Der Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn

Transcription

Der Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn
Der Papierverarbeitungs-Cluster
im Raum Heilbronn
Abschlussbericht
Prof. Dr. Peter Kirchner
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Abteilung Geographie
Untersuchung im Auftrag der IHK Heilbronn-Franken
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Herausgeber
Peter Schweiker
IHK Heilbronn-Franken
Ferdinand-Braun-Straße 20
74074 Heilbronn
Telefon 07131-9677-0
Telefax 07131-9677-243
E-Mail [email protected]
Internet http://www.heilbronn.ihk.de
Autor
Prof. Dr. Peter Kirchner
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Abteilung Geographie
Reuteallee 46
71634 Ludwigsburg
Juni 2010
2
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Der Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn
Cluster-Struktur
Dem historischen Attribut einer Papierstadt wird Heilbronn auch heute noch gerecht. Mit 14,1
Prozent war der Anteil der Beschäftigten im Papier-, Verlags- und Druckgewerbe im Stadtkreis Heilbronn 2008 nach wie vor überdurchschnittlich hoch (Tab. 1). Absolut gesehen ist
die Zahl der Beschäftigten in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen, weil ein großes Traditionsunternehmen der Papierbranche, die Firma Landerer, ihren Standort aus Platzmangel
über die Stadtgrenzen hinaus verlagert hat.
Tab. 1: Beschäftigte im Papier-, Verlags- und Druckgewerbe in der Region HeilbronnFranken nach Kreisen 2008
Stadtkreis Heilbronn
Landkreis Heilbronn
Landkreis Hohenlohekreis
Landkreis Schwäbisch Hall
Landkreis Main-Tauber-Kreis
Heilbronn-Franken
Baden-Württemberg
Papier, Verlag
und Druck
1.863
2.122
415
1.690
340
6.430
67.206
Verarbeitendes Anteil Papier, Verlag
Gewerbe
und Druck in %
13.251
14,1
47.888
4,4
18.552
2,2
23.984
7,0
18.674
1,8
122.349
5,3
1.254.198
5,4
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, eigene Berechnungen
Ein Wachstum hat zeitgleich das Umland von Heilbronn erfahren, weil sich hier bestehende
Druckereien zu Faltschachtelherstellern entwickelt und weitere Faltschachtelunternehmen
neu gegründet haben. Im Gegensatz zu den anderen Papier verarbeitenden Branchen hat
die Faltschachtelindustrie seit den 1960er Jahren ein dynamisches Wachstum erfahren. Der
Verpackungsdruck von Faltschachteln ist heute mit 1.400 Beschäftigten in acht Unternehmen der größte Zweig innerhalb der Papier verarbeitenden Unternehmen im Raum Heilbronn. An zweiter Stelle folgt der Schul- und Bürobedarf mit zwei Unternehmen und 950
Beschäftigten (Tab. 2). Die amtliche Statistik weist für den Stadt- und Landkreis Heilbronn für
das Jahr 2008 knapp 4.000 Beschäftigte in 26 Unternehmen aus. 21 Unternehmen mit 2.875
Beschäftigten, darunter vier Unternehmen aus dem westlichen Hohenlohekreis, konnten in
die vorliegende Studie einbezogen werden. Die Hälfte der erfassten Unternehmen und Beschäftigten gehören zum Stadtkreis Heilbronn. Unter Ausklammerung der Branche
„Spezialisierte Druckereien“, von der nur wenige Unternehmen erfasst wurden, handelt es
sich um eine Vollerhebung.
Tab. 2: Stichprobe der Papier verarbeitenden Unternehmen im Raum Heilbronn nach Branchen (Quelle: eigene Erhebung 2009)
Branche
Verpackungsdruck Faltschachteln
Verpackungsdruck Beutel und Tüten
Verpackungsdruck Tragetaschen
Schul- und Bürobedarf
Briefhüllen und CD-Hüllen
Spezialisierte Druckereien
Gesamt
Unternehmen
8
2
3
2
3
3
21
3
Beschäftigte
1.400
45
25
950
225
230
2.875
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Cluster-Genese
Für die Entstehung und Entwicklung der Heilbronner Industrie hat die Papier- und Papiermaschinenproduktion eine wichtige Schrittmacherfunktion gehabt. Die Pioniere der mechanischen Papierproduktion in Heilbronn waren Gustav Schaeuffelen und die Gebrüder Rauch
mit ihren beiden Papierfabriken. Gustav Schaeuffelen kaufte 1822 die Ebbeckesche Papiermühle in Heilbronn. Im gleichen Jahr begannen die Gebrüder Rauch ihre auf der gegenüberliegenden Neckarseite gelegene Öl- und Tabakmühle zu einer mechanischen Papierfabrik
umzurüsten (Schmidt 1994, S. 251). Mit dem Wettlauf um die mechanische und damit industrielle Fertigung des bis dahin handwerklich geschöpften Papiers zwischen Schaeuffelen und
den Gebrüdern Rauch begann die Industrialisierung Heilbronns. Beide Papiermühlen beschritten zunächst unterschiedliche Wege.
Die Gebrüder Rauch entstammten einer angesehenen und wohlhabenden Heilbronner
Kaufmannsfamilie und verfügten damit sowohl über die kaufmännische Kompetenz als auch
die notwendigen finanziellen Mittel für den Import einer Papiermaschine nebst Peripherieanlagen und Fachpersonal aus England. Als Folge dieses frühindustriellen Technologietransfers aus dem Mutterland der Industrialisierung konnte 1825 die maschinelle Papierfertigung
in der Papierfabrik der Gebrüder Rauch anlaufen (ebd., S. 208).
