Heft 2/2006 Szene-Erkundung
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Heft 2/2006 Szene-Erkundung
Nr. 2/2006 H 9851 THEMA JUGEND SZENE ERKUNDUNG JUGENDKULTUREN IM 21. JAHRHUNDERT SINNSUCHE BEI GOTHICS UND JESUS FREAKS RÜCKSCHAU: 50 JAHRE BRAVO ZEITSCHRIFT FÜR JUGENDSCHUTZ UND ERZIEHUNG www.thema-jugend.de Die Szene der Jugendkulturen ist kaum zu überschauen. Auch wenn sich ständig neue Jugendkulturen, -szenen, -stile und neue Varianten herausbilden, existieren die Muster alter Szenen weiter. Ergebnis der Szenenerkundung ist: Es existiert kein Gesamtbild der Jugend und Jugendkulturen. Und ein weiteres Ergebnis ist: Jugendkulturen heute sind keine Jugendsubkulturen, die eine Gegenkultur bilden; eine Mainstream-Kultur als Gegenpol, an der sich heutige Jugendkulturen abarbeiten können, scheint abhanden gekommen zu sein. Vieles an den abweichlerischen Jugendkulturen ist normaler geworden. Sind das erste Tendenzen einer Anpassung? 2/2006 Unser Thema: Jugendkulturen im 21. Jahrhundert 2 Jugendkulturen als Sinnsuchergemeinden Zum Beispiel: Gothics und Jesus Freaks 4 In und Out Ablehnung und Akzeptanz jugendkultureller Szenen 7 Wilfried Ferchhoff Jugendszene nicht gleich Drogenszene Drogenkonsum in der jugendlichen Subkultur 10 Vom Wort zum Symbol Ein Gespräch mit dem Soziologen Matthias Sellmann 11 Praxis: Mit dem Beratungsmobil zur Party 13 50 Jahre BRAVO Jugendkultur im Rückspiegel 14 Bücher zum Thema 17 Kommentar: Auch die Chinesen reformieren ihr Schulsystem Anmerkungen zu einem schulpolitischen Versuch 20 Arbeitshilfen: Neue Schriftenreihe Elternwissen 21 NRW-Konzept Der Kinder- und Jugendschutz auf der kommunalen Ebene und die Arbeitsschwerpunkte der Landesstellen 21 Das Zuwanderungsgesetz und die Kinder- und Jugendhilfe 21 Informationen: In den sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Vorstellungen von Jugend nimmt die These von einer (eigenständigen) Jugendkultur bzw. Jugendsubkultur oder Gegenkultur der Heranwachsenden seit der Jahrhundertwende (vom 19. zum 20. Jahrhundert) und spätestens seit der nicht nur wirtschaftlichen Entdeckung und Erfindung des Teenagers in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung einen wichtigen Stellenwert ein. Dass Jugendkulturen und Jugendsubkulturen spätestens seit den 50er Jahren im Gegensatz zum viel verbreiteten Mythos von Gegen- und Subkulturen stets auch durch und durch unternehmerische Konsumkulturen waren und sind, „daran gibt es wohl keinen Zweifel“ (Klein 1999, 81; vgl. vor allem auch zu dieser These: Heath/ Potter 2005). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint es nun in mehrfacher Hinsicht angebracht zu sein, Abschied vom jugendlichen Gegenkultur- und Jugendsubkulturbegriff zu nehmen. Der Begriff Jugendsubkultur wird inzwischen nicht zuletzt vor dem Hintergrund vielfältiger sozialstruktureller und kultureller Wandlungsprozesse sowie der zunehmenden Ausdifferenzierung und Individualisierung sozialer Lebenslagen häufig durch den Jugendkulturbegriff ohne emphatisches sub und meistens auch ohne emphatische Gegner (Baacke 2004; Ferchhoff 2000; 2006) oder auch durch den – offeneren, begrenzte Dauer anzeigenden – Szenebegriff (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001; Klein 1999) ersetzt. Subkultur ohne Mainstream-Kultur? Aufruf: Junge Flüchtlinge an Ferienfreizeiten beteiligen! 22 Jahresbericht 2005 23 Neue Studie: Rechte Szene auch im Osten out 23 THEMA 2 THEMA JUGEND JUGEND JUGENDKULTUREN IM 21. JAHRHUNDERT In diesem Zusammenhang scheint (trotz gewisser Aufweichungstendenzen historisch auch schon vorher) der bis in die 60er und späten 70er Jahre des 20. Jahrhunderts vorwiegend dominierende klassen-, schicht- oder milieuspezifisch zuzuordnende Begriff der jugendlichen Subkultur tendenziell ersetzt worden zu sein. Die Infragestellung des konsensuellen Standpunktes der dominanten Kultur, die beobachtbare Enthierarchisierung, Entstrukturierung und Entpolitisierung, die zunehmende Mediatisierung nicht nur durch Popkultur, Populärkultur, MTV und VIVA, Kommerzialisierung und Globalisierung kultureller Lebenswelten und Lebensformen sowie die heute meistens fehlenden und aufgeweichten internen Polaritäten historischer Jugendsubkulturen (wie Mod-Rocker, Skinhead-Greaser, Skinhead-Hippie, Punk-Hippie, TedPunk, Skinhead-Punk usw.) haben den entsubstantialisierten und entmaterialisierten Plural eklektizistischer, gemixter, modisch stilbezogener, ästhetischer und lifestyleaffiner Jugendkulturen zum Durchbruch verholfen. Ein Crossover oder Patchwork von Musik, Moden, Medien und Ideologien ist zu beobachten. Die normativen Vorgaben des bürgerlichen Kulturbegriffs sind aufgeweicht worden. Ein einheitlicher Bezugspunkt einer Mainstream-Kultur, Hochkultur oder Stammkultur, auf den sich in der Vergangenheit der Gegenkultur- bzw. der Jugendsubkulturbegriff in seinem widerständig-subversiven, oppositionell-rebellisch-konfliktträchtigen und asymmetrischen Anderssein oder auch qua bricolage stets beziehen konnte, scheint nicht nur im globalisierten, kommerzialisierten und pluralen kulturellen Schmelztiegel des weit verbreiteten anything goes der Stilmixe abhanden gekommen zu sein. Das Andere, Abweichende, Besondere, Fremde, Andersartige, Auffällige, Rebellische, Nonkonforme und Subversive ist mittlerweile viel normaler als es meistens (re-)präsentiert und (re-)konstruiert wird. Jugendsubkulturen durchliefen in der Vergangenheit und durchlaufen zum Teil bis in die Gegenwart hinein einen dialektischen, schnelllebigen, flüchtigen, in einer Endlosschleife gefangenem „Zirkel“ von Subver- sion, Widerstand, Umwandlung, Entschärfung, Aufweichung, Vereinnahmung, Anpassung. Auf diese Weise wirkte bspw. in den siebziger und neunziger Jahren die auf radikale Ablehnung alles Bürgerlichen abzielende Punk- oder Grunge-Ideologie wie eine mit roher Energie aufgeladene Update-Version des guten alten Selbstverständnisses einer revolutionären Avantgarde. Darüber hinaus zerfiel und zerfällt der Begriff Jugendsubkultur jenseits einiger (re-)fundamentaler Strömungen etwa in einigen religiösen, in skinheadorientierten und in neonationalistischen Strömungen inzwischen in seine Bestandteile: er diversifiziert(e) sich in verschiedene Kulturen, Stile und Szenen. Unabhängig davon, welche gesellschaftliche Funktion man den verschiedenen Jugendsubkulturen insgesamt zuwies, schien die entsprechende sozialwissenschaftliche und pädagogische Debatte nie ganz davon abzusehen, das Entstehen von Jugendsubkulturen im Medium gesellschaftstheoretischer Einbettungen (gesellschaftliche Lebensverhältnisse, gesellschaftlicher Wandel bzw. gesellschaftliche Innovation) zu erklären. Jugendliche Subkulturen waren immer auch – nicht immer reflektierte, aber oftmals durchaus kreative – Antworten auf prekäre ökonomische Lebensverhältnisse und (Über-)Lebensstrategien in unsicheren Lebenssituationen im Feld des Kulturellen und Ästhetischen, manchmal sogar im Feld des Ökonomischen. Jugend(sub-)kulturen waren und sind, gleichwohl es immer auch um Fragen der Identität, Geltung, Anerkennung und Abgrenzung ging und geht, keine historisch zeitübergreifenden Phänomene, keine unveränderlichen Werte an sich, sondern stets zeittypisch definierte Begriffe innerhalb bestimmter historischer Lebensverhältnisse und -zusammenhänge. Strukturell Gegebenes und Bedingtes wurden und werden allerdings jugendkulturell nicht nur irgendwie alltagskulturell bewältigt, nicht nur irgendwie subjektiv und lokal adaptiert und verarbeitet, sondern auch in einer Art Autofokussierung biographisch und lokal in selbstkreierten Lebenswelten und facettenreich auf vielen Bühnen der Selbstinszenierung geradezu mit jeweils nicht vorhersagbarem spezifischem Eigensinn versehen. Pluralisierung der Eigenwelten und Gesellungsformen Wenn wir also heute von Jugendkulturen sprechen, dann sollte der bereits mit historisch-pädagogischer und soziologischer Tradition gesättigte Begriff Jugendkultur neu gefüllt werden, ohne dass man seine historischen Bedeutungs-Vorläufer ignorieren sollte (Baacke 2004; Ferchhoff 1990; 2000; 2006). Während Wyneken (bürgerliche Jugendbewegung, pädagogische Reformideen, Freie Schulgemeinde) und Bernfeld (Sprechsäle, sozialistische Päda- gogik) zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine bestimmte, an bürgerlichen Wertvorstellungen und Normen sich abarbeitende Jugendkultur im Auge hatten, haben wir es zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer globalisierten Welt mit einer Pluralisierung, Individualisierung, Hybridisierung und Vermischung der jugendlichen – auch lokalen – Zwischen- resp. Eigenwelten, Gesellungsformen und Selbst-Konzepte zu tun: darum der Plural Jugendkulturen oder auch – die labilen Gebilde und dynamischen Teilzeit-Gesellungsformen und Gesinnungsgemeinschaften der – Jugendszenen. Die heutigen Jugendkulturen weisen im Gegensatz zu klassischen Jugend(sub-) kultur-Konzepten weit weniger Affinitäten zu hochkulturellen, klassenkulturellen und schicht- bzw. milieuspezifischen Dimensionen auf und sind vor allem politisch uneindeutiger und ambivalenter (Zuordnungen wie „rechts“ und „links“ gelten nicht mehr so ohne weiteres; vgl. Farin 2005, 5). Sie sind noch stärker freizeit-, symbol- und medienbezogen, noch stärker konsumorientiert und noch stärker und schnelllebiger den Triebkräften der globalisierten Ökonomie ausgesetzt sowie entschieden schulferner. Die verschiedenen Varianten und Facetten heutiger Jugendkulturen sind also im Vergleich zu den meisten vergangenen Jugendsubkulturen und Jugendkulturen weder konsistent klassen-, schicht- und milieuspezifisch zu verorten, noch lassen sie sich ausschließlich protestbezogenen bzw. subversiven – oder kriminalsoziologisch betrachtet: abweichenden bzw. devianten – Subkulturen (Ferchhoff 2000), aber auch nicht nur konsumorientierten Unterhaltungskulturen zuordnen. Und Kultur ist im Kontext heutiger Jugendkulturen die Spur einer neuen Überlieferung, die in der Geschichte jugendkultureller Neuorientierungen (Veränderungen in der Rock-, Pop-, Mode-, Design- und Medienszene, in verschiedenen Gruppierungen etc.) sowie in neuen Auffassungen von (Lebens-)Stil bzw. Lifestyle, Outfit und visuellen Sinneseindrücken (Mode, Kleidung, Sport, Musik, Design, Körper- und Jugendsprache, Accessoires und auch in Konzepten von Individualität und Identität) zu finden sind (Neumann-Braun/Richard 2005). Die Trägerelemente heutiger Jugendkulturen gab es zu Zeiten Wynekens und Bernfelds, zu den Zeiten des Wandervogels und der bündischen Jugend nicht. Heutige Jugendliche erweisen sich vor allem als „Virtuosen des Visuellen“ (Zinnecker 1997, 448). Die vielfach in sich differenzierten Medien/Massenmedien (von inzwischen ausdifferenzierten und zum Teil auch jugendspezifischen Printmedien und Radio über das gleichfalls nicht nur altersspezifisch ausdifferenzierte Fernsehen mit den spezifischen jugendkulturellen ClipKanälen MTV und VIVA bis zum multimedialen Handy und legendären iPod, MP3Player, Computer/Internet/Chatten/LAN- Liebe Leserinnen und Leser! In dieser Ausgabe geht es um Ausdrucksweisen heutiger Jugendlicher. Genauer: Es geht um ihre Szenen, ihre Kultur und ihren Kult, um das „wie und warum“ sie sich organisieren. Welche Funktion haben Jugendszenen? Und können wir heute noch von Jugendsubkulturen sprechen? Gegenkulturen? Wo gegen? Bei der Bearbeitung des Themas werden zwangsläufig Vorurteile aufgedeckt: Schwarz gekleidete Gothics sind eben keine Satanisten, wie oft und (immer noch) gerne behauptet. So mancher in Springerstiefeln und mit kahl geschnittenem Kopf gehört nicht zur rechten Szene. Und Jugendszene bedeutet nicht gleichzeitig Drogenszene! Wie beurteilen Jugendliche in NordrheinWestfalen die Szene? Haben wir es mit Ablehnung und/oder Akzeptanz zu tun? Dazu sind interessante Ausführungen von Dr. Sabine Maschke zu finden. Und dass sich Spiritualität und Religiosität in manchen Jugendkulturen ausdrücken, das erfahren wir von Klaus Farin und Matthias Sellmann. Allen Autoren und Autorinnen herzlichen Dank für die Mitarbeit. Der Dank gilt auch Miriam Becker, die die Fotos dieser Ausgabe von THEMA JUGEND gemacht hat – und zwar in der Oranienburger Straße in Berlin. Herzliche Grüße aus der Redaktion Georg Bienemann THEMA JUGEND 3 Zugegeben: Die Lage ist verwirrend! Eines kann festgehalten werden: Es gibt im Zuge der Entstrukturierung und Individualisierung der Jugendphase sowie in dem widersprüchlichen Durcheinander und undurchsichtigen Konglomerat der zuweilen diffusen jugendkulturellen Erscheinungen, schon lange kein Gesamt-Bild der Jugend und -kulturen mehr, wobei auf der einen Seite Szenen immer durchlässiger werden und sich in temporäre Sinngemeinschaften segmentieren und auf der anderen Seite auch scharfe Grenzen innerhalb bestimmter Jugendkulturen gezogen werden. Zugegeben, die Lage ist verwirrend. Jugendkulturelle und szenenspezifische Vermessungen, Deutungen und Diagnosen scheinen nicht nur vor dem Hintergrund offener Zugänge, fließender Übergänge, der vielen Bricolagen und Samplings, der tendenziell unverbindlichen Zugehörigkeiten und vielfältiger Vermischungen, Retrowellen, Remixe, ästhetischer Protestformen und Repräsentationen sowie schnelllebiger Moden immer komplexer, aber auch kurzatmiger und unübersichtlicher zu werden. Zuordnungen und Antworten fallen schwer. Komplexe, differenzierte und auch widersprüchliche Bilder zu den einzelnen Jugendkulturen und Jugendszenen, die – auf unterschiedlichen methodischen Wegen empirisch ermittelt werden, können kaum noch in geschlossenen Theoriegebilden auf verallgemeinerungsfähiger Grundlage strukturell gebündelt werden. Und manchmal ist in einer Art ethnologischer bzw. ethnographischer Perspektive die alltagsphänomenologische Vorliebe für das jugendkulturelle Detail so groß, dass tiefenstrukturelle Zusammenhänge verloren gehen. Parties etc.). Sie tragen nicht nur zur Internationalisierung, Globalisierung, Medialisierung und Kommerzialisierung der Jugendkulturen bei, sondern ermöglichen zumindest teilweise auch ihre globale und zugleich lokale Konstitution. Kaum überschaubare Vielfalt vagabundierender Äußerungen Schon in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hatten sich gegenüber den 60er, 70er und 80er Jahren die diversen Jugendkulturen noch einmal beträchtlich vermehrt und vielfältig ausdifferenziert, so dass am Anfang des 21. Jahrhunderts allen ökonomischen und kulturindustriellen Vereinnahmungsversuchen zum Trotz eine kaum mehr überschaubare Vielfalt von unterschiedlichen, oftmals partikularen und temporären jugendkulturellen Selbstinszenierungen, Verhaltensweisen und Orientierungen, Ritualen, Mutproben, Einstellungen, Ausfächerungen und Stilisierungen vagabundiert. Auch wenn sich immer neue Jugendkulturen, -szenen, -stile und neue Varianten herausbilden, verschwinden im Zuge der 4 THEMA JUGEND Artenvielfalt die ästhetischen Muster der alten Szenen nicht. Entweder existieren – manchmal in Originalversion, oftmals aber auch in leicht veränderter Form – die Jugendkulturen weiter, wie die der Wandervögel, Teds, Beatniks, Hipster, Mods, Grufties, Punks, Grunger, Skins, Metals, Gothics, Hooligans, Hacker, Neonazis, Rocker, Techno, Skateboarder, Snowboarder, Rollenspieler, HipHopper u.v.a.m. Oder die „Stile tauchen in anderen Szenen wieder auf, wie beispielsweise HippieSymbole der 60er Jahre in der Goa-Szene (des Techno) der 90er" (Klein 1999, 78). Man kommt inzwischen nicht umhin, der Vielfalt der jugendkulturellen Lebensstile in Familie, Schule, Ausbildung, Freizeit und Gleichaltrigengruppe, dem bunten Kaleidoskop oder der Atomisierung verschiedener Lebens-, Lern- und Arbeitsformen, dem Stiltransit, dem Crossover und dem Sampling der Codes und Moden, dem heute beliebten postalternativen und (post-)modernen durchlässigen Szene-Surfen, der Differenzierung, Pluralisierung und Vermischung, aber auch der permanenten Grenzen überschreitenden Polarisierung von Jugendkulturen Rechnung zu tragen. Literatur: Baacke, D.: Jugend und Jugendkulturen. WeinheimBasel (4. Auflage) 2004. Farin, K.: generation kick.de. Jugendsubkulturen heute. München 2001. Farin, K.: Wie politisch sind die Jugendkulturen heute? In: Das Parlament, 55 Jg., Heft 44 vom 31. Oktober 2005, 5. Ferchhoff, W.: Jugendkulturen im 20. Jahrhundert. Von den sozialmilieuspezifischen Subkulturen zu den individualitätsbezogenen Jugendkulturen. Frankfurt/Main et. al. 1990. Ferchhoff, W.: Jugendkulturen. Berlin 2000. Ferchhoff, W.: Jugend und Jugendkulturen im 3. Jahrtausend. Lebensformen und Lebensstile, Wiesbaden (3. vollständig überarbeitete Auflage) 2006. Hitzler, R./Bucher, Th./Niederbacher, A.: Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute. Opladen 2001. Heath, J./Potter, A.: Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur. Berlin 2005. Klein, M.: Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie. Hamburg 1999. Neumann-Braun, K./Richard, B. (Hrsg.): Coolhunter Jugendkulturen zwischen Medien und Markt. Frankfurt/ Main 2005. Zinnecker, Jürgen: Metamorphosen im Zeitraffer: Jungsein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts In: Levi, G./Schmitt, J.