Heft 2/2006 Szene-Erkundung

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Heft 2/2006 Szene-Erkundung
Nr. 2/2006 H 9851
THEMA
JUGEND
SZENE
ERKUNDUNG
JUGENDKULTUREN
IM 21. JAHRHUNDERT
SINNSUCHE BEI GOTHICS
UND JESUS FREAKS
RÜCKSCHAU:
50 JAHRE BRAVO
ZEITSCHRIFT FÜR JUGENDSCHUTZ UND ERZIEHUNG
www.thema-jugend.de
Die Szene der Jugendkulturen ist kaum zu überschauen. Auch wenn sich
ständig neue Jugendkulturen, -szenen, -stile und neue Varianten herausbilden,
existieren die Muster alter Szenen weiter. Ergebnis der Szenenerkundung ist:
Es existiert kein Gesamtbild der Jugend und Jugendkulturen. Und ein weiteres
Ergebnis ist: Jugendkulturen heute sind keine Jugendsubkulturen, die eine
Gegenkultur bilden; eine Mainstream-Kultur als Gegenpol, an der sich heutige
Jugendkulturen abarbeiten können, scheint abhanden gekommen zu sein.
Vieles an den abweichlerischen Jugendkulturen ist normaler geworden. Sind
das erste Tendenzen einer Anpassung?
2/2006
Unser Thema:
Jugendkulturen im
21. Jahrhundert
2
Jugendkulturen als
Sinnsuchergemeinden
Zum Beispiel:
Gothics und Jesus Freaks
4
In und Out
Ablehnung und Akzeptanz
jugendkultureller Szenen
7
Wilfried Ferchhoff
Jugendszene nicht gleich
Drogenszene
Drogenkonsum in der jugendlichen
Subkultur
10
Vom Wort zum Symbol
Ein Gespräch mit dem Soziologen
Matthias Sellmann
11
Praxis: Mit dem Beratungsmobil
zur Party
13
50 Jahre BRAVO
Jugendkultur im Rückspiegel
14
Bücher zum Thema
17
Kommentar:
Auch die Chinesen reformieren
ihr Schulsystem
Anmerkungen zu einem
schulpolitischen Versuch
20
Arbeitshilfen:
Neue Schriftenreihe Elternwissen 21
NRW-Konzept
Der Kinder- und Jugendschutz
auf der kommunalen Ebene
und die Arbeitsschwerpunkte
der Landesstellen
21
Das Zuwanderungsgesetz und die
Kinder- und Jugendhilfe
21
Informationen:
In den sozialwissenschaftlichen und
pädagogischen Vorstellungen von
Jugend nimmt die These von einer (eigenständigen) Jugendkultur bzw. Jugendsubkultur oder Gegenkultur der Heranwachsenden seit der Jahrhundertwende (vom
19. zum 20. Jahrhundert) und spätestens
seit der nicht nur wirtschaftlichen Entdeckung und Erfindung des Teenagers in
den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts im
Zuge der Internationalisierung und Globalisierung einen wichtigen Stellenwert ein.
Dass Jugendkulturen und Jugendsubkulturen spätestens seit den 50er Jahren im
Gegensatz zum viel verbreiteten Mythos
von Gegen- und Subkulturen stets auch
durch und durch unternehmerische Konsumkulturen waren und sind, „daran gibt es
wohl keinen Zweifel“ (Klein 1999, 81; vgl.
vor allem auch zu dieser These: Heath/
Potter 2005).
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint es
nun in mehrfacher Hinsicht angebracht zu
sein, Abschied vom jugendlichen Gegenkultur- und Jugendsubkulturbegriff zu nehmen. Der Begriff Jugendsubkultur wird inzwischen nicht zuletzt vor dem Hintergrund
vielfältiger sozialstruktureller und kultureller
Wandlungsprozesse sowie der zunehmenden Ausdifferenzierung und Individualisierung sozialer Lebenslagen häufig durch
den Jugendkulturbegriff ohne emphatisches sub und meistens auch ohne emphatische Gegner (Baacke 2004; Ferchhoff
2000; 2006) oder auch durch den – offeneren, begrenzte Dauer anzeigenden –
Szenebegriff (Hitzler/Bucher/Niederbacher
2001; Klein 1999) ersetzt.
Subkultur
ohne Mainstream-Kultur?
Aufruf: Junge Flüchtlinge an
Ferienfreizeiten beteiligen!
22
Jahresbericht 2005
23
Neue Studie:
Rechte Szene auch im Osten out 23
THEMA
2 THEMA
JUGEND
JUGEND
JUGENDKULTUREN
IM 21. JAHRHUNDERT
In diesem Zusammenhang scheint (trotz
gewisser Aufweichungstendenzen historisch auch schon vorher) der bis in die 60er
und späten 70er Jahre des 20. Jahrhunderts vorwiegend dominierende klassen-,
schicht- oder milieuspezifisch zuzuordnende Begriff der jugendlichen Subkultur tendenziell ersetzt worden zu sein. Die Infragestellung des konsensuellen Standpunktes
der dominanten Kultur, die beobachtbare
Enthierarchisierung, Entstrukturierung und
Entpolitisierung, die zunehmende Mediatisierung nicht nur durch Popkultur, Populärkultur, MTV und VIVA, Kommerzialisierung
und Globalisierung kultureller Lebenswelten und Lebensformen sowie die heute
meistens fehlenden und aufgeweichten internen Polaritäten historischer Jugendsubkulturen (wie Mod-Rocker, Skinhead-Greaser, Skinhead-Hippie, Punk-Hippie, TedPunk, Skinhead-Punk usw.) haben den
entsubstantialisierten und entmaterialisierten Plural eklektizistischer, gemixter, modisch stilbezogener, ästhetischer und lifestyleaffiner Jugendkulturen zum Durchbruch verholfen. Ein Crossover oder Patchwork von Musik, Moden, Medien und Ideologien ist zu beobachten. Die normativen
Vorgaben des bürgerlichen Kulturbegriffs
sind aufgeweicht worden. Ein einheitlicher
Bezugspunkt einer Mainstream-Kultur,
Hochkultur oder Stammkultur, auf den sich
in der Vergangenheit der Gegenkultur- bzw.
der Jugendsubkulturbegriff in seinem widerständig-subversiven, oppositionell-rebellisch-konfliktträchtigen und asymmetrischen Anderssein oder auch qua bricolage
stets beziehen konnte, scheint nicht nur im
globalisierten, kommerzialisierten und pluralen kulturellen Schmelztiegel des weit
verbreiteten anything goes der Stilmixe
abhanden gekommen zu sein.
Das Andere, Abweichende, Besondere,
Fremde, Andersartige, Auffällige, Rebellische, Nonkonforme und Subversive ist
mittlerweile viel normaler als es meistens
(re-)präsentiert und (re-)konstruiert wird.
Jugendsubkulturen durchliefen in der Vergangenheit und durchlaufen zum Teil bis in
die Gegenwart hinein einen dialektischen,
schnelllebigen, flüchtigen, in einer Endlosschleife gefangenem „Zirkel“ von Subver-
sion, Widerstand, Umwandlung, Entschärfung, Aufweichung, Vereinnahmung, Anpassung.
Auf diese Weise wirkte bspw. in den siebziger und neunziger Jahren die auf radikale
Ablehnung alles Bürgerlichen abzielende
Punk- oder Grunge-Ideologie wie eine mit
roher Energie aufgeladene Update-Version
des guten alten Selbstverständnisses einer
revolutionären Avantgarde. Darüber hinaus
zerfiel und zerfällt der Begriff Jugendsubkultur jenseits einiger (re-)fundamentaler
Strömungen etwa in einigen religiösen, in
skinheadorientierten und in neonationalistischen Strömungen inzwischen in seine
Bestandteile: er diversifiziert(e) sich in verschiedene Kulturen, Stile und Szenen.
Unabhängig davon, welche gesellschaftliche Funktion man den verschiedenen Jugendsubkulturen insgesamt zuwies, schien
die entsprechende sozialwissenschaftliche
und pädagogische Debatte nie ganz davon
abzusehen, das Entstehen von Jugendsubkulturen im Medium gesellschaftstheoretischer Einbettungen (gesellschaftliche
Lebensverhältnisse, gesellschaftlicher Wandel bzw. gesellschaftliche Innovation) zu
erklären. Jugendliche Subkulturen waren
immer auch – nicht immer reflektierte, aber
oftmals durchaus kreative – Antworten auf
prekäre ökonomische Lebensverhältnisse
und (Über-)Lebensstrategien in unsicheren
Lebenssituationen im Feld des Kulturellen
und Ästhetischen, manchmal sogar im Feld
des Ökonomischen.
Jugend(sub-)kulturen waren und sind,
gleichwohl es immer auch um Fragen der
Identität, Geltung, Anerkennung und Abgrenzung ging und geht, keine historisch
zeitübergreifenden Phänomene, keine unveränderlichen Werte an sich, sondern
stets zeittypisch definierte Begriffe innerhalb bestimmter historischer Lebensverhältnisse und -zusammenhänge. Strukturell Gegebenes und Bedingtes wurden
und werden allerdings jugendkulturell nicht
nur irgendwie alltagskulturell bewältigt,
nicht nur irgendwie subjektiv und lokal
adaptiert und verarbeitet, sondern auch in
einer Art Autofokussierung biographisch
und lokal in selbstkreierten Lebenswelten
und facettenreich auf vielen Bühnen der
Selbstinszenierung geradezu mit jeweils
nicht vorhersagbarem spezifischem Eigensinn versehen.
Pluralisierung der Eigenwelten und Gesellungsformen
Wenn wir also heute von Jugendkulturen
sprechen, dann sollte der bereits mit historisch-pädagogischer und soziologischer
Tradition gesättigte Begriff Jugendkultur
neu gefüllt werden, ohne dass man seine
historischen Bedeutungs-Vorläufer ignorieren sollte (Baacke 2004; Ferchhoff 1990;
2000; 2006). Während Wyneken (bürgerliche Jugendbewegung, pädagogische
Reformideen, Freie Schulgemeinde) und
Bernfeld (Sprechsäle, sozialistische Päda-
gogik) zu Anfang des 20. Jahrhunderts
eine bestimmte, an bürgerlichen Wertvorstellungen und Normen sich abarbeitende
Jugendkultur im Auge hatten, haben wir es
zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer
globalisierten Welt mit einer Pluralisierung,
Individualisierung, Hybridisierung und Vermischung der jugendlichen – auch lokalen – Zwischen- resp. Eigenwelten, Gesellungsformen und Selbst-Konzepte zu tun:
darum der Plural Jugendkulturen oder
auch – die labilen Gebilde und dynamischen Teilzeit-Gesellungsformen und Gesinnungsgemeinschaften der – Jugendszenen.
Die heutigen Jugendkulturen weisen im
Gegensatz zu klassischen Jugend(sub-)
kultur-Konzepten weit weniger Affinitäten
zu hochkulturellen, klassenkulturellen und
schicht- bzw. milieuspezifischen Dimensionen auf und sind vor allem politisch uneindeutiger und ambivalenter (Zuordnungen
wie „rechts“ und „links“ gelten nicht mehr
so ohne weiteres; vgl. Farin 2005, 5). Sie
sind noch stärker freizeit-, symbol- und
medienbezogen, noch stärker konsumorientiert und noch stärker und schnelllebiger den Triebkräften der globalisierten
Ökonomie ausgesetzt sowie entschieden
schulferner.
Die verschiedenen Varianten und Facetten
heutiger Jugendkulturen sind also im Vergleich zu den meisten vergangenen
Jugendsubkulturen und Jugendkulturen
weder konsistent klassen-, schicht- und
milieuspezifisch zu verorten, noch lassen
sie sich ausschließlich protestbezogenen
bzw. subversiven – oder kriminalsoziologisch betrachtet: abweichenden bzw. devianten – Subkulturen (Ferchhoff 2000), aber
auch nicht nur konsumorientierten Unterhaltungskulturen zuordnen. Und Kultur ist
im Kontext heutiger Jugendkulturen die
Spur einer neuen Überlieferung, die in der
Geschichte jugendkultureller Neuorientierungen (Veränderungen in der Rock-,
Pop-, Mode-, Design- und Medienszene, in
verschiedenen Gruppierungen etc.) sowie
in neuen Auffassungen von (Lebens-)Stil
bzw. Lifestyle, Outfit und visuellen Sinneseindrücken (Mode, Kleidung, Sport, Musik,
Design, Körper- und Jugendsprache, Accessoires und auch in Konzepten von
Individualität und Identität) zu finden sind
(Neumann-Braun/Richard 2005). Die Trägerelemente heutiger Jugendkulturen gab
es zu Zeiten Wynekens und Bernfelds, zu
den Zeiten des Wandervogels und der bündischen Jugend nicht.
Heutige Jugendliche erweisen sich vor
allem als „Virtuosen des Visuellen“ (Zinnecker 1997, 448). Die vielfach in sich differenzierten Medien/Massenmedien (von inzwischen ausdifferenzierten und zum Teil
auch jugendspezifischen Printmedien und
Radio über das gleichfalls nicht nur altersspezifisch ausdifferenzierte Fernsehen mit
den spezifischen jugendkulturellen ClipKanälen MTV und VIVA bis zum multimedialen Handy und legendären iPod, MP3Player, Computer/Internet/Chatten/LAN-
Liebe Leserinnen und Leser!
In dieser Ausgabe geht es um Ausdrucksweisen heutiger Jugendlicher. Genauer: Es geht um ihre Szenen, ihre Kultur
und ihren Kult, um das „wie und warum“
sie sich organisieren. Welche Funktion
haben Jugendszenen? Und können wir
heute noch von Jugendsubkulturen sprechen? Gegenkulturen? Wo gegen?
Bei der Bearbeitung des Themas werden
zwangsläufig Vorurteile aufgedeckt:
Schwarz gekleidete Gothics sind eben
keine Satanisten, wie oft und (immer
noch) gerne behauptet. So mancher in
Springerstiefeln und mit kahl geschnittenem Kopf gehört nicht zur rechten
Szene. Und Jugendszene bedeutet nicht
gleichzeitig Drogenszene!
Wie beurteilen Jugendliche in NordrheinWestfalen die Szene? Haben wir es mit
Ablehnung und/oder Akzeptanz zu tun?
Dazu sind interessante Ausführungen von
Dr. Sabine Maschke zu finden.
Und dass sich Spiritualität und Religiosität
in manchen Jugendkulturen ausdrücken,
das erfahren wir von Klaus Farin und
Matthias Sellmann.
Allen Autoren und Autorinnen herzlichen Dank für die Mitarbeit. Der
Dank gilt auch Miriam Becker, die die
Fotos dieser Ausgabe von THEMA
JUGEND gemacht hat – und zwar in der
Oranienburger Straße in Berlin.
Herzliche Grüße aus der Redaktion
Georg Bienemann
THEMA
JUGEND
3
Zugegeben:
Die Lage ist verwirrend!
Eines kann festgehalten werden: Es gibt im
Zuge der Entstrukturierung und Individualisierung der Jugendphase sowie in dem
widersprüchlichen Durcheinander und undurchsichtigen Konglomerat der zuweilen
diffusen jugendkulturellen Erscheinungen,
schon lange kein Gesamt-Bild der Jugend
und -kulturen mehr, wobei auf der einen
Seite Szenen immer durchlässiger werden
und sich in temporäre Sinngemeinschaften
segmentieren und auf der anderen Seite
auch scharfe Grenzen innerhalb bestimmter Jugendkulturen gezogen werden. Zugegeben, die Lage ist verwirrend. Jugendkulturelle und szenenspezifische Vermessungen, Deutungen und Diagnosen scheinen nicht nur vor dem Hintergrund offener
Zugänge, fließender Übergänge, der vielen
Bricolagen und Samplings, der tendenziell
unverbindlichen Zugehörigkeiten und vielfältiger Vermischungen, Retrowellen, Remixe, ästhetischer Protestformen und Repräsentationen sowie schnelllebiger Moden immer komplexer, aber auch kurzatmiger und unübersichtlicher zu werden. Zuordnungen und Antworten fallen schwer.
Komplexe, differenzierte und auch widersprüchliche Bilder zu den einzelnen Jugendkulturen und Jugendszenen, die – auf
unterschiedlichen methodischen Wegen empirisch ermittelt werden, können kaum
noch in geschlossenen Theoriegebilden
auf verallgemeinerungsfähiger Grundlage
strukturell gebündelt werden. Und manchmal ist in einer Art ethnologischer bzw. ethnographischer Perspektive die alltagsphänomenologische Vorliebe für das jugendkulturelle Detail so groß, dass tiefenstrukturelle Zusammenhänge verloren gehen. Parties etc.). Sie tragen nicht nur zur
Internationalisierung, Globalisierung, Medialisierung und Kommerzialisierung der
Jugendkulturen bei, sondern ermöglichen
zumindest teilweise auch ihre globale und
zugleich lokale Konstitution.
Kaum überschaubare
Vielfalt vagabundierender
Äußerungen
Schon in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hatten sich gegenüber den 60er,
70er und 80er Jahren die diversen Jugendkulturen noch einmal beträchtlich vermehrt
und vielfältig ausdifferenziert, so dass am
Anfang des 21. Jahrhunderts allen ökonomischen und kulturindustriellen Vereinnahmungsversuchen zum Trotz eine kaum
mehr überschaubare Vielfalt von unterschiedlichen, oftmals partikularen und temporären jugendkulturellen Selbstinszenierungen, Verhaltensweisen und Orientierungen, Ritualen, Mutproben, Einstellungen,
Ausfächerungen und Stilisierungen vagabundiert.
Auch wenn sich immer neue Jugendkulturen, -szenen, -stile und neue Varianten
herausbilden, verschwinden im Zuge der
4 THEMA
JUGEND
Artenvielfalt die ästhetischen Muster der
alten Szenen nicht. Entweder existieren –
manchmal in Originalversion, oftmals aber
auch in leicht veränderter Form – die Jugendkulturen weiter, wie die der Wandervögel, Teds, Beatniks, Hipster, Mods,
Grufties, Punks, Grunger, Skins, Metals,
Gothics, Hooligans, Hacker, Neonazis,
Rocker, Techno, Skateboarder, Snowboarder, Rollenspieler, HipHopper u.v.a.m.
Oder die „Stile tauchen in anderen Szenen
wieder auf, wie beispielsweise HippieSymbole der 60er Jahre in der Goa-Szene
(des Techno) der 90er" (Klein 1999, 78).
Man kommt inzwischen nicht umhin, der
Vielfalt der jugendkulturellen Lebensstile in
Familie, Schule, Ausbildung, Freizeit und
Gleichaltrigengruppe, dem bunten Kaleidoskop oder der Atomisierung verschiedener Lebens-, Lern- und Arbeitsformen, dem
Stiltransit, dem Crossover und dem Sampling der Codes und Moden, dem heute
beliebten postalternativen und (post-)modernen durchlässigen Szene-Surfen, der
Differenzierung, Pluralisierung und Vermischung, aber auch der permanenten Grenzen überschreitenden Polarisierung von
Jugendkulturen Rechnung zu tragen.
Literatur:
Baacke, D.: Jugend und Jugendkulturen. WeinheimBasel (4. Auflage) 2004.
Farin, K.: generation kick.de. Jugendsubkulturen heute.
München 2001.
Farin, K.: Wie politisch sind die Jugendkulturen heute?
In: Das Parlament, 55 Jg., Heft 44 vom 31. Oktober
2005, 5.
Ferchhoff, W.: Jugendkulturen im 20. Jahrhundert. Von
den sozialmilieuspezifischen Subkulturen zu den individualitätsbezogenen Jugendkulturen. Frankfurt/Main et.
al. 1990.
Ferchhoff, W.: Jugendkulturen. Berlin 2000.
Ferchhoff, W.: Jugend und Jugendkulturen im 3. Jahrtausend. Lebensformen und Lebensstile, Wiesbaden
(3. vollständig überarbeitete Auflage) 2006.
Hitzler, R./Bucher, Th./Niederbacher, A.: Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute.
Opladen 2001.
Heath, J./Potter, A.: Konsumrebellen. Der Mythos der
Gegenkultur. Berlin 2005.
Klein, M.: Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie.
Hamburg 1999.
Neumann-Braun, K./Richard, B. (Hrsg.): Coolhunter
Jugendkulturen zwischen Medien und Markt. Frankfurt/
Main 2005.