Angespornt durch die Rauch´schen Aktivitäten unternahm auch Gustav Schaeuffelen Anstrengungen zur Mechanisierung seiner Produktion. Aus Kapitalmangel suchte er sein Heil
aber nicht im Import einer englischen Maschine, sondern in der Entwicklung und dem Bau
einer eigenen Papiermaschine. Dieses Unterfangen führte durch die wesentliche Mitarbeit
des einheimischen Mechanikers Johann Jakob Widmann 1830 zur Inbetriebnahme der ersten in Deutschland konstruierten und gebauten Papiermaschine in der Papierfabrik Gustav
Schaeuffelen. Diese Maschine stand der englischen Importmaschine der Gebrüder Rauch
technisch in nichts nach, war jedoch deutlich billiger (Klagholz 1986, S. 85). In den 1830er
und 1840er Jahren bauten Schaeuffelen und Widmann als Pioniere der deutschen Papiermaschinenindustrie in jeweils eigenen Papiermaschinenfabriken um die 50 Papiermaschinen.
Ende der 1840er leiteten eine Wirtschaftskrise und die politischen Unruhen das Ende des
Papiermaschinenbaus in Heilbronn ein. Gustav Schaeuffelen verstarb 1848 und 1849 wanderte der zwar technisch hochbegabte, aber kaufmännisch glücklose Maschinenbauer Johann Jakob Widmann in die USA aus, wo sich seine Spuren verlaufen (Schmidt 1994, S.
329).
Während der Papiermaschinenbau in Heilbronn bloß eine knapp drei Jahrzehnte währende
Episode blieb, wuchsen die beiden Papierfabriken Gustav Schaeuffelen und Gebrüder
Rauch schnell zu den größten Industriebetrieben Heilbronns heran. Die anfänglich deutlich
größere Papierfabrik der Gebrüder Rauch wurde bereits 1842 von der Konkurrenzfirma
Schaeuffelen überholt, die 1923 mit 535 Mitarbeitern ihren Höchststand erreichte (Tab. 1).
Tab. 3: Beschäftigtenentwicklung der Papierfabriken Schaeuffelen und Rauch (Aus: Schmid
1993, S. 70)
Gebrüder Rauch
Gustav Schaeuffelen
1832
1842
1879
1897
1904
1923
110
180
300
300
250
k.A.
20
200
350
400
325
535
4
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Nach der Inflation 1923 strebten die beiden ehemals erbitterten Konkurrenten die Fusion
zum damals größten Feinpapierkonzern Deutschlands an. Doch noch vor der Vollendung der
Vereinigung geriet Schaeuffelen in große wirtschaftliche Schwierigkeiten, die 1926 zur Liquidation führten. Die Papierfabrik Gebrüder Rauch konnte sich zwar aus diesem Strudel retten,
wurde jedoch 1942 kriegsbedingt stillgelegt und bei zwei Bombenangriffen 1944 und 1945
völlig zerstört (Feyerabend 1987, S. 25f.). Damit ging die Ära der Papierherstellung ebenso
wie schon 100 Jahre zuvor der Papiermaschinenbau zu Ende.
Faltschachtelindustrie
Den Ruf Heilbronns als Papierstadt haben nach dem Zweiten Weltkrieg die Papier verarbeitende Industrie und der Papierhandel aufrecht erhalten. Neben den beiden Produzenten
von Feinpapier waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die sich in Heilbronn entwickelnden Industriezweige sowie das Aufblühen von Handel und Verkehr eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung eines Vervielfältigungsgewerbes. An der Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert zählte Heilbronn um die 20 Buchdruckereien und Lithographische Anstalten.
Aus diesem Pool haben sich einige heute noch bestehende Unternehmen der Faltschachtelindustrie entwickelt.
Das älteste ist die Firma Landerer, deren Wurzeln in Heilbronn bis 1837 zurückreichen. Damals gründete Albert Friedrich Landerer in der Kramstraße, heute Kaiserstraße 26, ein Ladengeschäft für Papierwaren. Die Fabrikation von Papiertüten und Säcken leitete 1865 den
Wandel zum Produktionsunternehmen ein, der 1906 mit dem Auftrag zur Herstellung von
Schiebeschachteln für den Zigarettenhersteller Waldorf-Astoria in Stuttgart seinen entscheidenden Schub erhielt. Grundlegende Kompetenzen zur Herstellung von Faltschachteln
müssen schon vor diesem Auftrag bestanden haben, die dazu notwendigen Maschinen
waren jedenfalls bereits vorhanden. Wahrscheinlich ist auch, dass bereits Faltschachteln für
die Nähseidenfabriken Ackermann in Sontheim und Amann in Bönnigheim gefertigt wurden.
Fortan trieb die Firma Landerer die Spezialisierung auf das Faltschachtelgeschäft voran. Mit
der räumlichen Ausweitung durch den Zukauf der alten Bruckmann´schen Silberwarenfabrik
und anderer Gebäude entstand 1919 beinahe ein Gebäude-Viereck zwischen der Allerheiligen- und Deutschhofstraße bzw. Metzger- und Fischergasse. Dieses sogenannte
Landerer-Areal fiel 1988 der Abrissbirne zum Opfer. Heute steht dort das Einkaufszentrum
Stadtgalerie Heilbronn. Vom Ladengeschäft trennte man sich 1922 durch die Übergabe an
Fritz Seel. Zwischen den beiden Weltkriegen entwickelte sich die Firma Landerer dann zu
einem der größten Faltschachtelhersteller in Süddeutschland. Dem schweren Luftangriff auf
die Heilbronner Innenstadt am 4. Dezember 1944 fiel auch das Landerer-Areal zum Opfer.
