zu sehr lieben

Transcription

zu sehr lieben
Robin Nonvood
Wenn Frauen
zu sehr lieben
Die heimliche Sucht,
gebraucht zu werden
Deutsch
von Sabine Hedinger
Rowohlt
Die Originalau*gabeerrchien 1985 unter dem Titel
uWomen Who Lovc Too Much: When Yau Keep Wirhing
and Hoping He'ii Change»
im Verlag Jeremy P. Tarcber. Los Angelea
Quellmhinweise s. Seite 341
Redaktion: Frauke Rdf
Umrchlaggcstaltung: Annette Brodda
r.-175. Tausend August 1986 bisJuni 1987
176.-195. Tausend August I987
196.-235. Tausend August 1987
Für die deutsche Ausgabe
Copyright O 1986 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
nWomen Who Love Too Muchx
Copyright G 1985 by Robin Norwood
AUe deutschen Rechte vorbehalten
Satz aus der Bembo (Linotron 202)
Genamthersteiiung Clausen 81 Bosse. Leck
Printed in Gemany
ISBN 3 498 04626 8
Dieses Buch
ist den anonymen Gemeinschaften gewidmetin Dankbarkeit für die Unterstützung.
die sieBetroffenen
bei ihrer Genesung bieten.
Inhalt
Vorwort 9
Wenn Liehe nicht erwidert wird
15
Viel Sex um nichts 44
Wenn ich für dich leide, wirst du mich dann lieben? 68
Das Bedürfnis, gebraucht zu werden
88
Wollen wir tanzen? 106
Männer, die sich zu sehr lieben lassen I33
Die Schöne und das Tier
170
Wenn eine Sucht die andre nährt
221
Aus Liebe sterben 238
Der Weg zur Genesung 265
Genesung und Nähe- die Lücke schließt sich 3 I I
Anhang
Wie Sie eine Selbsthilfegruppe gründen können 327
Wo Sie Hilfe finden können
Affirmationen
Dank
345
Register 346
342
333
Vorwort
W
I
1
1
enn Liebe für uns gleichbedeutend ist mit
Schmerz und Leiden, dann lieben wir zu
sehr. Wenn Gespräche mit unseren engsten Freundinnen sich
meistens nur um unseren Partner drehen, um seine Probleme,
seine Gedanken, seine Gefühle-wenn fast alle unsere Sätze mit
<<Er.
. .n anfangen, dann lieben wir zu sehr.
Wenn er sich uns gegenüber launisch, gereizt oder gleichgültig verhalt, wenn er uns vielleicht sogar demütigt und wir dieses Verhalten mit seiner unglücklichen Kindheit entschuldigen, wenn wir uns sozusagen zu seiner Therapeutin machen,
dann lieben wir zu sehr.
Wenn wir ein Selbsthilfebuch lesen und all die Steilen unterstreichen, von denen wir glauben, daß sie ihm helfen könnten,
dann liehen wir zu sehr.
Wenn wir viele seiner Charakterzüge, Einstellungen und
Verhaltensweisen eigentlich ablehnen, sie aber in dem Glauben
hinnehmen, daß er sichuns zuliebe ändern wird, wenn wir nur
attraktiv und verständnisvoll genug sind, dann lieben wir zu
sehr.
Wenn die Beziehung zu einem Partner unser seelisches
Wohlergehen, vielleicht sogar unsere körperliche Gesundheit
und Sicherheit gefährdet, dann lieben wir zweifellos zu sehr.
Zu sehr lieben - diese Erfahrung ist unbefriedigend, sogar
schmerzhaft, aber unter Frauen so weitverbreitet, daß wir versucht sind zu glauben, sie gehöre zum Wesen einer wirklich
engen Beziehung. Die meisten von uns haben zumindest einmal im Leben zu sehr geliebt, und viele Frauen tun dies immer
wieder aufs neue. Einige von uns sind dermaßen auf ihren
Partner fixiert, daß sie kaum noch in der Lage sind, mit ihrem
Alltag zurechtzukommen.
In diesem Buch werden wir uns mit der Frage befassen, aus
welchem Grund viele Frauen, die einen liebevollen Partner suchen, scheinbar unvermeidlich Beziehungen eingehen, die
9
schädlich fur sie sind und in denen sie nicht geliebt werden.