Zinnecker, Jürgen: Metamorphosen im Zeitraffer: Jungsein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts In: Levi,
G./Schmitt, J.-C. (Hrsg.): Geschichte der Jugend. Von
der Aufklärung bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main
1997, 460-505.
Professor Dr. Wilfried Ferchhoff lehrt
im Bereich Erziehungswissenschaften
und Sozialpädagogik an der Ev. Fachhochschule Bochum und der Universität Bielefeld.
„Die Jugend“ hat sich in den letzten 25 Jahren in eine unüberschaubare Artenvielfalt oft widersprüchlichster Kulturen ausdifferenziert. Inmitten eines zahlenmäßig nach wie vor dominanten jugendlichen Mainstreams entstanden unzählige subkulturelle Szenen und Cliquen, Gangs und Posses, Tribes und Families
mit jeweils eigenem Outfit und eigener Musik, eigener Sprache und eigenen
Ritualen, mit zum Teil fließenden Übergängen und gleichzeitig scharf bewachten Grenzlinien, die für Außenstehende oft nicht einmal erkennbar sind. Viele
der Szenen bieten Sinn an.
JUGENDKULTUREN ALS
SINNSUCHERGEMEINDEN
Zum Beispiel: Gothics und Jesus Freaks
Klaus Farin
Die Zahl und Vielfalt der Jugendkulturen stieg in dem Moment explosionsartig an, in dem der Prozess der
„Individualisierung“ der bundesdeutschen
Gesellschaft einen ersten Höhepunkt erreichte. Soziale Milieus und andere einstmals verbindliche Grenzen zwischen Klassen und Ethnien, Religionen und Regionen
erodierten zusehends, traditionelle Familienstrukturen verloren ihre Monopolstellung. Mit der Flexibilisierung der Lebensverhältnisse und -anschauungen reduzierte
sich zwar nicht die Moral oder der individuelle Werte-Haushalt als solches, wohl
aber der von Staat und Mehrheitsgesellschaft vorgegebene und für alle Bürger
zumindest moralisch verpflichtende Wertekanon auf ein notwendiges Minimum. Zahlreiche Entscheidungen des Lebensalltags
blieben nun dem Individuum überlassen.
Da die herkömmlichen „Agenturen“ mit
ihren traditionellen Verbindlichkeitsansprüchen und Gesellungsformen dieser komplexen Realität nicht mehr gerecht werden,
begibt sich der Einzelne notgedrungen
selbst auf die Suche nach temporären
Sinn-Gemeinschaften. Die Jugendkulturen
befriedigen dieses Bedürfnis, bringen
Ordnung und Orientierung in die überbordende Flut neuer Erlebniswelten. Jugendkulturen sind Beziehungsnetzwerke, Solidargemeinschaften, deren Angehörige einander häufig bereits am Äußeren erkennen.
Sie füllen als Sozialisationsinstanzen das
Vakuum an Normen, Regeln und Moralvorräten aus, das die zunehmend unverbindlichere, entgrenzte und individualisierte
Gesamtgesellschaft hinterlässt. Jugendkulturen liefern Jugendlichen Sinn, Identität
und Spaß.
Respekt
Szenen bieten Jugendlichen, was sie in
dieser Gesellschaft am meisten vermissen:
Anerkennung. Viele Erwachsene, so klagen
Jugendliche immer wieder, sehen Respekt
offenbar als Einbahnstraße an. Sie verlangen von Jugendlichen, was sie selbst nicht
zu gewähren bereit sind, bzw. sie beharren
eisern auf ihre Definitionshoheit, was anerkennungswürdig sei und was nicht: Gute
Leistungen in der Schule werden belohnt,
dass der eigene Sohn aber auch ein exzellenter Hardcore-Gitarrist oder Skateboarder ist, die Tochter eine viel besuchte
Gothic-Homepage gestaltet, interessiert
zumeist nicht – es sei denn, um die Freizeitinteressen des Nachwuchses zu problematisieren: Bleibt da eigentlich noch
genug Zeit für die Schule? Musst du immer
so extrem herumlaufen, deine Lehrer finden
das bestimmt nicht gut...
Jugendkulturen sind (zumindest für den
Kern der Aktiven) Orte kreativen Engagements, der Entwicklung von Medien- und
Kommunikationskompetenz – und damit
letztendlich Selbstbewusstsein. Ein Skateboarder erwirbt sich im Laufe der Zeit ein
erstaunliches körperliches Geschick, das
manchen Fußballbundesligaprofi vor Neid
erblassen ließe; nur wenige universitär ausgebildete Designer erreichen die künstlerische Ausdrucksstärke eines Graffiti-Sprayers, der seinen Stil im jahrelangen Training
auf der Straße entwickelt hat. Und nicht
zuletzt verfügt jede Jugendkultur über eine
eigene „Fachsprache“, die die angeblich
immer „sprachloser“ werdenden Jugendlichen, die nicht einmal „einfachste, vollständige Sätze verstehen oder formulieren“
können (so klagen zumindest viele Lehrer/-innen) perfekt beherrschen, während
Außenstehende, vor allem Erwachsene,
nur Bahnhof verstehen:
„Lieber einen coolen Freeze beim Breaken
als einen verkrampften Powermove ohne
stylischen Abgang ...“
„Die sind ultrafresh. Gehen teilweise voll im
oldschool-style ab, kicken Skills und haben
den totalen Flow ...“
Zum Beispiel: Jesus Freaks
Anfang der 90er Jahre wagten einige
Punks, drogenabhängige und obdachlose
Jugendliche in Hamburg auf der Suche
nach einem neuen Sinn für ihr Leben den
Weg in die Kirche. Doch sie wurden nicht
etwa mit offenen Armen empfangen, sondern wegen der abgewetzten Kleidung, der
rüde-unbeholfenen Umgangsformen und
des sichtbaren Alkohol- und Drogenkonsums eher missbilligend angesehen; die
neugeborenen Christen ihrerseits konnten
mit den konventionell-steifen Formen der
Gottesdienste und der gewöhnungsbedürftigen christlichen Musikbeschallung
wenig anfangen. So gründeten die
„Freaks“ ihre eigene Gruppe. Genügte
zunächst ein Wohnzimmer für die regelmäßigen Gebetsrunden und „Jesus-AbhängAbende”, so dürften es heute bundesweit
rund 8 bis 10.000 überwiegend UnterDreißigjährige sein, die sich zu den „Jesus
Freaks“ dazuzählen.
Das Ziel der neuen jungen Gemeinden
waren nicht abweichende Glaubensinhalte
– die Jesus Freaks sind keine sog. Sekte –,
sondern die Erweiterung des christlichen
Kundenspektrums. Sie wollten schlicht
ihresgleichen ansprechen, die jugendlichen
Randgruppen und Marginalisierten der Gesellschaft: Punks und Skins, Kiffer, Junkies
und Alkis, Rocker und Stricher, kurzum: all
diejenigen, bei denen der typische Kirchenbesucher enerviert die Nase rümpft. „Wir
sind der Überzeugung, dass es trotz Papst,
Hexenverbrennung, Geld scheffelnden
TV-Predigern und klerikalen Langweilern
nichts Radikaleres gibt, als mit Jesus zu
leben“, heißt es in einer frühen Selbstverständniserklärung der Freaks.
„Unser Gebet ist es, eine neue Bewegung
unter jungen ausgeflippten Leuten in ganz
Deutschland auszulösen, die ähnlich der
,Jesus-People-Bewegung’ in den 60er und
70er Jahren ein radikales Leben mit Jesus
als das Coolste, Feurigste, Intensivste und
Spannendste überhaupt verwirklicht.“
Laut und schrill waren sie von Anfang an –
eine typische Jugendkultur der 90er Jahre,
die darum weiß, dass die MTV-Generation
nicht mehr durch meditative Gesänge, sondern nur noch durch knallige Events
erreicht werden kann.
So predigten sie mal halbnackt, mal in
Bahnhofstoiletten, kleideten ihre Botschaften in härteste Musik oder trieben einen der
ihren, als „Jesus“ kostümiert, mit Schlägen
und überströmt von Kunstblut über den
Hans-Albers-Platz, um ihn schließlich an
ein Kreuz zu hängen und dort predigen zu
lassen. „Jesus hat heftige Bilder benutzt,
die die damalige Gesellschaft zutiefst
schockierten. Er sprach mit Prostituierten,
aß mit den verhassten Sündern und
schwang die Peitsche im Gotteshaus. Gott
hat die Jesus Freaks berufen, schrill und
laut, unüberhörbar in ihrer Stadt zu sein. Es
kostet Mut, schrill und laut zu sein, aber
macht auch ungemein Spaß.“ (www.jesusfreaks.com)
Die Jesus Freaks profitieren von dem spirituellen Vakuum der großen Kirchen und
sammeln erfolgreich vor allem jene in ihren
Reihen, die ihren Glauben auch im Alltag
THEMA
JUGEND
5
leben, ihr Leben mit Hilfe ihres Glaubens
radikal ändern wollen.
So steht nicht die Lehre von Gott im
Mittelpunkt ihrer Gemeinschaft, sondern
die Erfahrung von Gott. Bloße beitragszahlende „Karteileichen“, wie es vier Fünftel
der Kirchenmitglieder inzwischen sind, gibt
es bei ihnen nicht; wer sich den Jesus
Freaks anschließt, will aktiv am spirituellen
Diskurs der Gemeinde partizipieren, Gott
individuell und in der Gruppe „erleben“ und
nicht zuletzt seinen Glauben lautstark in die
Welt hinausschreien, um immer mehr
Heidenkinder an der eigenen Glückseligkeit
teilhaben zu lassen.
Eine weitreichende Reduzierung des gesamten privaten Freundeskreises auf andere Jesus Freaks, Hochzeiten und Wohngemeinschaften innerhalb der Gemeinde
sind logische Nebenfolgen der intensiven Gemeinschaftserfahrung. – Ein Jesus
Freak zu sein, ist ein ganzheitliches Vergnügen, kein Wochenendkult.
Zum Beispiel: Gothics
Es waren vor allem Kinder aus den „besseren Familien“, die zunächst im Punk die
Möglichkeit sahen, dem gesicherten, aber
stinklangweiligen Alltag ihres Lebens und
der Gleichgültigkeit ihrer Eltern zu entfliehen, aber bald merkten, dass sie mit der
Extrovertiertheit der rüden Straßenkinder
nicht klarkamen, und sich so nach und
nach zurückzogen und ihre eigene Szene
aufbauten.
Anders als die Punks standen die bildungsbürgerlich aufgeschlosseneren Grufties zu
keiner Zeit in Fundamentalopposition zur
Mehrheitskultur. Ihre Rebellion war keine
sozial begründete, ihre Provokation keine
politische, sondern eine ästhetische. So
suchten und entdeckten sie auch weiterhin
in der etablierten Kultur Parallelen oder gar
Vorfahren (zu) ihrer eigenen Kultur. Dabei
spielte neben der Musik die Literatur eine
besondere Rolle, bot sie den introvertierten
Schwarzen doch als einziges Medium nicht
nur die Möglichkeit des Rückzugs vom
Alltagslärm der Gesellschaft, sondern auch
Anlässe und Anregungen für die Beschäftigung mit grundlegenden Fragen des
menschlichen Seins.
Autoren wie Hermann Hesse, Friedrich
Nietzsche, H. P. Lovecraft, der misanthrope Schöpfer düsterer Horrorgeschichten,
die schwarzen Romantiker Novalis und
Charles Baudelaire sowie Mary Shelley
(„Frankenstein“), Bram Stoker („Dracula“)
und andere Schöpferinnen und Schöpfer
von Gothic Novels und Vampirgestalten
bevölkern seitdem die Bücherregale der
Schwarzen. Neben Romanen und Lyrik findet sich auch Sachliteratur, die immer wieder um zentrale Themen kreist: der Tod
und mögliche Welten und Reinkarnationen
danach, mittelalterliche und (kirchenkritische) Religionsgeschichte(n), nordische
Mythen, Runenkunde und Esoterik, Magie
und (Neo-)Satanismus.
6 THEMA
JUGEND
Der Tod
Die intensive Beschäftigung mit dem Sinn
des Lebens führt unweigerlich zur Frage
nach dem Ursprung (göttliche Schöpfung?)
und dem Ende allen Seins. Der Tod durchzieht als roter Faden die gesamte GothicKultur. Dahinter steckt nicht nur die Faszination für alles Extreme, im Besonderen
extreme psychische Situationen, sondern
auch das Ziel, den Tod zu entdämonisieren,
als unweigerlich eintretenden Alltagsfall zu
akzeptieren.
Die Gothics sind keine „Subkultur des
Todes“, die ihre Mitglieder in den Suizid
treibt, wie es sensationsheischende Medienreportagen gerne behaupten, sondern
ein Versuch, sich mit der eigenen Einsamkeit und Todesnähe kritisch und gemeinsam mit anderen auseinanderzusetzen. Die
Beschäftigung der Gothics mit dem Tod
entwickelt sich also nicht aus eigener Todessehnsucht, sondern führt zur Todesakzeptanz. Das ist ein Unterschied.
Schon bei der häufigen Darstellung des
Todes in Songtexten, Gedichten und Bildern fällt auf, dass wirklich blutrünstige
Motive selten auftauchen. Bevorzugt werden ästhetische Bilder, häufig mit erotischen Bezügen. Der todbringende Biss
des Vampirs wird zum Kuss, die präsentierten Körper von (Un-)Toten sind nicht
durch Gewalttaten deformiert, sondern
ruhen in Frieden, oft in weiße (!) Gewänder
gehüllt, Symbole für Reinheit und Unschuld, während sich die noch Lebenden
fast ausschließlich schwarz gewanden.
Die Farbe Schwarz symbolisiert seit jeher
das Böse, Triebhafte, Unheimliche, eben
„Dunkle“ (Luzifer, Raben, Fledermäuse,
Wölfe, schwarze Magie im Gegensatz zur
heilenden weißen Magie), aber auch Trauer
und Tod, den (zeitweiligen oder ewigen)
Rückzug aus der Gesellschaft der Menschen. Schwarz signalisiert wie keine andere Farbe (selbst gewählte) Ausgrenzung,
Distanz, aber auch Selbstbewusstsein und
Stärke.
Die Gothics sind ein melancholisches
Völkchen. „Happy Gothics“, wie sich ein
Grüppchen Münsteraner Schwarzer provokativ nennt, sind ein Widerspruch in sich,
zumindest eine Kuriosität. Obwohl es seit
einigen Jahren immer mehr von ihnen gibt,
fallen Gothics im Stadtbild kaum auf. Immer auf der Suche nach dem Sinn ihrer
eigenen Existenz und neuen Formen und
Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Persönlichkeit, leben sie gerne zurückgezogen in den
eigenen vier Wänden, lesen viel, schreiben
eigene Gedichte und Prosa, malen oder
gestalten selbst ihre Wohnung, hören
Musik und diskutieren mit gleich gesinnten
Besuchern und Besucherinnen. Auch an
den Wochenenden ziehen sie häufig die
kontemplative Stille der Natur dem hektischen städtischen Leben vor. Ausflüge in
nahe gelegene Wälder (vor allem im
Herbst), zu möglichst alten, verwitterten
und verwilderten Kirchen, Burgen, Ruinen
und Friedhöfen sind populäre Freizeitinteressen der Gothics.
Auch mit der bunten Welt der übrigen
Jugendkulturen wollen sie nichts gemein
haben. Bei Techno-Raves, HipHop-Jams
und anderen schrillen, lautstarken Events
trifft man sie nicht. Auch Sport ist in der
Regel nicht ihr Ding. Zu schnell, zu konkurrenzorientiert. Existieren mehrere Exemplare ihrer Gattung an einer Schule, sondern sie sich gerne vom lautstarken Pulk
der Mitschüler in eine ruhigere Ecke ab.
Lediglich ausgewählte Punks und Black
Metaller dürfen sich ihnen als anerkannte
Artverwandte bisweilen respektvoll hinzugesellen.
Die Gothics sind eine Mondkultur inmitten
von Sonnenkulten. Der Mond symbolisiert
Sehnsucht und die Zeit seiner Präsenz, die
Nacht, bedeutet Stille und Einsamkeit; sie
ist aber auch der bevorzugte Spielort der
Sexualität; die Ästhetik der Nacht(geschöpfe), die Vielfalt ihrer Farben, Töne,
Gerüche enthüllt sich nicht dem oberflächlichen Betrachter. In der Mythologie zahlreicher Religionen und auch in den meisten
Sprachen wird der Mond – Luna – dem
weiblichen Geschlecht zugeordnet. Und in
der Tat sind die Gothics sowohl in ihrer
Ästhetik als auch in der realen Geschlechterpräsenz eine stark weiblich geprägte
Kultur.
Ästhetik und Provokation
Keine andere Jugendkultur, nicht einmal
Techno, inszeniert sich und ihre Körper mit
so viel Ausdauer, Freude und Lust. Keine
andere Szene präsentiert sich so offen erotisch aufgeladen wie die Gothics.
Außenstehende empfinden den Stil der
Schwarzen häufig als Provokation. Und
das, obwohl Gothics selbst in großen
Gruppen in der Regel eher stille, introvertierte Wesen sind, die sich weder prügeln
noch öffentlich lautstarke Gesänge oder
Parolen anstimmen. Doch ihre schwarze
Ästhetik wirkt inmitten der bunten Vielfalt
der Warenwelt wie ein störender Schmutzfleck; sie widersprechen allein durch ihre
Präsenz den gängigen Jugend-, Schönheits- und Körperbildern und unterlaufen
damit die Verdrängungssehnsüchte der
Gesellschaft.
Literatur:
Farin, Klaus/Wallraff, Kirsten: Die Gothics. Bad Tölz
2001.
Farin, Klaus: Freaks für Jesus. Die etwas anderen
Christen. Archiv der Jugendkulturen, Berlin 2005.
Farin, Klaus: Jugendkulturen in Deutschland, Band 1:
1950-1989. Bundeszentrale für politische Bildung,
Bonn 2006.
Klaus Farin ist Fachautor, Dozent und
Leiter des Berliner Archivs der Jugendkulturen e.V. (www.jugendkulturen.de).
Kontakt:
[email protected]
Wie bewerten Kinder und Jugendliche die vielschichtige und bunte Szene
unterschiedlicher Stile und Kulte? Was lehnen sie ab, was tolerieren sie, was
finden sie gut? Um diese Fragestellungen geht es der Autorin, die zum Team der
Jugendforscher/innen an der Uni Siegen gehört. Also: Wie sehen Kinder und
Jugendliche (in Nordrhein-Westfalen) die jugendkulturelle Szene? Ein wichtiges
Ergebnis ist u.a., dass sie klare Bewertungen vornehmen, sich auch abgrenzen.
Aber insgesamt sind die Befragten nicht Gegner der vielschichtigen Szene,
sondern (wie die Autorin feststellt), toleriert die Mehrheit der Jugendlichen
diese bunte Szene – mit einer wichtigen Ausnahme: Skinheads werden von der
überwiegenden Zahl der hier befragten Kinder und Jugendlichen abgelehnt.
IN UND OUT
Ablehnung und Akzeptanz jugendkultureller
Szenen
Sabine Maschke
Warum ist die Zugehörigkeit zu
Szenen so wichtig für Jugendliche?
Um diese Frage zu beantworten, muss hier
kurz auf die Veränderungen und Anforderungen eingegangen werden, die mit der
Lebensphase Jugend einhergehen: Die
Veränderungen des Körpers während der
Pubertät sind rasant und nicht kontrollierbar, „der Körper macht etwas mit dem
Jugendlichen“ und die Jugendlichen haben
sich mit ständig wechselnden „Körperbildern“ (Frohmann 2003, 144) auseinanderzusetzen. Im Zentrum steht nun die Aufgabe, mit „dem eigenen Erscheinungsbild
identisch zu werden“, den eigenen Körper
„bewohnen“ zu lernen, Innenleben und
Körper in Einklang zu bringen (Fend 1994,
115).
Zudem befinden sich Jugendliche heute in
einem Zwiespalt: Freiräume ergeben sich
einerseits durch die Verlängerung der
Schul- und Ausbildungszeiten, die Optionen zur Berufs- und Lebensgestaltung
waren noch nie so vielfältig, sie können aus
einem schier unerschöpflichen Waren- und
Freizeitangebot auswählen und haben in
vielen Fällen auch die finanziellen Ressourcen dazu. Auf der anderen Seite haben
Jugendliche dabei die Qual der Wahl – und
in diesem schwierigen Prozess der Entscheidungsfindung fehlt es an richtungsweisenden Vorbildern, da es die Normalbiografie nicht mehr gibt. Auch Erwachsene können kaum mehr Antworten und Lösungen auf komplexe Fragen und Probleme geben.