Nach einem Produktionsintermezzo bei der Sontheimer Zwirnerei Ackermann, die ein
wichtiger Kunde war, konnte das Unternehmen 1949 wieder in die Heilbronner Innenstadt
zurückkehren. Das Unternehmenswachstum und Rationalisierungsmaßnahmen haben seither eine zweimalige Unternehmensverlagerung – 1974 in die Rötelstraße nach Neckarsulm
und 2009 in den Gewerbe- und Industriepark Unteres Kochertal in Neuenstadt – notwendig
gemacht. Die Beschäftigtenzahl ist nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich auf 300 gestiegen1.
Neben der Abspaltung des heute noch bestehenden Papier- und Schreibwarengeschäftes
Seel ist aus der Firma Landerer durch Ausgründung der mittlerweile größte Faltschachtel5
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
hersteller in der Region entstanden. 1969 machte sich Peter Schnizer, der bei Landerer
schon eine Lehre durchlaufen hatte, zusammen mit zwei weiteren leitenden Mitarbeitern
selbständig und gründete die Firma Cartondruck. Erster Firmensitz war ein Büro im Rathaus
von Obersulm-Willsbach, von wo aus die Vertriebsaktivitäten geleitet wurden. Die Produktion
fand zunächst in über den Ort verteilten angemieteten Räumen statt. Noch im Jahr der
Gründung erfolgte dann aber schon der Kauf eines Grundstücks in den Schrebergärten südlich des Ortskerns. Dort ist das Unternehmen über mehrere Bauabschnitte kontinuierlich gewachsen. Bezeichnenderweise erhielt die Erschließungsstraße des mit der Firma Cartondruck entstehenden Industriegebiets den Namen Senefelderstraße. Alois Senefelder erfand um 1800 das Steindruckverfahren, seine später folgenden Versuche mit verschiedenen
Metalldruckplatten lieferten die Grundlage für den Offsetdruck. Die Vision von Peter Schnizer
und seinen beiden Mitgründern Siegbert Sangel und Gerhard Kircher, sich auf hochwertige
Verpackungen zu konzentrieren, ging voll auf. Verschiedene Formen der Veredelung von
Faltschachteln wie z.B. der Prägefoliendruck waren die Voraussetzung für den Aufstieg des
Unternehmens zu einem der wichtigsten Entwicklungspartner für die Kosmetikindustrie. Der
Globalisierung dieser Industrie folgend baute Cartondruck 1999 in den USA und 2006 in Polen Produktionsstandorte mit jeweils 70 Beschäftigten auf. Am Stammsitz in Willsbach hatte
das Unternehmen 40 Jahre nach seiner Gründung 400 Mitarbeiter. Seit dem Ausscheiden
des Firmengründers Peter Schnizer im Jahr 2004 leiten seine beiden Söhne Marc und Steffen das Unternehmen in alleiniger Verantwortung.
Das zweitälteste Faltschachtelunternehmen ist die seit 1866 bestehende Firma Höhing. Damals gründete Jakob Friedrich Paul Höhing eine Buchbinderei, die später durch ein Schreibwarengeschäft und die Herstellung von Schachteln aus Pappe ergänzt wurde. Schon vor der
Wende zum 20. Jahrhundert fertigte man Musterkoffer für die Außendienstmitarbeiter des
Lebensmittelherstellers Knorr und der Silberwarenfabrik Bruckmann. Aus dieser ersten Geschäftsbeziehung heraus entwickelte sich eine jahrzehntelange Zulieferverflechtung für die
Besteckschachteln der Firma Bruckmann. Bis zum Konkurs 1971 blieb Bruckmann der wichtigste Kunde der Firma Höhing. Zuvor hatten auch schon andere Heilbronner Kunden wie die
Flammer Seifenwerke ihre Produktion aufgegeben. Seither hat sich die Firma Höhing mit
einem die Faltschachtelherstellung ergänzenden Dienstleistungsangebot auf einen deutschlandweiten Markt umorientiert2.
1896 gründeten der gelernte Kaufmann Alfred Weisert und der Lithograph Carl Daur eine
Lithografische Kunstanstalt. Schon früh stellte das junge Unternehmen in den Bereichen
Stein- und Buchdruck Geschäftspapiere und Werbemittel für Kunden in ganz Süddeutschland her. Der Durchbruch gelang mit dem Druck von Plakaten und Etiketten für die große
Industrie-, Gewerbe- und Kunstausstellung in Heilbronn im Jahr 1897, der bis dahin größten
Gewerbeschau in Württemberg. Die gute Geschäftsentwicklung ermöglichte bereits 1898
den Einzug in ein eigenes Betriebsgebäude in der Heilbronner Staufenbergstraße, heute
Innsbrucker Straße. Hier entwickelten sich Papiereinschläge und Papierhüllen für Markenartikel aus der Nahrungsmittelindustrie, z.B. Verpackungen für die Suppenwürfel von Maggi,
zum Hauptgeschäft. Bereits 1910 musste das Betriebsgebäude um das Doppelte vergrößert
werden. Dem Wunsch der Kunden nach stabileren und stapelbaren Verpackungen entsprach
das Unternehmen 1926 durch den Aufbau einer Faltschachtelabteilung. Diese Abteilung
entwickelte sich so gut, dass 1928 ein weiteres Fertigungsgebäude in der Luisenstraße er6
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
richtet werden musste. Der Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges
war dann aber von Problemen überschattet. Zum einen galt es den schwierigen Technologiewandel zu bewältigen, und zum anderen sah man sich nach dem Tod von Walter
Weisert 1957 dem Problem der Nachfolge ausgesetzt. Nach dem Eintritt von Robert
Esenwein senior, dem ehemaligen Gesamtbetriebsleiter der Stuttgarter Druckerei Stähle und
Friedel, folgte durch die Spezialisierung auf die Herstellung von Faltschachteln in den 1960er
Jahren eine Konsolidierungsphase (Weisert&Daur 1996). Zu den damals belieferten Kunden
zählten neben der Heilbronner Firma Flammer, für die Waschmittelschachteln produziert
wurden, vor allem Unternehmen von auswärts, wie z.B. Märklin in Göppingen. Durch diese
günstige Entwicklung war die Innenstadtlage von Weisert&Daur aus räumlichen und
logistischen Gründen nicht mehr länger tragbar. Ende der 1970er Jahre erfolgte deshalb die
Verlagerung des Unternehmens in einen Neubau in der Benzstraße beim Heilbronner Osthafen. Mit einem umfassenden Produktionsprogramm für Verpackungen und Displays inklusive Dienstleistungen wie Konfektionierung und Logistik wuchs das Unternehmen dort auf