Wir werden zudem untersuchen, woran es liegt, daß wir so
große Schwierigkeiten haben, eine Beziehung zu beenden,
von der wir wissen, daß sieunseren Bedürfnissen nicht gerecht
wird. Wir werden erkennen können, daß «lieben* sich in uzu
sehr lieben* verkehrt, wenn wir einen Partner haben, der nicht
zu uns paßt, der lieblos oder unzugänglich ist und wenn wir
dennoch nicht in der Lage sind, ihn aufzugeben, sondern ihn
statt dessen nur noch mehr begehren, noch mehr brauchen.
Wir werden lernen zu verstehen, wie aus unserem Wunsch
nach Liehe, aus der Liebe, die wir unserem Parmer entgegenbringen, eine Sucht wird.
Sucht ist ein Wort, das Angst macht. Mit (Sucht, verbinden
wir Vorstellungen von Heroinabhangigen, die sich selbst zugrunde richten. Wir mögen dieses Wort nicht und wehren uns
dagegen, es aufunsereBeziehungenzu Männern anzuwenden.
Aber viele von uns sind «männersüchtig»oder sind es zumindest gewesen, und wie beijeder anderen Abhängigkeit müssen
wir uns erst einmal eingestehen, wie schwerwiegend unser
Problem ist, bevor wir uns auf den Weg zur Heilung machen
können.
Wenn Sie jemals auf einen Mann total fudert waren, dann
haben Sie vielleicht schon vermutet, daß diese extreme Hinwendung gar nicht aufLiebe, sondern auf Angst basierte. Diejenigen, die so obsessiv lieben, stecken voller Angst: Angst
davor, allein zu sein, Angst davor, nicht liebenswert oder überhaupt wertlos zu sein, Angst davor, nicht beachtet, verlassen
oder zugrunde gerichtet zu werden. Wir lieben mit der verzweifelten Hoffnung, daß der Mann, auf den wir fixiert sind,
uns genau diese Ängste nehmen wird. Statt dessen werden die
Ängste größer -und damit auch die Ausmaße der Fixierung -,
bis wir an dem Punkt angelangt sind, an dem «Lieben, um
geliebt zu werden» zur treibenden Kraft in unserem Leben
wird. Weil unsere Strategie aber nicht zum Erfolg führt, wollen wir um so mehr Liebe geben. Wir lieben zu sehr.
Daß es sich bei diesem «Zu-sehr-Lieben* um ein ganz besonderes Syndrom, ein Zusammenwirken von Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen handelt, habe ich erstmals nach
I0
jahrelanger Beratungsarbeit im Bereich Alkohol- und DrogenmiL7brauch erkannt. Nachdem ich Hunderte von Gesprächen mit Abhängigen und ihren Familien gefuhrt hatte,
machte ich eine überraschende Entdeckung: Manche der Patienten, mit denen ich sprach, waren in gestörten Familien aufgewachsen, andere wiedemm nicht, aber ihre Partner stammten fast durchgehend aus schwer gestörten Familien, in denen
sie seelische und körperliche Belastungen in einem Ausmaß
erfahren hatten, wie es im allgemeinen nicht üblich ist. Bei
ihrem ständigen Bemühen, mit dem alkoholahhangigen Partner zurechtzukommen, ließen diese Menschen (die sogenannten Co-Alkoholiker) unbewußt bedeutsame Aspekte ihrer eigenen Kindheit wiederaufleben.
Vor allem die Frauen und Freundinnen alkobolabhängiger
Männer lehrten mich zu verstehen, was es wirklich bedeutet,
zu sehr zu liehen. ihre Lebensgeschichten offenbarten alle
sowohl ein Bedürfnis nach Uberlegenheit als auch den Wunsch
zu leiden - heides erfuhren sie in ihrer *Rettern-Rolle -, und
das half mir wiederum zu erkennen, wie tiefverwurzelt ihre
Abhängigkeit von einem Mann war, der seinerseits in Abhängigkeit von einer chemischen Substanz lebte. Offensichtlich
benötigten beide Partner in einer solchen Beziehung gleichermaßen Hilfe, denn beide gingen an ihrer Abhängigkeit buchstäblich zugrunde: er an den Folgen des Drogenmißhrauchs,
sie an den Folgen extremer seelischer Belastung.