Hier kommen die Altersgleichen ins Spiel,
die in der Adoleszenz zu „unentbehrlichen
Umwelten“ (Fend 1998, 231) werden. Die
Gleichaltrigen stellen Partner/innen oder
Verbündete, Vorbilder und Gleichgesinnte
in dem Versuch dar, sich mit anderen zu
vergleichen, sich selbst zu bewerten und
zu positionieren, aber auch abzugrenzen
von anderen. Interessant sind die „peers“
auch deshalb, weil sie verschiedene Iden-
titäten im Angebot haben, die es auszuprobieren gilt. Sie bieten Identitätsvariationen,
die ihren Ausdruck in verschiedenen
jugendkulturellen Praxen finden, an denen
der Einzelne zu partizipieren lernt, beispielsweise bestimmte Symbole zu gebrauchen, sich auf spezielle Weise zu stylen oder einen spezifischen Musik- oder
Sprachstil zu pflegen. Der Einzelne empfindet sich beispielsweise als Punk, ist ein
Gothic oder Jesus Freak – und damit Teil
eines speziellen Habitus, der der Szene zu
Eigen ist.
Zugehörigkeiten, aber auch Wechsel zwischen verschiedenen Szenen, tragen somit
zur Identitätsfindung bei: Soziale Zugehörigkeiten werden nach innen und außen
demonstriert, auch indem sich Jugendliche
von anderen möglichen Zugehörigkeiten
abgrenzen. Die Frage ist nun, welche
Praxis der Abgrenzung sich empirisch findet: Müssen Gegen- und Feindbilder produziert werden, um in der schier unbegrenzten Weite der Jugendszenen und -stile einen Platz zu finden? Oder schlichter
ausgedrückt: Welche jugendkulturellen
Szenen und Gruppen werden akzeptiert,
welche werden abgelehnt – was ist in, was
ist out?
Die Studie
Bezogen wird sich hier hauptsächlich auf
die Kinder- und Jugendstudie „null zoff &
voll busy“ (Zinnecker et al. 2003). Im
Rahmen dieser Panorama-Studie wurden
im Herbst 2001 knapp 8.000 Heranwachsende im Alter zwischen 10 und 18
Jahren in Nordrhein-Westfalen zu ihrer
eigenen und zur gesellschaftlichen Zukunft,
zu ihren Wertorientierungen und zu ihrer
Befindlichkeit in wichtigen Lebensbereichen (Schule und Ausbildung, Familie, Gesundheit, Freizeit, Medien, Kinder- und
Jugendkultur u.a.) schriftlich befragt, zusätzlich äußerten sich die Kinder und
Jugendlichen in über 1.000 Aufsätzen.
Wir haben gefragt: „Wie stehst Du zu diesen Gruppen?“ 26 Gruppierungen waren
vorgegeben, in dem Bemühen, die Pluralität der Kulturen und Szenen zu erfassen.
Mit den Vorgaben (siehe Tabelle) sollte das
Spektrum von der Akzeptanz verschiedener Gruppierungen bis hin zur Ablehnung
bzw. aktiven Bekämpfung abgebildet werden.
Folgende Tabelle gibt einen Überblick darüber, wie die befragten 10- bis 18-Jährigen
insgesamt zu einigen (ausgewählten) Gruppen und Szenen stehen:
Es finden sich unterschiedliche Gruppierungen, die sich z.B. als extrem, unkonventionell und provozierend bezeichnen lassen, z.B. die Punks (zwischen Gegenkultur
und Modegag angesiedelt) oder Skinheads
(irgendwo zu verorten zwischen rassistisch-rechtsextremer Einstellung und Gewalt oder als Teil einer Freizeit- und Spaßkultur; Musik, Party, Bier; vgl. Farin 2002,
119), dann Gruppierungen, die als Ausdruck einer komplexen Musikkultur, wie
HipHop (sowohl „message music“, Straßenkultur als auch populäre Mode, vgl.
ebd., 136 f.) oder Fanszene (Fußballfans)
gelten können und schließlich Gruppen, die
sich mit der Kultivierung alternativer Lebensformen, mit ökologischen Fragen, beschäftigen (Atomkraftgegner, Friedensbewegung).
In der Gegenüberstellung der ersten beiden Gruppierungen Punks und Skinheads
polarisieren sich die Einstellungen der Be-
Tabelle 1: Wie stehst Du gegenüber …
(1) Ich rechne mich selbst dazu/
lebe so ähnlich.
(2) Ich gehöre nicht dazu,
finde solche Leute aber ganz gut
(3) Die Gruppe ist mir ziemlich egal/
kann ich tolerieren.
(4) Die Gruppe kann ich nicht
so gut leiden.
(5) Das sind Gegner von mir/
Ich bekämpfe sie.
(6) noch nie gehört
Punks
Skinheads HipHop Fußball- Kernkraft- FriedensFans
gegnern bewegung
Junge
Christen
3%
3%
17%
28%
6%
10%
21%
13%
2%
38%
22%
23%
41%
17%
45%
13%
23%
32,5%
27%
25%
35%
29%
39%
11%
10,5%
15%
6%
11%
6%
5%
41%
4%
4%
8%
4%
3%
9%
19%
3%
15%
4%
12%
THEMA
JUGEND
7
fragten: Fast der Hälfe der Jugendlichen
sind Punks „ziemlich egal“, Skinheads werden jedoch nur von 13 % der befragten
Jugendlichen toleriert. Als Gegner oder
Feinde, die man bekämpft, bezeichnen gar
41 % der Befragten die Skinheads, annähernd so viele Befragte können sie auch
„nicht so gut leiden“. Die Einstellung gegenüber Skinheads ist eindeutig, als extreme Gruppierung scheint sie extreme Einstellungen und Abgrenzungen herauszufordern. Punks hingegen werden im Großen und Ganzen toleriert.
Positiver ist die Einstellung gegenüber der
HipHop-Szene: Rechnen wir alle drei positiv formulierten Aussagen (Antwortvorgaben 1 bis 3) zusammen, zeigt sich, dass
gut drei Viertel der Befragten diese Szene
tolerieren oder ihr mehr oder weniger
zuneigen.
Fußballfans werden von den Befragten als
Teil einer ähnlich akzeptierbaren und integrierbaren Szenenumwelt gesehen. Hier
werden mehrheitlich keine Gegen- oder
Feindbilder produziert, im Gegenteil: Bei
den Fußballfans rechnet sich gut ein Viertel
selbst dazu und fast ein Viertel der Befragten findet „solche Leute aber ganz gut“,
auch wenn sie selbst der Szene nicht angehören.
Interessant ist die Einstellung gegenüber
Kernkraftgegnern und Anhängern der
Friedensbewegung als Gruppierungen mit
gesellschaftskritisch-politischem
Hintergrund: Die Friedensbewegung wird von der
Mehrheit der Befragten mitgetragen, rechnen wir die zustimmenden bzw. eher
zustimmenden Aussagen zusammen,
kommen drei Viertel der Befragten gut mit
dieser Gruppierung klar. Aber: 15 % kennen diese Bewegung nicht bzw. haben
davon „noch nie gehört“. In Bezug auf die
Kernkraftgegner sind es gar 19 %, die davon noch nichts gehört haben; hier scheint
auch bei den Befragten eine etwas ablehnendere Haltung vorzuliegen: 15 % können
diese Gruppe nicht gut leiden, 9 % erklären
sie zu Feinden. Aber: Über 50 % akzeptieren oder tolerieren sie.
Gruppe tolerieren zu können. Andererseits
werden im Altersvergleich auch Polarisierungen deutlich: Die mittlere Altersgruppe
gibt mit 33 % am häufigsten an, Punks
nicht so gut leiden zu können, sie stellen
zudem auch die stärkste (12 %) Gegnerschaft dar. Vor allem die Realschüler/innen
zeigen sich mit 35 % („kann ich nicht so gut
leiden“) dabei am ablehnendsten (im Vergleich dazu die Hauptschüler/innen mit nur
24 % bzw. Gymnasiasten/Gymnasiastinnen mit 29 %). Deutlich wird auch, dass die
Jüngsten mit Punks noch wenig anzufangen wissen, 40 % der 10- bis 12-Jährigen
haben „noch nie“ von ihnen gehört.
Bei der Einstellung gegenüber Skinheads
(ohne Abbildung) ergeben sich, mit Ausnahme der 10- bis 12-Jährigen, kaum
Altersdifferenzierungen: Ein großer Teil der
Jüngsten (50 %) kennt die Gruppe der
Skinheads gar nicht und äußert sich im
Vergleich zu den Älteren insgesamt zurückhaltender. Gesamtschüler/innen und Gymnasiasten/Gymnasiastinnen bilden die
stärkste Gegnerschaft („das sind Gegner
von mir“) gegen Skinhead.
Ein anderes Bild ergibt sich für die Gruppe
der Tierschützer (ohne Abbildung): Fast 40
% der 10- bis 12-Jährigen bezeichnet sich
selbst als Tierschützer (bei den 13- bis 15Jährigen sind dies nur 15 %, bei den 16bis 18-Jährigen sogar nur noch 7 %). Der
Tierschutz zählt für diese Altersgruppe, wie
die Auswertungen anderer Fragen zeigen,
generell zu den wichtigsten Bereichen persönlichen Engagements.
HipHop
10-12 Jahre
13-15 Jahre
16-18 Jahre
(1) Ich rechne mich selbst dazu/ lebe so ähnlich.
(2) Ich gehöre nicht dazu, finde solche Leute aber ganz gut.
(3) Die Gruppe ist mir ziemlich egal/ kann ich tolerieren.
(4) Die Gruppe kann ich nicht so gut leiden.
(5) Das sind Gegner von mir/ Ich bekämpfe sie.
(6) noch nie gehört
18%
35%
20%
10%
3%
14%
16%
43%
23%
10%
5%
3%
18%
36%
30%
11%
3%
1%
Punks
10-12 Jahre
13-15 Jahre
16-18 Jahre
(1) Ich rechne mich selbst dazu/ lebe so ähnlich.
(2) Ich gehöre nicht dazu, finde solche Leute aber ganz gut.
(3) Die Gruppe ist mir ziemlich egal/ kann ich tolerieren.
(4) Die Gruppe kann ich nicht so gut leiden.
(5) Das sind Gegner von mir/ Ich bekämpfe sie.
(6) noch nie gehört
2%
8%
16%
23%
8%
43%
3%
9%
32%
33%
12%
10%
2%
13%
45%
29%
6%
5%
8 THEMA
JUGEND
Mit Blick auf die Gruppe der Punks zeigen
Mädchen/junge Frauen eine tolerantere
Haltung, seltener als Jungen sagen sie aus,
diese „nicht so gut leiden“ zu können (25 %
vs. 34 %). Anders verhält es sich gegenüber der Gruppe der Skinheads: 42 % der
Mädchen gegenüber 34 % der Jungen
sagen aus, Skinheads abzulehnen; zu fast
gleichen Teilen formulieren sie eine aktive
Gegnerschaft gegenüber dieser Gruppierung.
Tabelle 3: Bewertung HipHop und Differenzierung nach Alter
Tabelle 2: Welche Rolle spielt das Alter bei der Bewertung der Gruppierungen?
Die Tabelle 2 zeigt recht schön, dass einerseits die Toleranz mit dem Alter steigt: 45 %
der 16- bis 18-Jährigen können Punks
tolerieren, die Jüngeren nur zu 16 % bzw.
32 %. Die Gymnasiasten/Gymnasiastinnen
und Gesamtschüler/innen zeigen sich
übrigens am tolerantesten (mit 34 % und
31 %), Real- und Hauptschüler/innen
geben nur zu 22 % und 15 % an, diese
marktung) dieser Szene spricht. Neben
den Grundschüler/innen zählen insbesondere Haupt- und Gesamtschüler/innen (mit
28 % und 30 %) zu den Anhängern der
HipHop-Szene, gegenüber nur 7 % bei den
Gymnasiastinnen/Gymnasiasten und 16 %
bei den Realschüler/innen.
Bemerkenswert ist auch der Vergleich der
Altersgruppen in ihren Einstellung zu den
Jungen Christen (ohne Abbildung): In
Abweichung zur Tabelle 1 rechnen sich je
gut ein Viertel der ganz Jungen und der
mittleren Altersgruppe dazu, bei den 16bis 18-Jährigen sind dies nur noch 12 %.
Solche Leute „ganz gut“ zu finden, geben
vor allem wieder (mit 21 %) die Jüngsten
an. Die Angabe sind mir „ziemlich egal“ findet sich bei der Mehrheit (52 %) der 16-bis
18-Jährigen, was für eine zunehmende
Distanzierung zu religiös motivierten Gruppierungen mit steigendem Alter spricht.
Einige interessante Differenzierungen ergeben sich, wenn wir die Einstellungen zu den
Gruppierungen nach Geschlecht betrachten.
Interessant ist auch die Bewertung der
HipHop-Szene: Hier zeigen sich gegenüber der Gesamtgruppe (siehe Tabelle 1)
kaum nennenswerte Unterschiede: Bereits
die 10- bis 12-Jährigen zählen sich zu 18
% dazu und immerhin 35 % finden „solche
Leute ganz gut“. Nur 14 % haben „noch
nie“ vom HipHop gehört, was insgesamt
für eine große Popularität (und gute Ver-
Ist die Entscheidung für eine Szene bindend? Fühlen sich die Jugendlichen nur
einer Szene zughörig oder gleich mehreren? Jugendliche präferieren in der großen
Mehrheit nicht nur einen Stil bzw. gehören
nicht nur einer Szene an: 44 % der Befragten 10- bis 18-Jährigen geben zwischen 8 bis 12 Stile bzw. Szenen oder
Gruppierungen an, denen sie sich zeitgleich zugehörig fühlen, 20 % bis zu 4 und
29 % zwischen 4 und 8 Gruppen. Die
Multioptionalität, die eingangs als ein wesentliches Charakteristikum heutiger Jugend beschrieben wurde, zeigt sich also
ebenso in den persönlichen „Wahlen" der
Jugendlichen. „Mehrfach“-Szene-Zugehörigkeiten scheinen durchaus üblich zu sein:
Sie sind Teil einer (auch unverbindlichen)
alltagskulturellen Praxis, in der sich unterschiedliche Zugehörigkeiten in der Regel
nicht ausschließen und keine „Stil-Brüche“
darstellen.
Jürgen Zinnecker/Imke Behnken/
Sabine Maschke/Ludwig Stecher
Tabelle 4: Einstellungen gegenüber Szenen nach Geschlecht
(1) Ich rechne mich selbst dazu/ lebe so ähnlich.
(2) Ich gehöre nicht dazu, finde solche Leute aber ganz gut.
(3) Die Gruppe ist mir ziemlich egal/ kann ich tolerieren.
(4) Die Gruppe kann ich nicht so gut leiden.
(5) Das sind Gegner/ Feinde von mir/ Ich bekämpfe sie.
(6) noch nie gehört
Nicht Gegnerschaft –
sondern Toleranz
Gymnasiastin, 14 Jahre: „Bevor ich aber so
alt bin [30 oder 31, d.V.], möchte ich noch
viele abenteuerliche und interessante Dinge ausprobieren und erleben. Beispielsweise Bungee-Jumpen, Wallskating oder
Freeclimbing. Bis jetzt bin ich mit meinem
Leben voll zufrieden, und was mir die
Zukunft bringt wird sich zeigen, denn was
noch alles passieren wird, kann ich mir nur
wünschen. Von der Zukunft träume ich selten, denn wenn ich davon träume, passiert
immer das Gegenteil von dem was im
Traum war. Deshalb lasse ich die Zukunft
einfach auf mich zukommen.“
In diesen ausgewählten empirischen Daten
zeigen sich zum einen Präferenzen für bestimmte Kulturen oder Szenen: Sich selbst
zugehörig fühlen sich die Jugendlichen
allen voran zu den Fußballfans, Skatern,
der HipHop-Szene und (dies als kleine
Überraschung) den Jungen Christen. Im
weiteren Sinne finden sich Sympathisantinnen und Sympathisanten am stärksten gegenüber den Skatern und HipHopern, gefolgt von der Friedensbewegung, Kernkraftgegnern und den Fußballfans.
Strikt abgelehnt wird aber nur eine Gruppierung, und dies in aller Deutlichkeit: die
extreme Rechte, die Skinheads (mit über
40 %!).
Zum anderen spiegelt sich in diesen Daten
das seit längerem diskutierte Bild eines
bunten Nebeneinanders unüberschaubar
vieler Szenen wider. Die aber bei weitem
nicht so unpolitisch und „wertefrei“ zu sehen sind, wie vielfach angenommen: Das
Nebeneinander umfasst die Freizeitszene
(Fußballfans), die am Wochenende Outfit
und Verhaltensweise ändert, ebenso, wie
politisch motivierte Gruppierungen (Tierschutz, ökologische Fragen, Frieden) oder
ästhetisch-modisch bzw. musikalisch initiierte Gruppierungen (Skater, HipHop).
Was in und was out ist, akzeptiert oder
abgelehnt wird, hat sicher auch etwas mit
der Popularität, aber auch der besonderen
Vielfalt mancher Stile zu tun: HipHop beispielsweise ist auch deshalb so beliebt,
weil kaum eine andere Szene die Sprache,
Mode und Begrüßungsrituale annähernd
so prägt (vgl. Farin 2002) – und damit ein
buntes Identifikationsangebot bietet. Mit
Ausnahme der Skinheads findet sich insge-
Punks
w.
m.
Skinheads
w.
m.
3%
13%
52%
25%
3%
5%
1%
1%
12%
42%
40%
3%
2%
13%
36%
34%
10%
5%
2%
3%
13%
34%
43%
5%
samt eine beachtenswert hohe Toleranz
und Akzeptanz gegenüber unterschiedlicher Szenen und Gruppen. Nicht Gegnerschaft und Abgrenzung heißt die Devise,
sondern für die Mehrheit der Jugendlichen
Toleranz und Durchlässigkeit.
Schließlich durchlaufen Jugendliche „so im
Laufe ihrer ‚Teenager’-Jahre ein halbes
Dutzend oder mehr ‚Stile’, ‚Szenen’, sich
im Äußeren niederschlagende musikalische Leidenschaften“ (ebd., 93). Größtenteils, so ein Ergebnis unserer Studie, werden die Szenen und Stile nicht hintereinander „abgearbeitet“, sondern können durchaus auch parallel favorisiert und durchlaufen werden.
Die Jugendlichen nutzen, wie auch in
anderen Bereichen (bspw. Bildung und
Lernen) die Möglichkeitsräume, die die
überaus dynamische Moderne ihnen bietet: Sie probieren sich dort aus, wo sich
neue Trends und Moden, aber auch neue
politische (und Spaß bringende) Handlungsoptionen auftun und bereiten sich so
auf künftige Anforderungen und Herausforderungen vor, gemäß der Philosophie
der Moderne: „Alles ist möglich, doch
nichts ist gewiss“ (Zinnecker et al. 2003,
20).
Literatur:
Farin, Klaus: Generation kick.de. Jugendsubkulturen
heute. München 2002.
Fend, Helmut: Die Entdeckung des Selbst und die
Verarbeitung der Pubertät. Bern 1994.
Frohmann, Matthias: Aspekte einer körperbezogenen
Jugendsoziologie. Jugend – Körper - Moden. In: J.
Mansel et al. (Hrsg.): Theoriedefizite in der Jugendforschung. Weinheim 2003, 144 – 156.
Hitzler, Ronald/Bucher, Thomas/Niederbacher, Arne:
Leben in Szenen. Wiesbaden 2005.
Zinnecker, Jürgen/Behnken, Imbke/Maschke, Sabine/
Stecher, Ludwig: null zoff & voll busy. Opladen 2003.
null zoff & voll busy
Die erste Jugendgeneration des
neuen Jahrhunderts
Die Studie porträtiert eine neue Jugendgeneration, deren Befindlichkeit, Lebensstil und Lebenslage zu Beginn des
21. Jahrhunderts. Eine ungewöhnlich
große Stichprobe von 8.000 jungen Leuten zwischen 10 und 18 Jahren gibt Auskunft über sich, ihr Leben, ihre Umwelt,
ihre Zukunft. Die im Herbst 2001 durchgeführte Studie verbindet Kinder- und
Jugendbefragung, standardisierte Befragung, offene Fragen, freie Aufsätze und
bezieht sie auf ein breites ThemenSpektrum.