-C. (Hrsg.): Geschichte der Jugend. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main 1997, 460-505. Professor Dr. Wilfried Ferchhoff lehrt im Bereich Erziehungswissenschaften und Sozialpädagogik an der Ev. Fachhochschule Bochum und der Universität Bielefeld. „Die Jugend“ hat sich in den letzten 25 Jahren in eine unüberschaubare Artenvielfalt oft widersprüchlichster Kulturen ausdifferenziert. Inmitten eines zahlenmäßig nach wie vor dominanten jugendlichen Mainstreams entstanden unzählige subkulturelle Szenen und Cliquen, Gangs und Posses, Tribes und Families mit jeweils eigenem Outfit und eigener Musik, eigener Sprache und eigenen Ritualen, mit zum Teil fließenden Übergängen und gleichzeitig scharf bewachten Grenzlinien, die für Außenstehende oft nicht einmal erkennbar sind. Viele der Szenen bieten Sinn an. JUGENDKULTUREN ALS SINNSUCHERGEMEINDEN Zum Beispiel: Gothics und Jesus Freaks Klaus Farin Die Zahl und Vielfalt der Jugendkulturen stieg in dem Moment explosionsartig an, in dem der Prozess der „Individualisierung“ der bundesdeutschen Gesellschaft einen ersten Höhepunkt erreichte. Soziale Milieus und andere einstmals verbindliche Grenzen zwischen Klassen und Ethnien, Religionen und Regionen erodierten zusehends, traditionelle Familienstrukturen verloren ihre Monopolstellung. Mit der Flexibilisierung der Lebensverhältnisse und -anschauungen reduzierte sich zwar nicht die Moral oder der individuelle Werte-Haushalt als solches, wohl aber der von Staat und Mehrheitsgesellschaft vorgegebene und für alle Bürger zumindest moralisch verpflichtende Wertekanon auf ein notwendiges Minimum. Zahlreiche Entscheidungen des Lebensalltags blieben nun dem Individuum überlassen. Da die herkömmlichen „Agenturen“ mit ihren traditionellen Verbindlichkeitsansprüchen und Gesellungsformen dieser komplexen Realität nicht mehr gerecht werden, begibt sich der Einzelne notgedrungen selbst auf die Suche nach temporären Sinn-Gemeinschaften. Die Jugendkulturen befriedigen dieses Bedürfnis, bringen Ordnung und Orientierung in die überbordende Flut neuer Erlebniswelten. Jugendkulturen sind Beziehungsnetzwerke, Solidargemeinschaften, deren Angehörige einander häufig bereits am Äußeren erkennen. Sie füllen als Sozialisationsinstanzen das Vakuum an Normen, Regeln und Moralvorräten aus, das die zunehmend unverbindlichere, entgrenzte und individualisierte Gesamtgesellschaft hinterlässt. Jugendkulturen liefern Jugendlichen Sinn, Identität und Spaß. Respekt Szenen bieten Jugendlichen, was sie in dieser Gesellschaft am meisten vermissen: Anerkennung. Viele Erwachsene, so klagen Jugendliche immer wieder, sehen Respekt offenbar als Einbahnstraße an. Sie verlangen von Jugendlichen, was sie selbst nicht zu gewähren bereit sind, bzw. sie beharren eisern auf ihre Definitionshoheit, was anerkennungswürdig sei und was nicht: Gute Leistungen in der Schule werden belohnt, dass der eigene Sohn aber auch ein exzellenter Hardcore-Gitarrist oder Skateboarder ist, die Tochter eine viel besuchte Gothic-Homepage gestaltet, interessiert zumeist nicht – es sei denn, um die Freizeitinteressen des Nachwuchses zu problematisieren: Bleibt da eigentlich noch genug Zeit für die Schule? Musst du immer so extrem herumlaufen, deine Lehrer finden das bestimmt nicht gut... Jugendkulturen sind (zumindest für den Kern der Aktiven) Orte kreativen Engagements, der Entwicklung von Medien- und Kommunikationskompetenz – und damit letztendlich Selbstbewusstsein. Ein Skateboarder erwirbt sich im Laufe der Zeit ein erstaunliches körperliches Geschick, das manchen Fußballbundesligaprofi vor Neid erblassen ließe; nur wenige universitär ausgebildete Designer erreichen die künstlerische Ausdrucksstärke eines Graffiti-Sprayers, der seinen Stil im jahrelangen Training auf der Straße entwickelt hat. Und nicht zuletzt verfügt jede Jugendkultur über eine eigene „Fachsprache“, die die angeblich immer „sprachloser“ werdenden Jugendlichen, die nicht einmal „einfachste, vollständige Sätze verstehen oder formulieren“ können (so klagen zumindest viele Lehrer/-innen) perfekt beherrschen, während Außenstehende, vor allem Erwachsene, nur Bahnhof verstehen: „Lieber einen coolen Freeze beim Breaken als einen verkrampften Powermove ohne stylischen Abgang ...“ „Die sind ultrafresh. Gehen teilweise voll im oldschool-style ab, kicken Skills und haben den totalen Flow ...“ Zum Beispiel: Jesus Freaks Anfang der 90er Jahre wagten einige Punks, drogenabhängige und obdachlose Jugendliche in Hamburg auf der Suche nach einem neuen Sinn für ihr Leben den Weg in die Kirche. Doch sie wurden nicht etwa mit offenen Armen empfangen, sondern wegen der abgewetzten Kleidung, der rüde-unbeholfenen Umgangsformen und des sichtbaren Alkohol- und Drogenkonsums eher missbilligend angesehen; die neugeborenen Christen ihrerseits konnten mit den konventionell-steifen Formen der Gottesdienste und der gewöhnungsbedürftigen christlichen Musikbeschallung wenig anfangen. So gründeten die „Freaks“ ihre eigene Gruppe. Genügte zunächst ein Wohnzimmer für die regelmäßigen Gebetsrunden und „Jesus-AbhängAbende”, so dürften es heute bundesweit rund 8 bis 10.000 überwiegend UnterDreißigjährige sein, die sich zu den „Jesus Freaks“ dazuzählen. Das Ziel der neuen jungen Gemeinden waren nicht abweichende Glaubensinhalte – die Jesus Freaks sind keine sog. Sekte –, sondern die Erweiterung des christlichen Kundenspektrums. Sie wollten schlicht ihresgleichen ansprechen, die jugendlichen Randgruppen und Marginalisierten der Gesellschaft: Punks und Skins, Kiffer, Junkies und Alkis, Rocker und Stricher, kurzum: all diejenigen, bei denen der typische Kirchenbesucher enerviert die Nase rümpft. „Wir sind der Überzeugung, dass es trotz Papst, Hexenverbrennung, Geld scheffelnden TV-Predigern und klerikalen Langweilern nichts Radikaleres gibt, als mit Jesus zu leben“, heißt es in einer frühen Selbstverständniserklärung der Freaks. „Unser Gebet ist es, eine neue Bewegung unter jungen ausgeflippten Leuten in ganz Deutschland auszulösen, die ähnlich der ,Jesus-People-Bewegung’ in den 60er und 70er Jahren ein radikales Leben mit Jesus als das Coolste, Feurigste, Intensivste und Spannendste überhaupt verwirklicht.“ Laut und schrill waren sie von Anfang an – eine typische Jugendkultur der 90er Jahre, die darum weiß, dass die MTV-Generation nicht mehr durch meditative Gesänge, sondern nur noch durch knallige Events erreicht werden kann. So predigten sie mal halbnackt, mal in Bahnhofstoiletten, kleideten ihre Botschaften in härteste Musik oder trieben einen der ihren, als „Jesus“ kostümiert, mit Schlägen und überströmt von Kunstblut über den Hans-Albers-Platz, um ihn schließlich an ein Kreuz zu hängen und dort predigen zu lassen. „Jesus hat heftige Bilder benutzt, die die damalige Gesellschaft zutiefst schockierten. Er sprach mit Prostituierten, aß mit den verhassten Sündern und schwang die Peitsche im Gotteshaus. Gott hat die Jesus Freaks berufen, schrill und laut, unüberhörbar in ihrer Stadt zu sein. Es kostet Mut, schrill und laut zu sein, aber macht auch ungemein Spaß.“ (www.jesusfreaks.com) Die Jesus Freaks profitieren von dem spirituellen Vakuum der großen Kirchen und sammeln erfolgreich vor allem jene in ihren Reihen, die ihren Glauben auch im Alltag THEMA JUGEND 5 leben, ihr Leben mit Hilfe ihres Glaubens radikal ändern wollen. So steht nicht die Lehre von Gott im Mittelpunkt ihrer Gemeinschaft, sondern die Erfahrung von Gott. Bloße beitragszahlende „Karteileichen“, wie es vier Fünftel der Kirchenmitglieder inzwischen sind, gibt es bei ihnen nicht; wer sich den Jesus Freaks anschließt, will aktiv am spirituellen Diskurs der Gemeinde partizipieren, Gott individuell und in der Gruppe „erleben“ und nicht zuletzt seinen Glauben lautstark in die Welt hinausschreien, um immer mehr Heidenkinder an der eigenen Glückseligkeit teilhaben zu lassen. Eine weitreichende Reduzierung des gesamten privaten Freundeskreises auf andere Jesus Freaks, Hochzeiten und Wohngemeinschaften innerhalb der Gemeinde sind logische Nebenfolgen der intensiven Gemeinschaftserfahrung. – Ein Jesus Freak zu sein, ist ein ganzheitliches Vergnügen, kein Wochenendkult. Zum Beispiel: Gothics Es waren vor allem Kinder aus den „besseren Familien“, die zunächst im Punk die Möglichkeit sahen, dem gesicherten, aber stinklangweiligen Alltag ihres Lebens und der Gleichgültigkeit ihrer Eltern zu entfliehen, aber bald merkten, dass sie mit der Extrovertiertheit der rüden Straßenkinder nicht klarkamen, und sich so nach und nach zurückzogen und ihre eigene Szene aufbauten. Anders als die Punks standen die bildungsbürgerlich aufgeschlosseneren Grufties zu keiner Zeit in Fundamentalopposition zur Mehrheitskultur. Ihre Rebellion war keine sozial begründete, ihre Provokation keine politische, sondern eine ästhetische. So suchten und entdeckten sie auch weiterhin in der etablierten Kultur Parallelen oder gar Vorfahren (zu) ihrer eigenen Kultur. Dabei spielte neben der Musik die Literatur eine besondere Rolle, bot sie den introvertierten Schwarzen doch als einziges Medium nicht nur die Möglichkeit des Rückzugs vom Alltagslärm der Gesellschaft, sondern auch Anlässe und Anregungen für die Beschäftigung mit grundlegenden Fragen des menschlichen Seins. Autoren wie Hermann Hesse, Friedrich Nietzsche, H. P. Lovecraft, der misanthrope Schöpfer düsterer Horrorgeschichten, die schwarzen Romantiker Novalis und Charles Baudelaire sowie Mary Shelley („Frankenstein“), Bram Stoker („Dracula“) und andere Schöpferinnen und Schöpfer von Gothic Novels und Vampirgestalten bevölkern seitdem die Bücherregale der Schwarzen. Neben Romanen und Lyrik findet sich auch Sachliteratur, die immer wieder um zentrale Themen kreist: der Tod und mögliche Welten und Reinkarnationen danach, mittelalterliche und (kirchenkritische) Religionsgeschichte(n), nordische Mythen, Runenkunde und Esoterik, Magie und (Neo-)Satanismus. 6 THEMA JUGEND Der Tod Die intensive Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens führt unweigerlich zur Frage nach dem Ursprung (göttliche Schöpfung?) und dem Ende allen Seins. Der Tod durchzieht als roter Faden die gesamte GothicKultur. Dahinter steckt nicht nur die Faszination für alles Extreme, im Besonderen extreme psychische Situationen, sondern auch das Ziel, den Tod zu entdämonisieren, als unweigerlich eintretenden Alltagsfall zu akzeptieren. Die Gothics sind keine „Subkultur des Todes“, die ihre Mitglieder in den Suizid treibt, wie es sensationsheischende Medienreportagen gerne behaupten, sondern ein Versuch, sich mit der eigenen Einsamkeit und Todesnähe kritisch und gemeinsam mit anderen auseinanderzusetzen. Die Beschäftigung der Gothics mit dem Tod entwickelt sich also nicht aus eigener Todessehnsucht, sondern führt zur Todesakzeptanz. Das ist ein Unterschied. Schon bei der häufigen Darstellung des Todes in Songtexten, Gedichten und Bildern fällt auf, dass wirklich blutrünstige Motive selten auftauchen. Bevorzugt werden ästhetische Bilder, häufig mit erotischen Bezügen. Der todbringende Biss des Vampirs wird zum Kuss, die präsentierten Körper von (Un-)Toten sind nicht durch Gewalttaten deformiert, sondern ruhen in Frieden, oft in weiße (!) Gewänder gehüllt, Symbole für Reinheit und Unschuld, während sich die noch Lebenden fast ausschließlich schwarz gewanden. Die Farbe Schwarz symbolisiert seit jeher das Böse, Triebhafte, Unheimliche, eben „Dunkle“ (Luzifer, Raben, Fledermäuse, Wölfe, schwarze Magie im Gegensatz zur heilenden weißen Magie), aber auch Trauer und Tod, den (zeitweiligen oder ewigen) Rückzug aus der Gesellschaft der Menschen. Schwarz signalisiert wie keine andere Farbe (selbst gewählte) Ausgrenzung, Distanz, aber auch Selbstbewusstsein und Stärke. Die Gothics sind ein melancholisches Völkchen. „Happy Gothics“, wie sich ein Grüppchen Münsteraner Schwarzer provokativ nennt, sind ein Widerspruch in sich, zumindest eine Kuriosität. Obwohl es seit einigen Jahren immer mehr von ihnen gibt, fallen Gothics im Stadtbild kaum auf. Immer auf der Suche nach dem Sinn ihrer eigenen Existenz und neuen Formen und Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Persönlichkeit, leben sie gerne zurückgezogen in den eigenen vier Wänden, lesen viel, schreiben eigene Gedichte und Prosa, malen oder gestalten selbst ihre Wohnung, hören Musik und diskutieren mit gleich gesinnten Besuchern und Besucherinnen. Auch an den Wochenenden ziehen sie häufig die kontemplative Stille der Natur dem hektischen städtischen Leben vor. Ausflüge in nahe gelegene Wälder (vor allem im Herbst), zu möglichst alten, verwitterten und verwilderten Kirchen, Burgen, Ruinen und Friedhöfen sind populäre Freizeitinteressen der Gothics. Auch mit der bunten Welt der übrigen Jugendkulturen wollen sie nichts gemein haben. Bei Techno-Raves, HipHop-Jams und anderen schrillen, lautstarken Events trifft man sie nicht. Auch Sport ist in der Regel nicht ihr Ding. Zu schnell, zu konkurrenzorientiert. Existieren mehrere Exemplare ihrer Gattung an einer Schule, sondern sie sich gerne vom lautstarken Pulk der Mitschüler in eine ruhigere Ecke ab. Lediglich ausgewählte Punks und Black Metaller dürfen sich ihnen als anerkannte Artverwandte bisweilen respektvoll hinzugesellen. Die Gothics sind eine Mondkultur inmitten von Sonnenkulten. Der Mond symbolisiert Sehnsucht und die Zeit seiner Präsenz, die Nacht, bedeutet Stille und Einsamkeit; sie ist aber auch der bevorzugte Spielort der Sexualität; die Ästhetik der Nacht(geschöpfe), die Vielfalt ihrer Farben, Töne, Gerüche enthüllt sich nicht dem oberflächlichen Betrachter. In der Mythologie zahlreicher Religionen und auch in den meisten Sprachen wird der Mond – Luna – dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Und in der Tat sind die Gothics sowohl in ihrer Ästhetik als auch in der realen Geschlechterpräsenz eine stark weiblich geprägte Kultur. Ästhetik und Provokation Keine andere Jugendkultur, nicht einmal Techno, inszeniert sich und ihre Körper mit so viel Ausdauer, Freude und Lust. Keine andere Szene präsentiert sich so offen erotisch aufgeladen wie die Gothics. Außenstehende empfinden den Stil der Schwarzen häufig als Provokation. Und das, obwohl Gothics selbst in großen Gruppen in der Regel eher stille, introvertierte Wesen sind, die sich weder prügeln noch öffentlich lautstarke Gesänge oder Parolen anstimmen. Doch ihre schwarze Ästhetik wirkt inmitten der bunten Vielfalt der Warenwelt wie ein störender Schmutzfleck; sie widersprechen allein durch ihre Präsenz den gängigen Jugend-, Schönheits- und Körperbildern und unterlaufen damit die Verdrängungssehnsüchte der Gesellschaft. Literatur: Farin, Klaus/Wallraff, Kirsten: Die Gothics. Bad Tölz 2001. Farin, Klaus: Freaks für Jesus. Die etwas anderen Christen. Archiv der Jugendkulturen, Berlin 2005. Farin, Klaus: Jugendkulturen in Deutschland, Band 1: 1950-1989. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006. Klaus Farin ist Fachautor, Dozent und Leiter des Berliner Archivs der Jugendkulturen e.V. (www.jugendkulturen.de). Kontakt: [email protected] Wie bewerten Kinder und Jugendliche die vielschichtige und bunte Szene unterschiedlicher Stile und Kulte? Was lehnen sie ab, was tolerieren sie, was finden sie gut? Um diese Fragestellungen geht es der Autorin, die zum Team der Jugendforscher/innen an der Uni Siegen gehört. Also: Wie sehen Kinder und Jugendliche (in Nordrhein-Westfalen) die jugendkulturelle Szene? Ein wichtiges Ergebnis ist u.a., dass sie klare Bewertungen vornehmen, sich auch abgrenzen. Aber insgesamt sind die Befragten nicht Gegner der vielschichtigen Szene, sondern (wie die Autorin feststellt), toleriert die Mehrheit der Jugendlichen diese bunte Szene – mit einer wichtigen Ausnahme: Skinheads werden von der überwiegenden Zahl der hier befragten Kinder und Jugendlichen abgelehnt. IN UND OUT Ablehnung und Akzeptanz jugendkultureller Szenen Sabine Maschke Warum ist die Zugehörigkeit zu Szenen so wichtig für Jugendliche? Um diese Frage zu beantworten, muss hier kurz auf die Veränderungen und Anforderungen eingegangen werden, die mit der Lebensphase Jugend einhergehen: Die Veränderungen des Körpers während der Pubertät sind rasant und nicht kontrollierbar, „der Körper macht etwas mit dem Jugendlichen“ und die Jugendlichen haben sich mit ständig wechselnden „Körperbildern“ (Frohmann 2003, 144) auseinanderzusetzen. Im Zentrum steht nun die Aufgabe, mit „dem eigenen Erscheinungsbild identisch zu werden“, den eigenen Körper „bewohnen“ zu lernen, Innenleben und Körper in Einklang zu bringen (Fend 1994, 115). Zudem befinden sich Jugendliche heute in einem Zwiespalt: Freiräume ergeben sich einerseits durch die Verlängerung der Schul- und Ausbildungszeiten, die Optionen zur Berufs- und Lebensgestaltung waren noch nie so vielfältig, sie können aus einem schier unerschöpflichen Waren- und Freizeitangebot auswählen und haben in vielen Fällen auch die finanziellen Ressourcen dazu. Auf der anderen Seite haben Jugendliche dabei die Qual der Wahl – und in diesem schwierigen Prozess der Entscheidungsfindung fehlt es an richtungsweisenden Vorbildern, da es die Normalbiografie nicht mehr gibt. Auch Erwachsene können kaum mehr Antworten und Lösungen auf komplexe Fragen und Probleme geben. Hier kommen die Altersgleichen ins Spiel, die in der Adoleszenz zu „unentbehrlichen Umwelten“ (Fend 1998, 231) werden. Die Gleichaltrigen stellen Partner/innen oder Verbündete, Vorbilder und Gleichgesinnte in dem Versuch dar, sich mit anderen zu vergleichen, sich selbst zu bewerten und zu positionieren, aber auch abzugrenzen von anderen. Interessant sind die „peers“ auch deshalb, weil sie verschiedene Iden- titäten im Angebot haben, die es auszuprobieren gilt. Sie bieten Identitätsvariationen, die ihren Ausdruck in verschiedenen jugendkulturellen Praxen finden, an denen der Einzelne zu partizipieren lernt, beispielsweise bestimmte Symbole zu gebrauchen, sich auf spezielle Weise zu stylen oder einen spezifischen Musik- oder Sprachstil zu pflegen. Der Einzelne empfindet sich beispielsweise als Punk, ist ein Gothic oder Jesus Freak – und damit Teil eines speziellen Habitus, der der Szene zu Eigen ist. Zugehörigkeiten, aber auch Wechsel zwischen verschiedenen Szenen, tragen somit zur Identitätsfindung bei: Soziale Zugehörigkeiten werden nach innen und außen demonstriert, auch indem sich Jugendliche von anderen möglichen Zugehörigkeiten abgrenzen. Die Frage ist nun, welche Praxis der Abgrenzung sich empirisch findet: Müssen Gegen- und Feindbilder produziert werden, um in der schier unbegrenzten Weite der Jugendszenen und -stile einen Platz zu finden? Oder schlichter ausgedrückt: Welche jugendkulturellen Szenen und Gruppen werden akzeptiert, welche werden abgelehnt – was ist in, was ist out? Die Studie Bezogen wird sich hier hauptsächlich auf die Kinder- und Jugendstudie „null zoff & voll busy“ (Zinnecker et al. 2003). Im Rahmen dieser Panorama-Studie wurden im Herbst 2001 knapp 8.000 Heranwachsende im Alter zwischen 10 und 18 Jahren in Nordrhein-Westfalen zu ihrer eigenen und zur gesellschaftlichen Zukunft, zu ihren Wertorientierungen und zu ihrer Befindlichkeit in wichtigen Lebensbereichen (Schule und Ausbildung, Familie, Gesundheit, Freizeit, Medien, Kinder- und Jugendkultur u.a.) schriftlich befragt, zusätzlich äußerten sich die Kinder und Jugendlichen in über 1.000 Aufsätzen. Wir haben gefragt: „Wie stehst Du zu diesen Gruppen?“ 26 Gruppierungen waren vorgegeben, in dem Bemühen, die Pluralität der Kulturen und Szenen zu erfassen. Mit den Vorgaben (siehe Tabelle) sollte das Spektrum von der Akzeptanz verschiedener Gruppierungen bis hin zur Ablehnung bzw. aktiven Bekämpfung abgebildet werden. Folgende Tabelle gibt einen Überblick darüber, wie die befragten 10- bis 18-Jährigen insgesamt zu einigen (ausgewählten) Gruppen und Szenen stehen: Es finden sich unterschiedliche Gruppierungen, die sich z.B. als extrem, unkonventionell und provozierend bezeichnen lassen, z.B. die Punks (zwischen Gegenkultur und Modegag angesiedelt) oder Skinheads (irgendwo zu verorten zwischen rassistisch-rechtsextremer Einstellung und Gewalt oder als Teil einer Freizeit- und Spaßkultur; Musik, Party, Bier; vgl. Farin 2002, 119), dann Gruppierungen, die als Ausdruck einer komplexen Musikkultur, wie HipHop (sowohl „message music“, Straßenkultur als auch populäre Mode, vgl. ebd., 136 f.) oder Fanszene (Fußballfans) gelten können und schließlich Gruppen, die sich mit der Kultivierung alternativer Lebensformen, mit ökologischen Fragen, beschäftigen (Atomkraftgegner, Friedensbewegung). In der Gegenüberstellung der ersten beiden Gruppierungen Punks und Skinheads polarisieren sich die Einstellungen der Be- Tabelle 1: Wie stehst Du gegenüber … (1) Ich rechne mich selbst dazu/ lebe so ähnlich. (2) Ich gehöre nicht dazu, finde solche Leute aber ganz gut (3) Die Gruppe ist mir ziemlich egal/ kann ich tolerieren. (4) Die Gruppe kann ich nicht so gut leiden. (5) Das sind Gegner von mir/ Ich bekämpfe sie. (6) noch nie gehört Punks Skinheads HipHop Fußball- Kernkraft- FriedensFans gegnern bewegung Junge Christen 3% 3% 17% 28% 6% 10% 21% 13% 2% 38% 22% 23% 41% 17% 45% 13% 23% 32,5% 27% 25% 35% 29% 39% 11% 10,5% 15% 6% 11% 6% 5% 41% 4% 4% 8% 4% 3% 9% 19% 3% 15% 4% 12% THEMA JUGEND 7 fragten: Fast der Hälfe der Jugendlichen sind Punks „ziemlich egal“, Skinheads werden jedoch nur von 13 % der befragten Jugendlichen toleriert. Als Gegner oder Feinde, die man bekämpft, bezeichnen gar 41 % der Befragten die Skinheads, annähernd so viele Befragte können sie auch „nicht so gut leiden“. Die Einstellung gegenüber Skinheads ist eindeutig, als extreme Gruppierung scheint sie extreme Einstellungen und Abgrenzungen herauszufordern. Punks hingegen werden im Großen und Ganzen toleriert. Positiver ist die Einstellung gegenüber der HipHop-Szene: Rechnen wir alle drei positiv formulierten Aussagen (Antwortvorgaben 1 bis 3) zusammen, zeigt sich, dass gut drei Viertel der Befragten diese Szene tolerieren oder ihr mehr oder weniger zuneigen. Fußballfans werden von den Befragten als Teil einer ähnlich akzeptierbaren und integrierbaren Szenenumwelt gesehen. Hier werden mehrheitlich keine Gegen- oder Feindbilder produziert, im Gegenteil: Bei den Fußballfans rechnet sich gut ein Viertel selbst dazu und fast ein Viertel der Befragten findet „solche Leute aber ganz gut“, auch wenn sie selbst der Szene nicht angehören. Interessant ist die Einstellung gegenüber Kernkraftgegnern und Anhängern der Friedensbewegung als Gruppierungen mit gesellschaftskritisch-politischem Hintergrund: Die Friedensbewegung wird von der Mehrheit der Befragten mitgetragen, rechnen wir die zustimmenden bzw. eher zustimmenden Aussagen zusammen, kommen drei Viertel der Befragten gut mit dieser Gruppierung klar. Aber: 15 % kennen diese Bewegung nicht bzw. haben davon „noch nie gehört“. In Bezug auf die Kernkraftgegner sind es gar 19 %, die davon noch nichts gehört haben; hier scheint auch bei den Befragten eine etwas ablehnendere Haltung vorzuliegen: 15 % können diese Gruppe nicht gut leiden, 9 % erklären sie zu Feinden. Aber: Über 50 % akzeptieren oder tolerieren sie. Gruppe tolerieren zu können. Andererseits werden im Altersvergleich auch Polarisierungen deutlich: Die mittlere Altersgruppe gibt mit 33 % am häufigsten an, Punks nicht so gut leiden zu können, sie stellen zudem auch die stärkste (12 %) Gegnerschaft dar. Vor allem die Realschüler/innen zeigen sich mit 35 % („kann ich nicht so gut leiden“) dabei am ablehnendsten (im Vergleich dazu die Hauptschüler/innen mit nur 24 % bzw. Gymnasiasten/Gymnasiastinnen mit 29 %). Deutlich wird auch, dass die Jüngsten mit Punks noch wenig anzufangen wissen, 40 % der 10- bis 12-Jährigen haben „noch nie“ von ihnen gehört. Bei der Einstellung gegenüber Skinheads (ohne Abbildung) ergeben sich, mit Ausnahme der 10- bis 12-Jährigen, kaum Altersdifferenzierungen: Ein großer Teil der Jüngsten (50 %) kennt die Gruppe der Skinheads gar nicht und äußert sich im Vergleich zu den Älteren insgesamt zurückhaltender. Gesamtschüler/innen und Gymnasiasten/Gymnasiastinnen bilden die stärkste Gegnerschaft („das sind Gegner von mir“) gegen Skinhead. Ein anderes Bild ergibt sich für die Gruppe der Tierschützer (ohne Abbildung): Fast 40 % der 10- bis 12-Jährigen bezeichnet sich selbst als Tierschützer (bei den 13- bis 15Jährigen sind dies nur 15 %, bei den 16bis 18-Jährigen sogar nur noch 7 %). Der Tierschutz zählt für diese Altersgruppe, wie die Auswertungen anderer Fragen zeigen, generell zu den wichtigsten Bereichen persönlichen Engagements. HipHop 10-12 Jahre 13-15 Jahre 16-18 Jahre (1) Ich rechne mich selbst dazu/ lebe so ähnlich. (2) Ich gehöre nicht dazu, finde solche Leute aber ganz gut. (3) Die Gruppe ist mir ziemlich egal/ kann ich tolerieren. (4) Die Gruppe kann ich nicht so gut leiden. (5) Das sind Gegner von mir/ Ich bekämpfe sie. (6) noch nie gehört 18% 35% 20% 10% 3% 14% 16% 43% 23% 10% 5% 3% 18% 36% 30% 11% 3% 1% Punks 10-12 Jahre 13-15 Jahre 16-18 Jahre (1) Ich rechne mich selbst dazu/ lebe so ähnlich. (2) Ich gehöre nicht dazu, finde solche Leute aber ganz gut. (3) Die Gruppe ist mir ziemlich egal/ kann ich tolerieren. (4) Die Gruppe kann ich nicht so gut leiden. (5) Das sind Gegner von mir/ Ich bekämpfe sie. (6) noch nie gehört 2% 8% 16% 23% 8% 43% 3% 9% 32% 33% 12% 10% 2% 13% 45% 29% 6% 5% 8 THEMA JUGEND Mit Blick auf die Gruppe der Punks zeigen Mädchen/junge Frauen eine tolerantere Haltung, seltener als Jungen sagen sie aus, diese „nicht so gut leiden“ zu können (25 % vs. 34 %). Anders verhält es sich gegenüber der Gruppe der Skinheads: 42 % der Mädchen gegenüber 34 % der Jungen sagen aus, Skinheads abzulehnen; zu fast gleichen Teilen formulieren sie eine aktive Gegnerschaft gegenüber dieser Gruppierung. Tabelle 3: Bewertung HipHop und Differenzierung nach Alter Tabelle 2: Welche Rolle spielt das Alter bei der Bewertung der Gruppierungen? Die Tabelle 2 zeigt recht schön, dass einerseits die Toleranz mit dem Alter steigt: 45 % der 16- bis 18-Jährigen können Punks tolerieren, die Jüngeren nur zu 16 % bzw. 32 %. Die Gymnasiasten/Gymnasiastinnen und Gesamtschüler/innen zeigen sich übrigens am tolerantesten (mit 34 % und 31 %), Real- und Hauptschüler/innen geben nur zu 22 % und 15 % an, diese marktung) dieser Szene spricht. Neben den Grundschüler/innen zählen insbesondere Haupt- und Gesamtschüler/innen (mit 28 % und 30 %) zu den Anhängern der HipHop-Szene, gegenüber nur 7 % bei den Gymnasiastinnen/Gymnasiasten und 16 % bei den Realschüler/innen. Bemerkenswert ist auch der Vergleich der Altersgruppen in ihren Einstellung zu den Jungen Christen (ohne Abbildung): In Abweichung zur Tabelle 1 rechnen sich je gut ein Viertel der ganz Jungen und der mittleren Altersgruppe dazu, bei den 16bis 18-Jährigen sind dies nur noch 12 %. Solche Leute „ganz gut“ zu finden, geben vor allem wieder (mit 21 %) die Jüngsten an. Die Angabe sind mir „ziemlich egal“ findet sich bei der Mehrheit (52 %) der 16-bis 18-Jährigen, was für eine zunehmende Distanzierung zu religiös motivierten Gruppierungen mit steigendem Alter spricht. Einige interessante Differenzierungen ergeben sich, wenn wir die Einstellungen zu den Gruppierungen nach Geschlecht betrachten. Interessant ist auch die Bewertung der HipHop-Szene: Hier zeigen sich gegenüber der Gesamtgruppe (siehe Tabelle 1) kaum nennenswerte Unterschiede: Bereits die 10- bis 12-Jährigen zählen sich zu 18 % dazu und immerhin 35 % finden „solche Leute ganz gut“. Nur 14 % haben „noch nie“ vom HipHop gehört, was insgesamt für eine große Popularität (und gute Ver- Ist die Entscheidung für eine Szene bindend? Fühlen sich die Jugendlichen nur einer Szene zughörig oder gleich mehreren? Jugendliche präferieren in der großen Mehrheit nicht nur einen Stil bzw. gehören nicht nur einer Szene an: 44 % der Befragten 10- bis 18-Jährigen geben zwischen 8 bis 12 Stile bzw. Szenen oder Gruppierungen an, denen sie sich zeitgleich zugehörig fühlen, 20 % bis zu 4 und 29 % zwischen 4 und 8 Gruppen. Die Multioptionalität, die eingangs als ein wesentliches Charakteristikum heutiger Jugend beschrieben wurde, zeigt sich also ebenso in den persönlichen „Wahlen" der Jugendlichen. „Mehrfach“-Szene-Zugehörigkeiten scheinen durchaus üblich zu sein: Sie sind Teil einer (auch unverbindlichen) alltagskulturellen Praxis, in der sich unterschiedliche Zugehörigkeiten in der Regel nicht ausschließen und keine „Stil-Brüche“ darstellen. Jürgen Zinnecker/Imke Behnken/ Sabine Maschke/Ludwig Stecher Tabelle 4: Einstellungen gegenüber Szenen nach Geschlecht (1) Ich rechne mich selbst dazu/ lebe so ähnlich. (2) Ich gehöre nicht dazu, finde solche Leute aber ganz gut. (3) Die Gruppe ist mir ziemlich egal/ kann ich tolerieren. (4) Die Gruppe kann ich nicht so gut leiden. (5) Das sind Gegner/ Feinde von mir/ Ich bekämpfe sie. (6) noch nie gehört Nicht Gegnerschaft – sondern Toleranz Gymnasiastin, 14 Jahre: „Bevor ich aber so alt bin [30 oder 31, d.V.], möchte ich noch viele abenteuerliche und interessante Dinge ausprobieren und erleben. Beispielsweise Bungee-Jumpen, Wallskating oder Freeclimbing. Bis jetzt bin ich mit meinem Leben voll zufrieden, und was mir die Zukunft bringt wird sich zeigen, denn was noch alles passieren wird, kann ich mir nur wünschen. Von der Zukunft träume ich selten, denn wenn ich davon träume, passiert immer das Gegenteil von dem was im Traum war. Deshalb lasse ich die Zukunft einfach auf mich zukommen.“ In diesen ausgewählten empirischen Daten zeigen sich zum einen Präferenzen für bestimmte Kulturen oder Szenen: Sich selbst zugehörig fühlen sich die Jugendlichen allen voran zu den Fußballfans, Skatern, der HipHop-Szene und (dies als kleine Überraschung) den Jungen Christen. Im weiteren Sinne finden sich Sympathisantinnen und Sympathisanten am stärksten gegenüber den Skatern und HipHopern, gefolgt von der Friedensbewegung, Kernkraftgegnern und den Fußballfans. Strikt abgelehnt wird aber nur eine Gruppierung, und dies in aller Deutlichkeit: die extreme Rechte, die Skinheads (mit über 40 %!). Zum anderen spiegelt sich in diesen Daten das seit längerem diskutierte Bild eines bunten Nebeneinanders unüberschaubar vieler Szenen wider. Die aber bei weitem nicht so unpolitisch und „wertefrei“ zu sehen sind, wie vielfach angenommen: Das Nebeneinander umfasst die Freizeitszene (Fußballfans), die am Wochenende Outfit und Verhaltensweise ändert, ebenso, wie politisch motivierte Gruppierungen (Tierschutz, ökologische Fragen, Frieden) oder ästhetisch-modisch bzw. musikalisch initiierte Gruppierungen (Skater, HipHop). Was in und was out ist, akzeptiert oder abgelehnt wird, hat sicher auch etwas mit der Popularität, aber auch der besonderen Vielfalt mancher Stile zu tun: HipHop beispielsweise ist auch deshalb so beliebt, weil kaum eine andere Szene die Sprache, Mode und Begrüßungsrituale annähernd so prägt (vgl. Farin 2002) – und damit ein buntes Identifikationsangebot bietet. Mit Ausnahme der Skinheads findet sich insge- Punks w. m. Skinheads w. m. 3% 13% 52% 25% 3% 5% 1% 1% 12% 42% 40% 3% 2% 13% 36% 34% 10% 5% 2% 3% 13% 34% 43% 5% samt eine beachtenswert hohe Toleranz und Akzeptanz gegenüber unterschiedlicher Szenen und Gruppen. Nicht Gegnerschaft und Abgrenzung heißt die Devise, sondern für die Mehrheit der Jugendlichen Toleranz und Durchlässigkeit. Schließlich durchlaufen Jugendliche „so im Laufe ihrer ‚Teenager’-Jahre ein halbes Dutzend oder mehr ‚Stile’, ‚Szenen’, sich im Äußeren niederschlagende musikalische Leidenschaften“ (ebd., 93). Größtenteils, so ein Ergebnis unserer Studie, werden die Szenen und Stile nicht hintereinander „abgearbeitet“, sondern können durchaus auch parallel favorisiert und durchlaufen werden. Die Jugendlichen nutzen, wie auch in anderen Bereichen (bspw. Bildung und Lernen) die Möglichkeitsräume, die die überaus dynamische Moderne ihnen bietet: Sie probieren sich dort aus, wo sich neue Trends und Moden, aber auch neue politische (und Spaß bringende) Handlungsoptionen auftun und bereiten sich so auf künftige Anforderungen und Herausforderungen vor, gemäß der Philosophie der Moderne: „Alles ist möglich, doch nichts ist gewiss“ (Zinnecker et al. 2003, 20). Literatur: Farin, Klaus: Generation kick.de. Jugendsubkulturen heute. München 2002. Fend, Helmut: Die Entdeckung des Selbst und die Verarbeitung der Pubertät. Bern 1994. Frohmann, Matthias: Aspekte einer körperbezogenen Jugendsoziologie. Jugend – Körper - Moden. In: J. Mansel et al. (Hrsg.): Theoriedefizite in der Jugendforschung. Weinheim 2003, 144 – 156. Hitzler, Ronald/Bucher, Thomas/Niederbacher, Arne: Leben in Szenen. Wiesbaden 2005. Zinnecker, Jürgen/Behnken, Imbke/Maschke, Sabine/ Stecher, Ludwig: null zoff & voll busy. Opladen 2003. null zoff & voll busy Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrhunderts Die Studie porträtiert eine neue Jugendgeneration, deren Befindlichkeit, Lebensstil und Lebenslage zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Eine ungewöhnlich große Stichprobe von 8.000 jungen Leuten zwischen 10 und 18 Jahren gibt Auskunft über sich, ihr Leben, ihre Umwelt, ihre Zukunft. Die im Herbst 2001 durchgeführte Studie verbindet Kinder- und Jugendbefragung, standardisierte Befragung, offene Fragen, freie Aufsätze und bezieht sie auf ein breites ThemenSpektrum. Neben neu entwickelten Fragen werden Aspekte vorangegangener Kinder- und Jugendbefragungen aufgegriffen. Dadurch ist es möglich, Trends über Veränderungen von Kindheit und Jugend in den letzten Jahrzehnten empirisch nachzuzeichnen und die heutige Jugendgeneration mit vorangegangenen Generationen zu vergleichen. 