80 Beschäftigte3.
Die Geschichte der heutigen Firma MM Packaging Schilling in der Knorrstraße südlich der
Innenstadt von Heilbronn ist durch die Zulieferung von Verpackungsmaterialien an jeweils
einen Hauptkunden gekennzeichnet. Bis in die 1960er Jahre produzierte die Großdruckerei
Schilling für den in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Lebensmittelhersteller Knorr Werbemittel und Verpackungen. Das Unternehmen Schilling wurde 1902 von Karl W. Schilling
gegenüber dem Fabriktor von Knorr zunächst als Lithographische Kunstanstalt gegründet.
Das Grundstück hatte Schilling von Knorr erworben. Die Produktion wurde mit Maschinen
und Steinen der liquidierten Lithographischen Anstalt C. Rembold begonnen (Jacobi 1988, S.
29). Der Aufbau eines „Haus- und Hoflieferanten“ direkt vor dem Fabriktor von Knorr hängt
mit verwandtschaftlichen Verflechtungen zusammen. Der Sohn des technischen Direktors
von Knorr, Herr Eberhardt, war mit der Tochter von Karl W. Schilling verheiratet. Gemeinsam
gründeten Karl W. Schilling und sein Schwiegersohn das Zulieferunternehmen für Knorr.
Über sechs Jahrzehnte blieb die Lithographische Kunstanstalt und spätere Großdruckerei
Schilling der wichtigste Lieferant von Werbemitteln und Verpackungsmaterialien für Knorr.
Nach dem Verkauf von Knorr an Maizena, der deutschen Tochter des amerikanischen Lebensmittelkonzerns CPC, lief die Zulieferverflechtung nach einer Übergangszeit aus. 1964
begann eine neue Ära der Zulieferverflechtung mit dem amerikanischen KonsumgüterKonzern Procter&Gamble, der in diesem Jahr seine erste deutsche Produktionsniederlassung für Waschmittel in Worms eröffnete. Zu den Waschmittelverpackungen kamen
später Kartons für Windelhöschen hinzu. Die enorme Expansion von Procter&Gamble auf
dem europäischen Markt ermöglichte der Großdruckerei Schilling die Entwicklung zum
größten Waschmittelverpackungshersteller in Europa. Voraussetzung dafür war der Bau von
großzügigen und rationellen Produktionsanlagen auf dem stillgelegten Gelände der benachbarten Zuckerfabrik. Bis heute ist Procter&Gamble der wichtigste Kunde geblieben. Aufgrund
der guten internationalen Zusammenarbeit wurde die Großdruckerei Schilling nach dem
altersbedingten Ausscheiden des langjährigen Geschäftsführers Gerhard Kösche 2002 – im
Jahr des 100-jährigen Jubiläums – an den europäischen Marktführer Mayr Melnhof
Packaging verkauft.
7
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Aus der Großdruckerei Schilling ging eine Ausgründung durch den Vertriebsleiter Werner
Reule hervor. Nach seiner Lehre bei der Buchdruckerei Gutenberg, verschiedenen beruflichen Stationen in Heilbronn und einem Ingenieursstudium in Stuttgart trat Werner Reule
1965 in die damals größte Heilbronner Druckerei, die Großdruckerei Schilling, ein. Angeregt
durch die Möglichkeit, den damaligen Hauptkunden Procter&Gamble auch für ein eigenes
Unternehmen gewinnen zu können, gründete Werner Reule 1980 mit zwei weiteren führenden Mitarbeitern und einer handvoll Facharbeitern der Großdruckerei Schilling die Firma
DPS Druck und Verpackung Schwaigern. Die Standortentscheidung fiel auf Schwaigern, weil
in der Kürze der Zeit keine geeigneten Räume in Heilbronn und seinem direkten Umfeld zu
bekommen waren und in Schwaigern zufällig eine große Halle einer Spedition frei wurde.
Dort begann die Produktion mit gebrauchten Maschinen. Drei Viertel der Produktion von
Verpackungen für Waschmittel und Windelhöschen wurden just-in-time an die Procter&Gamble Werke in Crailsheim, Euskirchen, Worms und das französische Amiens geliefert.