Neben neu entwickelten Fragen werden
Aspekte vorangegangener Kinder- und
Jugendbefragungen aufgegriffen. Dadurch
ist es möglich, Trends über Veränderungen von Kindheit und Jugend in den
letzten Jahrzehnten empirisch nachzuzeichnen und die heutige Jugendgeneration mit vorangegangenen Generationen
zu vergleichen.
176 Seiten, mit vielen Abbildungen und
Tabellen, Preis: 12,50 Euro, ISBN 38100-3367-7, Opladen 2003 (2. Auflage).
■
Dr. Sabine Maschke ist Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin. Sie ist tätig
am Siegener Zentrum für Kindheits-,
Jugend- und Biografieforschung der
Uni Siegen (SiZe).
THEMA
JUGEND
9
Der Konsum legaler und illegaler Drogen ist eine Begleiterscheinung in vielen
jugendlichen Szenen und Subkulturen. Panikmache ist nicht angebracht:
Die konsumierende Zahl der Jugendlichen ist in den letzten 30 Jahren konstant
geblieben. Ferner ist hervorzuheben, dass sich der Genuss von illegalen Drogen
in der Regel auf eine bestimmte Lebensphase begrenzen lässt.
zen. Ausgeklügelte Soundeffekte verschaffen trancehypnotische Bewusstseinszustände, die selbst ohne die Zufuhr von
Rauschsubstanzen auskommen.
Panikmache ist unbegründet
JUGENDSZENE NICHT
GLEICH DROGENSZENE
Drogenkonsum in der jugendlichen Subkultur
Ingo Weidenkaff
Nahezu allen Jugendkulturen der
Nachkriegszeit haftet mehr oder minder der Gebrauch von Rauschdrogen an.
Auch wenn im alltäglichen Sprachgebrauch immer wieder von Drogen- oder
Kifferszene in Verbindung mit Heroin,
Kokain, LSD oder Ecstasy die Rede ist,
erscheint eine klare Trennung von Drogenszene und Jugendszene sinnvoll. Jugendliche Subkulturen weisen eine überwiegend
autonome Sozialisationsfähigkeit auf, die
sich markant vom jugendlichen Mainstream abgrenzt.
Im Gegensatz dazu wird die Drogenszene
als „eher assoziatives Netzwerk“ (Gerdes
und v. Wolffersdorf-Ehlert 1974) betrachtet,
indem etwa spezifische Gefühle, motorische Reaktionen, Gedanken und Erinnerungen miteinander vernetzt sind. Situative
Koalitionen sind hier primär anzutreffen,
während in juvenilen Subkulturen überwiegend stabile Gruppenstrukturen vorzufinden sind.
Bereits in den frühen 1970er Jahren entstanden bevorzugt in den Ballungsräumen
der Bundesrepublik lokale Drogenszenen.
Unabhängig von diesen Drogenmilieus entwickelte sich eine unkonventionelle Generation von intellektuellen Beatniks und
friedlich revoltierenden Hippies, die mit LSD
und Cannabis genussvoll experimentierten
und damit unweigerlich gesellschaftliche
Konventionen sprengten.
Waren die bis dato konsumierten Drogen in
der Gesellschaft mehrheitlich akzeptiert,
lösten die sich rasch verbreitenden Modedrogen wie LSD und Marihuana eine Welle
der öffentlichen Empörung aus, die kontroverse drogenpolitische Diskussionen
nach sich zogen. Mit dem Ersatz des alten
Opiumgesetzes durch das neue Betäubungsmittelgesetz wurden Halluzinogene
1971 unter Verbot gestellt und seither in die
Illegalität abgedrängt.
Die in den späten 1960er Jahren an der
amerikanischen Westküste zelebrierten
ersten LSD-Partys (Acid-Tests) erlebten eine Wiederauferstehung in der deutschen
Acid House- und Techno-Kultur der frühen
1990er Jahre. Ihr Motto „Love, Peace and
10 THEMA
JUGEND
Unity“ war angelehnt an die paradiesische
Sehnsucht der amerikanischen HippieSzene. Ecstasy war nun die angesagte
Partydroge, deren Illegalität einen Großteil
von Jugendlichen nicht davon abhielt, den
psychedelischen Sound des Techno zu
„versüßen“.
Laut einer Studie von Tossmann und
Heckelmann (1997) hatten bereits knapp
50 % der Techno-Anhänger Erfahrungen
mit Ecstasy gemacht, lediglich der Cannabis-Konsum lag mit 69 % noch darüber.
Es sei bemerkt, dass sich die Wirkungsrichtung von Ecstasy in der heutigen RaveSzene durch ihre belebende, dem Sound
angepasste Wirkung von den beabsichtigten kontemplativ-passiven Effekten des
Hippie-Rausches der 1960er Jahr abhebt.
Die heutigen Ecstasy-Kreationen unterscheiden sich somit beträchtlich von denen
der 68er-Bewegung und sind im Gegensatz zu den Hippie-Kuscheldrogen als leistungssteigernde Powerdance-Drogen auf
den jeweiligen Techno-Sound zugeschnitten.
Die 1980er Jahre brachten eine soundtechnische Verschmelzung subkultureller
Szenen mit sich. Insbesondere die No
Future-Generationen dieser Zeit entdeckte
Drogen als Fluchtmittel aus ihrem als erdrückend empfundenen Lebensalltag.
Dem GangstaRap wurde seinerzeit eine
Verherrlichung des Drogenkonsums nachgesagt, obschon die meisten amerikanischen ghettobelasteten HipHop-Kids frühzeitig Drogenerfahrungen gesammelt hatten. Auch im Reggae oder in der Punkszene wurde Cannabis thematisiert und
konsumiert. Phlegmatische Slacker und
Grunger verloren sich im Drogenkonsum,
um ihr depressives Lebensgefühl zu betäuben, Anhänger der DarkWave-Szene haben in dieser Zeit Drogen und Medikamente als Antidepressiva für sich entdeckt.
Im Trend stehen heute so genannte GoaFeste (benannt nach dem indischen Hippie-Mekka der 1960er Jahre), auf denen
Besucher/innen aus der Alternativ-Szene
unter Ecstasy-Einfluss zu Techno-Beats
kombiniert mit fernöstlichen Klängen tan-
Der Konsum legaler und illegaler Drogen ist
Begleiterscheinung in vielen Jugendkulturen der Gegenwart. Der Berliner Jugendforscher Klaus Farin kommt zu der Feststellung, dass sich die Konsumgewohnheiten der Jugendlichen, entgegen der
üblichen Skandalisierung, weit weniger
dramatisch verändern. Nach seiner Ansicht
ist der Anteil der Jugendlichen, die bevorzugt illegale Drogen konsumieren, seit den
1970er Jahren konstant geblieben. Auch
von einem „immer mehr“ und „immer jünger“ kann aus seiner Sicht keine Rede sein.
Der Konsum verschiedenster Drogen zählt
heute zum Lebensinhalt vieler Jugendlicher, die jugendkulturelle Bindung hat
dabei sekundären Charakter. Oft bleibt der
Genuss von Drogen beschränkt auf eine
bestimmte Lebensphase, ebenso lässt er
sich bis in die und in der Erwachsenenkultur nachweisen.
Drogenpolitische Problematisierungskampagnen werden von der überwiegenden
Zahl jugendlicher Konsumenten distanziert
und kritisch eingeschätzt. In der Drogenprävention haben sich seit Jahren Projekte
im Rahmen der Peer-Education (z.B. „Eve
& Rave“ in Münster) bewährt. Es zeigt sich,
dass gleichaltrige und szenekundige Personen eine besonders große Glaubwürdigkeit besitzen und am ehesten die Aufmerksamkeit von jugendlichen Drogenkonsumenten, zumindest innerhalb jugendkultureller Szenen, nutzen können, um über
mögliche Gefahren des Drogengebrauchs
zu sensibilisieren.
Literatur:
Amendt, G.: Kiffer, Fixer und hilflose Politiker. In: 50
Jahre das Beste vom Stern. Nr. 24, 14-15, 1998.
Gerdes, K.; v. Wolffersdorf-Ehlert, Chr.: Drogenscene –
Suche nach Gegenwart. Stuttgart 1994.
Jungblut, H.J.: Drogenhilfe – Eine Einführung. Weinheim 2004.
Schmidbauer, W.: Handbuch der Rauschdrogen.
Frankfurt 1989.
Ulrich, W.: Drogen – Grundlagen, Prävention und
Therapie des Drogenmissbrauchs. Mülheim 2002.
http://www.hitzler-soziologie.de/jugendszenen/con4/
drogen/detail.php?nr=344
Ingo Weidenkaff ist Fachreferent bei
der Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Thüringen e.V.
Kirche spielt im Leben der Jugendlichen kaum eine Rolle. Auf der anderen Seite
haben der Tod von Johannes Paul II., die Wahl des Papstes Benedikt XVI. und
vor allem der Weltjugendtag gerade unter jungen Menschen eine ungewöhnlich
hohe Resonanz gefunden. Auch das Medienecho war enorm und von großem
Respekt gekennzeichnet. Wie geht das zusammen? Was kennzeichnet diese
Jugend? Welche Sprache spricht sie? Wofür ist sie ansprechbar? Das Gespräch
darüber fand mit dem Soziologen Matthias Sellmann statt. Es wurde geführt
von Joachim Schwind und erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift NEUE
STADT. Für THEMA JUGEND haben wir es leicht ergänzt und aktualisiert.
Wir bedanken uns bei Joachim Schwind und der Redaktion des Monatsmagazins NEUE STADT.
VOM WORT ZUM SYMBOL
Ein Gespräch mit dem Soziologen Matthias Sellmann
Die Fernsehbilder im Zusammenhang mit dem Tod von Johannes
Paul II. haben überraschenderweise
vorwiegend junge Leute gezeigt ...
Matthias Sellmann: … Mich hat das keineswegs überrascht!
Und warum?
M.S.: Weil dieser Papst die Sprache der
Jugendlichen gesprochen hat wie kein
zweiter. - Die Symbolik! Der Papst war bei
den Jugendlichen – wir sprechen von den
Zwölf- bis 24-Jährigen - enorm populär,
allerdings nicht wegen kirchenpolitischer
Fragen wie dem Priestertum der Frau oder
dem Zölibat; das interessiert die Jüngeren
eher wenig. Aber wenn er aus dem Flugzeug stieg und den Boden küsste, den er
erstmals betrat; wenn er noch als zitternder
Greis ein Kreuz durch das Kolosseum
schleppte; wenn die letzte Geste seines
Lebens die zum Fenster ausgestreckte
Hand war –, dann hat das die jungen Leute
umgehauen. Das entschlüsseln die sofort.
Das waren hochsymbolische Auftritte, die
allerdings – und das war das Überzeugende an diesem Mann – durch sein Leben
gedeckt waren.
Woher kommt die Hochschätzung von
Symbolen bei dieser Jugendgeneration, die sich ja auch beim Weltjugendtag gezeigt hat?
M.S.: Bis vor kurzem lernte man in der
Soziologie, dass es bei uns nach dem
Krieg nur den einen großen Wertewandel
gab: den der 68er Jahre.
Die Vorgängergeneration war geprägt von
„Pflichterfüllung“ und „Ordnungsstreben“
und fügte sich in die vorgegeben Ordnungen ein. Mit der 68er-Rebellion traten
selbstbezogene Werte in den Vordergrund:
„Selbstverwirklichung“, „Betroffenheit“, „Authentizität“, „Emanzipation “.
Doch seit 1989/90 zeichnet sich ein weiterer Wertewandel ab, eine ganz neue Art,
auf die – radikal veränderte - Wirklichkeit zu
reagieren.
Wo liegt der Wandel?
M.S.: Drastisch gesprochen würde ich
sagen: Die junge Generation kann das
Betroffenheitsgerede nicht mehr hören, hat
die ewige Toleranz satt und die Schnauze
voll von der Doppelmoral der 68er, die der
Umwelt zuliebe zwar den Joghurtbecher
spülen, dann aber dreimal im Jahr nach
Lanzarote zum Yoga-Kurs fliegen. Sie reagieren skeptisch auf das alleinige Lebensmotto „Selbstverwirklichung“, weil genau
das der Scheidungsgrund der Eltern war ...
... kurz gesagt: Wie jede Generation
sind die Jugendlichen gegen ihre Eltern!
M.S.: Falsch! Zu meiner Zeit galt es noch
geradezu als schick, gegen seinen Vater zu
sein. Das ist heute nicht mehr so eindeutig
der Fall. Der Wertewandel der Jüngeren ist
vielmehr ausgelöst von den gesellschaftlichen Veränderungen: vom Fall der Mauer,
der Neuordnung von gesellschaftlichen
Feindbildern, der kulturellen Vielfalt durch
die europäische Integration, der noch stärker gewordenen Amerikanisierung des
Alltags, dem Internet, aber auch von einem
stärkeren Bewusstsein um die Bedrohung
durch Naturkatastrophen oder Terrorismus.
Aber diese Veränderungen haben wir
doch alle erlebt!
M.S.: Richtig, aber die Jugendlichen kennen nichts anderes. Sie sind in dieser veränderten Wirklichkeit groß geworden. Der
Punkt liegt im Folgenden: Die genannten
Entwicklungen führen dazu, dass die Jüngeren heute keine Begriffe und Programme
mehr haben, um sich nach außen verständlich zu machen. Sie haben hierzu nur
noch Symbole. Lassen Sie es mich an
meinem Lieblingsbeispiel erklären, dem
Tchibo-Effekt:
Wenn früher einer sagte, er gehe zu Tchibo,
dann wusste man, er kauft Kaffee. Solche
sicheren begrifflichen und daher sozialen
Routinen gab es in allen Lebensbereichen:
Wer Mitglied bei den Sozialdemokraten
war, setzte sich ein für soziale Gerechtigkeit, und wer sich für die Weltmeisterschaft
im Ski-Langlauf interessierte, kannte viele
skandinavische Ortsnamen.
All diese Sortierungsmechanismen sind
heute weggefallen: Wer heute zu Tchibo
geht, kauft sich Unterwäsche oder schließt
eine Versicherung ab, der damalige SPDKanzler galt als Genosse der Bosse, und
der Langlaufweltcup startete auf Kunstschnee in der Düsseldorfer Innenstadt.
Das bedeutet: Wir haben heute eine Krise
des Wortes und des Begriffes. Unsere
Mitgliedschaften und Verhaltensprogramme erklären unseren Mitmenschen nicht
mehr, wer wir sind. Und während wir Älteren hier noch etwas vermissen, haben die
Jugendlichen ihre Verständigungsart längst
auf symbolische Kommunikation umgestellt.
Welche Symbole sind das?
M.S.: Vor allem das Outfit! 93 Prozent der
Jugendlichen halten ihr Äußeres für wichtig
oder sehr wichtig. Das oft so verpönte
Markenbewusstsein der Jugendlichen ist
keine billige Abhängigkeit von geschickten
Konsumstrategien, sondern ihr Versuch,
einer Symbolfamilie anzugehören und hierüber für Andere verständlich zu sein. Pointiert gesagt: Ein Schuh von Nike sagt heute mehr über mich aus, als die Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche.
Körper, Mode, die Wahl der Jugendszene,
die Wohnungseinrichtung, mein Freundeskreis, ob die Baseballkappe nach vorne
zeigt oder nach links, ob die Haare aufgestellt sind oder runterfallen: Das sind alles
Botschaften, durch die sich junge Leute
heute verständigen.
Wenn man diesen Wechsel von der Begriffs- zur Symbolsprache missachtet oder
gar grundsätzlich kritisiert, wie das die Politik oder die Kirchen gerne tun, verpasst
man die zentrale Möglichkeit der Kommunikation mit dieser Jugend.
Sie zeichnen ein anderes Bild als das
der unpolitischen, leistungsunwilligen,
entscheidungsschwachen und spaßorientierten Jugend?
M.S.: In der Tat. Was Sie aufzählen, sind
verbreitete Klischees, die an der Wirklichkeit vorbeigehen. Unpolitisch sind die Jugendlichen nur dann, wenn wir sie am Politikverständnis der 68er Generation messen. Die gehen heute nicht mehr auf eine
Demo gegen Atomwaffen, und schon gar
nicht werden sie Mitglieder in der Gewerkschaft wegen der allgemeinen sozialen
Idee.
Trotzdem sind sie politisch durchaus aktiv:
Sie betreiben Solidaritätsforen im Internet,
organisieren Markenboykotte, stimmen ab
mit Fernbedienung oder Handy. Nicht wählen zu gehen, ist ja auch eine Art politisches
Statement – wenn auch anders, als wir
THEMA
JUGEND
11
Älteren uns das erhoffen. Ich will allerdings
nicht verhehlen, dass unsere Gesellschaft
auf dem Prinzip der Mitgliedschaft aufbaut
und die Mitgliedschaftsunwilligkeit der Jüngeren da durchaus ein Problem heraufbeschwört.
Entscheidungsschwach sind Jugendliche
vielleicht bei langfristigen Projekten, die mit
ihrer Lebenswelt wenig zu tun haben oder
deren Verwirklichung – zum Beispiel durch
die hohe Arbeitslosigkeit – ohnehin in Frage
steht. Anders ist das bei so genannten
„Nah-Welt-Themen“, also bei der Frage,
welche Tapete mein Zimmer haben soll, in
welches Konzert ich gehe, mit welchen
Leuten ich mich an welchen Plätzen treffe,
welche Hose von welcher Marke ich kaufe.
Falsch ist auch das Klischee, Jugendliche
wollten nur Spaß und seien leistungsunwillig. Studien belegen, dass sie sehr wohl
bereit sind, ihren Weg zu gehen. Sie haben
zum Teil sogar eine - durchaus problematische – ausgeprägte Bereitschaft, sich von
Schwächeren abzugrenzen.
Welche großen Ziele haben diese Jugendlichen?
M.S.: Das ist eine typische Frage der älteren Generation! Muss ein Leben ein großes
Ziel haben? Vielleicht wird uns diese Generation beweisen, dass man auch mit dem
Kleinen zufrieden sein kann, dass auch ein
Fragment Glück bedeutet, dass auch in
einer Episode Großes mitschwingen kann.
Brauchen wir wirklich diesen maßlosen
Anspruch an das eigene Glück, an das
Gelingen der Gesellschaft, den die 68er in
die Welt gepflanzt haben?
Die Jugend heute will nicht die Welt anhalten, sondern einfach nur „ein paar Dinge in
den Griff kriegen“: In welcher Stadt werde
ich leben? Mit welchen Freunden zusam-
men sein? Werde ich einigermaßen Geld
verdienen?
Und wie halten diese jungen Leute es
mit der Religion?
M.S.: Die Jugendkultur ist voll von Religion.
Wer heute ins Kino geht, ein Konzert besucht, in der Disco tanzt oder Werbeblöcke
anschaut, der kommt an Religion nicht vorbei: Kathedral-Scheinwerfer, liturgische
Gewänder, pyramidenähnliche Aufbauten
und jede Menge religiöser Symbole.
Und die Kirchen?
M.S.: „Die ignorieren wir noch nicht einmal“,
sagte mir mal ein Jugendlicher. Kirche
kommt in der Jugendkultur nicht vor. Einen
normalen Gottesdienst empfinden die
meisten Jugendlichen nur als peinlich: Der
Priester wirkt schlecht vorbereitet, die
Gottesdienstbesucher melancholisch, der
Schaukasten fristet eine KomödienstadlExistenz und die Räume des Pfarrheims
versprühen den freudlosen Charme der
siebziger Jahre. Die Symbolsprache ist entweder unstimmig oder abstoßend.
Welche Kriterien müsste Kirche denn
erfüllen, um das Interesse der Jugendlichen zu finden?
M.S.: Das sind drei Punkte: Was Kirche
anbietet und verkündet, muss an die
Lebensthemen der jungen Leuten anknüpfen: Liebe, Freunde, Zoff mit den Eltern,
Verdauungsprobleme, Pickel im Gesicht ...
Das zweite ist die Ästhetik! Die Räume und
die Leute dürfen nicht bescheuert aussehen. Was da passiert, muss die Symbolik
bedienen, muss dramaturgisch gut sein.
Man muss mich in der Kirche fotografieren
können, und ich muss das meinen Freunden zeigen können.