Durch diese Co-Alkoholikerinnen wurde mir deutlich, welchen Einfluß, welche Macht ihre Kmdheitserlebnisse darauf
hatten, wie sie als Erwachsene die Beziehungen zu Mannern
gestalteten. Diejenigen von uns, die zur Selbstaufgabe neigen,
können von diesen Frauen lernen, warum wir eine «Vorliebe»
für gestörte Beziehungen entwickelt haben, warum wir uns
immer wieder in dieselben Schwierigkeiten bringen, aber vor
allem, wie wir uns ändern und gesund werden können.
Keinesfalls sollte hier der Eindruck entstehen, nur Frauen
könnten z u sehr lieben. Es gibt durchaus auch Männer, die sich
mit derselben Besessenheit in Beziehungen stürzen, wie es so
viele Frauen tun. Die Gefühle und Verhaltensweisen dieser
Männer entspringen denselben Kindheitserlebnissen, denselII
ben Triebkräften. Trotzdem entwickeln Männer, die in ihrer
Kindheit geschädigt wurden, nur selten eine Abhängigkeit
von Beziehungen. Infolge einer Wechselwirkung zwischen
kulturellen und biologischen Faktoren versuchen sie im allgemeinen, sich zu schützen und ihrem Schmerz aus dem Weg zu
gehen, indem sie Ziele anstreben, die eher außen als innen liegen, die mehr unpersönlicher als persönlicher Art sind. Diese
Männer neigen eher zu einer Fixierung auf Arbeit, Sport oder
ein Hobby, während Frauen auf Grund der kulturellen und
biologischen Einflüsse, denen sie ausgesetzt sind, dazu tendieren, sich auf eine Beziehung zu fixieren - vielleicht gerade auf
die Beziehung mit einem solchen emotional beeinträchtigten.
abweisenden Mann.
Ich hoffe, daß dieses Buch allen Betroffenen hilfreiche Anstöße geben kann, aber ich habe es in erster Linie für Frauen
geschrieben, weil nzu sehr lieben* in erster Linie ein weibliches
Phänomen ist. Somit verfolgt mein Buch ein spezielles Ziel:
den Frauen, deren Beziehungen zu Männem destruktive Muster aufweisen, zu helfen, diese Tatsache zu erkennen, die Ursprünge dieser Muster zu verstehen und sich das anzueignen,
was für eine positive Veränderung ihres Lebens notwendig ist.
Wenn die Bezeichnung «zu sehr lieben" auf Sie zutrifft und
die Lektüre Sie trotzdem kaltl'äßt, wenn Sie sich dabeilangweilen, vielleicht sogar ärgern oder wenn Ihnen dabei nur in den
Sinn kommt, wie sehr dieses Buch einem anderen Menschen
helfen könnte, dann schlage ich Ihnen vor, es vielleicht zu
einem späteren Zeitpunkt erneut zu lesen. Wir alle müssen gelegentlich Erkenntnisse abwehren, weil es zu schmerzhaft oder
zu bedrohlich für uns wäre, sie zu akzeptieren. Diese Abwehr
ist ein ganz natürlicher Selbstschutz, der sich automatisch,
ohne unser Zutun einstellt. Vielleicht erreichen Sie ja beim
nochmaligen Lesen, daß Ihnen bestimmte eigene Erfahrungen
und Gefühle wieder stärker ins Bewußtsein rücken.
Lesen Sie langsam. Lassen Sie die Schilderungen der hier
vorgestellten Frauen sowohl verstandes- als auch gefüblsmäßig auf sich einwirken. Die Fallgeschichten in diesem Buch
werden bei Ihnen vielleicht den Eindruck erwecken, ich hatte
besonders extreme Beispiele gewählt. Aber das stimmt nicht.
Ich habe es berufich wie auch privat mit Hunderten von
Frauen zu tun gehabt, die zu sehr lieben, und ihre persönlichen
Merkmale, Eigenarten und Erlebnisse sind hier keinesfalls
übertrieben dargestellt. In Wirklichkeit sind die Schicksale dieser Frauen noch viel komplizierter und leidvoller. Wenn Ibnen
diese Probleme nun weitaus schwerwiegender und bedrükkender als Ihre eigenen vorkommen, dann ist dies eine Reaktion, wie ich sie nur allzugut von den meisten meiner Klientinnen kenne. Jede glaubt, ihr eigenes Problem sei «nicht so
schlimm», während sie gleichzeitig großes Mitgefühl für andere aufbringt, die ihrer Meinung nach «echte»Schwierigkeiten haben.