Bis 1989 wuchs der Umsatz auf 36 Millionen DM an. Das schnelle Wachstum erforderte die
Zupachtung von zwei weiteren Hallen in der direkten Umgebung. Aber auch diese Erweiterung stieß schnell an ihre Grenzen und der Bau eines großzügigen Produktionswerkes
wurde immer dringlicher. In dieser Situation vermittelte Procter&Gamble den Kontakt zu dem
sich auf Expansionskurs befindlichen österreichischen Wellpappefabrikanten Roman
Bauernfeind. Dieser suchte damals dringend einen Produktionsstandort in Deutschland.
Schnell wurden sich die beiden Seiten handelseinig und der Bau von Europas modernster
Wellpappen-Fabrik auf den Weg gebracht. Nachdem in Schwaigern keine ausreichend
großen ebenen Flächen vorhanden waren und der Schwerlastverkehr von täglich 15 Lastzügen einen autobahnnahen Standort erforderte, fiel die Entscheidung auf den direkt an der
Autobahn A6 gelegenen Bad Rappenauer Stadtteil Fürfeld. Nach kürzester Bauzeit begann
dort die Produktion 1990 mit einer 100 Meter langen prozessgesteuerten VerarbeitungsMaschine. Die 60 Mitarbeiter folgten geschlossen an den neuen Produktionsstandort. Bereits
vor dem Baubeginn 1989 erfolgte die Umfirmierung der Firma DPS in Roman Bauernfeind
Verpackungswerk. Der federführende Gründer Werner Reule verblieb noch bis 1997 als geschäftsführender Gesellschafter im Unternehmen4. 2004 wechselte das Unternehmen abermals den Besitzer und gehört seither als Mondi Bad Rappenau zur Mondi Gruppe. Mondi ist
ein internationales Papier- und Verpackungsunternehmen, das Produktionsstätten in 31
Ländern unterhält und 2009 einen Umsatz von rund 5,3 Milliarden Euro erzielte. 2009 beschäftigte Mondi rund 31.000 Mitarbeiter. Mondi ist in allen Bereichen der Papier- und Verpackungsherstellung tätig – von der Holzproduktion über die Erzeugung von Zellstoff und
Papier (einschließlich Recyclingpapier) bis hin zur Veredelung von Verpackungspapier für
Wellpappeverpackungen und Industriesäcke. In Mondi Bad Rappenau werden mit 170 Beschäftigten Verpackungen aus Wellpappe für die Bereiche Hygiene und Haushalt sowie
Lebensmittel, insbesondere Getränke produziert5.
Als einziger der bisher beschriebenen Faltschachtelhersteller produziert die Firma MM Packaging Schilling GmbH noch an ihrem Gründungsstandort. Die anderen haben sich aus der
beengten Innenstadtlage in die autobahnnahen Gewerbe- und Industriegebiete Heilbronns
verlagert oder in benachbarten Gemeinden angesiedelt. Etwa 20 Km östlich von Heilbronn
entstanden 1960 und 1982 zwei mittelständische Unternehmen der Faltschachtelindustrie –
ähnlich wie die Heilbronner Faltschachtelhersteller aus dem Buchdruck heraus.
8
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Die Druckerei Bauer in Pfedelbach wurde 1960 von Willi Bauer als Buchdruckerei gegründet.
Zuvor war der junge Buchdruckermeister in der Druckerei Wolf in Öhringen beschäftigt gewesen. Das Druckerhandwerk hatte er bei der Firma Baier&Schneider in Heilbronn gelernt.
Die Anfänge bildete der Druck von Etiketten für zwei ortsansässige Weinkellereien. Die Faltschachtelherstellung setzte mit einem Auftrag zur Herstellung von bedruckten Faltschachteln
für die Filter der Firma Purolator (heute Mahle) in Öhringen im Jahr 1969 ein. Bis zum Eintritt
des Sohnes Eberhard Bauer 10 Jahre später blieb Mahle der einzige Großabnehmer für Faltschachteln. In den folgenden Jahren konnte jeweils ein Großkunde jährlich gewonnen werden. Ab 1990 erfolgte dann der Ausbau der Faltschachtelproduktion für die Pharmazie,
Kosmetik, Chemie und für Nahrungsmittel. Heute werden 50% der produzierten Faltschachteln an die Pharmaindustrie geliefert. Displays ergänzen das Produktionsprogramm.
Veredelungen und Spezialanwendungen werden mit externen Dienstleistern abgewickelt.
Durch mehrere Bauabschnitte ist das Unternehmen seit 1990 beträchtlich gewachsen und
beschäftigte ein halbes Jahrhundert nach der Gründung 75 Mitarbeiter. Seit 2007 ist mit
Matthias Bauer bereits die dritte Generation an verantwortlicher Stelle im Unternehmen tätig6.
Aus ähnlichen Wurzeln stammt die Firma Hepack Druck und Verpackung in Neuenstein, die
1981 von Lisa Heim als reiner Verpackungsdruckbetrieb gegründet wurde. Hervorgegangen
ist dieses Unternehmen aus einer Akzidenzdruckerei, die Frau Heim mit ihrem Mann 30 Jahre lang betrieben hatte. Die Faltschachtelherstellung wurde durch die Nachfrage eines Bestandskunden der Akzidenzdruckerei angeregt. Während die Faltschachtelherstellung immer
höhere Wachstumsraten verzeichnete, ging der Akzidenzdruck immer mehr zurück und lief
1999 schließlich ganz aus. Zwischen 2006 und 2009 kam es zu einer Verdoppelung des
Produktionsvolumens bei Faltschachteln. Diese werden zu 90 % in hohen Auflagen an die
Lebensmittelindustrie geliefert. Mehre Ausbaustufen haben das Unternehmen auf 100 Beschäftigte wachsen lassen7.