Als drittes braucht es die emotionale Qualität, also einen Wohlfühlfaktor. Das darf
nicht alles so angestrengt sein; es soll Spaß
machen, dahin zu gehen.
Die Kirche sollte lernen, die Symbolsprache
besser zu beherrschen. Sie sollte Atmosphären schaffen, in denen es nicht als
erstes um Moral und Dogmatik geht, sondern um Schönheit. Gott ist nicht nur wahr
und gut, sondern auch schön. Bei ihm
muss man nicht nur Gebote erfüllen und an
Wahrheiten glauben, sondern darf sich
auch wohl fühlen. Eine Kirche, in der das
ernst genommen wird, wo man interessante Leute kennen lernt, hilfreiche Tipps
bekommt, Lebensweisheit und Lebenskunst erfährt – die ist hoch interessant und
attraktiv für die Jugend von heute.
Matthias Sellmann, Jahrg. 1966, verheiratet, drei Kinder, ist als Soziologe
und Theologe Grundsatzreferent an
der Katholischen Sozialethischen Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz in Hamm. Wo die christlichen Kirchen der modernen Gesellschaft begegnen, ist er mit Interesse
dabei. Seine Arbeitsschwerpunkte
sind: Lebensstilanalyse, Religion und
Politik, Pastorale Konzeptbildung.
12 THEMA
JUGEND
Praxis:
MIT DEM BERATUNGSMOBIL ZUR PARTY
Drug Checking Angebot gefordert
Claudia Trefflich
„Techno? Die Zeit ist doch vorbei…“,
so etwas höre ich ab und an, wenn
ich jemandem von meiner Arbeit in der
mobilen Suchtprävention erzähle. Die elektronische Musik hat sich in den letzten
Jahren immer mehr differenziert und die
klassischen Raver in Schlaghosen und Felljacken bekommen wir kaum noch zu
sehen. Nichtsdestotrotz lebt die Partyszene hier in Thüringen und zieht ebenso
(junge) Menschen aus benachbarten Regionen an.
Redet man von Technopartys, kommt man
um Ecstasy und Partydrogen nicht herum.
Illegale Rauschmittel werden vor allem von
Jugendlichen und Heranwachsenden ausprobiert und konsumiert. Das geschieht da,
wo sie sich treffen, gemeinsam ihre Freizeit
verbringen und Spaß, Freude, Ekstase
erleben wollen.
und dabei Rauschmittel weder verteufeln
noch verharmlosen. Ziele sind zum einen
die Reduzierung der Risiken, die beim Konsum entstehen, also eine Schadensminimierung. Außerdem wollen wir Abstinenzversuche unterstützen und zu einem gesundheitsbewussten sowie selbstverantwortlichen Umgang mit Körper und Psyche
sensibilisieren.
Zusätzliche Risiken entstehen z.B. durch
das Konsumieren verschiedener Substanzen, zeitgleich bzw. in relativ kurzen Abständen. In diesem Zusammenhang haben
wir seit einigen Jahren den Eindruck, dass
der Konsum und die Bewertung von Alkohol angewachsen sind. Unsere letzte
Zielgruppenbefragung spiegelte dies wi-
der: 90 % der befragten Personen hatten
aktuell zum Zeitpunkt der Befragung Alkohol konsumiert. 63 % der befragten
Personen hatten außer Alkohol mindestens
zwei illegale Substanzen konsumiert. Der
Fokus unserer Arbeit muss also über illegale Drogen hinaus reichen und Alkohol,
Nikotin und andere legale Rauschmittel
berücksichtigen.
Risiken und zum Teil unberechenbare
Nebenwirkungen entstehen aber auch
dadurch, dass die Konsumenten nicht wissen, welche Stoffe sich in welchen Konzentrationen in Ecstasytabletten, Speed
etc. befinden. So genannte Drug Checking
Angebote können Aufschluss über die
Inhaltstoffe von Rauschmitteln geben. Drug
Checking meint das Testen von Substanzen als Teil des Präventions- bzw.
schadensminimierenden Angebotes. Im
Gegensatz zu einigen europäischen Nachbarstaaten existiert in Deutschland momentan kein Drug Checking Angebot. Claudia Trefflich ist Projektleiterin des
Musikszeneprojektes Drogerie in Erfurt.
Mehr Informationen sowie Kontaktmöglichkeiten zum Musikszeneprojekt
Drogerie sind unter www.drogerieprojekt.de zu finden.
Allerdings erwirbt man zu den Rauschmitteln nicht automatisch zuverlässige Informationen über Wirkung, Nebenwirkungen,
Risiken und mögliche Langzeitfolgen. Und
da nicht jeder Konsument abhängig ist
oder Probleme durch das Konsumverhalten wahrnimmt, sucht natürlich kaum einer
den Weg in die Drogenberatungsstelle, um
sich dort zu informieren.
An dieser Stelle und in dieser Situation wollen wir, das Team des Musikszeneprojekts
Drogerie, ansetzen.
Mit unserem bunten Wohnmobil sind wir
direkt auf den Partys, informieren umfassend, bieten Gespräche an oder einfach
einen ruhigen Platz zum Relaxen. Finanziert
vom Land Thüringen, soll das Projekt eine
Lücke im klassischen Hilfesystem schließen und konsumierenden Jugendlichen
eine Alternative zur Beratungsstelle bieten.
Nach über 5 Jahren Erfahrung in der Szene
können wir sagen: es funktioniert. Wir
schaffen tatsächlich einen Ort, an dem
Partybesucher über Drogen und ihr eigenes Konsumverhalten reden, es kritisch
reflektieren und die negativen Aspekte
offen ansprechen.
Aus der Zielgruppenbefragung 2005 geht
hervor, dass 80 % der von uns befragten
Personen die Szenearbeit des Projektes als
sehr wichtig bzw. wichtig einschätzen. Für
uns ist das eine Bestätigung des Konzeptes: Wir wollen sachlich, neutral informieren
THEMA
JUGEND
13
Die Geschichte der BRAVO und deren Inhalte sind ein Spiegel der Geschichte
der Jugendkultur in Deutschland. Nicht gerade geliebt von sog. „Jugendschützern und anderen Berufsbetroffenen“ brachte die BRAVO das, was ankam
und sich verkaufen ließ. Dies allerdings nicht immer! Der Autor zeigt, dass die
BRAVO sich nicht nur an Themen der jugendlichen Leserschaft orientierte,
sondern auch in weiten Strecken das an junge Leute bringen wollte, was in der
Rückschau als „wertekonservativ“ bezeichnet werden kann. Die hier publizierte
„schöne und heile BRAVO-Welt“ traf nicht das Denken der Leserschaft.
Ergebnis: Die Auflage schrumpfte kräftig.
50 JAHRE BRAVO
Jugendkultur im Rückspiegel
Klaus Farin
Am 26. August 1956 erschien im
Münchener Kindler & Schiermeyer
Verlag zum Preis von 50 Pf. mit einer
Startauflage von 30.000 Exemplaren die
Nr. 1 einer neuen Zeitschrift: „BRAVO –
Zeitschrift für Film und Fernsehen“. Seitdem hat BRAVO wie kein anderes Medium
ganze Jugend-Generationen geprägt. –
Bereits 1959 liegt die Auflage des inzwischen im Untertitel zielgruppengenauer in
„Die Zeitschrift mit dem jungen Herzen.
Film – Fernsehen – Schlager“ umbenannten Heftes bei 523.000 Exemplaren. Sie
wird weiter auf über 1,4 Millionen Woche
für Woche verkaufter Exemplare steigen,
bis schließlich die allgemeine Auflagenkrise
auf dem Printmedienmarkt am Ende des
20. Jahrhunderts auch das Ende der goldenen BRAVO-Zeit einläutet und dem
Verlag die Entwicklung neuer Marktstrategien aufzwingt.
„50 Jahre BRAVO“ ist eine außerordentliche Dokumentation bundesrepublikanischer Zeitgeschichte. Nicht daran interessiert, selbst Trends zu setzen, sondern diese genau zu erforschen und im Heft abzubilden und zu bedienen, stellt BRAVO ein
einzigartiges Spiegelbild von 50 Jahren
Jugend(kultur) dar – und bietet sich damit
geradezu für die vielfältige Beschäftigung
(in Schule, politischer Bildung, Museen
etc.) mit deutscher Zeit- und Jugendkulturgeschichte an. Das Archiv der Jugendkulturen (Berlin) nahm das 50-jährige Jubiläum von BRAVO dankbar zum Anlass,
sich mit diesem einzigartigen Phänomen zu
beschäftigen. Dabei lag der Fokus vor
allem auf den folgenden Schwerpunkten:
1. BRAVO als Spiegelbild des Zeitgeistes: von den Wirtschaftswunderjahren
(Amerikanisierung, die Entdeckung des
Teenagers als Konsumentenpotential) über
die 60er Jahre (Beat, Hippies, APO) und die
Wiedervereinigung (Spezialthema: BRAVO
in der DDR) bis zu der „individualisierten“
Vielfalt seit den 90er Jahren, in der ein
„Generalist“ wie BRAVO sich neuen Markt-
14 THEMA
JUGEND
strategien und Medien (BRAVO Girl!, Sport, BRAVO-TV, Internetpräsenz etc.)
öffnen muss. Eine Entwicklung, die sich
auch auf den Titelseiten der BRAVO niederschlug: Diente in den ersten 25 Jahren
BRAVO in der Regel ein einziger Star als
Blickfang für das Heft, so mussten sich ab
etwa 1974 immer öfter mehrere Stars den
Titel teilen, während heute selten weniger
als gleich 10 Stars und Sternchen zum
Kauf des Heftes animieren sollen. In Zeiten,
in denen der Superstar für alle nicht mehr
existiert, müssen viele Geschmäcker
gleichzeitig befriedigt werden, um die verkaufte Auflage zu halten.
2. Die Kommerzialisierung von Jugend
(kulturen): Wie kein anderes Medium
zuvor setzte BRAVO als Maßstab für künstlerische Qualität und die Berichterstattung
den kommerziellen Erfolg. Von Anfang an
widmete BRAVO den Aspekten der Vermarktung (Charts und anderen kommerziellen Ranglisten) genauso viel Platz wie
den künstlerischen Leistungen der Stars
und nutzte auch zur Messung des kommerziellen Erfolges eine reichhaltige Palette
modernster Methoden (Otto-Wahl, repräsentative Studien, quantitative Leserbriefanalysen etc.). Es gibt wohl kein zweites
Jugendmagazin auf der ganzen Welt, das
so intensive Zielgruppenanalysen und Zielgruppenkommunikation betreibt. BRAVO
steht damit zentral für die professionelle
Kommerzialisierung der jugendlichen Freizeitwelten.
3. Sexualität: Ab Heft 43/1969 wurde das
Thema Sexualaufklärung neben dem
Starkult zu einem zweiten tragenden Element der BRAVO: „Dr. Sommer“ betrat die
Bühne. Heiß umstritten und bekämpft – vor
allem bei Eltern, Jugendschützern und
anderen Berufsbetroffenen, heiß geliebt bei
den Jugendlichen. Eine aktuelle Studie
berichtet: 96 Prozent der deutschen Bevölkerung wissen, was sich hinter dem Namen „BRAVO“ verbirgt, 98 Prozent der
Bevölkerung kennen „Dr. Sommer“.
Subversiv oder reaktionär?
Wir haben sie gehasst. Wir – die Jungen in
der Klasse. (Was uns natürlich nicht daran
hinderte, sie trotzdem heimlich oder getarnt unter spöttischen Witzen zu studieren.) Denn wie sollten wir mit all den perfekten Schönlingen und Boygroups konkurrieren, die BRAVO damals noch jeden
Donnerstag den von uns begehrten Mitschülerinnen offerierte?!
Die (links) politisch Engagierten unter uns
empfanden BRAVO zusätzlich als reaktionär, die an Bands und Musikstilen jenseits
der Charts Orientierten fanden sich zwischen David Hasselhoff und den Bay City
Rollers nicht wieder. Und schaffte es eine
der eigenen Lieblingsbands doch einmal in
die BRAVO, war das kein Grund zur Freude, sondern zum Entsetzen, ein Zeichen
des Verrats, des „Ausverkaufs“. Da ging es
uns damals nicht anders als alternativ, antikommerziell orientierten Jugendlichen heute auch, die wissen: Sag mir, wen du
gestern bei Viva gesehen hast, und ich
weiß, wen ich nicht (mehr) mag!
Das war nicht immer so. Die Wirkung von
BRAVO ist sehr generationenabhängig. In
den 50er Jahren, berichtet Kaspar Maase,
war BRAVO geradezu ein Motor zur „demokratischen Modernisierung der Bundesrepublik“. Ob glücklicher Zufall oder Kalkulation: Der Start des Blattes erfolgte genau
in jenen Monaten, in denen ein gewaltiger Schub amerikanischer Produktionen
(Rock’n’Roll, Filme wie „Saat der Gewalt“)
auf ein jugendliches Publikum zielte und bei
dem kulturellen Auseinanderdriften der
Generationen als Katalysator wirkte.
BRAVO stieg ausführlich auf diese Themen
ein und etablierte sich für seine Leserinnen
und Leser als eine unersetzliche Informationsquelle über die neuesten Stars, Trends
und Moden aus den USA. „Jeder hat
BRAVO gelesen, eigentlich; ich weiß gar
nicht, wer keine BRAVO gelesen hat. Das
war ja überhaupt die Information aus Amerika, was ist ‚in’ da drüben. Und da konntest du sicher sein: Wenn das in Amerika
‚in’ war, dann war das irgendwann auch in
Deutschland ‚in’“, erinnert sich Dirk Ipping,
Jahrgang 1947 (Zitiert nach Maase 1992,
106). So begann Anfang Dezember 1956
die Berichterstattung über Elvis Presley,
noch bevor dessen Platten hierzulande auf
dem Markt waren.
Bemühte sich BRAVO in ihrer Anfangszeit
noch, als junge Unterhaltungszeitschrift für
die ganze Familie eine möglichst breite
Käuferschicht zu erreichen (nach Angaben
des Verlages waren noch 1960 knapp ein
Drittel der – überwiegend weiblichen –
Leser/innen älter als 25 Jahre), bekam
BRAVO doch schnell das Image eines
gefährlichen Jugendverführers. Die amtliche Bestätigung für den kulturell subversiven Geist des Blattes lieferte das Sozialministerium des Landes Rheinland-Pfalz,
als es 1959 – anlässlich eines lebensgroßen „Starschnitts“ von Brigitte Bardot,
hochgeschlossen und in keiner Weise
sexuell aufreizend gekleidet – die Indizie-
rung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften beantragte.
Begründung: Mit den Filmstars gebe
BRAVO der Jugend falsche Leitbilder (vgl.
Maase 1992, 110 f).
Doch als rein kommerzielles Produkt mit
der Hauptzielgruppe Jugend hatte BRAVO-Chefredakteur Peter Boenisch gar
keine andere Wahl, als die neue Jugendkultur aus Amerika, das aus konservativer
Sicht Bedrohliche, aufzugreifen. „BRAVO
musste den Tiger ‚Amerikanisierung’ reiten.“ (Maase 1992, 109)
Als im März 1957 die Wogen der Empörung über Elvis Presleys „unzüchtige“
Musik wieder einmal hochschlugen, listete
BRAVO (12/1957) nur seine amerikanischen Umsatzzahlen auf und kommentierte lapidar: „Zahlen sprechen für Elvis.
Schließlich wurden diese Millionen Platten
Stück für Stück mit sauer verdienten
Dollars bezahlt!“ Kommerzieller Erfolg als
Gütesiegel – das war neu und musste in
einem Land, in dem bereits jeder Schüler
lernte, dass Kultur aus purem Idealismus
entstehe und nur dem „Wahren, Guten und
Schönen“ verpflichtet sein dürfe, auf blankes Entsetzen der konservativen Kulturbewahrer stoßen.
Die Halbstarken und Rock-’n’-Roll-Fans
sahen das naturgemäß anders. Für sie
brachte der „Übergang vom moralischen
zum kommerziellen Code“ (Lindner 1986,
282) in der Beurteilung von Jugendkulturen
auch ein Stück „Befreiung von moralischpädagogischen Diktaten“ (Maase 1992,
149). „Staatliche, kirchliche und ideologisch selbst ermächtigte Kulturwächter
und ihre Vorstellungen zur Regulierung des
geistigen Konsums und des Wertehaushalts der ‚Masse’ verloren an Einfluss;
Medien und Populärkultur konnten im
Wechselspiel von Angebot und Nachfrage
den Raum des Möglichen erweitern und
‚volkserzieherische’ Tabus schwächen.“
(Maase 1992, 70)
Stellten die Halbstarken und Rock’n’Roller
der 50er Jahre quantitativ nur ein eher kleines Phänomen unter Arbeiterjugendlichen
dar, so brachten die 60er Jahre mit der
Beatmusik zum ersten Mal eine breite
Jugend-Pop-Kultur hervor, die deutliche
Grenzen zwischen der Mehrheit der Jugendlichen und den Erwachsenen setzte.
„Die Beatles mit ihren Pilzfrisuren waren für
den überwiegenden Teil der älteren Generation eine beispiellose Provokation. Ein mit
Postern der vier Liverpooler voll gekleistertes Jugendzimmer im elterlichen Eigenheim wurde als Affront gegen das gesamte
herkömmliche Wertesystem angesehen“,
erinnerte sich Thommi Herrwerth, Jahrgang 1949. Dabei waren die Beatles ja erst
der Anfang. „Die weit größeren Bürgerschrecks standen den Eltern erst noch
bevor: die Rolling Stones. Sie waren noch
kompromissloser, noch radikaler, ‚vergammelter’ und obszöner. Sie gebärdeten sich
sexuell in nicht misszuverstehender Eindeutigkeit, führten mit ihren Unterkörpern
Bewegungen aus, die bei den sauber herausgeputzten Stars der vergangenen Jahre
undenkbar gewesen wären; ihre Haartracht war noch wilder als die der Beatles
und sie trugen im Gegensatz zu ihren
Konkurrenten – damals schier unvorstellbar! – nicht einmal eine Krawatte. ‚I can’t
get no Satisfaction’, so lautete ihr
Schlachtruf, mit dem sie weltweit die Bestsellerlisten stürmten.“ (Herrwerth 1997, 40)
Nur nicht die der BRAVO. „Sie lassen sich
die Haare ungekämmt und unappetitlich
auf die schmalen Schultern hängen. Sie
stecken in erbarmungswürdig schäbigen
Anzügen. Und sie sehen überhaupt höchst
verhungert und verkommen aus!“ kanzelte
BRAVO (13/1964) die Stones ungnädig ab
und hoffte wohl, das Thema sei damit
durch. Es sollte natürlich anders kommen
und BRAVO vergaß angesichts der realen
Gefahr, einen Großteil ihres Publikums zu
verprellen, schnell jegliche pädagogische
Ambitionen und setzte sich an die Spitze
der Beatbewegung: Schon ein Jahr später
sponserte BRAVO die Deutschland-Tournee der Stones und bei den Otto-Wahlen
konnten BRAVO-Käufer/innen ab 1966
auch ihre Lieblings-Beatband wählen. Die
Stones gewannen allerdings nie …
Die schöne, heile
BRAVO-Welt
BRAVO entwickelte sich im Laufe der 60er
Jahre immer deutlicher zum Sprachrohr
der sog. Spießer. „Es ist eine heile, nette
Welt, die BRAVO-Lesern vorgegaukelt
wird. Da gibt es keinen Krieg in Vietnam,
keinen Hunger in der Welt, keine Rassenkrawalle in Amerika und keine StudentenRebellionen in Berlin, Frankfurt und München.“ (Der Spiegel 7/1968, 65) Die
„BRAVO-Jugend“ ist nett und brav, lautete
die Botschaft. So erwiesen sich auch die
Stars, die BRAVO präsentierte, stets als
wohlanständige, moralisch einwandfreie,
prüde Jungs und Mädchen. Selbst Mick
Jagger mutierte in der BRAVO zum „treuen
Lebensgefährten“ und die Ehefrau von Stones-Bassist Bill Wyman durfte zu Protokoll
geben, ihr Bill sei „kein Schmutzfink“ und
wasche seine Haare täglich. „Meine Frau
müsste immer für mich da sein und dürfte
keine anderen Interessen als ihre Familie
haben“, ließ sich der heute zurecht vergessene Filmstar Robert Hoffmann zitieren –
eine von unzähligen Aussagen, mit denen
die BRAVO ihr Hauptkampffeld der 60er
Jahre bestückte, die befürchtete Auflösung
tradierter Geschlechterrollen und damit die
Emanzipation der Frauen.