176 Seiten, mit vielen Abbildungen und Tabellen, Preis: 12,50 Euro, ISBN 38100-3367-7, Opladen 2003 (2. Auflage). ■ Dr. Sabine Maschke ist Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin. Sie ist tätig am Siegener Zentrum für Kindheits-, Jugend- und Biografieforschung der Uni Siegen (SiZe). THEMA JUGEND 9 Der Konsum legaler und illegaler Drogen ist eine Begleiterscheinung in vielen jugendlichen Szenen und Subkulturen. Panikmache ist nicht angebracht: Die konsumierende Zahl der Jugendlichen ist in den letzten 30 Jahren konstant geblieben. Ferner ist hervorzuheben, dass sich der Genuss von illegalen Drogen in der Regel auf eine bestimmte Lebensphase begrenzen lässt. zen. Ausgeklügelte Soundeffekte verschaffen trancehypnotische Bewusstseinszustände, die selbst ohne die Zufuhr von Rauschsubstanzen auskommen. Panikmache ist unbegründet JUGENDSZENE NICHT GLEICH DROGENSZENE Drogenkonsum in der jugendlichen Subkultur Ingo Weidenkaff Nahezu allen Jugendkulturen der Nachkriegszeit haftet mehr oder minder der Gebrauch von Rauschdrogen an. Auch wenn im alltäglichen Sprachgebrauch immer wieder von Drogen- oder Kifferszene in Verbindung mit Heroin, Kokain, LSD oder Ecstasy die Rede ist, erscheint eine klare Trennung von Drogenszene und Jugendszene sinnvoll. Jugendliche Subkulturen weisen eine überwiegend autonome Sozialisationsfähigkeit auf, die sich markant vom jugendlichen Mainstream abgrenzt. Im Gegensatz dazu wird die Drogenszene als „eher assoziatives Netzwerk“ (Gerdes und v. Wolffersdorf-Ehlert 1974) betrachtet, indem etwa spezifische Gefühle, motorische Reaktionen, Gedanken und Erinnerungen miteinander vernetzt sind. Situative Koalitionen sind hier primär anzutreffen, während in juvenilen Subkulturen überwiegend stabile Gruppenstrukturen vorzufinden sind. Bereits in den frühen 1970er Jahren entstanden bevorzugt in den Ballungsräumen der Bundesrepublik lokale Drogenszenen. Unabhängig von diesen Drogenmilieus entwickelte sich eine unkonventionelle Generation von intellektuellen Beatniks und friedlich revoltierenden Hippies, die mit LSD und Cannabis genussvoll experimentierten und damit unweigerlich gesellschaftliche Konventionen sprengten. Waren die bis dato konsumierten Drogen in der Gesellschaft mehrheitlich akzeptiert, lösten die sich rasch verbreitenden Modedrogen wie LSD und Marihuana eine Welle der öffentlichen Empörung aus, die kontroverse drogenpolitische Diskussionen nach sich zogen. Mit dem Ersatz des alten Opiumgesetzes durch das neue Betäubungsmittelgesetz wurden Halluzinogene 1971 unter Verbot gestellt und seither in die Illegalität abgedrängt. Die in den späten 1960er Jahren an der amerikanischen Westküste zelebrierten ersten LSD-Partys (Acid-Tests) erlebten eine Wiederauferstehung in der deutschen Acid House- und Techno-Kultur der frühen 1990er Jahre. Ihr Motto „Love, Peace and 10 THEMA JUGEND Unity“ war angelehnt an die paradiesische Sehnsucht der amerikanischen HippieSzene. Ecstasy war nun die angesagte Partydroge, deren Illegalität einen Großteil von Jugendlichen nicht davon abhielt, den psychedelischen Sound des Techno zu „versüßen“. Laut einer Studie von Tossmann und Heckelmann (1997) hatten bereits knapp 50 % der Techno-Anhänger Erfahrungen mit Ecstasy gemacht, lediglich der Cannabis-Konsum lag mit 69 % noch darüber. Es sei bemerkt, dass sich die Wirkungsrichtung von Ecstasy in der heutigen RaveSzene durch ihre belebende, dem Sound angepasste Wirkung von den beabsichtigten kontemplativ-passiven Effekten des Hippie-Rausches der 1960er Jahr abhebt. Die heutigen Ecstasy-Kreationen unterscheiden sich somit beträchtlich von denen der 68er-Bewegung und sind im Gegensatz zu den Hippie-Kuscheldrogen als leistungssteigernde Powerdance-Drogen auf den jeweiligen Techno-Sound zugeschnitten. Die 1980er Jahre brachten eine soundtechnische Verschmelzung subkultureller Szenen mit sich. Insbesondere die No Future-Generationen dieser Zeit entdeckte Drogen als Fluchtmittel aus ihrem als erdrückend empfundenen Lebensalltag. Dem GangstaRap wurde seinerzeit eine Verherrlichung des Drogenkonsums nachgesagt, obschon die meisten amerikanischen ghettobelasteten HipHop-Kids frühzeitig Drogenerfahrungen gesammelt hatten. Auch im Reggae oder in der Punkszene wurde Cannabis thematisiert und konsumiert. Phlegmatische Slacker und Grunger verloren sich im Drogenkonsum, um ihr depressives Lebensgefühl zu betäuben, Anhänger der DarkWave-Szene haben in dieser Zeit Drogen und Medikamente als Antidepressiva für sich entdeckt. Im Trend stehen heute so genannte GoaFeste (benannt nach dem indischen Hippie-Mekka der 1960er Jahre), auf denen Besucher/innen aus der Alternativ-Szene unter Ecstasy-Einfluss zu Techno-Beats kombiniert mit fernöstlichen Klängen tan- Der Konsum legaler und illegaler Drogen ist Begleiterscheinung in vielen Jugendkulturen der Gegenwart. Der Berliner Jugendforscher Klaus Farin kommt zu der Feststellung, dass sich die Konsumgewohnheiten der Jugendlichen, entgegen der üblichen Skandalisierung, weit weniger dramatisch verändern. Nach seiner Ansicht ist der Anteil der Jugendlichen, die bevorzugt illegale Drogen konsumieren, seit den 1970er Jahren konstant geblieben. Auch von einem „immer mehr“ und „immer jünger“ kann aus seiner Sicht keine Rede sein. Der Konsum verschiedenster Drogen zählt heute zum Lebensinhalt vieler Jugendlicher, die jugendkulturelle Bindung hat dabei sekundären Charakter. Oft bleibt der Genuss von Drogen beschränkt auf eine bestimmte Lebensphase, ebenso lässt er sich bis in die und in der Erwachsenenkultur nachweisen. Drogenpolitische Problematisierungskampagnen werden von der überwiegenden Zahl jugendlicher Konsumenten distanziert und kritisch eingeschätzt. In der Drogenprävention haben sich seit Jahren Projekte im Rahmen der Peer-Education (z.B. „Eve & Rave“ in Münster) bewährt. Es zeigt sich, dass gleichaltrige und szenekundige Personen eine besonders große Glaubwürdigkeit besitzen und am ehesten die Aufmerksamkeit von jugendlichen Drogenkonsumenten, zumindest innerhalb jugendkultureller Szenen, nutzen können, um über mögliche Gefahren des Drogengebrauchs zu sensibilisieren. Literatur: Amendt, G.: Kiffer, Fixer und hilflose Politiker. In: 50 Jahre das Beste vom Stern. Nr. 24, 14-15, 1998. Gerdes, K.; v. Wolffersdorf-Ehlert, Chr.: Drogenscene – Suche nach Gegenwart. Stuttgart 1994. Jungblut, H.J.: Drogenhilfe – Eine Einführung. Weinheim 2004. Schmidbauer, W.: Handbuch der Rauschdrogen. Frankfurt 1989. Ulrich, W.: Drogen – Grundlagen, Prävention und Therapie des Drogenmissbrauchs. Mülheim 2002. http://www.hitzler-soziologie.de/jugendszenen/con4/ drogen/detail.php?nr=344 Ingo Weidenkaff ist Fachreferent bei der Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Thüringen e.V. Kirche spielt im Leben der Jugendlichen kaum eine Rolle. Auf der anderen Seite haben der Tod von Johannes Paul II., die Wahl des Papstes Benedikt XVI. und vor allem der Weltjugendtag gerade unter jungen Menschen eine ungewöhnlich hohe Resonanz gefunden. Auch das Medienecho war enorm und von großem Respekt gekennzeichnet. Wie geht das zusammen? Was kennzeichnet diese Jugend? Welche Sprache spricht sie? Wofür ist sie ansprechbar? Das Gespräch darüber fand mit dem Soziologen Matthias Sellmann statt. Es wurde geführt von Joachim Schwind und erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift NEUE STADT. Für THEMA JUGEND haben wir es leicht ergänzt und aktualisiert. Wir bedanken uns bei Joachim Schwind und der Redaktion des Monatsmagazins NEUE STADT. VOM WORT ZUM SYMBOL Ein Gespräch mit dem Soziologen Matthias Sellmann Die Fernsehbilder im Zusammenhang mit dem Tod von Johannes Paul II. haben überraschenderweise vorwiegend junge Leute gezeigt ... Matthias Sellmann: … Mich hat das keineswegs überrascht! Und warum? M.S.: Weil dieser Papst die Sprache der Jugendlichen gesprochen hat wie kein zweiter. - Die Symbolik! Der Papst war bei den Jugendlichen – wir sprechen von den Zwölf- bis 24-Jährigen - enorm populär, allerdings nicht wegen kirchenpolitischer Fragen wie dem Priestertum der Frau oder dem Zölibat; das interessiert die Jüngeren eher wenig. Aber wenn er aus dem Flugzeug stieg und den Boden küsste, den er erstmals betrat; wenn er noch als zitternder Greis ein Kreuz durch das Kolosseum schleppte; wenn die letzte Geste seines Lebens die zum Fenster ausgestreckte Hand war –, dann hat das die jungen Leute umgehauen. Das entschlüsseln die sofort. Das waren hochsymbolische Auftritte, die allerdings – und das war das Überzeugende an diesem Mann – durch sein Leben gedeckt waren. Woher kommt die Hochschätzung von Symbolen bei dieser Jugendgeneration, die sich ja auch beim Weltjugendtag gezeigt hat? M.S.: Bis vor kurzem lernte man in der Soziologie, dass es bei uns nach dem Krieg nur den einen großen Wertewandel gab: den der 68er Jahre. Die Vorgängergeneration war geprägt von „Pflichterfüllung“ und „Ordnungsstreben“ und fügte sich in die vorgegeben Ordnungen ein. Mit der 68er-Rebellion traten selbstbezogene Werte in den Vordergrund: „Selbstverwirklichung“, „Betroffenheit“, „Authentizität“, „Emanzipation “. Doch seit 1989/90 zeichnet sich ein weiterer Wertewandel ab, eine ganz neue Art, auf die – radikal veränderte - Wirklichkeit zu reagieren. Wo liegt der Wandel? M.S.: Drastisch gesprochen würde ich sagen: Die junge Generation kann das Betroffenheitsgerede nicht mehr hören, hat die ewige Toleranz satt und die Schnauze voll von der Doppelmoral der 68er, die der Umwelt zuliebe zwar den Joghurtbecher spülen, dann aber dreimal im Jahr nach Lanzarote zum Yoga-Kurs fliegen. Sie reagieren skeptisch auf das alleinige Lebensmotto „Selbstverwirklichung“, weil genau das der Scheidungsgrund der Eltern war ... ... kurz gesagt: Wie jede Generation sind die Jugendlichen gegen ihre Eltern! M.S.: Falsch! Zu meiner Zeit galt es noch geradezu als schick, gegen seinen Vater zu sein. Das ist heute nicht mehr so eindeutig der Fall. Der Wertewandel der Jüngeren ist vielmehr ausgelöst von den gesellschaftlichen Veränderungen: vom Fall der Mauer, der Neuordnung von gesellschaftlichen Feindbildern, der kulturellen Vielfalt durch die europäische Integration, der noch stärker gewordenen Amerikanisierung des Alltags, dem Internet, aber auch von einem stärkeren Bewusstsein um die Bedrohung durch Naturkatastrophen oder Terrorismus. Aber diese Veränderungen haben wir doch alle erlebt! M.S.: Richtig, aber die Jugendlichen kennen nichts anderes. Sie sind in dieser veränderten Wirklichkeit groß geworden. Der Punkt liegt im Folgenden: Die genannten Entwicklungen führen dazu, dass die Jüngeren heute keine Begriffe und Programme mehr haben, um sich nach außen verständlich zu machen. Sie haben hierzu nur noch Symbole. Lassen Sie es mich an meinem Lieblingsbeispiel erklären, dem Tchibo-Effekt: Wenn früher einer sagte, er gehe zu Tchibo, dann wusste man, er kauft Kaffee. Solche sicheren begrifflichen und daher sozialen Routinen gab es in allen Lebensbereichen: Wer Mitglied bei den Sozialdemokraten war, setzte sich ein für soziale Gerechtigkeit, und wer sich für die Weltmeisterschaft im Ski-Langlauf interessierte, kannte viele skandinavische Ortsnamen. All diese Sortierungsmechanismen sind heute weggefallen: Wer heute zu Tchibo geht, kauft sich Unterwäsche oder schließt eine Versicherung ab, der damalige SPDKanzler galt als Genosse der Bosse, und der Langlaufweltcup startete auf Kunstschnee in der Düsseldorfer Innenstadt. Das bedeutet: Wir haben heute eine Krise des Wortes und des Begriffes. Unsere Mitgliedschaften und Verhaltensprogramme erklären unseren Mitmenschen nicht mehr, wer wir sind. Und während wir Älteren hier noch etwas vermissen, haben die Jugendlichen ihre Verständigungsart längst auf symbolische Kommunikation umgestellt. Welche Symbole sind das? M.S.: Vor allem das Outfit! 93 Prozent der Jugendlichen halten ihr Äußeres für wichtig oder sehr wichtig. Das oft so verpönte Markenbewusstsein der Jugendlichen ist keine billige Abhängigkeit von geschickten Konsumstrategien, sondern ihr Versuch, einer Symbolfamilie anzugehören und hierüber für Andere verständlich zu sein. Pointiert gesagt: Ein Schuh von Nike sagt heute mehr über mich aus, als die Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche. Körper, Mode, die Wahl der Jugendszene, die Wohnungseinrichtung, mein Freundeskreis, ob die Baseballkappe nach vorne zeigt oder nach links, ob die Haare aufgestellt sind oder runterfallen: Das sind alles Botschaften, durch die sich junge Leute heute verständigen. Wenn man diesen Wechsel von der Begriffs- zur Symbolsprache missachtet oder gar grundsätzlich kritisiert, wie das die Politik oder die Kirchen gerne tun, verpasst man die zentrale Möglichkeit der Kommunikation mit dieser Jugend. Sie zeichnen ein anderes Bild als das der unpolitischen, leistungsunwilligen, entscheidungsschwachen und spaßorientierten Jugend? M.S.: In der Tat. Was Sie aufzählen, sind verbreitete Klischees, die an der Wirklichkeit vorbeigehen. Unpolitisch sind die Jugendlichen nur dann, wenn wir sie am Politikverständnis der 68er Generation messen. Die gehen heute nicht mehr auf eine Demo gegen Atomwaffen, und schon gar nicht werden sie Mitglieder in der Gewerkschaft wegen der allgemeinen sozialen Idee. Trotzdem sind sie politisch durchaus aktiv: Sie betreiben Solidaritätsforen im Internet, organisieren Markenboykotte, stimmen ab mit Fernbedienung oder Handy. Nicht wählen zu gehen, ist ja auch eine Art politisches Statement – wenn auch anders, als wir THEMA JUGEND 11 Älteren uns das erhoffen. Ich will allerdings nicht verhehlen, dass unsere Gesellschaft auf dem Prinzip der Mitgliedschaft aufbaut und die Mitgliedschaftsunwilligkeit der Jüngeren da durchaus ein Problem heraufbeschwört. Entscheidungsschwach sind Jugendliche vielleicht bei langfristigen Projekten, die mit ihrer Lebenswelt wenig zu tun haben oder deren Verwirklichung – zum Beispiel durch die hohe Arbeitslosigkeit – ohnehin in Frage steht. Anders ist das bei so genannten „Nah-Welt-Themen“, also bei der Frage, welche Tapete mein Zimmer haben soll, in welches Konzert ich gehe, mit welchen Leuten ich mich an welchen Plätzen treffe, welche Hose von welcher Marke ich kaufe. Falsch ist auch das Klischee, Jugendliche wollten nur Spaß und seien leistungsunwillig. Studien belegen, dass sie sehr wohl bereit sind, ihren Weg zu gehen. Sie haben zum Teil sogar eine - durchaus problematische – ausgeprägte Bereitschaft, sich von Schwächeren abzugrenzen. Welche großen Ziele haben diese Jugendlichen? M.S.: Das ist eine typische Frage der älteren Generation! Muss ein Leben ein großes Ziel haben? Vielleicht wird uns diese Generation beweisen, dass man auch mit dem Kleinen zufrieden sein kann, dass auch ein Fragment Glück bedeutet, dass auch in einer Episode Großes mitschwingen kann. Brauchen wir wirklich diesen maßlosen Anspruch an das eigene Glück, an das Gelingen der Gesellschaft, den die 68er in die Welt gepflanzt haben? Die Jugend heute will nicht die Welt anhalten, sondern einfach nur „ein paar Dinge in den Griff kriegen“: In welcher Stadt werde ich leben? Mit welchen Freunden zusam- men sein? Werde ich einigermaßen Geld verdienen? Und wie halten diese jungen Leute es mit der Religion? M.S.: Die Jugendkultur ist voll von Religion. Wer heute ins Kino geht, ein Konzert besucht, in der Disco tanzt oder Werbeblöcke anschaut, der kommt an Religion nicht vorbei: Kathedral-Scheinwerfer, liturgische Gewänder, pyramidenähnliche Aufbauten und jede Menge religiöser Symbole. Und die Kirchen? M.S.: „Die ignorieren wir noch nicht einmal“, sagte mir mal ein Jugendlicher. Kirche kommt in der Jugendkultur nicht vor. Einen normalen Gottesdienst empfinden die meisten Jugendlichen nur als peinlich: Der Priester wirkt schlecht vorbereitet, die Gottesdienstbesucher melancholisch, der Schaukasten fristet eine KomödienstadlExistenz und die Räume des Pfarrheims versprühen den freudlosen Charme der siebziger Jahre. Die Symbolsprache ist entweder unstimmig oder abstoßend. Welche Kriterien müsste Kirche denn erfüllen, um das Interesse der Jugendlichen zu finden? M.S.: Das sind drei Punkte: Was Kirche anbietet und verkündet, muss an die Lebensthemen der jungen Leuten anknüpfen: Liebe, Freunde, Zoff mit den Eltern, Verdauungsprobleme, Pickel im Gesicht ... Das zweite ist die Ästhetik! Die Räume und die Leute dürfen nicht bescheuert aussehen. Was da passiert, muss die Symbolik bedienen, muss dramaturgisch gut sein. Man muss mich in der Kirche fotografieren können, und ich muss das meinen Freunden zeigen können. Als drittes braucht es die emotionale Qualität, also einen Wohlfühlfaktor. Das darf nicht alles so angestrengt sein; es soll Spaß machen, dahin zu gehen. Die Kirche sollte lernen, die Symbolsprache besser zu beherrschen. Sie sollte Atmosphären schaffen, in denen es nicht als erstes um Moral und Dogmatik geht, sondern um Schönheit. Gott ist nicht nur wahr und gut, sondern auch schön. Bei ihm muss man nicht nur Gebote erfüllen und an Wahrheiten glauben, sondern darf sich auch wohl fühlen. Eine Kirche, in der das ernst genommen wird, wo man interessante Leute kennen lernt, hilfreiche Tipps bekommt, Lebensweisheit und Lebenskunst erfährt – die ist hoch interessant und attraktiv für die Jugend von heute. Matthias Sellmann, Jahrg. 