Ein weiteres Faltschachtelunternehmen, das nur knapp jenseits der Grenzen der Region
Heilbronn-Franken liegt, ist die Firma Neudel Verpackungen in Neckarbischofsheim. Der
Gründer Horst Neudel kam zusammen mit dem Junior-Chef der Kartonagenfabrik Korndörfer
1948 aus Marktneukirchen im oberen Vogtland nach Neckarbischofsheim. In der Vorkriegszeit hatte das Unternehmen hauptsächlich für die pharmazeutische Industrie produziert. Deren Standorte lagen fast ausnahmslos in den westlichen Besatzungszonen. Damit man nach
der Abriegelung der Sowjetischen Besatzungszone nicht von den Kunden abgeschnitten
worden wäre, bauten die beiden in Neckarbischofsheim eine Produktion im Westen auf. Dieser Standort wurde gewählt, weil die Mannheimer Firma Böhringer damals dort eine Ampullenabfüllung betrieb und direkt beliefert werden konnte. 1956 machte sich Horst Neudel selbständig. Die erste Firma existierte noch bis 1963. Sukzessive diversifizierte Horst Neudel
sein Produktprogramm. Neben Feinkartonagen ergänzten Faltschachteln und Displays das
Angebot. Schon früh lag ein Schwerpunkt auf der Verarbeitung von Styropor als Bestandteil
von Verpackungen. Im Bereich überzogener Buchschuber ist das Unternehmen mit seinen
65 Beschäftigten Marktführer in Deutschland und wird heute von den beiden Söhnen Thomas und Michael Neudel geführt8.
Tüten, Beutel und Tragetaschen
9
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Obwohl auch die Firma Landerer 1865 bereits Papiertüten herstellte, ist die Firma Carl Friedrich Müller das Traditionsunternehmen in diesem Sektor der Papierverarbeitung geworden.
Der Gründer Carl Friedrich Müller begann 1872 als Buchbinder in der Wollhausstraße.
Schon wenige Jahre später folgte die Herstellung von Papiertüten und Papiersäcken
(Schrenk/Weckbach 1994, S. 80). Bei den Papiertüten handelte es sich um Spitztüten, in
denen die lose Ware auf Märkten und in Kolonialwarenläden verpackt wurde. Der frühe Bekanntheitsgrad der Spitztüten der Firma Carl Friedrich Müller drückte sich in der Bezeichnung des Unternehmens als „Guggenmüller“ durch den Volksmund aus. Nach dem Tod
des Firmengründers 1903 verkaufte dessen Witwe das Unternehmen an den Papiergroßhändler Carl Berberich. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren beim Guggenmüller 135
Mitarbeiter beschäftigt. Zu diesem Zeitpunkt setzte auch die Produktion von Großpapiersäcken für die Zement-, Gips- und Kalkindustrie ein. In den 1930er Jahren wurde das
Fertigungsprogramm um Bäckerfaltenbeutel und Bodenbeutel erweitert. Seit Ende der
1960er Jahre hat sich das Unternehmen auf die Herstellung flexibler Beutelverpackungen
aus Papier und Verbundmaterialien wie Aluminium und Kunststoff spezialisiert. Zu den
Produkten gehören z.B. Warmhaltebeutel für Lebensmittel oder Flachbeutel für Fotomaterialien. An dem nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebauten Standort in der Wollhausstraße arbeiteten 2009 ca. 40 Beschäftigte9.
Während sich die Firma Carl Friedrich Müller vom klassischen Papierbeutelmarkt immer
mehr entfernte, trieb ein anderes Heilbronner Unternehmen, die Firma Eugen Dierolf, den
Technologiewandel in diesem Sektor voran. Eugen Dierolf senior gründete sein Unternehmen 1936 zusammen mit seiner Frau als reines Handelsunternehmen mit ganz einfachen Mitteln in der Karlstraße. Mit dem „Ziehwägele“ fuhren sie damals in der Region
Tüten aus. Nach dem Eintritt der beiden Söhne Eugen junior und Eberhard erfolgte die Aufnahme einer eigenen Produktion mit gebrauchten Maschinen im Jahr 1965. Nach anfänglichen Schwierigkeiten ging es stetig aufwärts. Unterbrochen wurde der Aufwärtstrend nur
durch die Abspaltung von Eberhard Dierolf, der sich Mitte der 1980er Jahre mit seinem
eigenen Unternehmen Ahorn Pack in Heilbronn-Böckingen selbständig machte. Durch verschiedene innovative Technologien konnte die Firma Eugen Dierolf Anfang der 1990er Jahre
zum führenden Hersteller von Papierfaltenbeuteln für Bäcker und Metzger aufsteigen. Z.B.
war Dierolf das erste Unternehmen, das Brötchentüten vollautomatisch verpackte. Zu diesem
Zeitpunkt erfolgte auch der Umzug mit den 100 Mitarbeitern in das neue Betriebsgebäude in
der Austraße. Eine schwere Erkrankung von Eugen Dierolf junior führte 2001 zum Verkauf
des Unternehmens an die Firmengruppe Meyer/Stemmle in Mülheim. Der neue Besitzer verlagerte die Produktion von Heilbronn nach Mülheim und in ein eigens aufgebautes Zweigwerk in der Slowakei10. Am Firmensitz in der Austraße betreibt Meyer/Stemmle noch eine
Verkaufs- und Vertriebsniederlassung. Neben der Beibehaltung des Firmensitzes wird auch
der Name Dierolf von Meyer/Stemmle weitergeführt.
