Berufswahl

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Berufswahl
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Müssen Juristen Anwalt werden?
Von Rechtsanwalt Dr. Tobias Gostomzyk, Köln
Etwa 20.000 Abiturienten beginnen jährlich ein Jurastudium. Nur BWL ist noch
beliebter. Das mag an Fernsehserien wie „Ally McBeal“ oder „Edel & Starck“ liegen,
an gehobenen Einkommenserwartungen oder der Mutmaßung, dass man mit Jura
alles werden kann. Denn nach wie vor gelten Juristen als Spezialisten fürs Allgemeine. Unentschlossene mögen also denken: Wer heute Jura studiert, wählt seinen
Beruf erst morgen. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Rund 80 Prozent
der Nachwuchsjuristen werden Anwalt – trotz wenig rosiger Jobaussichten für viele.
Existieren Alternativen zu den klassischen juristischen Berufen? Sicher, kein
Nachwuchsjurist muss Anwalt werden. Schüler des Rechts haben mehr gelernt, als
sie meinen – und zwar jenseits der materiellen Rechtskenntnis. So hat die Juristenausbildung einen „heimlichen Lehrplan“. Anders als bei den häufig angepriesenen
Schlüsselqualifikationen wie etwa Verhandlungsführung oder Vertragsgestaltung
(dazu Römermann/Paulus, Schlüsselqualifikationen für Jurastudium, Examen und
Beruf, 2003) handelt es sich um Begleiteffekte, unausgesprochene Lernziele der
Ausbildung, die wertvolle Kompetenzen für die Arbeitswelt verleihen. Geht man
von ihnen aus, ergeben sich Alternativen zu klassischen juristischen Berufen wie
dem des Richters, Staats- oder Rechtsanwalts. Nehmen wir etwa Olav Kratz: Während seines Referendariats wusste er genau, was er nicht wollte – Jurist werden. So
absolvierte er parallel zum Referendariat PR-Praktika im Bundestag sowie bei der
Bundesrechtsanwaltskammer und schrieb Beiträge für Marketing-Magazine. Das
bildete neben zwei Staatsexamina die Grundlage für ein Volontariat bei einer der
renommiertesten PR-Agenturen in Deutschland. Inzwischen ist er dort als SeniorBerater tätig. Wie hilft ihm das Jurastudium heute? „Wer zwei deutsche juristische
Staatsexamina absolviert hat, ist stressresistent – eine Eigenschaft, die in keinem
Beruf schadet. Außerdem vermittelt die juristische Ausbildung grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten – Workability. Dazu gehören zum Beispiel das sorgfältige
Analysieren, Abwägen von Argumenten oder das problemorientierte Aufzeigen von
Lösungsmöglichkeiten.“
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Informations- und Wissensarbeit
Die juristische Ausbildung befähigt in hohem Maße zum Auffinden und Erfassen,
Prüfen und Einordnen von Informationen. Dies gilt insbesondere angesichts zunehmender Automatisierung von Routinetätigkeiten und der damit einhergehenden
Tendenz zur Informations- und Wissensarbeit. Treffen aktuelle Prognosen zu, werden schon im nächsten Jahrzehnt vier Fünftel aller menschlichen Arbeit aus dem
Umgang mit Informationen bestehen (beraten, informieren, forschen, entwickeln,
organisieren, vernetzen, managen, recherchieren, gestalten und präsentieren).
Zugleich suchen immer mehr Unternehmen nach Quereinsteigern, weil es in vielen
Jobs vorrangig auf generalistische Fähigkeiten ankommt. Das nötige Spezialwissen
lässt sich häufig noch im Nachhinein erlernen. Unternehmensberatungen exerzieren es im Übrigen vor: Über ein Drittel der Consultants sind Exoten, also keine
Wirtschaftswissenschaftler. Selbst BWLer müssen sich Branchenwissen erarbeiten.
Was also vorrangig zählt, sind methodische und analytische Qualitäten.
Lese- und Schreibekompetenzen
Weiter gehört zum juristischen Handwerk das routinierte Schreiben und Lesen. Die
juristische Ausbildung vermag eine klare und stringente Sprachführung zu schulen.