„Wahre Orgien an Moral und Biedersinn
legten sie ihrem neuen Lieblingsstar in den
Mund: Roy (Black; kf) wetterte gegen
Mädchen, die rauchen, die ihr Äußeres
nicht genügend pflegen, die sich allzu aufreizend schminken oder die ‚nur an das
eine denken’. Nichts war für ihn verabscheuungswürdiger als ‚superkurze Mini-
röcke. Weil sie ungraziös sind und weil sie
mich immer an die kaltkessen Anbiederungsversuche einer Profi-Koketten erinnern’. An Jungs verabscheute er ungepflegte Kleidung und lange Haare. ‚Ich finde ja auch kein Mädchen schön, das sich
die Haare militärisch kurz schneidet und
einen Scheitel zieht und alles fest am
Schädel anklatscht. Denn das ist männlich.
Und fließend lange Haare sind weiblich.’
Selbst gegen Bestrebungen, der Prüderie
der Nachkriegsära ein halbwegs ungezwungenes Verhältnis zur Sexualität entgegenzusetzen, wetterte Saubermann Roy
Black energisch: ‚Ich bin dagegen, dass
Kinder ihre Eltern nackt sehen. Der Abstand, der zwischen Vater und Mutter und
Kindern bestehen sollte, geht damit verloren.’“ (Und das noch 1969!, zit. nach Herrwerth 1997, 53)
Merkwürdigerweise existieren von Roy
Black, der seine Karriere als Rock-’n’-RollSänger begann, auch ganz andere Zitate.
So sprach er sich zum Beispiel gegen den
Vietnamkrieg aus („Dieser Krieg ist grausam und rechtmäßig von Amerika nicht
mehr zu vertreten“) oder „absolut für die
Anti-Baby-Pille. Und sie sollte auch nicht
nur an verheiratete Frauen ausgegeben
werden, sondern an jedes Mädchen –
sagen wir frühestens ab achtzehn –, das
sie haben will.“ Gäbe es eine Anti-BabyPille für Männer, „würde ich sie nehmen“
(Löb 1997, 33), bekannte Roy Black für
jene Jahre sogar ungewöhnlich progressiv
– nur nicht in der BRAVO. Dafür durfte er ab
1966 bis zum Ende der Dekade alljährlich
einen „Otto“ entgegennehmen.
Ein sexuelles Leben hatten BRAVO-Stars
grundsätzlich nicht. Noch bis in die späten
Sechziger hinein wurde das Thema weitgehend gemieden, und wenn es mal angesprochen wurde, dann im Stil katholischer
Ratgeber für junge Mädchen aus den 50er
Jahren. Selbstbefriedigung sei eigentlich
„Selbstbefleckung“, warnt BRAVO 1966,
denn sie „bringt keinen Frieden, im Gegenteil, sie löst fast immer ein Gefühl innerer
Leere und tiefer Niedergeschlagenheit
aus“. Mädchen könnten davon sogar
„frigid“ werden, „sie eignen sich nicht mehr,
eine gute und erfüllte Ehe zu führen.“
(zit. nach Herrwerth 1997, 71) „Ein Junge,
der der Lust an sich selbst nachgibt, verkennt gründlich, wozu der Sex von der
Natur bestimmt ist“, heißt es noch 1968 in
der Serie „Jugend und Sex ‘68“. – Da darf
es dann auch nicht weiter verwundern,
wenn BRAVO-Ratgeber „Dr. Vollmer“ Homosexualität für „abartig“ erklärt, männlichen Lesern in einem solchen Fall empfiehlt, einen Psychiater aufzusuchen oder
sich „männliche Hormone“ injizieren zu lassen, und „Lesbierinnen“ rät, ihre „tiefe
unbewusste Angst vor den Männern“ loszuwerden.
Nachdem jedoch das Missverhältnis zwischen den von BRAVO vertretenen Positionen und denen ihrer Käufer/innen immer
THEMA
JUGEND
15
auffälliger wurde (so hatten etwa 1968 in
einer Umfrage 89 Prozent der Jungen zwischen 15 und 20 Jahren mitgeteilt, sie würden auch ein Mädchen heiraten, das keine
Jungfrau mehr ist), schwenkte BRAVO um
und die „junge schwedische Ärztin Kirsten
Lindstroem“ durfte 1969 in der Serie „Liebe
ohne Geheimnis“ verkünden: „Es ist noch
gar nicht lange her, dass in Deutschland
von den Mädchen verlangt wurde, sie sollten ihre Unschuld bis zur Trauung bewahren und als Jungfrau vor den Standesbeamten treten. Mit dieser doppelten Moral
ist es nun endgültig vorbei.“
Der Markt
bestimmt den Inhalt
Den nötigen Denkanstoß für die Umorientierung von BRAVO hatte wie üblich nicht
die Redaktion gegeben, sondern die
Marketingabteilung. Die hatte nämlich feststellen müssen, dass sich die Käufer/innen
von BRAVO zunehmend aus der Altersstufe unter 14 Jahren rekrutierten – und die
verfügten seinerzeit noch nicht über das
notwendige Taschengeld, um all die schönen Waren zu kaufen, für die Unternehmen
in der BRAVO warben. Der Konservatismus und die Prüderie der BRAVO-Redaktion war spürbar schlecht fürs Geschäft: Es
wurde für BRAVO immer schwieriger, Anzeigenkunden zu finden. Da legte eine vertrauliche Leser/innenanalyse den Verlegern
„den Zeitpunkt dar, zu dem viele Jugendliche die Lektüre ihrer Star-Postille aufgaben: sobald sie nämlich begannen, sich für
Sex zu interessieren.“ (zit. nach Herrwerth
1997, 64). Schon wenige Monate danach,
in der Ausgabe 43/1969, war es dann so
weit – BRAVO baute sich, wie es später in
einer Verlagserklärung heißen wird, „ein
zweites Bein“ auf, das neben dem Starkult
„zu einem zweiten tragenden Element in
BRAVO geworden ist“: „Ein Mann von heute spricht mit den BRAVO-Lesern über ihre
Sorgen und Probleme: Dr. Sommer.“
So veränderte nicht BRAVO die Gesellschaft, sondern die Trends in der Gesellschaft veränderten BRAVO. – Was hier beispielhaft an den 50er und 60er Jahren aufgezeigt wurde, ließe sich auch für die folgenden Jahrzehnte bis in die Foto-LoveStory und die Modeseiten der aktuellen
Ausgabe nachzeichnen. Wer etwas über
„die Jugend“ oder zumindest den Mainstream, die dominanten Strömungen innerhalb der jungen Generation wissen will, der
greife nicht zu klugen Studien deutscher
Universitätsprofessoren, sondern abonniere die BRAVO – so lange es sie noch
gibt.
Literatur:
Farin, Klaus: Jugendkulturen in der Bundesrepublik
Deutschland, Band 1: 1950 – 1989. Bundeszentrale für
politische Bildung. Bonn 2006.
Herrwerth, Thommi: Partys, Pop und Petting. Die
Sixties im Spiegel der BRAVO. Marburg 1997.
Lindner, Rolf: Teenager. Ein amerikanischer Traum. In:
Deutscher Werkbund e.V. (Hrsg.): Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt/
Neuwied 1986, 278 - 283.
Löb, Arno: Sweet Baby Mein. Roy Blacks wilde
Jugendjahre. Königswinter 1997.
Maase, Kaspar: BRAVO Amerika. Erkundungen zur
Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger
Jahren. Hamburg 1992.
Klaus Farin, Jahrg. 1958, lebt in Berlin
und ist Autor, Lektor und Leiter des
Archivs der Jugendkulturen e.V. Homepage: www.klaus-farin.de.
THEMA JUGEND dankt dem Autor und
dem Archiv der Jugendkulturen e.V. (Berlin)
für die Abdruckerlaubnis dieses Artikels.
Dieser Beitrag von Klaus Farin ist die
Einführung (S. 7 – 11 im Buch) in die folgende lesenswerte und mit vielen Dokumenten gut aufbereitete Buchveröffentlichung:
50 Jahre BRAVO, hrsg. vom Archiv der
Jugendkulturen e.V., Berlin 2005.
50 Jahre BRAVO
Kaum zu glauben, aber wahr: Die BRAVO wird 50! Am 26. August 1956 erschien
mit einer Startauflage von 30.000 Exemplaren die erste Ausgabe der neuen „Zeitschrift für Film und Fernsehen“. Seitdem
hat BRAVO wie kein anderes Medium ganze Jugend-Generationen geprägt.
„50 Jahre BRAVO“ ist eine außerordentliche Dokumentation bundesrepublikanischer Zeitgeschichte. Nicht daran interessiert, selbst Trends zu setzen, sondern diese genau zu erforschen und im Heft zu
bedienen, stellt BRAVO ein einzigartiges
Spiegelbild von 50 Jahren Jugend(kultur)
dar. Von den Wirtschaftswunderjahren
(Amerikanisierung, die Entdeckung des
Teenagers) über die 60er Jahre (Beat,
Hippies, APO), das Verhältnis von Punk &
BRAVO, die Wiedervereinigung (Spezialthema: BRAVO in der DDR) bis zu Boygroups, Techno und der Darstellung von
Drogen in der BRAVO reicht die Themenpalette. Und selbstverständlich ist auch Dr.
Sommer – The Original! – mit dabei. In diesem Buch schreibt er zum ersten Mal
selbst über seine 15-jährigen Erfahrungen
als „Deutschlands Sexualaufklärer Nr. 1“.
Rund ums Buch wird es zahlreiche Events
geben, so u. a. eine großartige Wanderausstellung, die am 23. Oktober im WilhelmFabry-Museum in Hilden ihre Premiere erleben und bis Ende 2006 in 15 weiteren
deutschen und europäischen Städten zu
sehen sein wird.
Ausführliche Infos inklusive Buchcover,
Autorenliste etc. sind zu finden unter:
http://www.jugendkulturen.de/index.html?
shop/bravo.html
Archiv der Jugendkulturen e.V. (Hrsg.), 265
Seiten, Großformat, Preis: 28,- Euro, ISBN
3-86546-036-4, Berlin 2005.
Bezug über jede Buchhandlung oder
www.jugendkulturen.de
16 THEMA
JUGEND
BÜCHER ZUM THEMA
Projektgruppe Jugend und Religion /
Kurt Möller
If God is a DJ
Religiöse Vorstellungen von Jugendlichen
Die Gothics
„volksnähere“ Varianten christlicher Glaubenspraxis rasanten Zulauf verzeichnen.
Eine dieser wachsenden Kleinstkirchen
sind die „Jesus Freaks“.
Der Szeneforscher Klaus Farin hat die „etwas anderen Christen“ unter die Lupe
genommen. In ausführlichen Interviews haben er und seine Mitstreiter vom Archiv der
Jugendkulturen e.V. mit Jesus Freaks über
Gott und den Teufel, Glauben im Alltag,
Drogen, Sex vor der Ehe, Scheidung, Abtreibung, Homosexualität und vieles mehr
gesprochen. Das Ergebnis: Hinter der
schrillen Fassade von Punks, Skinheads,
Techno-Jüngern, rebellischen Straßenkindern kommt eine tiefe radikale Frömmigkeit
mit teilweise fundamentalistischen Zügen
zum Vorschein.
Keyboard- und ruhige Gitarrenklänge
leiten ein, gefolgt von einem dezenten
Schlagzeugbeat, der mit elektronischen
Melodiefetzen unterlegt ist, unspektakulär
setzt der Strophengesang ein, aber dann
kommt ein phänomenal eingängiger Chorus: „If God is a DJ, Life ist a Dancefloor,
Love is the Rhythm, You are the Music“. –
Der Hit der amerikanischen Sängerin Pink
hat die Charts erobert, der Refrain ist als
Handy-Klingelton zu haben, der Song
scheint einen Zeitgeist zu treffen.
Religion ist unter Jugendlichen wieder „in“.
Doch die altersspezifische Suche nach
Transzendenz führt nicht auf direktem Weg
in die Amtskirchen, sondern sucht sich ihre
eigenen, oft verschlungenen Pfade. Eine
Gruppe angehender Sozialpädagogen hat
diese Pfade verfolgt. Die studentische
„Projektgruppe Jugend und Religion“ hat
christliche, moslemische und jüdische Jugendliche, aber auch Neonazis und Fußballfans nach ihren Göttern, ihrer Glaubenspraxis und ihren Haltungen zu anderen Religionen ausgefragt.
Neben den sehr persönlichen, individuellen
„Konfessionen“ spiegelt sich in den Statements Jugendlicher zum Thema Religion
eine topaktuelle Bestandsaufnahme unserer Multikulti-Gesellschaft.
Wilfried Breyvogel (Hrsg.)
168 Seiten, Preis: 15,- Euro,
ISBN 3-86546-030-5, Berlin 2005.
Eine Einführung
in Jugendkulturen
Klaus Farin / Kirsten Wallraff
120 Seiten, Preis: 12,- Euro,
ISBN 3-936086-09-7, Berlin 2005.
Veganismus und Tattoos
Klaus Farin
Freaks für Jesus
Die etwas anderen Christen
Während in den USA unter der Präsidentschaft von Georg W. Bush erste
Anzeichen einer Erosion der Trennung von
Kirche und Staat zu registrieren sind, gilt
hierzulande Religionszugehörigkeit nach
wie vor als Privatsache. Die Kirchen beklagen einen seit Jahrzehnten anhaltenden
Mitgliederschwund. Doch es gibt Nischen
– vor allem unter Jugendlichen –, in denen
Der Band leistet eine verständliche und
anschauliche Einführung in Jugendkulturen. Neben einem Überblick über Jugendkulturen im 20. Jahrhundert werden zwei
Phänomene gegenwärtiger Jugendkultur in
den Mittelpunkt gestellt, Tätowierungen
und Veganismus.
Wilfried Breyvogel: Grundriss zu einer
Theorie der Jugendkultur; Jugendkultur als
Form notwendiger und symbolischer Arbeit; Jugendkultur, die verstädterte Gesellschaft und die Bühnen der Sichtbarkeit;
Tobias Lobstädt: Tätowierung; Thomas
Schwarz: Veganismus und das Recht der
Tiere; Historische und theoretische Grundlagen sowie ausgewählte Fallstudien mit
Tierrechtlern bzw. Veganern; Veganismus
und das Recht der Tiere; Veganismus in
Jugendkulturen; Für die Befreiung von
Mensch und Tier? – Kritik und Ausblick.
261 Seiten, Preis: 22,90 Euro, ISBN 38100-3540-8, Wiesbaden 2005.
Autor und Autorin nehmen einen mit in
die Welt der Jugendszene – hier speziell in
die Welt der Gothics. Der 1. Teil (118 Seiten) ist von Klaus Farin, und wird das Buch
gedreht, dann ist da der 2.Teil des Buches
(94 Seiten) von Kirsten Wallraff. Zwei Bücher in einem – unüblich, aber durchaus
geschickt und ansprechend gemacht. So
wie diese gesamte Publikation (auch) von
der Optik lebt. Text und Bild gehören zusammen. Bilder – sehr gute Fotos aus der
Szene – sind keine nebensächliche Dekoration oder gar „nur“ Ausgestaltung. Bild
und Wort gehören in dieser Buchveröffentlichung eng zusammen.
Ein Fachbuch? Nein: Farin und Wallraff legen kein Fachbuch, wissenschaftlich neutral und abgehoben, vor. Sie geben Anteil
an ihren Erfahrungen und ihrer Insicht und
geben dem interessierten Leser und der
interessierten Leserin so einen kleinen Einblick in eine Jugendszene, die allzu schnell
mit dem Satanismus (und häufig auch mit
dem Rechtsextremismus) in Verbindung
gebracht wird.
In einführenden Texten gehen Autor und
Autorin auf die Vernetzung der Gothics ein.
Es scheint sich um eine sehr plurale Szene
zu handeln, in der viele Heimat finden können. Aber Rechtsradikale haben hier nichts
verloren, und Anhänger von schwarzen
Messen und Leichenfledderei sind hier
ebenfalls nicht willkommen. Gothics ist eine Auffassung von Leben und Tod. Gefühle
und innere Befindlichkeiten werden in
Kleidung, Verkleidung, Outfit, mit Schminke, Habitus, Symbolen und Ritualen ausgedrückt. Musik spielt eine große Rolle,
passende Umgebung und Treffpunkte ihrer
Meetings stimulieren.
Kritisches ist in der Grundinformation zu
finden, aber genau so sehr viel Sympathie
mit diesen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ihren ganz speziellen Stil
leben wollen. Von außen häufig als Exoten
oder Angehörige eines anderen Planeten
angesehen, die möglicherweise (trotz
Friedfertigkeit) Angst auslösen. Spiegel
unterdrückter Wünsche und Begierden?
Hier werden andere Normen und andere
Sinnkonstrukte gelebt – sehr konsequent.
Autor und Autorin führen alle Interessierte
mit in diese (fremde) Welt.
Sprachlich ist das Buch ein Genuss zu
lesen. Narratives Schreiben, die Präsentation einzelner Begebenheiten, leise Stimmungen – fast poetisch, Erzählungen, die
zum Weiterlesen anregen. Wirklich kein
(trockenes) Sach- oder Fachbuch über Jugend.
Das Buch zeichnet sich durch viele Beiträge von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Szene aus.
Klaus Farin, Journalist, Buchhändler, später in einer Konzertagentur tätig, Autor vieler Veröffentlichungen über Skinheads,
Hooligans und andere Szenen, Lehrbeauf-
THEMA
JUGEND
17
tragter und Leiter des Archivs für Jugendkulturen e.V. (Berlin) hat in diesem Buch
viele Informationen aufbereitet, die sonst
nur Insider haben. – Kirsten Wallraff sagt
von sich, dass sie sich 15 Jahre in der
schwarzen Szene bewegt hat. 1994 hat sie
innerhalb ihres sozialpädagogischen Studiums eine Diplomarbeit erstellt. Diese
Arbeit bildet die Grundlage ihres Beitrages
im Buch (unter der Überschrift: Weiss wie
Schnee, rot wie Blut und schwarz wie
Ebenholz). Nach ihrem Studium arbeitete
sie u.a. in einem Jugendzentrum, als
Journalistin und heute in der Werbung.
Wem sei das Buch empfohlen? Allen, die
sich für Jugendkulturen und Jugendszenen
interessieren (müssen). Ich empfehle es
auch weltanschaulich Interessierten (z.B.
Religionslehrerinnen und Religionslehrern
und sog. „Weltanschauungs- und Sektenbeauftragten“). Ich selbst werde nach Abfassung dieser Rezension im Buch weiter
lesen und stöbern.
Georg Bienemann
216 Seiten, Format 21x21 cm, mit sehr vielen Abbildungen, Dokumenten und Fotos,
Preis: 15,- Euro, ISBN 3-933773-09-1,
Berlin/Bad Tölz 2001.
Leben in Szenen
Formen jugendlicher Vergemeinschaftung
heute
von Ronald Hitzler, Thomas Bucher und
Arne Niederbacher
Leben in Szenen gewinnt besonders für
Jugendliche immer stärker an Bedeutung.
Durch die empirische Rekonstruktion besonderer Erlebnisqualitäten unterschiedlicher Szenen entsteht in diesem Band ein
differenziertes Bild aktueller Jugendkulturen. Dargestellt und verglichen werden u.a.
so unterschiedliche Szenen wie Konsolenspielszene, Techno-Szene und Skater-Szene.
Szenen im Kontext gesellschaftlicher Modernisierung – Aktuelle gesellschaftliche
Strukturen und Veränderungen – Konsequenzen für die Lebensphase „Jugend“ –
Posttraditionale Formen der Gemeinschaftsbildung – Jugendliche SzenenáTechno-Szene – Hardcore-Szene –
Schwarze Szene – Skater-Szene – GraffitiSzene – Konsolenspieler – Daily Soap-Fans
– Türkische Street Gang – Antifa-Szene –
Drogen-Szene – Jugendliche in der DLRG
– Sportkletter-Szene
239 Seiten, Preis: 20,90 Euro, ISBN 3-53114512-6, Wiesbaden 2005 (2. Aufl.).
18 THEMA
JUGEND
Axel Schmidt / Klaus Neumann-Braun
André Pilz
Die Welt der Gothics
No llores, mi querida –
Weine nicht, mein Schatz
Spielräume düster konnotierter Transzendenz
In der modernen Gesellschaft finden
okkulte und satanistische Praktiken und
Vorstellungen nach wie vor Akzeptanz in
der Bevölkerung. Allerdings sind neben
den bekannten und organisierten Formen
wie Orden und Logen die medien- und
musikvermittelten Jugendszenen getreten.