Das dritte Unternehmen für die Herstellung von Papierbeuteln, die Firma Hornung Verpackungen liegt direkt hinter der Regionsgrenze in Kirchheim am Neckar. Neben den traditionellen Papierbeuteln stellt dieses Unternehmen auch Tragetaschen aus Kunststoff her.
Bei den bisher beschriebenen drei Unternehmen des Papier verarbeitenden Sektors für Tüten, Beutel und Tragetaschen steht trotz des Funktionswandels hin zum Werbe- und Kommunikationsmedium immer noch die Verpackungsfunktion der Produkte im Vordergrund. In
10
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
der jüngeren Vergangenheit haben sich im Heilbronner Raum drei kleinere Unternehmen
entwickelt, die hochwertige Papiertragetaschen herstellen, bei denen die Verpackungsfunktion weitgehend in den Hintergrund getreten ist. Diese neue Generation von Tragetaschen fungiert vielmehr als beweglicher Image- und Werbeträger, der die Blickkontakte von
Passanten auf sich ziehen soll. Wegen der aufwändigen Produktion mit viel Handarbeit
lassen die Unternehmen solche Taschen zum großen Teil an Billiglohnstandorten fertigen.
Eines der drei im Tragetaschenmarkt tätigen Unternehmen ist Meyer/Stemmle Dierolf, das
nach dem Kauf der Firma Eugen Dierolf diesen Zweig in Heilbronn aufgebaut hat. Daneben
bestehen mit der Firma Lotus Bags in Weinsberg und Riedle in Langenbrettach zwei Unternehmen, die sich ausschließlich dem Segment Tragetaschen verschrieben haben. Vor der
Hinwendung zu den Tragetaschen war der Gründer von Lotus Bags, Fuat Ünlü, als Großund Einzelhändler für Lederbekleidung tätig. 1985 stieg er mit seiner Unternehmensgründung in einen sich gerade entwickelnden Markt ein, der bis dahin von einfachen Plastiktaschen beherrscht war. Nach dem Kauf der insolventen Papierbeutelfirma Ahorn Pack von
Eberhard Dierolf in Heilbronn-Böckingen stieg der gelernte Druck- und Papiertechniker Volker Riedle 1993 in die Herstellung von Tragetaschen ein. Nach einfachen Anfängen in einem
Wohnhaus verfügt das Unternehmen mittlerweile über ein repräsentatives Firmengebäude in
Langenbrettach.
Briefhüllen
Durch Ernst Mayer hielt der Zweig der Briefhüllenherstellung Einzug in die Papierstadt Heilbronn. 1850 in Bad Wimpfen geboren, war seine erste berufliche Station nach der Kaufmannslehre im Heimatort eine Anstellung als Gehilfe in einer Stuttgarter Papierhandlung. Als
Vertreter der damals neu errichteten Darmstädter Briefumschlagfabrik bereiste er in den
1870er Jahren verschiedene europäische Länder. Auf einer Reise in Schweden 1877 erfand
er den gummierten Briefverschluss, der gegenüber dem bisherigen Siegeln große Vorteile
aufwies. Mit dieser Innovation baute er eine eigene kleine Produktion für die patentrechtlich
geschützten Klappenbriefe in einer gemieteten Schreinerwerkstätte auf. Schon sechs Jahre
später erlaubte die gute Entwicklung des Unternehmens den Umzug in ein eigenes Fabrikgebäude in der Heilbronner Innenstadt. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wuchs die Beschäftigtenzahl auf 200. Zusammen mit einem 1909 errichteten Zweigwerk in Dresden beschäftigte das Unternehmen nur 10 Jahre später bereits 500 Mitarbeiter (Ernst Mayer Briefhüllenfabrik 1977). Nachdem der Wiederaufbau der völlig zerstörten Produktionsanlagen
nach dem Zweiten Weltkrieg noch gemeistert werden konnte, kam die Ernst Mayer Briefhüllenfabrik Anfang der 1980er Jahre angesichts des harten Konkurrenzkampfes in
wirtschaftliche Schwierigkeiten. Der daraufhin erfolgte Verkauf an den schwedischen Papierverarbeitungskonzern Ljungdahls blieb nur ein einjähriges Intermezzo. Nach ihrem Rückzug
überließen die Schweden dem bereits als geschäftsführenden Gesellschafter tätigen Edlef
Bartl das Feld. 1990 übernahm dieser die restlichen 20 % Firmenanteile der Familie Mayer.
Mit Klaus-Dieter Mayer schied gleichzeitig der letzte in der Firma geschäftsführend tätige
Vertreter der Gründerfamilie aus. Unter der Führung von Edlef Bartl durchlief der mittlerweile
als Mayer-Kuvert-network firmierende Briefhüllenspezialist durch zahlreiche Firmenzukäufe
im In- und Ausland einen beispiellosen Expansionskurs und avancierte 2006 zum Markt-
11
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
führer in Europa. Die Beschäftigtenzahl im Jahr 2009 umfasste 200 am neuen Stammsitz in
den Böllinger Höfen und etwa 2.500 europaweit11.