Sprache wiederum ist ein guter Indikator für Gedankengenauigkeit. Schließlich ist
ein Ausdruck zumeist dann treffend, wenn man nicht recht weiß, ob der Inhalt
durch den Ausdruck oder ob die Formulierung durch den Gedanken deutlich wird.
Und wenn Juristen dann noch auf ihr Sprachgefühl achten – also dem „Juristendeutsch“ abschwören – ist der Weg in den Journalismus gangbar. Schließlich gilt:
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Auch wenn sich journalistische Texte meist flüssiger lesen lassen als juristische Gutachten, geht es in beiden Fällen um detaillierte Wortarbeit. Auch braucht es nicht
viel Vorstellungsvermögen, um von den Fragen des zivilrechtlichen Anspruchsaufbaus – Wer will was von wem woraus? – zu den W-Fragen von Journalisten – Wer?
Was? Wann? Wo? Wie? Warum? – eine Brücke herzustellen. Katja Wilke, Journalistin, ist eine solche Brückenbauerin: Nach dem Jurastudium in Hamburg durchlief
sie die Holtzbrinck-Journalistenschule. Es folgte eine Stelle als Redakteurin des
Magazins Karriere und das Referendariat. Heute schreibt sie als freie Autorin über
Rechtsthemen und die Kanzleibranche. Die juristische Ausbildung ist eine sehr
gute Grundlage, um in den Journalismus zu gehen. In fast allen Ressorts einer Zeitung sind Rechtskenntnisse gern gesehen: Von der Lokalredaktion, die über einen
Gerichtsprozess berichten möchte, über das Wirtschaftsressort, das über eine
Schmiergeldaffäre schreibt, bis hin zur Politikredaktion, die einen Kommentar über
ein neues Gesetz braucht. Juristen haben die nötigen Grundlagen, um solche Themen schnell in den Griff zu bekommen.“ Außerdem besteht selbst für „juristische
Öffentlichkeitsarbeit“ eine Nachfrage. Das Spektrum reicht von Public Relations
für Kanzleien bis zum Lobbyismus für Verbände. Jeweils lassen sich juristisches Verständnis und nicht juristische Kommunikations- und Informationsanalysetechniken miteinander verbinden.
Daneben existieren methodische Fertigkeiten, die das Jurastudium vermitteln kann:
Wesentliches Lernziel ist, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. In dieser Problemerkennung entscheidet sich nicht allein die Güte juristischer Klausuren. Wer
strukturieren und Schwerpunkte setzen kann, ist auch in der Lage, mit einer Vielzahl von Informationen so umzugehen, dass „Wissen“ im Sinne von verwertbarer
Information daraus wird. Dieses methodische Vorgehen hilft bei der zügigen
Recherche, beim Einarbeiten in unbekannte Materien sowie bei der zügigen Verschriftlichung von Gedanken. Weiter besteht ein wesentlicher Teil der Ausbildung
im Training analytischen Arbeitens. Von diesen Fähigkeiten profitiert heute beispielsweise Alexander Wittek. Nach einem Jurastudium in Berlin und Hamburg
sowie Referendariat in Köln arbeitet er nun als Executive Assistant bei Metro
Goldwyn Mayer, einem Unternehmen, das international Fernsehsender betreibt
und mit Filmrechten handelt. Seinen Arbeitsalltag beschreibt er wie folgt: „Mein
Chef ist viel auf Reisen; er setzt mir Ziele, ich setze diese selbständig um. Hilfreich
dabei ist zwar ein vertrauter Umgang mit dem komplexen Geflecht an Vertrags- und
Geschäftsbeziehungen. Wichtiger aber noch ist aber eine sorgfältige und strukturierte Vorgehensweise: Wo und wie wurde welcher Geschäftsvorgang dokumentiert?