1966, verheiratet, drei Kinder, ist als Soziologe und Theologe Grundsatzreferent an der Katholischen Sozialethischen Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz in Hamm. Wo die christlichen Kirchen der modernen Gesellschaft begegnen, ist er mit Interesse dabei. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Lebensstilanalyse, Religion und Politik, Pastorale Konzeptbildung. 12 THEMA JUGEND Praxis: MIT DEM BERATUNGSMOBIL ZUR PARTY Drug Checking Angebot gefordert Claudia Trefflich „Techno? Die Zeit ist doch vorbei…“, so etwas höre ich ab und an, wenn ich jemandem von meiner Arbeit in der mobilen Suchtprävention erzähle. Die elektronische Musik hat sich in den letzten Jahren immer mehr differenziert und die klassischen Raver in Schlaghosen und Felljacken bekommen wir kaum noch zu sehen. Nichtsdestotrotz lebt die Partyszene hier in Thüringen und zieht ebenso (junge) Menschen aus benachbarten Regionen an. Redet man von Technopartys, kommt man um Ecstasy und Partydrogen nicht herum. Illegale Rauschmittel werden vor allem von Jugendlichen und Heranwachsenden ausprobiert und konsumiert. Das geschieht da, wo sie sich treffen, gemeinsam ihre Freizeit verbringen und Spaß, Freude, Ekstase erleben wollen. und dabei Rauschmittel weder verteufeln noch verharmlosen. Ziele sind zum einen die Reduzierung der Risiken, die beim Konsum entstehen, also eine Schadensminimierung. Außerdem wollen wir Abstinenzversuche unterstützen und zu einem gesundheitsbewussten sowie selbstverantwortlichen Umgang mit Körper und Psyche sensibilisieren. Zusätzliche Risiken entstehen z.B. durch das Konsumieren verschiedener Substanzen, zeitgleich bzw. in relativ kurzen Abständen. In diesem Zusammenhang haben wir seit einigen Jahren den Eindruck, dass der Konsum und die Bewertung von Alkohol angewachsen sind. Unsere letzte Zielgruppenbefragung spiegelte dies wi- der: 90 % der befragten Personen hatten aktuell zum Zeitpunkt der Befragung Alkohol konsumiert. 63 % der befragten Personen hatten außer Alkohol mindestens zwei illegale Substanzen konsumiert. Der Fokus unserer Arbeit muss also über illegale Drogen hinaus reichen und Alkohol, Nikotin und andere legale Rauschmittel berücksichtigen. Risiken und zum Teil unberechenbare Nebenwirkungen entstehen aber auch dadurch, dass die Konsumenten nicht wissen, welche Stoffe sich in welchen Konzentrationen in Ecstasytabletten, Speed etc. befinden. So genannte Drug Checking Angebote können Aufschluss über die Inhaltstoffe von Rauschmitteln geben. Drug Checking meint das Testen von Substanzen als Teil des Präventions- bzw. schadensminimierenden Angebotes. Im Gegensatz zu einigen europäischen Nachbarstaaten existiert in Deutschland momentan kein Drug Checking Angebot. Claudia Trefflich ist Projektleiterin des Musikszeneprojektes Drogerie in Erfurt. Mehr Informationen sowie Kontaktmöglichkeiten zum Musikszeneprojekt Drogerie sind unter www.drogerieprojekt.de zu finden. Allerdings erwirbt man zu den Rauschmitteln nicht automatisch zuverlässige Informationen über Wirkung, Nebenwirkungen, Risiken und mögliche Langzeitfolgen. Und da nicht jeder Konsument abhängig ist oder Probleme durch das Konsumverhalten wahrnimmt, sucht natürlich kaum einer den Weg in die Drogenberatungsstelle, um sich dort zu informieren. An dieser Stelle und in dieser Situation wollen wir, das Team des Musikszeneprojekts Drogerie, ansetzen. Mit unserem bunten Wohnmobil sind wir direkt auf den Partys, informieren umfassend, bieten Gespräche an oder einfach einen ruhigen Platz zum Relaxen. Finanziert vom Land Thüringen, soll das Projekt eine Lücke im klassischen Hilfesystem schließen und konsumierenden Jugendlichen eine Alternative zur Beratungsstelle bieten. Nach über 5 Jahren Erfahrung in der Szene können wir sagen: es funktioniert. Wir schaffen tatsächlich einen Ort, an dem Partybesucher über Drogen und ihr eigenes Konsumverhalten reden, es kritisch reflektieren und die negativen Aspekte offen ansprechen. Aus der Zielgruppenbefragung 2005 geht hervor, dass 80 % der von uns befragten Personen die Szenearbeit des Projektes als sehr wichtig bzw. wichtig einschätzen. Für uns ist das eine Bestätigung des Konzeptes: Wir wollen sachlich, neutral informieren THEMA JUGEND 13 Die Geschichte der BRAVO und deren Inhalte sind ein Spiegel der Geschichte der Jugendkultur in Deutschland. Nicht gerade geliebt von sog. „Jugendschützern und anderen Berufsbetroffenen“ brachte die BRAVO das, was ankam und sich verkaufen ließ. Dies allerdings nicht immer! Der Autor zeigt, dass die BRAVO sich nicht nur an Themen der jugendlichen Leserschaft orientierte, sondern auch in weiten Strecken das an junge Leute bringen wollte, was in der Rückschau als „wertekonservativ“ bezeichnet werden kann. Die hier publizierte „schöne und heile BRAVO-Welt“ traf nicht das Denken der Leserschaft. Ergebnis: Die Auflage schrumpfte kräftig. 50 JAHRE BRAVO Jugendkultur im Rückspiegel Klaus Farin Am 26. August 1956 erschien im Münchener Kindler & Schiermeyer Verlag zum Preis von 50 Pf. mit einer Startauflage von 30.000 Exemplaren die Nr. 1 einer neuen Zeitschrift: „BRAVO – Zeitschrift für Film und Fernsehen“. Seitdem hat BRAVO wie kein anderes Medium ganze Jugend-Generationen geprägt. – Bereits 1959 liegt die Auflage des inzwischen im Untertitel zielgruppengenauer in „Die Zeitschrift mit dem jungen Herzen. Film – Fernsehen – Schlager“ umbenannten Heftes bei 523.000 Exemplaren. Sie wird weiter auf über 1,4 Millionen Woche für Woche verkaufter Exemplare steigen, bis schließlich die allgemeine Auflagenkrise auf dem Printmedienmarkt am Ende des 20. Jahrhunderts auch das Ende der goldenen BRAVO-Zeit einläutet und dem Verlag die Entwicklung neuer Marktstrategien aufzwingt. „50 Jahre BRAVO“ ist eine außerordentliche Dokumentation bundesrepublikanischer Zeitgeschichte. Nicht daran interessiert, selbst Trends zu setzen, sondern diese genau zu erforschen und im Heft abzubilden und zu bedienen, stellt BRAVO ein einzigartiges Spiegelbild von 50 Jahren Jugend(kultur) dar – und bietet sich damit geradezu für die vielfältige Beschäftigung (in Schule, politischer Bildung, Museen etc.) mit deutscher Zeit- und Jugendkulturgeschichte an. Das Archiv der Jugendkulturen (Berlin) nahm das 50-jährige Jubiläum von BRAVO dankbar zum Anlass, sich mit diesem einzigartigen Phänomen zu beschäftigen. Dabei lag der Fokus vor allem auf den folgenden Schwerpunkten: 1. BRAVO als Spiegelbild des Zeitgeistes: von den Wirtschaftswunderjahren (Amerikanisierung, die Entdeckung des Teenagers als Konsumentenpotential) über die 60er Jahre (Beat, Hippies, APO) und die Wiedervereinigung (Spezialthema: BRAVO in der DDR) bis zu der „individualisierten“ Vielfalt seit den 90er Jahren, in der ein „Generalist“ wie BRAVO sich neuen Markt- 14 THEMA JUGEND strategien und Medien (BRAVO Girl!, Sport, BRAVO-TV, Internetpräsenz etc.) öffnen muss. Eine Entwicklung, die sich auch auf den Titelseiten der BRAVO niederschlug: Diente in den ersten 25 Jahren BRAVO in der Regel ein einziger Star als Blickfang für das Heft, so mussten sich ab etwa 1974 immer öfter mehrere Stars den Titel teilen, während heute selten weniger als gleich 10 Stars und Sternchen zum Kauf des Heftes animieren sollen. In Zeiten, in denen der Superstar für alle nicht mehr existiert, müssen viele Geschmäcker gleichzeitig befriedigt werden, um die verkaufte Auflage zu halten. 2. Die Kommerzialisierung von Jugend (kulturen): Wie kein anderes Medium zuvor setzte BRAVO als Maßstab für künstlerische Qualität und die Berichterstattung den kommerziellen Erfolg. Von Anfang an widmete BRAVO den Aspekten der Vermarktung (Charts und anderen kommerziellen Ranglisten) genauso viel Platz wie den künstlerischen Leistungen der Stars und nutzte auch zur Messung des kommerziellen Erfolges eine reichhaltige Palette modernster Methoden (Otto-Wahl, repräsentative Studien, quantitative Leserbriefanalysen etc.). Es gibt wohl kein zweites Jugendmagazin auf der ganzen Welt, das so intensive Zielgruppenanalysen und Zielgruppenkommunikation betreibt. BRAVO steht damit zentral für die professionelle Kommerzialisierung der jugendlichen Freizeitwelten. 3. Sexualität: Ab Heft 43/1969 wurde das Thema Sexualaufklärung neben dem Starkult zu einem zweiten tragenden Element der BRAVO: „Dr. Sommer“ betrat die Bühne. Heiß umstritten und bekämpft – vor allem bei Eltern, Jugendschützern und anderen Berufsbetroffenen, heiß geliebt bei den Jugendlichen. Eine aktuelle Studie berichtet: 96 Prozent der deutschen Bevölkerung wissen, was sich hinter dem Namen „BRAVO“ verbirgt, 98 Prozent der Bevölkerung kennen „Dr. Sommer“. Subversiv oder reaktionär? Wir haben sie gehasst. Wir – die Jungen in der Klasse. (Was uns natürlich nicht daran hinderte, sie trotzdem heimlich oder getarnt unter spöttischen Witzen zu studieren.) Denn wie sollten wir mit all den perfekten Schönlingen und Boygroups konkurrieren, die BRAVO damals noch jeden Donnerstag den von uns begehrten Mitschülerinnen offerierte?! Die (links) politisch Engagierten unter uns empfanden BRAVO zusätzlich als reaktionär, die an Bands und Musikstilen jenseits der Charts Orientierten fanden sich zwischen David Hasselhoff und den Bay City Rollers nicht wieder. Und schaffte es eine der eigenen Lieblingsbands doch einmal in die BRAVO, war das kein Grund zur Freude, sondern zum Entsetzen, ein Zeichen des Verrats, des „Ausverkaufs“. Da ging es uns damals nicht anders als alternativ, antikommerziell orientierten Jugendlichen heute auch, die wissen: Sag mir, wen du gestern bei Viva gesehen hast, und ich weiß, wen ich nicht (mehr) mag! Das war nicht immer so. Die Wirkung von BRAVO ist sehr generationenabhängig. In den 50er Jahren, berichtet Kaspar Maase, war BRAVO geradezu ein Motor zur „demokratischen Modernisierung der Bundesrepublik“. Ob glücklicher Zufall oder Kalkulation: Der Start des Blattes erfolgte genau in jenen Monaten, in denen ein gewaltiger Schub amerikanischer Produktionen (Rock’n’Roll, Filme wie „Saat der Gewalt“) auf ein jugendliches Publikum zielte und bei dem kulturellen Auseinanderdriften der Generationen als Katalysator wirkte. BRAVO stieg ausführlich auf diese Themen ein und etablierte sich für seine Leserinnen und Leser als eine unersetzliche Informationsquelle über die neuesten Stars, Trends und Moden aus den USA. „Jeder hat BRAVO gelesen, eigentlich; ich weiß gar nicht, wer keine BRAVO gelesen hat. Das war ja überhaupt die Information aus Amerika, was ist ‚in’ da drüben. Und da konntest du sicher sein: Wenn das in Amerika ‚in’ war, dann war das irgendwann auch in Deutschland ‚in’“, erinnert sich Dirk Ipping, Jahrgang 1947 (Zitiert nach Maase 1992, 106). So begann Anfang Dezember 1956 die Berichterstattung über Elvis Presley, noch bevor dessen Platten hierzulande auf dem Markt waren. Bemühte sich BRAVO in ihrer Anfangszeit noch, als junge Unterhaltungszeitschrift für die ganze Familie eine möglichst breite Käuferschicht zu erreichen (nach Angaben des Verlages waren noch 1960 knapp ein Drittel der – überwiegend weiblichen – Leser/innen älter als 25 Jahre), bekam BRAVO doch schnell das Image eines gefährlichen Jugendverführers. Die amtliche Bestätigung für den kulturell subversiven Geist des Blattes lieferte das Sozialministerium des Landes Rheinland-Pfalz, als es 1959 – anlässlich eines lebensgroßen „Starschnitts“ von Brigitte Bardot, hochgeschlossen und in keiner Weise sexuell aufreizend gekleidet – die Indizie- rung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften beantragte. Begründung: Mit den Filmstars gebe BRAVO der Jugend falsche Leitbilder (vgl. Maase 1992, 110 f). Doch als rein kommerzielles Produkt mit der Hauptzielgruppe Jugend hatte BRAVO-Chefredakteur Peter Boenisch gar keine andere Wahl, als die neue Jugendkultur aus Amerika, das aus konservativer Sicht Bedrohliche, aufzugreifen. „BRAVO musste den Tiger ‚Amerikanisierung’ reiten.“ (Maase 1992, 109) Als im März 1957 die Wogen der Empörung über Elvis Presleys „unzüchtige“ Musik wieder einmal hochschlugen, listete BRAVO (12/1957) nur seine amerikanischen Umsatzzahlen auf und kommentierte lapidar: „Zahlen sprechen für Elvis. Schließlich wurden diese Millionen Platten Stück für Stück mit sauer verdienten Dollars bezahlt!“ Kommerzieller Erfolg als Gütesiegel – das war neu und musste in einem Land, in dem bereits jeder Schüler lernte, dass Kultur aus purem Idealismus entstehe und nur dem „Wahren, Guten und Schönen“ verpflichtet sein dürfe, auf blankes Entsetzen der konservativen Kulturbewahrer stoßen. Die Halbstarken und Rock-’n’-Roll-Fans sahen das naturgemäß anders. Für sie brachte der „Übergang vom moralischen zum kommerziellen Code“ (Lindner 1986, 282) in der Beurteilung von Jugendkulturen auch ein Stück „Befreiung von moralischpädagogischen Diktaten“ (Maase 1992, 149). „Staatliche, kirchliche und ideologisch selbst ermächtigte Kulturwächter und ihre Vorstellungen zur Regulierung des geistigen Konsums und des Wertehaushalts der ‚Masse’ verloren an Einfluss; Medien und Populärkultur konnten im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage den Raum des Möglichen erweitern und ‚volkserzieherische’ Tabus schwächen.“ (Maase 1992, 70) Stellten die Halbstarken und Rock’n’Roller der 50er Jahre quantitativ nur ein eher kleines Phänomen unter Arbeiterjugendlichen dar, so brachten die 60er Jahre mit der Beatmusik zum ersten Mal eine breite Jugend-Pop-Kultur hervor, die deutliche Grenzen zwischen der Mehrheit der Jugendlichen und den Erwachsenen setzte. „Die Beatles mit ihren Pilzfrisuren waren für den überwiegenden Teil der älteren Generation eine beispiellose Provokation. Ein mit Postern der vier Liverpooler voll gekleistertes Jugendzimmer im elterlichen Eigenheim wurde als Affront gegen das gesamte herkömmliche Wertesystem angesehen“, erinnerte sich Thommi Herrwerth, Jahrgang 1949. Dabei waren die Beatles ja erst der Anfang. „Die weit größeren Bürgerschrecks standen den Eltern erst noch bevor: die Rolling Stones. Sie waren noch kompromissloser, noch radikaler, ‚vergammelter’ und obszöner. Sie gebärdeten sich sexuell in nicht misszuverstehender Eindeutigkeit, führten mit ihren Unterkörpern Bewegungen aus, die bei den sauber herausgeputzten Stars der vergangenen Jahre undenkbar gewesen wären; ihre Haartracht war noch wilder als die der Beatles und sie trugen im Gegensatz zu ihren Konkurrenten – damals schier unvorstellbar! – nicht einmal eine Krawatte. ‚I can’t get no Satisfaction’, so lautete ihr Schlachtruf, mit dem sie weltweit die Bestsellerlisten stürmten.“ (Herrwerth 1997, 40) Nur nicht die der BRAVO. „Sie lassen sich die Haare ungekämmt und unappetitlich auf die schmalen Schultern hängen. Sie stecken in erbarmungswürdig schäbigen Anzügen. Und sie sehen überhaupt höchst verhungert und verkommen aus!“ kanzelte BRAVO (13/1964) die Stones ungnädig ab und hoffte wohl, das Thema sei damit durch. Es sollte natürlich anders kommen und BRAVO vergaß angesichts der realen Gefahr, einen Großteil ihres Publikums zu verprellen, schnell jegliche pädagogische Ambitionen und setzte sich an die Spitze der Beatbewegung: Schon ein Jahr später sponserte BRAVO die Deutschland-Tournee der Stones und bei den Otto-Wahlen konnten BRAVO-Käufer/innen ab 1966 auch ihre Lieblings-Beatband wählen. Die Stones gewannen allerdings nie … Die schöne, heile BRAVO-Welt BRAVO entwickelte sich im Laufe der 60er Jahre immer deutlicher zum Sprachrohr der sog. Spießer. „Es ist eine heile, nette Welt, die BRAVO-Lesern vorgegaukelt wird. Da gibt es keinen Krieg in Vietnam, keinen Hunger in der Welt, keine Rassenkrawalle in Amerika und keine StudentenRebellionen in Berlin, Frankfurt und München.“ (Der Spiegel 7/1968, 65) Die „BRAVO-Jugend“ ist nett und brav, lautete die Botschaft. So erwiesen sich auch die Stars, die BRAVO präsentierte, stets als wohlanständige, moralisch einwandfreie, prüde Jungs und Mädchen. Selbst Mick Jagger mutierte in der BRAVO zum „treuen Lebensgefährten“ und die Ehefrau von Stones-Bassist Bill Wyman durfte zu Protokoll geben, ihr Bill sei „kein Schmutzfink“ und wasche seine Haare täglich. „Meine Frau müsste immer für mich da sein und dürfte keine anderen Interessen als ihre Familie haben“, ließ sich der heute zurecht vergessene Filmstar Robert Hoffmann zitieren – eine von unzähligen Aussagen, mit denen die BRAVO ihr Hauptkampffeld der 60er Jahre bestückte, die befürchtete Auflösung tradierter Geschlechterrollen und damit die Emanzipation der Frauen. „Wahre Orgien an Moral und Biedersinn legten sie ihrem neuen Lieblingsstar in den Mund: Roy (Black; kf) wetterte gegen Mädchen, die rauchen, die ihr Äußeres nicht genügend pflegen, die sich allzu aufreizend schminken oder die ‚nur an das eine denken’. Nichts war für ihn verabscheuungswürdiger als ‚superkurze Mini- röcke. Weil sie ungraziös sind und weil sie mich immer an die kaltkessen Anbiederungsversuche einer Profi-Koketten erinnern’. An Jungs verabscheute er ungepflegte Kleidung und lange Haare. ‚Ich finde ja auch kein Mädchen schön, das sich die Haare militärisch kurz schneidet und einen Scheitel zieht und alles fest am Schädel anklatscht. Denn das ist männlich. Und fließend lange Haare sind weiblich.’ Selbst gegen Bestrebungen, der Prüderie der Nachkriegsära ein halbwegs ungezwungenes Verhältnis zur Sexualität entgegenzusetzen, wetterte Saubermann Roy Black energisch: ‚Ich bin dagegen, dass Kinder ihre Eltern nackt sehen. Der Abstand, der zwischen Vater und Mutter und Kindern bestehen sollte, geht damit verloren.’“ (Und das noch 1969!, zit. nach Herrwerth 1997, 53) Merkwürdigerweise existieren von Roy Black, der seine Karriere als Rock-’n’-RollSänger begann, auch ganz andere Zitate. So sprach er sich zum Beispiel gegen den Vietnamkrieg aus („Dieser Krieg ist grausam und rechtmäßig von Amerika nicht mehr zu vertreten“) oder „absolut für die Anti-Baby-Pille. Und sie sollte auch nicht nur an verheiratete Frauen ausgegeben werden, sondern an jedes Mädchen – sagen wir frühestens ab achtzehn –, das sie haben will.“ Gäbe es eine Anti-BabyPille für Männer, „würde ich sie nehmen“ (Löb 1997, 33), bekannte Roy Black für jene Jahre sogar ungewöhnlich progressiv – nur nicht in der BRAVO. Dafür durfte er ab 1966 bis zum Ende der Dekade alljährlich einen „Otto“ entgegennehmen. Ein sexuelles Leben hatten BRAVO-Stars grundsätzlich nicht. Noch bis in die späten Sechziger hinein wurde das Thema weitgehend gemieden, und wenn es mal angesprochen wurde, dann im Stil katholischer Ratgeber für junge Mädchen aus den 50er Jahren. Selbstbefriedigung sei eigentlich „Selbstbefleckung“, warnt BRAVO 1966, denn sie „bringt keinen Frieden, im Gegenteil, sie löst fast immer ein Gefühl innerer Leere und tiefer Niedergeschlagenheit aus“. Mädchen könnten davon sogar „frigid“ werden, „sie eignen sich nicht mehr, eine gute und erfüllte Ehe zu führen.“ (zit. nach Herrwerth 1997, 71) „Ein Junge, der der Lust an sich selbst nachgibt, verkennt gründlich, wozu der Sex von der Natur bestimmt ist“, heißt es noch 1968 in der Serie „Jugend und Sex ‘68“. – Da darf es dann auch nicht weiter verwundern, wenn BRAVO-Ratgeber „Dr. Vollmer“ Homosexualität für „abartig“ erklärt, männlichen Lesern in einem solchen Fall empfiehlt, einen Psychiater aufzusuchen oder sich „männliche Hormone“ injizieren zu lassen, und „Lesbierinnen“ rät, ihre „tiefe unbewusste Angst vor den Männern“ loszuwerden. Nachdem jedoch das Missverhältnis zwischen den von BRAVO vertretenen Positionen und denen ihrer Käufer/innen immer THEMA JUGEND 15 auffälliger wurde (so hatten etwa 1968 in einer Umfrage 89 Prozent der Jungen zwischen 15 und 20 Jahren mitgeteilt, sie würden auch ein Mädchen heiraten, das keine Jungfrau mehr ist), schwenkte BRAVO um und die „junge schwedische Ärztin Kirsten Lindstroem“ durfte 1969 in der Serie „Liebe ohne Geheimnis“ verkünden: „Es ist noch gar nicht lange her, dass in Deutschland von den Mädchen verlangt wurde, sie sollten ihre Unschuld bis zur Trauung bewahren und als Jungfrau vor den Standesbeamten treten. Mit dieser doppelten Moral ist es nun endgültig vorbei.“ Der Markt bestimmt den Inhalt Den nötigen Denkanstoß für die Umorientierung von BRAVO hatte wie üblich nicht die Redaktion gegeben, sondern die Marketingabteilung. Die hatte nämlich feststellen müssen, dass sich die Käufer/innen von BRAVO zunehmend aus der Altersstufe unter 14 Jahren rekrutierten – und die verfügten seinerzeit noch nicht über das notwendige Taschengeld, um all die schönen Waren zu kaufen, für die Unternehmen in der BRAVO warben. Der Konservatismus und die Prüderie der BRAVO-Redaktion war spürbar schlecht fürs Geschäft: Es wurde für BRAVO immer schwieriger, Anzeigenkunden zu finden. Da legte eine vertrauliche Leser/innenanalyse den Verlegern „den Zeitpunkt dar, zu dem viele Jugendliche die Lektüre ihrer Star-Postille aufgaben: sobald sie nämlich begannen, sich für Sex zu interessieren.“ (zit. nach Herrwerth 1997, 64). Schon wenige Monate danach, in der Ausgabe 43/1969, war es dann so weit – BRAVO baute sich, wie es später in einer Verlagserklärung heißen wird, „ein zweites Bein“ auf, das neben dem Starkult „zu einem zweiten tragenden Element in BRAVO geworden ist“: „Ein Mann von heute spricht mit den BRAVO-Lesern über ihre Sorgen und Probleme: Dr. Sommer.“ So veränderte nicht BRAVO die Gesellschaft, sondern die Trends in der Gesellschaft veränderten BRAVO. – Was hier beispielhaft an den 50er und 60er Jahren aufgezeigt wurde, ließe sich auch für die folgenden Jahrzehnte bis in die Foto-LoveStory und die Modeseiten der aktuellen Ausgabe nachzeichnen. Wer etwas über „die Jugend“ oder zumindest den Mainstream, die dominanten Strömungen innerhalb der jungen Generation wissen will, der greife nicht zu klugen Studien deutscher Universitätsprofessoren, sondern abonniere die BRAVO – so lange es sie noch gibt. Literatur: Farin, Klaus: Jugendkulturen in der Bundesrepublik Deutschland, Band 1: 1950 – 1989. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2006. Herrwerth, Thommi: Partys, Pop und Petting. Die Sixties im Spiegel der BRAVO. Marburg 1997. Lindner, Rolf: Teenager. Ein amerikanischer Traum. In: Deutscher Werkbund e.V. (Hrsg.): Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt/ Neuwied 1986, 278 - 283. Löb, Arno: Sweet Baby Mein. Roy Blacks wilde Jugendjahre. Königswinter 1997. Maase, Kaspar: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Hamburg 1992. Klaus Farin, Jahrg. 1958, lebt in Berlin und ist Autor, Lektor und Leiter des Archivs der Jugendkulturen e.V. Homepage: www.klaus-farin.de. THEMA JUGEND dankt dem Autor und dem Archiv der Jugendkulturen e.V. (Berlin) für die Abdruckerlaubnis dieses Artikels. Dieser Beitrag von Klaus Farin ist die Einführung (S. 7 – 11 im Buch) in die folgende lesenswerte und mit vielen Dokumenten gut aufbereitete Buchveröffentlichung: 50 Jahre BRAVO, hrsg. vom Archiv der Jugendkulturen e.V., Berlin 2005. 50 Jahre BRAVO Kaum zu glauben, aber wahr: Die BRAVO wird 50! Am 26. August 1956 erschien mit einer Startauflage von 30.000 Exemplaren die erste Ausgabe der neuen „Zeitschrift für Film und Fernsehen“. Seitdem hat BRAVO wie kein anderes Medium ganze Jugend-Generationen geprägt. „50 Jahre BRAVO“ ist eine außerordentliche Dokumentation bundesrepublikanischer Zeitgeschichte. Nicht daran interessiert, selbst Trends zu setzen, sondern diese genau zu erforschen und im Heft zu bedienen, stellt BRAVO ein einzigartiges Spiegelbild von 50 Jahren Jugend(kultur) dar. Von den Wirtschaftswunderjahren (Amerikanisierung, die Entdeckung des Teenagers) über die 60er Jahre (Beat, Hippies, APO), das Verhältnis von Punk & BRAVO, die Wiedervereinigung (Spezialthema: BRAVO in der DDR) bis zu Boygroups, Techno und der Darstellung von Drogen in der BRAVO reicht die Themenpalette. Und selbstverständlich ist auch Dr. Sommer – The Original! – mit dabei. In diesem Buch schreibt er zum ersten Mal selbst über seine 15-jährigen Erfahrungen als „Deutschlands Sexualaufklärer Nr. 1“. Rund ums Buch wird es zahlreiche Events geben, so u. a. eine großartige Wanderausstellung, die am 23. Oktober im WilhelmFabry-Museum in Hilden ihre Premiere erleben und bis Ende 2006 in 15 weiteren deutschen und europäischen Städten zu sehen sein wird. Ausführliche Infos inklusive Buchcover, Autorenliste etc. sind zu finden unter: http://www.jugendkulturen.de/index.html? shop/bravo.html Archiv der Jugendkulturen e.V. (Hrsg.), 265 Seiten, Großformat, Preis: 28,- Euro, ISBN 3-86546-036-4, Berlin 2005. Bezug über jede Buchhandlung oder www.jugendkulturen.de 16 THEMA JUGEND BÜCHER ZUM THEMA Projektgruppe Jugend und Religion / Kurt Möller If God is a DJ Religiöse Vorstellungen von Jugendlichen Die Gothics „volksnähere“ Varianten christlicher Glaubenspraxis rasanten Zulauf verzeichnen. Eine dieser wachsenden Kleinstkirchen sind die „Jesus Freaks“. Der Szeneforscher Klaus Farin hat die „etwas anderen Christen“ unter die Lupe genommen. In ausführlichen Interviews haben er und seine Mitstreiter vom Archiv der Jugendkulturen e.V. mit Jesus Freaks über Gott und den Teufel, Glauben im Alltag, Drogen, Sex vor der Ehe, Scheidung, Abtreibung, Homosexualität und vieles mehr gesprochen. Das Ergebnis: Hinter der schrillen Fassade von Punks, Skinheads, Techno-Jüngern, rebellischen Straßenkindern kommt eine tiefe radikale Frömmigkeit mit teilweise fundamentalistischen Zügen zum Vorschein. Keyboard- und ruhige Gitarrenklänge leiten ein, gefolgt von einem dezenten Schlagzeugbeat, der mit elektronischen Melodiefetzen unterlegt ist, unspektakulär setzt der Strophengesang ein, aber dann kommt ein phänomenal eingängiger Chorus: „If God is a DJ, Life ist a Dancefloor, Love is the Rhythm, You are the Music“. – Der Hit der amerikanischen Sängerin Pink hat die Charts erobert, der Refrain ist als Handy-Klingelton zu haben, der Song scheint einen Zeitgeist zu treffen. Religion ist unter Jugendlichen wieder „in“. Doch die altersspezifische Suche nach Transzendenz führt nicht auf direktem Weg in die Amtskirchen, sondern sucht sich ihre eigenen, oft verschlungenen Pfade. Eine Gruppe angehender Sozialpädagogen hat diese Pfade verfolgt. Die studentische „Projektgruppe Jugend und Religion“ hat christliche, moslemische und jüdische Jugendliche, aber auch Neonazis und Fußballfans nach ihren Göttern, ihrer Glaubenspraxis und ihren Haltungen zu anderen Religionen ausgefragt. Neben den sehr persönlichen, individuellen „Konfessionen“ spiegelt sich in den Statements Jugendlicher zum Thema Religion eine topaktuelle Bestandsaufnahme unserer Multikulti-Gesellschaft. Wilfried Breyvogel (Hrsg.) 168 Seiten, Preis: 15,- Euro, ISBN 3-86546-030-5, Berlin 2005. Eine Einführung in Jugendkulturen Klaus Farin / Kirsten Wallraff 120 Seiten, Preis: 12,- Euro, ISBN 3-936086-09-7, Berlin 2005. Veganismus und Tattoos Klaus Farin Freaks für Jesus Die etwas anderen Christen Während in den USA unter der Präsidentschaft von Georg W. Bush erste Anzeichen einer Erosion der Trennung von Kirche und Staat zu registrieren sind, gilt hierzulande Religionszugehörigkeit nach wie vor als Privatsache. Die Kirchen beklagen einen seit Jahrzehnten anhaltenden Mitgliederschwund. Doch es gibt Nischen – vor allem unter Jugendlichen –, in denen Der Band leistet eine verständliche und anschauliche Einführung in Jugendkulturen. Neben einem Überblick über Jugendkulturen im 20. Jahrhundert werden zwei Phänomene gegenwärtiger Jugendkultur in den Mittelpunkt gestellt, Tätowierungen und Veganismus. Wilfried Breyvogel: Grundriss zu einer Theorie der Jugendkultur; Jugendkultur als Form notwendiger und symbolischer Arbeit; Jugendkultur, die verstädterte Gesellschaft und die Bühnen der Sichtbarkeit; Tobias Lobstädt: Tätowierung; Thomas Schwarz: Veganismus und das Recht der Tiere; Historische und theoretische Grundlagen sowie ausgewählte Fallstudien mit Tierrechtlern bzw. Veganern; Veganismus und das Recht der Tiere; Veganismus in Jugendkulturen; Für die Befreiung von Mensch und Tier? – Kritik und Ausblick. 261 Seiten, Preis: 22,90 Euro, ISBN 38100-3540-8, Wiesbaden 2005. Autor und Autorin nehmen einen mit in die Welt der Jugendszene – hier speziell in die Welt der Gothics. Der 1. Teil (118 Seiten) ist von Klaus Farin, und wird das Buch gedreht, dann ist da der 2.Teil des Buches (94 Seiten) von Kirsten Wallraff. Zwei Bücher in einem – unüblich, aber durchaus geschickt und ansprechend gemacht. So wie diese gesamte Publikation (auch) von der Optik lebt. Text und Bild gehören zusammen. Bilder – sehr gute Fotos aus der Szene – sind keine nebensächliche Dekoration oder gar „nur“ Ausgestaltung. Bild und Wort gehören in dieser Buchveröffentlichung eng zusammen. Ein Fachbuch? Nein: Farin und Wallraff legen kein Fachbuch, wissenschaftlich neutral und abgehoben, vor. Sie geben Anteil an ihren Erfahrungen und ihrer Insicht und geben dem interessierten Leser und der interessierten Leserin so einen kleinen Einblick in eine Jugendszene, die allzu schnell mit dem Satanismus (und häufig auch mit dem Rechtsextremismus) in Verbindung gebracht wird. In einführenden Texten gehen Autor und Autorin auf die Vernetzung der Gothics ein. Es scheint sich um eine sehr plurale Szene zu handeln, in der viele Heimat finden können. Aber Rechtsradikale haben hier nichts verloren, und Anhänger von schwarzen Messen und Leichenfledderei sind hier ebenfalls nicht willkommen. Gothics ist eine Auffassung von Leben und Tod. Gefühle und innere Befindlichkeiten werden in Kleidung, Verkleidung, Outfit, mit Schminke, Habitus, Symbolen und Ritualen ausgedrückt. Musik spielt eine große Rolle, passende Umgebung und Treffpunkte ihrer Meetings stimulieren. Kritisches ist in der Grundinformation zu finden, aber genau so sehr viel Sympathie mit diesen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ihren ganz speziellen Stil leben wollen. Von außen häufig als Exoten oder Angehörige eines anderen Planeten angesehen, die möglicherweise (trotz Friedfertigkeit) Angst auslösen. Spiegel unterdrückter Wünsche und Begierden? Hier werden andere Normen und andere Sinnkonstrukte gelebt – sehr konsequent. Autor und Autorin führen alle Interessierte mit in diese (fremde) Welt. Sprachlich ist das Buch ein Genuss zu lesen. Narratives Schreiben, die Präsentation einzelner Begebenheiten, leise Stimmungen – fast poetisch, Erzählungen, die zum Weiterlesen anregen. Wirklich kein (trockenes) Sach- oder Fachbuch über Jugend. Das Buch zeichnet sich durch viele Beiträge von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Szene aus. Klaus Farin, Journalist, Buchhändler, später in einer Konzertagentur tätig, Autor vieler Veröffentlichungen über Skinheads, Hooligans und andere Szenen, Lehrbeauf- THEMA JUGEND 17 tragter und Leiter des Archivs für Jugendkulturen e.V. (Berlin) hat in diesem Buch viele Informationen aufbereitet, die sonst nur Insider haben. – Kirsten Wallraff sagt von sich, dass sie sich 15 Jahre in der schwarzen Szene bewegt hat. 1994 hat sie innerhalb ihres sozialpädagogischen Studiums eine Diplomarbeit erstellt. Diese Arbeit bildet die Grundlage ihres Beitrages im Buch (unter der Überschrift: Weiss wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz). Nach ihrem Studium arbeitete sie u.a. in einem Jugendzentrum, als Journalistin und heute in der Werbung. Wem sei das Buch empfohlen? Allen, die sich für Jugendkulturen und Jugendszenen interessieren (müssen). Ich empfehle es auch weltanschaulich Interessierten (z.B. Religionslehrerinnen und Religionslehrern und sog. „Weltanschauungs- und Sektenbeauftragten“). Ich selbst werde nach Abfassung dieser Rezension im Buch weiter lesen und stöbern. Georg Bienemann 216 Seiten, Format 21x21 cm, mit sehr vielen Abbildungen, Dokumenten und Fotos, Preis: 15,- Euro, ISBN 3-933773-09-1, Berlin/Bad Tölz 2001. Leben in Szenen Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute von Ronald Hitzler, Thomas Bucher und Arne Niederbacher Leben in Szenen gewinnt besonders für Jugendliche immer stärker an Bedeutung. Durch die empirische Rekonstruktion besonderer Erlebnisqualitäten unterschiedlicher Szenen entsteht in diesem Band ein differenziertes Bild aktueller Jugendkulturen. Dargestellt und verglichen werden u.a. so unterschiedliche Szenen wie Konsolenspielszene, Techno-Szene und Skater-Szene. Szenen im Kontext gesellschaftlicher Modernisierung – Aktuelle gesellschaftliche Strukturen und Veränderungen – Konsequenzen für die Lebensphase „Jugend“ – Posttraditionale Formen der Gemeinschaftsbildung – Jugendliche SzenenáTechno-Szene – Hardcore-Szene – Schwarze Szene – Skater-Szene – GraffitiSzene – Konsolenspieler – Daily Soap-Fans – Türkische Street Gang – Antifa-Szene – Drogen-Szene – Jugendliche in der DLRG – Sportkletter-Szene 239 Seiten, Preis: 20,90 Euro, ISBN 3-53114512-6, Wiesbaden 2005 (2. Aufl.). 