Das Buch wendet sich in diesem Zusammenhang exemplarisch der deutschen
„Gothic-Szene“ zu und untersucht deren
Gruppenstrukturen sowie die Passungskonstellationen und Integrationsdynamiken
von Szene und Mitgliedern. Darüber hinaus
werden typische Vergemeinschaftungsformen und Deutungsmuster, wie sie innerhalb der Kultur der Gothics vorherrschend
sind, auf religionssoziologische Erklärungsmodelle bezogen. Gefragt wird u.a., inwiefern das Phänomen „Gothic“ als moderne,
individualisierte und an medialen Vorlagen
ausgerichtete Form von Religion bzw. Religiosität begriffen und damit als eine spezifische Manifestationsform von „unsichtbarer
Religion“ (Luckmann), „Religionsbricolage“
(Helsper) oder „neuer religiöser Bewegung“
(Knoblauch) gewertet werden kann.
336 Seiten, Preis: 27,90 Euro, ISBN 3-53114353-0, Wiesbaden 2004.
Klaus Farin
generation kick.de
Jugendsubkulturen heute
„Ich brauche immer einen Kick. Jeder
Jugendliche hat das. Das gehört zum
Leben dazu. Ein Kick ist gefährlich, etwas
Heimliches oder Verbotenes. Das Herz
muss einem in die Hose rutschen, man
fängt an zu zittern oder kriegt Schweißausbrüche, der Puls ist auf 500. Lebensgefährlich muss es sein. Ich muss wissen,
dass da irgendwas passieren kann. Aber
trotzdem muss ich auch wissen, dass da
nix so schlimm ist, dass es tödlich enden
kann oder meinen Rest des Lebens verändert. Es ist fast wie eine Sucht. Wenn
Jugendliche keinen Kick haben, kosten sie
ihr Leben gar nicht aus. Was sollen sie
denn später erzählen?“ Julia (15)
236 Seiten, Preis: 9,90 Euro, ISBN 3-40645947-1, München 2001.
Ein Skinhead-Roman
Der erste deutschsprachige SkinheadRoman, nicht von einem Soziologen oder
Kinderbuchautor, sondern von einem
Skinhead geschrieben.
André Pilz, Jahrgang 1972, hält sich mit
diversen Jobs über Wasser und ist Gitarrist
einer Oi!-Punkband. Wenn André Pilz über
den Skinhead „way of life“, über Gewalt im
Stadion, Stress mit Einwanderergangs
oder Neonazis in der Szene schreibt, weiß
er, worüber er spricht.
„Ein Leben lang der letzte Dreck. Ein Leben
lang haben sie mich geschlagen und gedemütigt, und ich habe es regungslos hingenommen. Ein artiger, braver Junge. Doch
irgendwann war irgendein Schlag zu viel,
und ich habe begonnen, mit meinen Augen
zu sehen, mit meinen Ohren zu hören, und
meinen Verstand gebraucht. Ich habe gelernt. Und mir den Kopf geschoren und
Euch den Krieg erklärt.“
Aber „No llores, mi querida – Weine nicht,
mein Schatz“ ist keine verkappte Autobiographie, kein Tagebuch, nicht nur ein Aufklärungswerk zu einem der brisantesten
Themenkomplexe der Gegenwart –
Rechtsextremismus und Jugendgewalt –,
sondern darüber hinaus auch ein erstklassiges, bis zur letzten Zeile super spannendes Stück Literatur.
„Gewalt ist die einzige Form von Achtung,
die wir von Euch erzwingen können. Gewalt ist in Eurem Spiel nicht erlaubt, jedenfalls nicht die, die die Leute beim Einkaufen
oder Spaß haben stören könnte. Aber wir,
wir lieben sie. Nur die Gewalt auf der Straße
und im Stadion schafft es, uns für kurze
Zeit über Euch zu stellen. In dem Moment,
wo es knallt, da spüren wir Eure Angst. Vor
uns, den Glatzköpfen.“
230 Seiten, Hardcover, Preis: 18,- Euro,
ISBN 3-86546-031-3, Berlin 2005.
Dieses Buch vermittelt Wissen über den
Aufbau und die Stärkung einer „Marke“,
schafft den Bezug zur Jugendarbeit vor
Ort, präsentiert neben einer theoretischen
Grundlegung Best Practice-Projekte und
erläutert deren Instrumente.
144 Seiten, Preis: 19,50 Euro, ISBN 37799-2102-2, Weinheim und München
2005.
Wolfgang Antes (Hrsg.)
Klaus Farin
MarkenMacht Jugendarbeit
Buch der Erinnerungen.
Die Fans der Böhsen Onkelz
Marken als Brücke zwischen Jugendarbeit
und Wirtschaft
„Marken“ sind Sympathieträger und das
macht sie für die Wirtschaft so interessant.
Eine Marke hat eine Persönlichkeit, zu der
die Kunden eine emotionale Bindung aufbauen. Die Marke ist also mehr als das bloße Produkt.
Mit einer Marke werden spezifische Eigenschaften „markiert“. Mit ihr verbindet sich
Leidenschaft und darin liegt eine besondere Chance für die Jugendarbeit. Typisch für
die Jugendarbeit ist ihr Erlebnischarakter,
der sich besonders gut zur Markenbildung
eignet. Umso mehr erstaunt, dass wir uns
schwer tun, Marken der Jugendarbeit zu
benennen.
Die vier Musiker der Frankfurter Band
Böhse Onkelz haben in ihrer 25-jährigen
Karriere gewaltige Identitäts- und ImageWandlungen vollzogen: von einer Kultband
der Skinhead- und Hooligan-Szene zur kommerziell erfolgreichsten deutschen Rockband. Und ihre Fans? Gingen sie diesen
Weg mit? Was verkörpern die Böhsen
Onkelz heute für ihre Fans? Eine spannende Frage, zumal bei einer Band, mit deren
Texten und Biographie sich Hunderttausende von Fans so hochgradig identifizieren wie bei keiner zweiten.
dem es auch schlecht, sauschlecht ging.
Und dieser Mensch hat die Gabe, Texte
darüber zu schreiben und es ‚rauszuschreien’. Und das tut verdammt gut!“
Jenny (22 Jahre)
Nach seinen Studien über Skinheads, Hooligans, Gothics und anderen Jugendsubkulturen, die heute schon zu den „modernen Klassikern“ (Ralph Giordano) gehören,
packt der Leiter des Berliner Archivs der
Jugendkulturen mit dieser Biographie- und
Rezeptionsanalyse zu einer der umstrittensten Bands der Gegenwart erneut ein
heißes Eisen an.
Detailinfos zum Buch:
http://www.jugendkulturen.de/index.html?
shop/buchder.html
Komplett überarbeitete, erweiterte und neu
gestaltete Auflage.
288 Seiten, Preis: 18 Euro, ISBN 3-86546034-8, Berlin 2005.
Bezug über jede gute Buchhandlung oder
direkt www.jugendkulturen.de
„Das Leben, das scheiß doofe Leben, ist
manchmal so aussichtslos, so einsam, so
kalt und hässlich. Als Onkelz-Fan weiß
man, dass es irgendwo jemanden gibt,
THEMA
JUGEND
19
Die Lippenbekenntnisse für die Hauptschule nehmen sich daneben wie PflichtErklärungen an die Benachteiligten aus.
KOMMENTAR
Die in dieser Rubrik veröffentlichten Meinungen werden nicht unbedingt von der
Redaktion und dem Herausgeber geteilt.
„Kommentare“ sollen zur Diskussion anregen. Über Zuschriften freut sich die Redaktion von THEMA JUGEND.
AUCH DIE CHINESEN REFORMIEREN
IHR SCHULSYSTEM
Anmerkungen zu einem schulpolitischen Versuch
Kaum war die neue NRW-Landesregierung im vergangenen Jahr im
Amt, hat sie sich an die Arbeit gemacht –
wohl auch mit Hilfe einiger unermüdlicher
Lobbyisten aus den Gymnasien – um ein
neues Schulgesetz zu schaffen. Schließlich
waren Schule und Bildung Top-Themen im
Wahlkampf gewesen. So sprudelte in wenigen Monaten die Flut von 75 Änderungsentwürfen am bestehenden Schulgesetz
aus der ideologisch festgestampften, schulpolitischen Erde.
Die Lektüre eines Schulrechtsänderungsgesetzentwurfes ist nicht gerade ein kurzweiliges Unterfangen. Der geneigte Leser
beginnt – wie beim Nachrichtenmagazin –
hinten zu lesen: Änderung Nr. 75 verfügt,
dass in § 133 des Schulgesetzes – SchG –
der Absatz 3 aufgehoben wird. Neugier
erwacht. Was steht in § 133 Abs. 3 des
SchG? Dort wird verfügt, dass die Regelung des § 57, Abs. 4, Satz 2, Ende 2007
außer Kraft gesetzt wird. Neugier verstärkt
sich. Was steht in § 57, Abs. 4, Satz 2?
Dort findet sich, dass Lehrer in der Regel
Beamtinnen und Beamte sind. Aha: Die
Regel, dass Lehrer Beamtinnen und Beamte sind, sollte 2007 auslaufen. Die neue
Regelung sieht nunmehr vor, dass es dabei
bleibt.
Man könnte das, speziell aus dem Blickwinkel des Kinder- und Jugendschutzes,
für eine Marginalie halten - wenn es sich
nicht, wie die eingehende Lektüre des
Gesetzentwurfes zeigt, um ein verräterisches Detail handelte, das die grundsätzliche Denke entlarvt. Und dann kommt sehr
wohl der Kinder- und Jugendschutz ins
Gespräch.
Schulische Bildung und Erziehung werden
offenbar verstanden als staatlich-administrativ zu organisierender Informationsverabreichungsvorhang. Die Tätigkeit des
Lehrbeamten hat demzufolge hoheitlichen
Charakter, wie etwa die des Grenzschutzes, der Polizei, der Finanz- und anderer
Behörden. Zeugnisdokumente bilden of-
20 THEMA
JUGEND
fenbar das entscheidende Instrument des
Lehrerhandelns.
Zahlreiche Detailregelungen des neuen
Schulgesetzes bestätigen das: Kopfnoten
werden wieder eingeführt, wohlgemerkt ab
Klasse 3. Ein pädagogisch und psychologisch höchst fragwürdiger Vorgang, der
Klischees oder persönlichen Vorlieben von
Lehrern Tür und Tor öffnet. Die meisten
Lehrerinnen und Lehrer stehen Kopfnoten
skeptisch gegenüber. Zudem ist deren
Effizienz zweifelhaft, zumal dafür lediglich
schlichte vier Stufen zur Verfügung stehen
– von pädagogischer Differenzierung und
Förderung, von Aufmerksamkeit für die
Irrungen und Wirrungen wachsenden Lebens sowie für die Mühen bei der Identitätsentwicklung von Pubertierenden keine
Spur.
Die Verbindlichkeit der Grundschulgutachten wird erhöht. Das meint die Zuteilung
von Bildungschancen. Wir sprechen hier
über neunjährige Kinder! Der Gesetzentwurf geht tatsächlich davon aus, das dreigliedrige Schulsystem sei begabungsgerecht (so die Formulierung im Gesetzentwurf). Historisch betrachtet ist es ein Relikt
aus der Preußenära und stellte eine Anpassung an deren gesellschaftliche Belange dar. Dass andere Länder die frühe
Selektion längst abgeschafft haben und die
Effizienz ihres Schulwesens weitaus besser
ist als in Deutschland, das bleibt beim
Nachdenken über das so genannte modernste Schulsystems Europas außen vor.
Und dann wird noch der Durchgang durch
die Sekundarstufe I an Gymnasien um ein
Jahr verkürzt, was den Wechsel eines
Haupt- oder Realschulschülers in die gleiche Klasse eines Gymnasiums quasi unmöglich macht. Wenn jemand unser bestehendes dreigliedriges System (mit dem Appendix Gesamtschule) aus den Interessen
der Gymnasialeltern und -lehrer heraus mit
dem Ziel optimieren wollte, seine Pfründe
zu sichern, er würde es genau so machen.
Der Bildungskommissar der UN, der im
Februar 2006 das deutsche Schulsystem
in Augenschein genommen hatte, monierte
als die entscheidenden Mängel: die hohe
Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom
materiellen Status des Elternhauses, die
frühe Selektion und die Einteilung auf drei
verschiedene Schulformen. Auf keines dieser Monita gibt der Schulgesetzentwurf
eine Antwort, im Gegenteil.
Dass in der Schule aktive Lernprozesse
zur Aneignung von Wissen stattfinden, und
nicht administrative Lehrvorgänge, die die
Verabreichung von Informationen zum
Inhalt haben –
dass die Entwicklung einer kindlichen
und jugendlichen Identität zur Reife im
Wesentlichen ein Wachstumsprozess ist, in
dem Umwege, Eigenwilligkeiten, Fehler
und Unzulänglichkeiten normal sind und
dass deshalb Selektions- und Sortiervorgänge contraindiziert sind –
dass eine gute Schule davon lebt, dass
sie förderliche Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern organisiert bzw. die Rahmenbedingen dafür schafft und nicht davon, die Sachvermittlung per Dozententätigkeit auszudehnen –
von all dem sind die Lobbyisten und Strategen, die den Gesetzentwurf formulierten,
unberührt geblieben. Man muss das alles
wohl für das letzte Aufbäumen einer vorgestrigen Bildungsidee halten. Jedenfalls hätten mutige Innovationen anders ausgesehen.
Die Chinesen reformieren gegenwärtig landesweit ihr Schulsystem. Dass sie nicht in
Nordrhein-Westfalen anfragen, wie es dort
gemacht wird, sondern lieber nach Finnland fahren, kann man gut verstehen. Sie
sind möglicherweise pädagogisch und
psychologisch, ganz sicher aber im Blick
auf die ökonomische Verwendung von
Ressourcen, klug genug, sich an den besten und effizientesten Schulsystemen zu
orientieren. Es geht schließlich um die Zukunft der nachwachsenden Generation
und damit unserer Gesellschaft.
„Die Reformbemühungen des neuen Schulgesetzes sind in bedeutendem Maße unzulänglich“ – formulierte unlängst ein Wissenschaftler in einer Landtagsanhörung.
Nicht nur das. Sie sind in ihren Grundüberzeugungen und in ihrer Reformverweigerung tatsächlich ein Thema für den Kinder- und Jugendschutz.
Michael Sandkamp Der Autor ist Vorstandsmitglied der
Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW
e.V. Er arbeitet als Referent für „Eltern
und Schule“ im Bischöflichen Generalvikariat Münster.
ARBEITSHILFEN
Das Zuwanderungsgesetz
und die Kinder- und
Jugendhilfe
Hierzu hat nun der Paritätische Wohlfahrtsverband NRW e.V. eine gut gemachte Arbeitshilfe herausgegeben. Diese Arbeitshilfe richtet sich vor allem an Fachkräfte in den Migrationsdiensten und der
Jugendhilfe.
Mit dem „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regulierung des Aufenthaltes und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern
(Zuwanderungsgesetz)“, das zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, verbinden viele eine Reform der Ausländerpolitik, die
manches vereinfachen wird, Ungerechtigkeiten abbauen und stärker den Integrationsgedanken betonen soll. Nach ersten
Erfahrungen mit dem Gesetz hat sich eine
Skepsis breit gemacht.
Die Arbeitshilfe stellt kurz und knapp das
Zuwanderungsgesetz (als Artikelgesetz)
vor. Das heißt: Das Gesetz nimmt Einfluss
auf ganz verschiedene Gesetze, nimmt Änderungen vor, „quer durch die Rechtsmaterie“. Das wird in der Arbeitshilfe verständlich dargestellt. Im Schwerpunkt der
neuen Veröffentlichung geht es dann aber
um das Aufenthaltsgesetz und seine Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendhilfe.
„Dabei ist es manchmal unausweichlich“,
so die Einleitung der Broschüre, „Querverbindungen zu den anderen Artikelgesetzen
herauszustellen…“
Zentrale Inhalte der Arbeitshilfe sind die
Abschnitte 2 „Kinder und Jugendliche mit
ausländischem Pass in der Kinder- und
Jugendhilfe“, der Abschnitt 3 „Kinder und
Jugendliche im Zuwanderungsgesetz von
2004“, Abschnitt 4 „Integration von Jugendlichen und jungen Menschen mit ausländischem Pass“, Abschnitt 5 „Junge
Menschen und Beschäftigung“ und Abschnitt 6 „Verbot der Abschiebung bei
geschlechtsspezifischer und nicht-staatlicher Verfolgung“.
Im Abschnitt 7 geht es um die Arbeit der
NRW-Härtefallkommission und im Abschnitt 8 um die UN-Konvention über die
Rechte des Kindes und das Zuwanderungsgesetz im Hinblick auf Flüchtlingskinder.
Eine erste kurze Einschätzung zur derzeitigen (neuen) unverschärften Praxis bringt
der Kommentar „Erste Auswirkungen für
junge Flüchtlinge“. Und ganz für die Praxis
formuliert gibt es (vor dem Quellen-, Literatur-, Adressenteil und vor dem weiteren
Anhang) 12 Empfehlungen für die Jugendhilfe und Schule. Diese Empfehlungen wer-
fen zwangsläufig Fragen für eine kinderfreundliche Politik auf.
Die Arbeitshilfe ist übersichtlich gegliedert
und gestaltet. Gute Fotos unterstreichen
den knapp gehaltenen (aber sehr informativen) Text. Leser/innenfreundlich!
Georg Bienemann Zu beziehen:
Der Paritätische
Fachgruppe Kinder, Jugend, Familie,
Frauen, Migration
Loher Straße 7
42283 Wuppertal
Telefon: (0202) 2822-252
Telefax: (0202) 2822-201
E-Mail: [email protected]
kommunalen Jugendämter und die Landesjugendämter Rheinland und WestfalenLippe beteiligt waren.
Ziel des Konzeptes ist es, verstärkt und
ergänzt einen Handlungsrahmen für die
Tätigkeit in den kommenden Jahren zur
Verfügung zu stellen. Wir verstehen diese
Überlegungen nicht als geschlossenes
Konzept, sondern als Empfehlungshinweise für die Landesebene und für die konkrete örtliche Arbeit.
Exemplare gibt es bei der:
Katholischen
Landesarbeitsgemeinschaft
Kinder- und Jugendschutz NW e.V.
Salzstraße 8
48143 Münster
Telefon: (0251) 54027
Telefax: (0251) 518609
E-Mail: Kath.LAG.Jugendschutz.NW
@t-online.de
NRW-Konzept
Der Kinder- und Jugendschutz auf der
kommunalen Ebene und die Arbeitsschwerpunkte der Landesstellen
Die staatlichen und verbandlichen Stellen des Kinder- und Jugendschutzes haben in den letzten Jahren ihre Tätigkeit
sowohl auf Landesebene als auch in den
Kommunen quantitativ und qualitativ ausgebaut. Die drei Landesstellen Kinder- und
Jugendschutz in Nordrhein-Westfalen haben parallel dazu die Zusammenarbeit mit
anderen Organisationen des Kinder- und
Jugendschutzes verstärkt. Von Seiten der
kommunalen Kinder- und Jugendschutzfachkräfte wurde der Wunsch geäußert,
gemeinsam die Praxis „vor Ort“ zu reflektieren sowie Arbeitskonzepte auf Kommunalund Landesebene zu entwickeln und aufeinander abzustimmen.
Dazu führten die Landesstellen in den
Jahren 1999 und 2005 jeweils eine Umfrage bei den Kolleginnen und Kollegen in
den NRW-Jugendämtern durch. Diese
Ergebnisse sind Grundlage für einen intensiven Diskussionsprozess, an dem die
Neue Schriftenreihe
Elternwissen
Von der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW
e.V. wird eine neue Schriftenreihe mit dem
Titel Elternwissen herausgegeben.
Die erste Ausgabe befasst sich mit dem
Thema „Konsum von Kindern und
Jugendlichen“.
Generell gilt, dass diese Schriftenreihe nur
in größeren Stückzahlen abgegeben wird.