Präzision und Zähigkeit sind also gefragt. Beides konnte ich während meiner juristischen Ausbildung einüben.“
Was genau trainiert Strukturierungs- und Analysekompetenz? Ein Rechtsanwender denkt idealiter von Tatbestandsmerkmal zu Tatbestandsmerkmal, von Prüfungspunkt zu Prüfungspunkt. Dieses gedankliche Zerlegen eines vom Sachverhalt
her einheitlichen Lebensvorganges bietet eine effektive Denkmethode. Der
Umgang mit komplexen Problemstellungen wird handhabbar. So lassen sich die
einzelnen Gliederungspunkte behandeln, anstatt sofort auf ein möglicherweise
undurchsichtiges Gesamtergebnis zu springen. In dieser Beziehung unterscheidet
sich das juristische Denken von demjenigen anderer Geisteswissenschaften. Ferner
gilt es für Nachwuchsjuristen alle Lösungswege zu prüfen, die nicht von vornherein völlig abwegig erscheinen. Geschult wird ein Denken in Alternativen, das bei
der Klausurlösung zunächst viele Lösungswege akzeptiert, um dann tragfähige herBeck’scher Referendarführer 2007 | www.beck.de
Strukturierungs- und
Analysekompetenz
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auszufiltern. Es entsteht eine Dramaturgie der Retardation, eine Verzögerung im
Gedankenablauf. Somit wird geschult, eindimensionale Betrachtungsweisen zu
umgehen und in Gegensätzen zu denken. Zudem üben Schüler des Rechts ihr
Abstraktionsvermögen: In analytischer Hinsicht durch das isolierte Betrachten einzelner Problembereiche, in struktureller Hinsicht durch das Erkennen ähnlicher
Regelungstechniken und Argumentationsfiguren sowie in hermeneutischer Hinsicht durch den Umgang mit abstrakt formulierten Rechtssätzen. Dabei dient gerade das Erkennen von Strukturprinzipien dem Trainieren exemplarischen Lernens,
da sich so ähnliche Regelungsmechanismen oder begriffliche Zusammenhänge
leicht erschließen lassen. Das ist angesichts der Fülle des Examensstoffes unvermeidbar.
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Abwägungs- und
Entscheidungskompetenzen
Zusätzlich fordert die juristische Fallbearbeitung Interessenabwägungen. Auf welche Konstellation ist der Sachverhalt des Aufgabenstellers zugeschnitten? Welche
wirtschaftlichen Interessen stehen hinter bestimmten Konfliktlagen? Welche Steuerungswirkung beabsichtigt eine gesetzliche Regelung? Wie sind kollidierende
Rechtsgüter zum Ausgleich zu bringen? Ebenso bietet die juristische Ausbildung
von der Vielfalt der Rechtsgebiete her gesehen generalistische Ansätze. Sie vermag
etwa Einblicke in das Wirtschaftsleben oder in den Administrationsaufbau zu
geben. Immer geht es darum, bestimmte Lebensbereiche informationell und intellektuell zu erfassen und der ihnen zugedachten Ordnungslogik gemäß zu würdigen.
All das kommt Marius Bolten zu Gute: „Mein Jurastudium in Deutschland, Italien
und den USA und meine anschließende Assistententätigkeit an einem Lehrstuhl für
bürgerliches und römisches Recht haben mir sehr gefallen, aber die juristische
Berufswelt reizte mich nicht. Also habe ich mein bislang nur durch Musik-TheaterProduktionen im Amateurbereich gelebtes Hobby zum Beruf gemacht und als Mitarbeiter im Künstlerischen Betriebsbüro der Staatsoper Hannover angefangen.“
Kern der Tätigkeit von Marius Bolten ist das Erstellen von Arbeitsplänen für den
künstlerischen Betrieb: „Am Anfang stehen Fragen, Informationen oder nichts.
Nun gilt es zu ermitteln, welche Informationen benötigt werden und wo sie zu
bekommen sind. Die gesammelten Informationen müssen auf Übereinstimmung
geprüft, bei Unstimmigkeit Änderungen veranlasst werden. Die letzte Frage ist
dann, wer welche Informationen braucht, damit der Arbeitsplan auch verwirklicht
wird. Bei all dem helfen akademisch geschulte Informationsverarbeitungs- und Problemlösungsfähigkeiten. Am Rande spielen auch spezifisch juristische Probleme,
etwa des Bühnentarifvertragsrechts, ständig eine Rolle.“
Am Ende dieser Abwägungsvorgänge steht, sich auf ein Ergebnis festzulegen.