18 THEMA JUGEND Axel Schmidt / Klaus Neumann-Braun André Pilz Die Welt der Gothics No llores, mi querida – Weine nicht, mein Schatz Spielräume düster konnotierter Transzendenz In der modernen Gesellschaft finden okkulte und satanistische Praktiken und Vorstellungen nach wie vor Akzeptanz in der Bevölkerung. Allerdings sind neben den bekannten und organisierten Formen wie Orden und Logen die medien- und musikvermittelten Jugendszenen getreten. Das Buch wendet sich in diesem Zusammenhang exemplarisch der deutschen „Gothic-Szene“ zu und untersucht deren Gruppenstrukturen sowie die Passungskonstellationen und Integrationsdynamiken von Szene und Mitgliedern. Darüber hinaus werden typische Vergemeinschaftungsformen und Deutungsmuster, wie sie innerhalb der Kultur der Gothics vorherrschend sind, auf religionssoziologische Erklärungsmodelle bezogen. Gefragt wird u.a., inwiefern das Phänomen „Gothic“ als moderne, individualisierte und an medialen Vorlagen ausgerichtete Form von Religion bzw. Religiosität begriffen und damit als eine spezifische Manifestationsform von „unsichtbarer Religion“ (Luckmann), „Religionsbricolage“ (Helsper) oder „neuer religiöser Bewegung“ (Knoblauch) gewertet werden kann. 336 Seiten, Preis: 27,90 Euro, ISBN 3-53114353-0, Wiesbaden 2004. Klaus Farin generation kick.de Jugendsubkulturen heute „Ich brauche immer einen Kick. Jeder Jugendliche hat das. Das gehört zum Leben dazu. Ein Kick ist gefährlich, etwas Heimliches oder Verbotenes. Das Herz muss einem in die Hose rutschen, man fängt an zu zittern oder kriegt Schweißausbrüche, der Puls ist auf 500. Lebensgefährlich muss es sein. Ich muss wissen, dass da irgendwas passieren kann. Aber trotzdem muss ich auch wissen, dass da nix so schlimm ist, dass es tödlich enden kann oder meinen Rest des Lebens verändert. Es ist fast wie eine Sucht. Wenn Jugendliche keinen Kick haben, kosten sie ihr Leben gar nicht aus. Was sollen sie denn später erzählen?“ Julia (15) 236 Seiten, Preis: 9,90 Euro, ISBN 3-40645947-1, München 2001. Ein Skinhead-Roman Der erste deutschsprachige SkinheadRoman, nicht von einem Soziologen oder Kinderbuchautor, sondern von einem Skinhead geschrieben. André Pilz, Jahrgang 1972, hält sich mit diversen Jobs über Wasser und ist Gitarrist einer Oi!-Punkband. Wenn André Pilz über den Skinhead „way of life“, über Gewalt im Stadion, Stress mit Einwanderergangs oder Neonazis in der Szene schreibt, weiß er, worüber er spricht. „Ein Leben lang der letzte Dreck. Ein Leben lang haben sie mich geschlagen und gedemütigt, und ich habe es regungslos hingenommen. Ein artiger, braver Junge. Doch irgendwann war irgendein Schlag zu viel, und ich habe begonnen, mit meinen Augen zu sehen, mit meinen Ohren zu hören, und meinen Verstand gebraucht. Ich habe gelernt. Und mir den Kopf geschoren und Euch den Krieg erklärt.“ Aber „No llores, mi querida – Weine nicht, mein Schatz“ ist keine verkappte Autobiographie, kein Tagebuch, nicht nur ein Aufklärungswerk zu einem der brisantesten Themenkomplexe der Gegenwart – Rechtsextremismus und Jugendgewalt –, sondern darüber hinaus auch ein erstklassiges, bis zur letzten Zeile super spannendes Stück Literatur. „Gewalt ist die einzige Form von Achtung, die wir von Euch erzwingen können. Gewalt ist in Eurem Spiel nicht erlaubt, jedenfalls nicht die, die die Leute beim Einkaufen oder Spaß haben stören könnte. Aber wir, wir lieben sie. Nur die Gewalt auf der Straße und im Stadion schafft es, uns für kurze Zeit über Euch zu stellen. In dem Moment, wo es knallt, da spüren wir Eure Angst. Vor uns, den Glatzköpfen.“ 230 Seiten, Hardcover, Preis: 18,- Euro, ISBN 3-86546-031-3, Berlin 2005. Dieses Buch vermittelt Wissen über den Aufbau und die Stärkung einer „Marke“, schafft den Bezug zur Jugendarbeit vor Ort, präsentiert neben einer theoretischen Grundlegung Best Practice-Projekte und erläutert deren Instrumente. 144 Seiten, Preis: 19,50 Euro, ISBN 37799-2102-2, Weinheim und München 2005. Wolfgang Antes (Hrsg.) Klaus Farin MarkenMacht Jugendarbeit Buch der Erinnerungen. Die Fans der Böhsen Onkelz Marken als Brücke zwischen Jugendarbeit und Wirtschaft „Marken“ sind Sympathieträger und das macht sie für die Wirtschaft so interessant. Eine Marke hat eine Persönlichkeit, zu der die Kunden eine emotionale Bindung aufbauen. Die Marke ist also mehr als das bloße Produkt. Mit einer Marke werden spezifische Eigenschaften „markiert“. Mit ihr verbindet sich Leidenschaft und darin liegt eine besondere Chance für die Jugendarbeit. Typisch für die Jugendarbeit ist ihr Erlebnischarakter, der sich besonders gut zur Markenbildung eignet. Umso mehr erstaunt, dass wir uns schwer tun, Marken der Jugendarbeit zu benennen. Die vier Musiker der Frankfurter Band Böhse Onkelz haben in ihrer 25-jährigen Karriere gewaltige Identitäts- und ImageWandlungen vollzogen: von einer Kultband der Skinhead- und Hooligan-Szene zur kommerziell erfolgreichsten deutschen Rockband. Und ihre Fans? Gingen sie diesen Weg mit? Was verkörpern die Böhsen Onkelz heute für ihre Fans? Eine spannende Frage, zumal bei einer Band, mit deren Texten und Biographie sich Hunderttausende von Fans so hochgradig identifizieren wie bei keiner zweiten. dem es auch schlecht, sauschlecht ging. Und dieser Mensch hat die Gabe, Texte darüber zu schreiben und es ‚rauszuschreien’. Und das tut verdammt gut!“ Jenny (22 Jahre) Nach seinen Studien über Skinheads, Hooligans, Gothics und anderen Jugendsubkulturen, die heute schon zu den „modernen Klassikern“ (Ralph Giordano) gehören, packt der Leiter des Berliner Archivs der Jugendkulturen mit dieser Biographie- und Rezeptionsanalyse zu einer der umstrittensten Bands der Gegenwart erneut ein heißes Eisen an. Detailinfos zum Buch: http://www.jugendkulturen.de/index.html? shop/buchder.html Komplett überarbeitete, erweiterte und neu gestaltete Auflage. 288 Seiten, Preis: 18 Euro, ISBN 3-86546034-8, Berlin 2005. Bezug über jede gute Buchhandlung oder direkt www.jugendkulturen.de „Das Leben, das scheiß doofe Leben, ist manchmal so aussichtslos, so einsam, so kalt und hässlich. Als Onkelz-Fan weiß man, dass es irgendwo jemanden gibt, THEMA JUGEND 19 Die Lippenbekenntnisse für die Hauptschule nehmen sich daneben wie PflichtErklärungen an die Benachteiligten aus. KOMMENTAR Die in dieser Rubrik veröffentlichten Meinungen werden nicht unbedingt von der Redaktion und dem Herausgeber geteilt. „Kommentare“ sollen zur Diskussion anregen. Über Zuschriften freut sich die Redaktion von THEMA JUGEND. AUCH DIE CHINESEN REFORMIEREN IHR SCHULSYSTEM Anmerkungen zu einem schulpolitischen Versuch Kaum war die neue NRW-Landesregierung im vergangenen Jahr im Amt, hat sie sich an die Arbeit gemacht – wohl auch mit Hilfe einiger unermüdlicher Lobbyisten aus den Gymnasien – um ein neues Schulgesetz zu schaffen. Schließlich waren Schule und Bildung Top-Themen im Wahlkampf gewesen. So sprudelte in wenigen Monaten die Flut von 75 Änderungsentwürfen am bestehenden Schulgesetz aus der ideologisch festgestampften, schulpolitischen Erde. Die Lektüre eines Schulrechtsänderungsgesetzentwurfes ist nicht gerade ein kurzweiliges Unterfangen. Der geneigte Leser beginnt – wie beim Nachrichtenmagazin – hinten zu lesen: Änderung Nr. 75 verfügt, dass in § 133 des Schulgesetzes – SchG – der Absatz 3 aufgehoben wird. Neugier erwacht. Was steht in § 133 Abs. 3 des SchG? Dort wird verfügt, dass die Regelung des § 57, Abs. 4, Satz 2, Ende 2007 außer Kraft gesetzt wird. Neugier verstärkt sich. Was steht in § 57, Abs. 4, Satz 2? Dort findet sich, dass Lehrer in der Regel Beamtinnen und Beamte sind. Aha: Die Regel, dass Lehrer Beamtinnen und Beamte sind, sollte 2007 auslaufen. Die neue Regelung sieht nunmehr vor, dass es dabei bleibt. Man könnte das, speziell aus dem Blickwinkel des Kinder- und Jugendschutzes, für eine Marginalie halten - wenn es sich nicht, wie die eingehende Lektüre des Gesetzentwurfes zeigt, um ein verräterisches Detail handelte, das die grundsätzliche Denke entlarvt. Und dann kommt sehr wohl der Kinder- und Jugendschutz ins Gespräch. Schulische Bildung und Erziehung werden offenbar verstanden als staatlich-administrativ zu organisierender Informationsverabreichungsvorhang. Die Tätigkeit des Lehrbeamten hat demzufolge hoheitlichen Charakter, wie etwa die des Grenzschutzes, der Polizei, der Finanz- und anderer Behörden. Zeugnisdokumente bilden of- 20 THEMA JUGEND fenbar das entscheidende Instrument des Lehrerhandelns. Zahlreiche Detailregelungen des neuen Schulgesetzes bestätigen das: Kopfnoten werden wieder eingeführt, wohlgemerkt ab Klasse 3. Ein pädagogisch und psychologisch höchst fragwürdiger Vorgang, der Klischees oder persönlichen Vorlieben von Lehrern Tür und Tor öffnet. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer stehen Kopfnoten skeptisch gegenüber. Zudem ist deren Effizienz zweifelhaft, zumal dafür lediglich schlichte vier Stufen zur Verfügung stehen – von pädagogischer Differenzierung und Förderung, von Aufmerksamkeit für die Irrungen und Wirrungen wachsenden Lebens sowie für die Mühen bei der Identitätsentwicklung von Pubertierenden keine Spur. Die Verbindlichkeit der Grundschulgutachten wird erhöht. Das meint die Zuteilung von Bildungschancen. Wir sprechen hier über neunjährige Kinder! Der Gesetzentwurf geht tatsächlich davon aus, das dreigliedrige Schulsystem sei begabungsgerecht (so die Formulierung im Gesetzentwurf). Historisch betrachtet ist es ein Relikt aus der Preußenära und stellte eine Anpassung an deren gesellschaftliche Belange dar. Dass andere Länder die frühe Selektion längst abgeschafft haben und die Effizienz ihres Schulwesens weitaus besser ist als in Deutschland, das bleibt beim Nachdenken über das so genannte modernste Schulsystems Europas außen vor. Und dann wird noch der Durchgang durch die Sekundarstufe I an Gymnasien um ein Jahr verkürzt, was den Wechsel eines Haupt- oder Realschulschülers in die gleiche Klasse eines Gymnasiums quasi unmöglich macht. Wenn jemand unser bestehendes dreigliedriges System (mit dem Appendix Gesamtschule) aus den Interessen der Gymnasialeltern und -lehrer heraus mit dem Ziel optimieren wollte, seine Pfründe zu sichern, er würde es genau so machen. Der Bildungskommissar der UN, der im Februar 2006 das deutsche Schulsystem in Augenschein genommen hatte, monierte als die entscheidenden Mängel: die hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom materiellen Status des Elternhauses, die frühe Selektion und die Einteilung auf drei verschiedene Schulformen. Auf keines dieser Monita gibt der Schulgesetzentwurf eine Antwort, im Gegenteil. Dass in der Schule aktive Lernprozesse zur Aneignung von Wissen stattfinden, und nicht administrative Lehrvorgänge, die die Verabreichung von Informationen zum Inhalt haben – dass die Entwicklung einer kindlichen und jugendlichen Identität zur Reife im Wesentlichen ein Wachstumsprozess ist, in dem Umwege, Eigenwilligkeiten, Fehler und Unzulänglichkeiten normal sind und dass deshalb Selektions- und Sortiervorgänge contraindiziert sind – dass eine gute Schule davon lebt, dass sie förderliche Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern organisiert bzw. die Rahmenbedingen dafür schafft und nicht davon, die Sachvermittlung per Dozententätigkeit auszudehnen – von all dem sind die Lobbyisten und Strategen, die den Gesetzentwurf formulierten, unberührt geblieben. Man muss das alles wohl für das letzte Aufbäumen einer vorgestrigen Bildungsidee halten. Jedenfalls hätten mutige Innovationen anders ausgesehen. Die Chinesen reformieren gegenwärtig landesweit ihr Schulsystem. Dass sie nicht in Nordrhein-Westfalen anfragen, wie es dort gemacht wird, sondern lieber nach Finnland fahren, kann man gut verstehen. Sie sind möglicherweise pädagogisch und psychologisch, ganz sicher aber im Blick auf die ökonomische Verwendung von Ressourcen, klug genug, sich an den besten und effizientesten Schulsystemen zu orientieren. Es geht schließlich um die Zukunft der nachwachsenden Generation und damit unserer Gesellschaft. „Die Reformbemühungen des neuen Schulgesetzes sind in bedeutendem Maße unzulänglich“ – formulierte unlängst ein Wissenschaftler in einer Landtagsanhörung. Nicht nur das. Sie sind in ihren Grundüberzeugungen und in ihrer Reformverweigerung tatsächlich ein Thema für den Kinder- und Jugendschutz. Michael Sandkamp Der Autor ist Vorstandsmitglied der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V. Er arbeitet als Referent für „Eltern und Schule“ im Bischöflichen Generalvikariat Münster. ARBEITSHILFEN Das Zuwanderungsgesetz und die Kinder- und Jugendhilfe Hierzu hat nun der Paritätische Wohlfahrtsverband NRW e.V. eine gut gemachte Arbeitshilfe herausgegeben. Diese Arbeitshilfe richtet sich vor allem an Fachkräfte in den Migrationsdiensten und der Jugendhilfe. Mit dem „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regulierung des Aufenthaltes und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz)“, das zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, verbinden viele eine Reform der Ausländerpolitik, die manches vereinfachen wird, Ungerechtigkeiten abbauen und stärker den Integrationsgedanken betonen soll. Nach ersten Erfahrungen mit dem Gesetz hat sich eine Skepsis breit gemacht. Die Arbeitshilfe stellt kurz und knapp das Zuwanderungsgesetz (als Artikelgesetz) vor. Das heißt: Das Gesetz nimmt Einfluss auf ganz verschiedene Gesetze, nimmt Änderungen vor, „quer durch die Rechtsmaterie“. Das wird in der Arbeitshilfe verständlich dargestellt. Im Schwerpunkt der neuen Veröffentlichung geht es dann aber um das Aufenthaltsgesetz und seine Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendhilfe. „Dabei ist es manchmal unausweichlich“, so die Einleitung der Broschüre, „Querverbindungen zu den anderen Artikelgesetzen herauszustellen…“ Zentrale Inhalte der Arbeitshilfe sind die Abschnitte 2 „Kinder und Jugendliche mit ausländischem Pass in der Kinder- und Jugendhilfe“, der Abschnitt 3 „Kinder und Jugendliche im Zuwanderungsgesetz von 2004“, Abschnitt 4 „Integration von Jugendlichen und jungen Menschen mit ausländischem Pass“, Abschnitt 5 „Junge Menschen und Beschäftigung“ und Abschnitt 6 „Verbot der Abschiebung bei geschlechtsspezifischer und nicht-staatlicher Verfolgung“. Im Abschnitt 7 geht es um die Arbeit der NRW-Härtefallkommission und im Abschnitt 8 um die UN-Konvention über die Rechte des Kindes und das Zuwanderungsgesetz im Hinblick auf Flüchtlingskinder. Eine erste kurze Einschätzung zur derzeitigen (neuen) unverschärften Praxis bringt der Kommentar „Erste Auswirkungen für junge Flüchtlinge“. Und ganz für die Praxis formuliert gibt es (vor dem Quellen-, Literatur-, Adressenteil und vor dem weiteren Anhang) 12 Empfehlungen für die Jugendhilfe und Schule. Diese Empfehlungen wer- fen zwangsläufig Fragen für eine kinderfreundliche Politik auf. Die Arbeitshilfe ist übersichtlich gegliedert und gestaltet. Gute Fotos unterstreichen den knapp gehaltenen (aber sehr informativen) Text. Leser/innenfreundlich! Georg Bienemann Zu beziehen: Der Paritätische Fachgruppe Kinder, Jugend, Familie, Frauen, Migration Loher Straße 7 42283 Wuppertal Telefon: (0202) 2822-252 Telefax: (0202) 2822-201 E-Mail: [email protected] kommunalen Jugendämter und die Landesjugendämter Rheinland und WestfalenLippe beteiligt waren. Ziel des Konzeptes ist es, verstärkt und ergänzt einen Handlungsrahmen für die Tätigkeit in den kommenden Jahren zur Verfügung zu stellen. Wir verstehen diese Überlegungen nicht als geschlossenes Konzept, sondern als Empfehlungshinweise für die Landesebene und für die konkrete örtliche Arbeit. Exemplare gibt es bei der: Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V. Salzstraße 8 48143 Münster Telefon: (0251) 54027 Telefax: (0251) 518609 E-Mail: Kath.LAG.Jugendschutz.NW @t-online.de NRW-Konzept Der Kinder- und Jugendschutz auf der kommunalen Ebene und die Arbeitsschwerpunkte der Landesstellen Die staatlichen und verbandlichen Stellen des Kinder- und Jugendschutzes haben in den letzten Jahren ihre Tätigkeit sowohl auf Landesebene als auch in den Kommunen quantitativ und qualitativ ausgebaut. Die drei Landesstellen Kinder- und Jugendschutz in Nordrhein-Westfalen haben parallel dazu die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen des Kinder- und Jugendschutzes verstärkt. Von Seiten der kommunalen Kinder- und Jugendschutzfachkräfte wurde der Wunsch geäußert, gemeinsam die Praxis „vor Ort“ zu reflektieren sowie Arbeitskonzepte auf Kommunalund Landesebene zu entwickeln und aufeinander abzustimmen. Dazu führten die Landesstellen in den Jahren 1999 und 2005 jeweils eine Umfrage bei den Kolleginnen und Kollegen in den NRW-Jugendämtern durch. Diese Ergebnisse sind Grundlage für einen intensiven Diskussionsprozess, an dem die Neue Schriftenreihe Elternwissen Von der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V. wird eine neue Schriftenreihe mit dem Titel Elternwissen herausgegeben. Die erste Ausgabe befasst sich mit dem Thema „Konsum von Kindern und Jugendlichen“. Generell gilt, dass diese Schriftenreihe nur in größeren Stückzahlen abgegeben wird. Alle, die sich dafür interessieren, mögen sich bitte mit der Geschäftsstelle in Münster in Verbindung setzen (Telefon: (0251) 54027). Für die Zukunft ist daran gedacht, weitere interessante und wichtige Themen zu publizieren. Jugendämter, die hier kooperieren wollen (also als Mitherausgeber der Schriftenreihe einsteigen möchten), sind dazu herzlich eingeladen. Diese Einladung