helena Blavatsky erschien vielen ihrer Zeit�
genossen so geheimnisvoll wie eine Sphinx.
Foto: epa
schärler an der Schlacht von Mentana teil, Kugeln in Arm und Bein inbegriffen? Gehörte sie tatsächlich
zu den wenigen Überlebenden der
Schiffsexplosion der SS Eumonia
auf der Fahrt nach Ägypten? Und
standen hinter den geheimnisvollen
„Meistern“ Kuthumi und Morya,
die Blavatsky angeblich per Astralpost Anweisungen zukommen ließen, wie sie dem Wohl der Menschheit dienen konnte, reale Personen?
Ganz zu schweigen von den vielen
biographischen Leerstellen in ihren
frühen Lebensjahrzehnten, über die
sie jede Auskunft verweigerte, oder
ihren Auftritten als spiritistisches
Medium mit fliegenden Möbeln und
Gedankenlesen nach ihrer Ankunft
in New York 1873, zwei Jahre vor
der Gründung der Theosophischen
Gesellschaft.
Das alles ist Ursula Keller und
Natalja Sharandak wohlbewusst,
weshalb sie in ihrem Vorwort klugerweise die Erwartungen dämpfen.
Haruki Murakami ist in Japan zu einer Art „Marke“ geworden.
Jan Costin Wagners stiller Kriminalroman „Tage des letzten Schnees“
Von Günter Keil
Besser könnte das Krimijahr 2014
gar nicht anfangen: Jan Costin Wagner veröffentlicht nach mehr als
zwei Jahren Pause einen neuen Roman. In „Tage des letzten Schnees“
ermittelt wieder einmal die Hauptfigur seiner Serie, der finnische
Polizist Kimmo Joentaa. Und wieder einmal zeigt Wagner, dass er zu
den besten Krimiautoren Europas
zählt. Viele seiner Sätze wirken wie
melancholische Gedichte: „Er spürte den Aufprall hinter der Stirn, und
sein Blick glitt zur Seite, in Richtung der Fenster, in die sonnige
Winterwelt, die wie die Ahnung einer Sehnsucht vorüberflog.“
Wagner kann nicht nur literarisch
hochwertig formulieren. Er jongliert auch lässig mit drei Handlungssträngen, die zunächst schein-
bar nichts miteinander zu tun haben: Das Ehepaar Ekholm trauert
um seine Tochter Anna, die bei einem Autounfall stirbt. Der Investmentbanker Markus Sedin verliebt
sich in eine rumänische Prostituierte. Und ein junger Mann bereitet
sich auf einen Amoklauf vor. Ruhig
erzählt Wagner diese drei Geschichten, spitzt sie beständig zu und kleidet sie in kurze, meditative Sätze.
Trotzdem ist die Spannung kaum
auszuhalten.
Schließlich findet der Banker die
Leichen der Prostituierten und eines unbekannten Mannes in seiner
Wohnung. Er weiß, dass der Verdacht auf ihn fallen wird, und
schafft die Toten fort. Kimmo Joentaa, der wohl empathischste Polizist
Skandinaviens, kommt ihm und
dem Mörder dennoch auf die Spur.
Was auch daran liegt, dass er fähig
ist, wie die Verdächtigen zu fühlen.
Jan Costin Wagner geht mit seinen
Figuren ähnlich um: Er kennt ihren
Schmerz, ihre Trauer, ihre Ohnmacht. Und er findet wunderbare
Worte für ihre Empfindungen: „Die
Wärme verursachte ein Kribbeln
auf seiner Haut, sie berührte ihn
wie etwas Fremdes, kroch unter den
starren Stoff des Anzugs, und Lasse
Ekholm hatte den Eindruck, dass
die kräftigen Farben des Tages sich
auf das Schwarz des Jacketts legten,
das er trug.“ Im Gegensatz zu diesen geschliffenen Sätzen wirken
Wagners Dialoge roh und realistisch. „Tage des letzten Schnees“ ist
ein stilles, großes Drama mit lang
anhaltender Wirkung.
Jan Costin Wagner: Tage des letzten Schnees. Galiani Verlag, Berlin
2014. 314 Seiten, 19,99 Euro.