Dies bezeichnet angesichts allerorts monierter Entscheidungsschwäche ebenfalls
eine Qualität. Obendrein lässt sich durch fortwährende Übung in juristischer Fallbearbeitung gekonntes und routiniertes Argumentieren einstudieren: Das exakte
Vergleichen von Sachverhalten oder das Unterscheiden zwischen linearer und dialektischer Begründungsführung wird trainiert; und es wird vergegenwärtigt, dass
das Zitieren von Autoritäten nicht folgerichtige Begründungen ersetzt.
Ausdauertraining und
Selbstbildungskompetenz
Außerdem gibt es wohl kaum einen anderen Studiengang, in dem so viele so lange
Klausuren geschrieben werden. Dabei muss gelernt werden, sich über fünf Stunden
hinweg zu konzentrieren, was eine gewisse Belastbarkeit, aber auch Zeitmanagement fördert. Ausdauer ist gefragt. Doch auch trotz akademischer Anleitung oder
Stoffvermittlung beim Repetitor erhält jeder Nachwuchsjurist die Einsicht, dass es
ohne selbst motiviertes und gesteuertes Lernen nicht geht. Alles muss selbst reflekBeck’scher Referendarführer 2007 | www.beck.de
tiert und sich angeeignet werden. Auch wenn auf dem Weg hierhin zahlreiche
Hilfestellungen möglich sind, bleibt die Juraausbildung in hohem Maße autodidaktisches Studium. Praktische Fallbearbeitung kann nicht in Gänze durch passive
Wissensaufnahme eingeübt werden, sondern bedarf eines fortwährenden Klausurentrainings. Gerade die Notwendigkeit, sich die Fähigkeit zum „Lernen lernen“,
zur Selbst-Bildung, aneignen zu müssen, bezeichnet ebenfalls eine Stärke. Doch um
nicht zu einseitig die Vorzüge der Juristenausbildung zu preisen, sei abschließend
zumindest auf eine Schwäche hingewiesen: Juristen sind konservativ. Ihre Mittel
und Methoden stammen aus einer vergangenen Welt. Die Blütezeit der Rechtswissenschaft war im 18. und 19. Jahrhundert. Heute dagegen sind Informatik, Kybernetik und Biotechnologie gesellschaftliche Schrittmacher. Im vergangenen Jahrhundert war es vor allem die politische Ökonomie. Will sagen: Auf flexibles, innovatives
Denken werden Juristen nicht geeicht. Ihre Rolle ist regelmäßig das abwägende Verhandeln von Konflikten. Häufig treten sie als Bedenkenträger auf, anstatt kreativermöglichend die Zukunft zu gestalten. Das gilt es für die Tätigkeit in außerjuristischen Berufen nicht nur zu bedenken, sondern möglicherweise zu korrigieren.
Trotz mäßiger Jobaussichten wird der überwiegende Teil der Nachwuchsjuristen
scheinbar alternativlos Rechtsanwalt. Doch die juristische Ausbildung vermittelt
nicht nur materielles Wissen, sondern auch allgemein berufsbefähigende Kompetenzen. Darunter fallen insbesondere das Recherchieren und – unter Schwerpunktsetzung – Strukturieren von Informationen, ein analytisches Vorgehen, das Abstrahieren, das Denken in Alternativen und – nicht zu vergessen – ein genauer und routinierter Umgang mit Sprache. Diese Fähigkeiten qualifizieren – neben den
traditionell juristischen Berufen – für eine Vielzahl von Tätigkeiten außerhalb klassischer juristischer Berufe. Exemplarisch genannt wurden Beschäftigungen als
Öffentlichkeitsarbeiter, Journalist, Berater oder in der Organisation von Unternehmen und Einrichtungen. Nachwuchsjuristen stehen also eine Vielzahl anderweitiger
Berufsmöglichkeiten offen. Sie können zwar nicht alles, aber viel mehr als sie zu
können glauben.
Fazit
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