richtet die Landesarbeitsgemeinschaft vor allem auch an ihre Mitgliedsverbände. Gemeinsam werden die weiteren Themen festgelegt und die Verbreitung der Schriftenreihe abgesprochen. Alle, die Interesse an einer Kooperation haben, sollten sich bald an die Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V. wenden: Kath.LAG.Jugendschutz.NW @t-online.de. THEMA JUGEND 21 INFORMATIONEN Junge Flüchtlinge an Ferienfreizeiten beteiligen! Gemeinsamer USK wendet sich gegen Vorwurf Die CDU/CSU-Innenminister haben sich auf ihrer Tagung in Wanzleben (SachsenAnhalt) für ein Verbot von so genannten Killerspielen ausgesprochen. Eine niedrigere Eingriffsschwelle, als das Jugendschutzgesetz vorsieht, soll durch die Streichung des Wortes „offensichtlich“ jugendgefährdend erreicht werden. Die Unionspolitiker sparten laut Pressemeldungen auch nicht mit Vorwürfen an die Adresse der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) in Berlin, die angeblich „nur sehr mangelhaft“ funktioniere und „nicht mit dem Jugendschutzrecht in Einklang“ stehe. Dabei nahmen sie in Unkenntnis der tatsächlichen Rechtslage fälschlicherweise Bezug auf den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Dieser ist zwar die Grundlage für die jugendschutzrechtliche Behandlung von Internet und Fernsehen, nicht aber von Trägermedien. Die Alterskennzeichnung von Computerspielen (Trägermedien) erfolgt nach dem Jugendschutzgesetz. Die USK wies in einer Pressemitteilung vom 10. März darauf hin, dass jugendgefährdende Produkte keine Alterskennzeichnung erhalten und damit von der Bundesprüfstelle indiziert werden können. Auf die konsequente Einhaltung der Bestimmungen nach dem Jugendschutzgesetz achten die Prüfgremien der USK und der Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden. Alterskennzeichnungen der USK sind Verwaltungsakte der federführenden Obersten Landesjugendbehörde NRW. Die USK stellt fest, dass ihre Prüfverfahren sowie deren Ergebnisse „jeglicher rechtlichen und fachlichen Überprüfung Stand halten“. Literaturdatenbank Kinder- und Jugendschutz In der Literaturdatenbank Kinder- und Jugendschutz bietet die Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. einen Überblick über vorhandene Artikel, Broschüren und Veröffentlichungen mit inhaltlichem Bezug zu den Themen des Kinder- und Jugendschutzes, z.B. zu erzieherischen, strukturellen und gesetzlichen Aufgaben des Jugendschutzes, den Themen Sucht- und Gewaltprävention, Medienpädagogik und Jugendmedienschutz, den Themen Schutz vor Misshandlung und sexuellem Missbrauch und… und… und… Kontakt: [email protected] 22 THEMA JUGEND Aufruf des NRW-Integrationsbeauftragten und der Aktionsgemeinschaft Junge Flüchtlinge in NRW Die Aktionsgemeinschaft Junge Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen ruft seit 1993 Gruppen, Verbände, Initiativen, Gemeinden und sonstige Anbieter von Ferienfreizeiten auf, junge Flüchtlinge an ihren geplanten Ferienfreizeiten in den Sommerferien zu beteiligen. In diesem Jahr erfolgt der Aufruf erstmals gemeinsam mit dem Integrationsbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen, Thomas Kufen. Aktionsgemeinschaft und Integrationsbeauftragter stellen gemeinsam fest: „Eine Teilnahme junger Flüchtlinge an den Ferienfreizeiten kommt allen Beteiligten zugute. Sie ermöglicht, sich besser kennen zu lernen und gemeinsame Erfahrungen zu sammeln. Jungen Flüchtlingen die Teilnahme zu ermöglichen, entspricht auch dem Bemühen und dem Geist der parteiübergreifenden Integrationsoffensive des Landes NRW. Diese zielt darauf ab, dass alle Kinder bereits früh lernen, sich in einer kulturell offenen Gesellschaft zu entwickeln und Bereitschaft zeigen, sich anderen Kulturen zu öffnen. Dies ist ein zentrales Prinzip demokratischer und sozialer Erziehung und Bildung. Die Einbindung junger Flüchtlinge ist hierbei ein konkreter Schritt in diese Richtung. Hierzu setzen sich vor allem Ehrenamtliche im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit für die Teilnahme junger Flüchtlinge an Ferienfreizeiten ein. Dafür ist ihnen besonders zu danken.“ Unterstützt wurden der Aufruf und dieses Bemühen seit 10 Jahren von den NRW-Innenministern. Schwierigkeiten könnte es nun – so einige konkrete Erfahrungen des vergangenen Jahres – mit der Teilnahme junger Flüchtlinge an Auslandsfahrten geben. Das NRW-Innenministerium hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es (wie bisher auch) keinen Rechtsanspruch gibt. Ausländerbehörden können auf Antrag im Einzelfall darüber befinden, ob die jeweiligen Umstände die Erteilung einer auf die Dauer der Reise befristeten Aufenthaltserlaubnis zulassen. Dadurch wird zum Ende der Auslandsfahrt die Wiedereinreise nach Deutschland möglich. Die Aktionsgemeinschaft und der Integrationsbeauftragte des Landes bitten alle Ausländerbehörden in NRW, sich offensiv und im Sinne einer Integration für die Teilnahme junger Flüchtlinge an diesen Auslandsfahrten einzusetzen und alles erdenklich Mögliche zu tun, damit die Anträge positiv „im besten Interesse junger Flüchtlinge“ bearbeitet werden. Es sollte nach Auffassung der Aktionsgemeinschaft und des Integrationsbeauftragten eine möglichst unbürokratische und wohlwollende Bearbeitung der Anträge durch die Ausländerbehörden erfolgen. Im Namen junger Flüchtlinge danken die Aktionsgemeinschaft und der Integrationsbeauftragte allen, die dieses Anliegen unterstützen! Weitere Infos: (0251) 54027 – Wir weisen auch auf die 12 Ratschläge und Tipps zur Teilnahme junger Flüchtlinge an Ferienfreizeiten im In- und Ausland hin. Diese Ratschläge können bei uns angefordert oder unter www.thema-jugend.de/downloads heruntergeladen werden. Für Migranten und Flüchtlinge Kinder brauchen einen Schutzengel! „Die politische Praxis im Umgang mit Migranten und Flüchtlingen ist in unserer Gesellschaft häufig alles andere als vorbildlich“, betonte Gisela Reckmann, Mitglied des Diözesanleitungsteams der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands im Bistum Münster in einem Gespräch mit Weihbischof Josef Voss und dem Bundestagsabgeordneten Karl Schiewerling. Unter ihrem aktuellen Schwerpunktthema „Fremdes achten – Frieden suchen“ setzt sich die kfd mit der Lebenssituation von Migranten und Flüchtlingen in Deutschland auseinander. Viele kfd-Frauen sind in der Asyl- und Flüchtlingsarbeit aktiv und verfügen über intensive Kontakte und Erfahrungen im Zusammenhang mit Abschiebungen und der täglichen Lebensgestaltung von Flüchtlingsfamilien. Sie kritisieren besonders die Auswirkungen des neuen Zuwanderungsgesetzes, das Anfang 2005 in Kraft trat. Eigentlich sollte mit diesem Gesetz ein humanes, weltoffenes und integrationsfreundliches Gesetz geschaffen werden. In der Praxis zeigt sich aber deutlich, dass es weit hinter seinen Zielen zurückbleibt und die praktische Politik sich zum Teil sogar noch verschärft hat. Die kfd im Bistum Münster ist Mitgliedsverband in der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V. Aids fordert mehr Tote als alle Kriege des 20. Jahrhunderts. Allein in Afrika leben derzeit fast 30 Millionen Menschen mit dem Hl-Virus. Eine aktuelle UN-Studie schätzt, dass bis zum Jahre 2010 allein in Afrika etwa 20 Millionen Aids-Waisen leben werden. Der Schrei nach Leben ist unüberhörbar. Mit dem Schwerpunkt „Aids & Kinder“ will missio hierauf eine Antwort geben. Die zentrale Botschaft lautet: Kinder sind HIV/Aids und den Folgen hilflos ausgesetzt, sie sind besonders schutzbedürftig. THEMA JUGEND Nr. 2 Juni 2006 Jahresbericht 2005 der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V. erschienen Über die Arbeitsschwerpunkte der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V. informiert der 20-seitige Jahresbericht 2005. Themen sind: „Zusammenarbeit fördern – gemeinsam Positionen entwickeln“ oder „Stark machen für Partizipation von Kindern und Jugendlichen“. Im Bericht geht es auch um die fachliche und praktische Unterstützung der Jugendämter durch die Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V. Ein weiteres Thema ist der Kinder- und Jugendschutz für junge Flüchtlinge. Der Bericht kann als Einzelexemplar kostenfrei bezogen werden bei: Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V. Salzstraße 8 48143 Münster Telefon: (0251) 54027 Telefax: (0251) 518609 E-Mail: Kath.LAG.Jugendschutz.NW @t-online.de Informationen: E-Mail: [email protected] Internet: www.missio-aachen.de Telefon: (0241) 7507-00 THEMA JUGEND Zeitschrift für Jugendschutz und Erziehung erscheint vierteljährlich Herausgeber: Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V Salzstraße 8, 48143 Münster, Telefon (02 51) 5 40 27 oder 4 0142 Telefax (02 51) 51 86 09 E-Mail: [email protected] www.thema-jugend.de Redaktion: Georg Bienemann (gb) Fotos: Miriam Becker, Bad Sassendorf Neue Studie: Rechte Szene auch im Osten out HipHop, Skateboarder und Punks sind am populärsten – die Rechten stehen auch bei ostdeutschen Jugendlichen auf der Anti-Beliebtheitsskala ganz oben. Das fand eine aktuelle Untersuchung des Archivs der Jugendkulturen heraus. Ihr Fazit: „Die rechte Szene hat ihren Zenit überschritten. Die große Mehrzahl der ostdeutschen Jugendlichen will mit denen nichts mehr zu tun haben.“ 1001 Schülerinnen und Schüler aus allen neuen Bundesländern wurden in der Erhebung des Archivs der Jugendkulturen im Rahmen des „Culture on the Road“-Projektes befragt, 493 Jungen und 508 Mädchen aller Schulformen zwischen 14 und 18 Jahren. Das Ergebnis: Die rechte Szene führt die Antipathie-Skala der ostdeutschen Jugendlichen deutlich an, die HipHop-Szene, Punks und Skateboarder dagegen genießen die größten Sympathien. Die Gründe für die Ablehnung der Rechten: Die extreme Gewaltbereitschaft und ihr oft ebenso extremer Alkoholkonsum schrecken die Gleichaltrigen ab. Und: Die „Konkurrenz“ ist einfach attraktiver. So entscheiden sich schon 14-Jährige eher für die bunten statt braunen Szenen. „Obwohl die Erwachsenengesellschaft überwiegend davon überzeugt ist, dass die heutige Jugend immer gewalttätiger und moralisch-ethisch orientierungsloser wird, ist das Gegenteil richtig“, lautet das Fazit des Jugendforschers Klaus Farin. „Die Jugend ist besser als ihr Ruf. Keine Generation lehnt Gewalt und Intoleranz so sehr ab wie die Jugendlichen, keine legt so viel Wert auf Fairplay, Toleranz und ein gewaltfreies Miteinander. Würden mehr Erwachsene so denken wie die Jugend, wäre unsere Gesellschaft eindeutig zivilisierter.“ Redaktionsbeirat: Marianne Ammann, Fachhochschule Münster, FB Sozialwesen Prof. Dr. Joachim Faulde, Kath. Fachhochschule NW, Abteilung Paderborn Wilhelm Heidemann, Fachlehrer am August-VetterBerufskolleg, Bocholt Bernhard Jans, Institut für Freizeit und Tourismus GmbH i.G., Grafschaft Annette Wiggers, Jugendamt der Stadt Rheine Herstellung: Achenbach-Druck Römerstraße 36, 59075 Hamm Tel. (0 23 81) 97 00 40, Fax (0 23 81) 97 00 444 Bezugspreis: Einzelpreis 2,– € Der Bezugspreis für Mitglieder und Mitgliedsverbände der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion wieder. T H E M A J U G E N D wird auf chlorfreiem Papier gedruckt. Durch chlorfreie Bleiche entstehen keine chlorierten organischen Verbindungen mit Spuren von Dioxinen und Furanen, die die Abwässer belasten. Der beste umweltbewusste Umgang mit diesem Heft ist: Bitte weitergeben an andere Interessierte! ISSN 0935-8935 Themenschwerpunkt der nächsten Ausgabe: Intervention THEMA JUGEND 23 Katholische LAG Kinder- und Jugendschutz NW e.V. Salzstraße 8 · 48143 Münster Postvertriebsstück, Deutsche Post AG, „Entgelt bezahlt“, H 9851 THEMA JUGEND NACHRICHTEN Immer häufiger folgen Ausländerbehörden nicht den Empfehlungen der Härtefallkommission und ordnen trotzdem die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber an. War dies früher die „absolute Ausnahme“, registriert die Caritas in der Diözese Münster eine deutliche Zunahme dieser Fälle. 2005 hat die Härtefallkommission des Landes NRW nach eingehender Prüfung von rund 4.000 Anträgen in 60 Fällen festgestellt, dass die Rückführung eine besondere Härte bedeutet und eine Empfehlung für ein Bleiberecht ausgesprochen. „Dann hat die Ausländerbehörde das Recht, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen“, erklärt der Vorsitzende des Diözesan-Caritasverbandes Münster, Domkapitular Dieter Geerlings, und fordert: „Wenn das Land diese Möglichkeit eingerichtet hat, sollte sie nicht auf kommunaler Ebene ausgehebelt werden.“ Der PC ist auch im Kinderzimmer selbstverständlich geworden. Er wird von 92 Prozent aller Kinder zwischen neun und 14 Jahren in NRW genutzt. Dies ist ein Ergebnis des aktuellen „LBS-Kinderbarometers“, einer repräsentativen Umfrage unter 2.300 Schulkindern in Nordrhein-Westfalen. Die Deutsche Bischofskonferenz hat sich auf ihrer Frühjahrs-Vollversammlung bei einem ganztägigen Studientag unter dem Titel „Die Kirche hat der Jugend viel zu sagen, und die Jugend hat der Kirche viel zu sagen“ (Johannes Paul II. mit Perspektiven der Jugendpastoral befasst. Ziel des Studientages war es, die Herausforderungen in den Blick zu nehmen, die sich der Jugendpastoral in der heutigen Lebenssituation junger Menschen und angesichts der Veränderungen in der Kirche stellen. Der Vortrag des Vorsitzenden der Jugendkommission der DBK, Bischof Dr. Franz-Josef Bode (Osnabrück), ist unter http://dbk.de/presse/pm2006/Studientag/ VortragBischofBode.pdf nachzulesen, der Fachvortrag von Professor Dr. Martin Lechner (Benediktbeuern) unter http://dbk.de/ presse/pm2006/StudientagVortragLechner. pdf. Unter http://dbk.de/presse/pm2006/ StudientagGrundinfo.pdf sind für die Presse aufbereitete Hintergrundinformationen zur Jugendpastoral nachzulesen. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will die Verantwortung für gering qualifizierte Jugendliche offenbar an die Länder abgeben. „Wir müssen uns fragen, ob wirklich alle Aufgaben in unseren Förderbereich gehören“, sagte der stellvertretende BAVorsitzende Heinrich Alt dem Berliner „Tagesspiegel“. Im Zuge der von der Bundesregierung für das kommende Jahr angekündigten Reform der Arbeitslosenförderung wolle die Bundesagentur zur Schärfung ihres Profils über 80 Förderinstrumente überarbeiten und straffen. Auf dem Prüfstand stehe dabei auch die Qualifizierung Jugendlicher, die bisher Sache der Arbeitsagenturen sei. „Aus den Schulen kommen viele Jugendliche zu uns, die noch nicht für eine Ausbildung geeignet sind“, sagte Alt der Zeitung. Er forderte, dass die Bundesagentur künftig nur noch ausbildungsreife Jugendliche übernimmt. „Bis dahin sollten sie in der Obhut der Länder bleiben, schließlich ist Schulbildung Ländersache.“ (jpd) Kinder in Nordrhein-Westfalen fühlen sich mehrheitlich gut durch ihre Eltern unterstützt, wenn es um die Schule geht. Die meisten Kinder beim „LBS-Kinderbarometer“ gaben an, ihre Eltern interessierten sich sehr für die Leistungen des Nachwuchses in der Schule, so ein Ergebnis der repräsentativen Umfrage. (LBS) In Deutschland gelten mehr als drei Millionen Haushalte als überschuldet. Zudem werden Deutschlands Schuldnerinnen und Schuldner immer jünger. Im Jahr 2005 waren laut Schufa rund 200.000 junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 25 überschuldet. Aus diesem Grund hat das Verbraucherschutzministerium beschlossen, ein landesweites Netzwerk zur Stärkung des Finanzwissens bei Kindern, Jugendlichen und jungen Familien zu gründen. Insgesamt leiden rund 5 bis 10 Prozent aller Kinder in Deutschland heutzutage an chronischen Erkrankungen wie Allergien oder Asthma, haben einen angeborenen Herzfehler oder müssen mit epileptischen Anfällen rechnen, sind „zuckerkrank“ und müssen Insulin spritzen oder sind als „Zappelphillip“ hyperaktiv und deshalb auf Medikamente und auf besondere pädagogische Begleitung angewiesen. Genaue Angaben darüber, ob die gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei Kindern in den letzten Jahren zugenommen haben, liegen nicht vor. Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher haben allerdings den Eindruck, dass heute mehr gesundheitlich beeinträchtigte Kinder die pädagogischen Einrichtungen besuchen als früher. (BZgA) Nach den Ergebnissen der KIM-Studie 2005 haben Eltern zu Computer und Internet ein zwiespältiges Verhältnis: Während die Beschäftigung der Kinder mit dem Computer als nützlich oder gar unverzichtbar eingeschätzt wird, ist das Internet deutlich negativer besetzt. Die meisten Eltern sind der Ansicht, dass das Internet für Kinder gefährlich ist und sie nur surfen sollten, wenn ein Schutzprogramm auf dem Computer installiert sei. Die Realität sieht dann aber anders aus: Nur etwa ein Viertel der Eltern hat zu Hause eine entsprechende Software im Einsatz. Insgesamt herrscht bei vielen Eltern Ratlosigkeit vor – Filterprogramme sind meist unbekannt, Informationen aus Sicht der Eltern eher Mangelware. (mpfs) Die nächste Ausgabe von THEMA JUGEND kommt am 26. Sept. 2006.