Alle, die sich dafür interessieren, mögen
sich bitte mit der Geschäftsstelle in Münster in Verbindung setzen (Telefon: (0251)
54027). Für die Zukunft ist daran gedacht,
weitere interessante und wichtige Themen
zu publizieren. Jugendämter, die hier kooperieren wollen (also als Mitherausgeber
der Schriftenreihe einsteigen möchten),
sind dazu herzlich eingeladen. Diese Einladung richtet die Landesarbeitsgemeinschaft vor allem auch an ihre Mitgliedsverbände. Gemeinsam werden die weiteren
Themen festgelegt und die Verbreitung
der Schriftenreihe abgesprochen.
Alle, die Interesse an einer Kooperation haben, sollten sich bald an die
Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz
NW e.V. wenden:
Kath.LAG.Jugendschutz.NW
@t-online.de.
THEMA
JUGEND
21
INFORMATIONEN
Junge Flüchtlinge
an Ferienfreizeiten beteiligen!
Gemeinsamer
USK wendet sich gegen
Vorwurf
Die CDU/CSU-Innenminister haben sich
auf ihrer Tagung in Wanzleben (SachsenAnhalt) für ein Verbot von so genannten
Killerspielen ausgesprochen. Eine niedrigere Eingriffsschwelle, als das Jugendschutzgesetz vorsieht, soll durch die Streichung
des Wortes „offensichtlich“ jugendgefährdend erreicht werden. Die Unionspolitiker
sparten laut Pressemeldungen auch nicht
mit Vorwürfen an die Adresse der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) in
Berlin, die angeblich „nur sehr mangelhaft“
funktioniere und „nicht mit dem Jugendschutzrecht in Einklang“ stehe. Dabei nahmen sie in Unkenntnis der tatsächlichen
Rechtslage fälschlicherweise Bezug auf
den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag.
Dieser ist zwar die Grundlage für die
jugendschutzrechtliche Behandlung von
Internet und Fernsehen, nicht aber von
Trägermedien. Die Alterskennzeichnung
von Computerspielen (Trägermedien) erfolgt nach dem Jugendschutzgesetz.
Die USK wies in einer Pressemitteilung vom
10. März darauf hin, dass jugendgefährdende Produkte keine Alterskennzeichnung erhalten und damit von der Bundesprüfstelle indiziert werden können. Auf die
konsequente Einhaltung der Bestimmungen nach dem Jugendschutzgesetz achten die Prüfgremien der USK und der
Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden. Alterskennzeichnungen der USK
sind Verwaltungsakte der federführenden
Obersten Landesjugendbehörde NRW. Die
USK stellt fest, dass ihre Prüfverfahren
sowie deren Ergebnisse „jeglicher rechtlichen und fachlichen Überprüfung Stand
halten“.
Literaturdatenbank
Kinder- und Jugendschutz
In der Literaturdatenbank Kinder- und
Jugendschutz bietet die Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz
e.V. einen Überblick über vorhandene
Artikel, Broschüren und Veröffentlichungen
mit inhaltlichem Bezug zu den Themen des
Kinder- und Jugendschutzes, z.B. zu erzieherischen, strukturellen und gesetzlichen
Aufgaben des Jugendschutzes, den Themen Sucht- und Gewaltprävention, Medienpädagogik und Jugendmedienschutz,
den Themen Schutz vor Misshandlung und
sexuellem Missbrauch und… und… und…
Kontakt: [email protected]
22 THEMA
JUGEND
Aufruf des NRW-Integrationsbeauftragten und der
Aktionsgemeinschaft Junge Flüchtlinge in NRW
Die Aktionsgemeinschaft Junge Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen
ruft seit 1993 Gruppen, Verbände, Initiativen, Gemeinden und sonstige Anbieter von Ferienfreizeiten auf, junge Flüchtlinge an ihren geplanten Ferienfreizeiten in den Sommerferien zu beteiligen. In diesem Jahr
erfolgt der Aufruf erstmals gemeinsam mit dem Integrationsbeauftragten
des Landes Nordrhein-Westfalen, Thomas Kufen.
Aktionsgemeinschaft und Integrationsbeauftragter stellen gemeinsam
fest: „Eine Teilnahme junger Flüchtlinge an den Ferienfreizeiten kommt
allen Beteiligten zugute. Sie ermöglicht, sich besser kennen zu lernen
und gemeinsame Erfahrungen zu sammeln. Jungen Flüchtlingen die
Teilnahme zu ermöglichen, entspricht auch dem Bemühen und dem
Geist der parteiübergreifenden Integrationsoffensive des Landes NRW.
Diese zielt darauf ab, dass alle Kinder bereits früh lernen, sich in einer
kulturell offenen Gesellschaft zu entwickeln und Bereitschaft zeigen, sich
anderen Kulturen zu öffnen. Dies ist ein zentrales Prinzip demokratischer
und sozialer Erziehung und Bildung. Die Einbindung junger Flüchtlinge ist
hierbei ein konkreter Schritt in diese Richtung. Hierzu setzen sich vor
allem Ehrenamtliche im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit für die
Teilnahme junger Flüchtlinge an Ferienfreizeiten ein. Dafür ist ihnen
besonders zu danken.“
Unterstützt wurden der Aufruf und dieses Bemühen seit 10 Jahren von
den NRW-Innenministern.
Schwierigkeiten könnte es nun – so einige konkrete Erfahrungen des
vergangenen Jahres – mit der Teilnahme junger Flüchtlinge an Auslandsfahrten geben. Das NRW-Innenministerium hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es (wie bisher auch) keinen Rechtsanspruch gibt. Ausländerbehörden können auf Antrag im Einzelfall darüber befinden, ob die
jeweiligen Umstände die Erteilung einer auf die Dauer der Reise befristeten Aufenthaltserlaubnis zulassen. Dadurch wird zum Ende der
Auslandsfahrt die Wiedereinreise nach Deutschland möglich.
Die Aktionsgemeinschaft und der Integrationsbeauftragte des Landes
bitten alle Ausländerbehörden in NRW, sich offensiv und im Sinne einer
Integration für die Teilnahme junger Flüchtlinge an diesen Auslandsfahrten einzusetzen und alles erdenklich Mögliche zu tun, damit die
Anträge positiv „im besten Interesse junger Flüchtlinge“ bearbeitet werden. Es sollte nach Auffassung der Aktionsgemeinschaft und des
Integrationsbeauftragten eine möglichst unbürokratische und wohlwollende Bearbeitung der Anträge durch die Ausländerbehörden erfolgen.
Im Namen junger Flüchtlinge danken die Aktionsgemeinschaft und der
Integrationsbeauftragte allen, die dieses Anliegen unterstützen!
Weitere Infos: (0251) 54027 – Wir weisen auch auf die 12 Ratschläge und Tipps zur Teilnahme junger Flüchtlinge an Ferienfreizeiten im In- und Ausland hin. Diese Ratschläge können bei
uns angefordert oder unter www.thema-jugend.de/downloads
heruntergeladen werden.
Für Migranten und
Flüchtlinge
Kinder brauchen einen
Schutzengel!
„Die politische Praxis im Umgang mit
Migranten und Flüchtlingen ist in unserer
Gesellschaft häufig alles andere als vorbildlich“, betonte Gisela Reckmann, Mitglied
des Diözesanleitungsteams der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands
im Bistum Münster in einem Gespräch mit
Weihbischof Josef Voss und dem Bundestagsabgeordneten Karl Schiewerling.
Unter ihrem aktuellen Schwerpunktthema
„Fremdes achten – Frieden suchen“
setzt sich die kfd mit der Lebenssituation
von Migranten und Flüchtlingen in
Deutschland auseinander.
Viele kfd-Frauen sind in der Asyl- und
Flüchtlingsarbeit aktiv und verfügen über
intensive Kontakte und Erfahrungen im
Zusammenhang mit Abschiebungen und
der täglichen Lebensgestaltung von
Flüchtlingsfamilien. Sie kritisieren besonders die Auswirkungen des neuen Zuwanderungsgesetzes, das Anfang 2005 in Kraft
trat. Eigentlich sollte mit diesem Gesetz ein
humanes, weltoffenes und integrationsfreundliches Gesetz geschaffen werden. In
der Praxis zeigt sich aber deutlich, dass es
weit hinter seinen Zielen zurückbleibt und
die praktische Politik sich zum Teil sogar
noch verschärft hat.
Die kfd im Bistum Münster ist Mitgliedsverband in der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V.
Aids fordert mehr Tote als alle Kriege des
20. Jahrhunderts. Allein in Afrika leben derzeit fast 30 Millionen Menschen mit dem
Hl-Virus. Eine aktuelle UN-Studie schätzt,
dass bis zum Jahre 2010 allein in Afrika
etwa 20 Millionen Aids-Waisen leben werden. Der Schrei nach Leben ist unüberhörbar. Mit dem Schwerpunkt „Aids & Kinder“
will missio hierauf eine Antwort geben. Die
zentrale Botschaft lautet: Kinder sind
HIV/Aids und den Folgen hilflos ausgesetzt,
sie sind besonders schutzbedürftig.
THEMA JUGEND
Nr. 2 Juni 2006
Jahresbericht 2005
der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz
NW e.V. erschienen
Über die Arbeitsschwerpunkte der
Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft
Kinder- und Jugendschutz NW e.V. informiert der 20-seitige Jahresbericht 2005.
Themen sind: „Zusammenarbeit fördern –
gemeinsam Positionen entwickeln“ oder
„Stark machen für Partizipation von Kindern und Jugendlichen“. Im Bericht geht es
auch um die fachliche und praktische
Unterstützung der Jugendämter durch die
Katholische Landesarbeitsgemeinschaft
Kinder- und Jugendschutz NW e.V. Ein
weiteres Thema ist der Kinder- und Jugendschutz für junge Flüchtlinge.
Der Bericht kann als Einzelexemplar
kostenfrei bezogen werden bei:
Katholische
Landesarbeitsgemeinschaft
Kinder- und Jugendschutz NW e.V.
Salzstraße 8
48143 Münster
Telefon: (0251) 54027
Telefax: (0251) 518609
E-Mail: Kath.LAG.Jugendschutz.NW
@t-online.de
Informationen:
E-Mail: [email protected]
Internet: www.missio-aachen.de
Telefon: (0241) 7507-00
THEMA JUGEND
Zeitschrift für Jugendschutz und Erziehung
erscheint vierteljährlich
Herausgeber:
Katholische Landesarbeitsgemeinschaft
Kinder- und Jugendschutz NW e.V
Salzstraße 8, 48143 Münster,
Telefon (02 51) 5 40 27 oder 4 0142
Telefax (02 51) 51 86 09
E-Mail: [email protected]
www.thema-jugend.de
Redaktion:
Georg Bienemann (gb)
Fotos:
Miriam Becker, Bad Sassendorf
Neue Studie: Rechte Szene
auch im Osten out
HipHop, Skateboarder und Punks sind
am populärsten – die Rechten stehen auch
bei ostdeutschen Jugendlichen auf der
Anti-Beliebtheitsskala ganz oben. Das fand
eine aktuelle Untersuchung des Archivs der
Jugendkulturen heraus. Ihr Fazit: „Die rechte Szene hat ihren Zenit überschritten. Die
große Mehrzahl der ostdeutschen Jugendlichen will mit denen nichts mehr zu tun
haben.“ 1001 Schülerinnen und Schüler
aus allen neuen Bundesländern wurden in
der Erhebung des Archivs der Jugendkulturen im Rahmen des „Culture on the
Road“-Projektes befragt, 493 Jungen und
508 Mädchen aller Schulformen zwischen
14 und 18 Jahren. Das Ergebnis: Die rechte Szene führt die Antipathie-Skala der ostdeutschen Jugendlichen deutlich an, die
HipHop-Szene, Punks und Skateboarder
dagegen genießen die größten Sympathien.
Die Gründe für die Ablehnung der Rechten: Die extreme Gewaltbereitschaft und
ihr oft ebenso extremer Alkoholkonsum
schrecken die Gleichaltrigen ab. Und: Die
„Konkurrenz“ ist einfach attraktiver. So entscheiden sich schon 14-Jährige eher für
die bunten statt braunen Szenen. „Obwohl
die Erwachsenengesellschaft überwiegend
davon überzeugt ist, dass die heutige
Jugend immer gewalttätiger und moralisch-ethisch orientierungsloser wird, ist
das Gegenteil richtig“, lautet das Fazit des
Jugendforschers Klaus Farin. „Die Jugend
ist besser als ihr Ruf. Keine Generation
lehnt Gewalt und Intoleranz so sehr ab wie
die Jugendlichen, keine legt so viel Wert auf
Fairplay, Toleranz und ein gewaltfreies
Miteinander. Würden mehr Erwachsene so
denken wie die Jugend, wäre unsere
Gesellschaft eindeutig zivilisierter.“
Redaktionsbeirat:
Marianne Ammann, Fachhochschule Münster,
FB Sozialwesen
Prof. Dr. Joachim Faulde, Kath. Fachhochschule
NW, Abteilung Paderborn
Wilhelm Heidemann, Fachlehrer am August-VetterBerufskolleg, Bocholt
Bernhard Jans, Institut für Freizeit und Tourismus
GmbH i.G., Grafschaft
Annette Wiggers, Jugendamt der Stadt Rheine
Herstellung:
Achenbach-Druck
Römerstraße 36, 59075 Hamm
Tel. (0 23 81) 97 00 40, Fax (0 23 81) 97 00 444
Bezugspreis:
Einzelpreis 2,– €
Der Bezugspreis für Mitglieder und Mitgliedsverbände der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft
Kinder- und Jugendschutz NW e.V ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht
in jedem Fall die Meinung der Redaktion wieder.
T H E M A J U G E N D wird auf chlorfreiem
Papier gedruckt. Durch chlorfreie Bleiche entstehen
keine chlorierten organischen Verbindungen mit
Spuren von Dioxinen und Furanen, die die Abwässer
belasten.
Der beste umweltbewusste Umgang mit diesem
Heft ist: Bitte weitergeben an andere Interessierte!
ISSN 0935-8935
Themenschwerpunkt der
nächsten Ausgabe:
Intervention
THEMA
JUGEND
23
Katholische LAG Kinder- und Jugendschutz NW e.V.
Salzstraße 8 · 48143 Münster
Postvertriebsstück, Deutsche Post AG, „Entgelt bezahlt“, H 9851
THEMA
JUGEND
NACHRICHTEN
Immer häufiger folgen Ausländerbehörden
nicht den Empfehlungen der Härtefallkommission und ordnen trotzdem die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber
an. War dies früher die „absolute Ausnahme“, registriert die Caritas in der Diözese
Münster eine deutliche Zunahme dieser
Fälle. 2005 hat die Härtefallkommission des
Landes NRW nach eingehender Prüfung
von rund 4.000 Anträgen in 60 Fällen festgestellt, dass die Rückführung eine besondere Härte bedeutet und eine Empfehlung
für ein Bleiberecht ausgesprochen. „Dann
hat die Ausländerbehörde das Recht, eine
Aufenthaltserlaubnis zu erteilen“, erklärt der
Vorsitzende des Diözesan-Caritasverbandes
Münster, Domkapitular Dieter Geerlings, und
fordert: „Wenn das Land diese Möglichkeit
eingerichtet hat, sollte sie nicht auf kommunaler Ebene ausgehebelt werden.“
Der PC ist auch im Kinderzimmer
selbstverständlich geworden. Er wird von
92 Prozent aller Kinder zwischen neun und
14 Jahren in NRW genutzt. Dies ist ein Ergebnis des aktuellen „LBS-Kinderbarometers“, einer repräsentativen Umfrage unter
2.300 Schulkindern in Nordrhein-Westfalen.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat sich
auf ihrer Frühjahrs-Vollversammlung bei
einem ganztägigen Studientag unter dem
Titel „Die Kirche hat der Jugend viel zu
sagen, und die Jugend hat der Kirche
viel zu sagen“ (Johannes Paul II. mit
Perspektiven der Jugendpastoral befasst.
Ziel des Studientages war es, die Herausforderungen in den Blick zu nehmen, die
sich der Jugendpastoral in der heutigen
Lebenssituation junger Menschen und angesichts der Veränderungen in der Kirche
stellen. Der Vortrag des Vorsitzenden der
Jugendkommission der DBK, Bischof Dr.
Franz-Josef Bode (Osnabrück), ist unter
http://dbk.de/presse/pm2006/Studientag/
VortragBischofBode.pdf nachzulesen, der
Fachvortrag von Professor Dr. Martin Lechner (Benediktbeuern) unter http://dbk.de/
presse/pm2006/StudientagVortragLechner.
pdf. Unter http://dbk.de/presse/pm2006/
StudientagGrundinfo.pdf sind für die Presse
aufbereitete Hintergrundinformationen zur
Jugendpastoral nachzulesen.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will die
Verantwortung für gering qualifizierte
Jugendliche offenbar an die Länder abgeben. „Wir müssen uns fragen, ob wirklich
alle Aufgaben in unseren Förderbereich
gehören“, sagte der stellvertretende BAVorsitzende Heinrich Alt dem Berliner
„Tagesspiegel“. Im Zuge der von der Bundesregierung für das kommende Jahr angekündigten Reform der Arbeitslosenförderung wolle die Bundesagentur zur Schärfung ihres Profils über 80 Förderinstrumente
überarbeiten und straffen. Auf dem Prüfstand stehe dabei auch die Qualifizierung
Jugendlicher, die bisher Sache der Arbeitsagenturen sei. „Aus den Schulen kommen
viele Jugendliche zu uns, die noch nicht für
eine Ausbildung geeignet sind“, sagte Alt
der Zeitung. Er forderte, dass die Bundesagentur künftig nur noch ausbildungsreife
Jugendliche übernimmt. „Bis dahin sollten
sie in der Obhut der Länder bleiben, schließlich ist Schulbildung Ländersache.“
(jpd)
Kinder in Nordrhein-Westfalen fühlen sich
mehrheitlich gut durch ihre Eltern unterstützt, wenn es um die Schule geht. Die
meisten Kinder beim „LBS-Kinderbarometer“ gaben an, ihre Eltern interessierten
sich sehr für die Leistungen des Nachwuchses in der Schule, so ein Ergebnis der
repräsentativen Umfrage.
(LBS)
In Deutschland gelten mehr als drei Millionen Haushalte als überschuldet. Zudem
werden Deutschlands Schuldnerinnen
und Schuldner immer jünger. Im Jahr 2005
waren laut Schufa rund 200.000 junge
Erwachsene im Alter zwischen 18 und 25
überschuldet. Aus diesem Grund hat das
Verbraucherschutzministerium beschlossen, ein landesweites Netzwerk zur Stärkung des Finanzwissens bei Kindern, Jugendlichen und jungen Familien zu gründen.
Insgesamt leiden rund 5 bis 10 Prozent aller
Kinder in Deutschland heutzutage an chronischen Erkrankungen wie Allergien oder
Asthma, haben einen angeborenen Herzfehler oder müssen mit epileptischen Anfällen rechnen, sind „zuckerkrank“ und müssen Insulin spritzen oder sind als „Zappelphillip“ hyperaktiv und deshalb auf Medikamente und auf besondere pädagogische
Begleitung angewiesen. Genaue Angaben
darüber, ob die gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei Kindern in den letzten
Jahren zugenommen haben, liegen nicht
vor. Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher
haben allerdings den Eindruck, dass heute
mehr gesundheitlich beeinträchtigte Kinder
die pädagogischen Einrichtungen besuchen als früher.
(BZgA)
Nach den Ergebnissen der KIM-Studie
2005 haben Eltern zu Computer und
Internet ein zwiespältiges Verhältnis:
Während die Beschäftigung der Kinder mit
dem Computer als nützlich oder gar unverzichtbar eingeschätzt wird, ist das Internet
deutlich negativer besetzt. Die meisten
Eltern sind der Ansicht, dass das Internet für
Kinder gefährlich ist und sie nur surfen sollten, wenn ein Schutzprogramm auf dem
Computer installiert sei. Die Realität sieht
dann aber anders aus: Nur etwa ein Viertel
der Eltern hat zu Hause eine entsprechende
Software im Einsatz. Insgesamt herrscht bei
vielen Eltern Ratlosigkeit vor – Filterprogramme sind meist unbekannt, Informationen aus Sicht der Eltern eher Mangelware.
(mpfs)
Die nächste Ausgabe von
THEMA JUGEND
kommt am 26. Sept. 2006.

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