Es ist eine <Ironie des Schicksals», daß wir Frauen so viel
Sympathie und Verständnis für das Leid anderer Menschen
entwickeln können, während wir offenbar blind für (und
durch) unser eigenes Leid sind. Ich selbst weiß dies nur allzugut, denn auch ich habe die meiste Zeit meines Lebens zu sehr
geliebt, bis irgendwann der Tribut an meine körperliche und
seelische Gesundheit so hoch wurde, daß ich mich gezwungen
sah, meine Beziehungsmuster im Umgang mit Männern einer
genauen Prüfung zu unterziehen. Jahrelang habe ich hart daran
gearbeitet, diese Muster zu ändern. Die Arbeit hat sichinjeder
Hinsicht gelohnt.
Ich hoffe, daß dieses Buch Ihnen allen als Betroffenen helfen
wird, Ihren Zustand realistischer einzuschätzen. Ich wünsche
mir auch, daß Sie daraus den Mut schöpfen, eine grundlegende
Veränderung in Angriff zu nehmen, indem Sie ihre Energie
nicht mehr dafür einsetzen, sich in der Liebe zu einem Mann zu
verzehren, sondern sie für sich selbst, Ihre Genesung, Ihr eigenes Leben zu nutzen.
Ich beschreibe in diesem Buch eine Reibe von Schritten, die
meiner Erfahrung nach zur Verändemng notwendig sind.
Sollten Sie sich entscheiden, diese Anleitung zu befolgen, dann
müssen Sie- wie bei allen therapeutischen Prozessen-mitjahrelanger Arbeit rechnen, die Ihren ganzen Einsatz fordert. <Zu
sehr lieben* ist ein Muster, aus demes kein schnelles Entrinnen
gibt. Ein so früh erworbenes, so gut eingeübtes Muster aufzugeben, ist angsterregend und bedrohlich und bedeutet eine
ständige Herausforderung. Diese Tatsache sollte Sie jedoch
nicht entmutigen, denn selbst wenn Sie Ihr Beziehungsmuster
nicht aufgeben, werden Sie auch in Zukunft kämpfen müssen.
Aber in diesem Faii wird es bei Ihrem Kampf nicht um persönliche Weiterentwicklung gehen, sondern einfach nur ums
Uherleben. Die Entscheidung kann Ihnen niemand abnehmen. Falls Sie sich jedoch für den Weg der Veränderung entscheiden, werden Sie sich verwandeln: von einer Frau, die
einen anderen Menschen so sehr liebt, daß es schmerzt, in eine
Frau, die sich selbst genug liebt, um dem Schmerz ein Ende zu
setzen.
Wenn Liebe nicht erwidert
wird
Victim of love,
I See a broken heart.
You've got your Story to teU.
Victim oflove;
It's such an easy patt
And you knowhow to play it
so well.
... I thiik you know
what I mean.
You're walking the wire
Of pain and desire,
Looking for love in between.
- Victim of Love
1.
n unserer ersten Sitzung machte Jill, einejunge,
zierliche Frau mit blondem Lockenkopf, einen
eher unsicheren Eindruck. Verkrampft saß sie mir gegenüber,
aufdem äußersten Rand ihres Stuhles. Dabei wirkte alles anihr
rundlich: die Gesichtsform, die etwas mollige Figur und ganz
besonders die blauen Augen, die jede einzelne der gerahmten
Urkunden an der Wand musterten. Nachdem sie mir ein paar
Fragen über meine akademische Ausbildung und die Praxiszulassung gestellt hatte, erwähnte sie mit deutlich hörbarem
Stolz, daß sieJurasmdentin sei.
Danach entstand ein kurzes Schweigen. Sie blickte auf ihre
gefalteten Hände hinunter.
«Vielleicht sollte ich Ihnen besser gleich erzählen, warum
ich hier bin,,, sagte sie hastig, als wollte sie sich mit dieser
Eröffnung selbst Mut zusprechen.
nlch habe mich zu diesem Schritt entschlossen-eine Thera-