An das europäische Briefhüllenetzwerk von Mayer-Kuvert wurde 2001 auch die traditionsreiche Briefhüllenfabrik Wilhelm Pfau verkauft. Die Gründung dieses Unternehmens erfolgte
durch Wilhelm Pfau 1909 als Buchdruckerei in der Badstraße 4 in Heilbronn. Wilhelm Pfau
stammte aus Stuttgart, wo er als Schriftsetzer für die Druckerei Stähle und Friedel gearbeitet
hatte. Die Motivation zur Gründung einer Druckerei in Heilbronn rührt wohl daher, dass Heilbronn als damals größerer Industriestandort als Stuttgart und als Zentrum der Papierherstellung und -verarbeitung bessere Entwicklungschancen bot. Tatsächlich gelang es, Heilbronner Kunden zu gewinnen. Über viele Jahre war die Firma NSU der größte Kunde, für die
der übliche Akzidenzdruck von der Visitenkarte bis zum Katalog gedruckt wurde. Das KnowHow zur Herstellung von Briefhüllen kam von Wilhelm Pfaus Schwager, der vor seinem Eintritt in das Unternehmen für kurze Zeit in der Briefhüllenfabrik von Ernst Mayer gearbeitet
hatte. Der Einstieg in die Briefhüllenfertigung mit einem erweiterten Maschinenpark erfolgte
1924. Über ein halbes Jahrhundert blieben Standard-Briefhüllen der Schwerpunkt des
Produktionsprogramms.
Getrieben durch die Erkenntnis, dass Briefhüllen nicht nur eine Schutz-, Verpackungs- und
Transportfunktion haben, sondern auch Werbemittel sein können, baute der Enkel der Firmengründers, Dr. Peter Haunss, seit Mitte der 1970er Jahre eine Spezialfertigung für das
Direktmarketing auf. Produziert wurden hochwertige und technisch komplizierte Werbehüllen
und Antwortmittel als völlig neue Umschlagtypen speziell für die Direktwerbung. Mit diesem
Produktionszweig führte Dr. Haunss sein Unternehmen in einen neuen Markt, den er fortan
durch verschiedene Innovationen weiter entwickeln half (Hell 1989, S. 163). Über die Jahre
hinweg ließ Dr. Haunss durch zahlreiche Publikationen andere an seinem Wissen teilhaben
und profilierte sein Unternehmen als Spezialist für das Direktmarketing. Da seine Kinder das
Unternehmen nicht weiterführen wollten verkaufte Dr. Haunss 2001 an Edlef Bartl. Der traditionsreiche und mit viel Know-How im Direktmarketingbereich verknüpfte Name der Briefhüllenfabrik Wilhelm Pfau wurde auch nach der Eingliederung in das Briefhüllennetzwerk von
Mayer-Kuvert weitergeführt12.
Gemeinsam mit Klaus-Dieter Mayer, einem Spross der Briefhüllenfabrik Ernst Mayer, gründete Robert Esenwein junior, der seit 1977 Geschäftsführer von Weisert&Daur ist, 1990 das
Vertriebsunternehmen Mayer Verpackungstechnik. Das Produktionsprogramm umfasst CDHüllen und Datenträger-Verpackungen13.
Bei dem jüngsten Briefhüllenunternehmen handelt es sich um eine Ausgründung aus MayerKuvert-network. Mathias Blanke hatte dort eine Ausbildung durchlaufen und machte sich
2007 mit der Firma Blanke Briefhüllen selbständig. Das in der Innovationsfabrik Heilbronn
ansässige Unternehmen produziert und vertreibt mit knapp 20 Beschäftigten Briefumschläge
und Versandtaschen.
Schul-, Bürobedarf und Papierhandel
Seit Anfang der 1990er Jahre überragt das Hochregallager der Firma Baier&Schneider das
Industriegebiet Böllinger Höfe und repräsentiert mit dem seit 1903 geschützten Markennamen „Brunnen“ sowohl die eigene langjährige Unternehmenstradition als auch den
gesamten Papierstandort Heilbronn. Die Produktion erfolgt an dem seit 1893 bestehenden
12
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Stammsitz in der Wollhausstraße. Die Geschichte von Baier&Schneider beginnt mit der
Übergabe der Großhandlung für Papier- und Schreibwaren von Gustav Ziegler an Andreas
Schneider und Julius Baier im Jahr 1877. Erster Firmensitz war das gemietete Haus Nr. 7
am Kirchhöfle, einem mit Bäumen bestandenen Platz mit Brunnen in Nachbarschaft zur
Nikolaikirche. Der Impuls zur eigenen Produktion kam von den Kunden, die einen
Lieferanten für liniertes Papier suchten. Nach dem Kauf von zwei eisernen Rollenliniermaschinen konnte die Fertigung 1885 anlaufen und wurde in den folgenden Jahren immer
weiter ausgebaut. Mit der Errichtung eines Neubaus an der Wollhausstraße wurde dann im
Jahr 1893 vollends die Erweiterung des Handelsbetriebs um eine Fabrik vollzogen. Bis 1914
wuchs die Beschäftigtenzahl auf 400 und bis zum Zweiten Weltkrieg noch einmal auf 500
(Baier&Schneider 1977). Die bis Ende der 1950er Jahre auf 560 angewachsene Beschäftigtenzahl blieb bis 2009 weitgehend konstant. Konstant ist auch das Produktionsprogramm im Bereich des Schulbedarfs geblieben. Stark gewachsen, vor allem durch
Firmenübernahmen, ist der Geschäftsbereich Kalender. Bei den Terminkalendern stieg die
Firma Baier&Schneider zum Marktführer in Deutschland auf 14 . Die Auslieferung von dem
2008 noch einmal erweiterten Logistikzentrum in den Böllinger Höfen erfolgt direkt an den
Einzelhandel. Ein eigenes Außendienstnetz bildet die Brücke zu den Fachhändlern und
unterstreicht die Doppelfunktion der Firma Baier&Schneider als Produktions- und Handelsunternehmen.
Ihren Schwerpunkt im Papierhandel hat die seit 1863 bestehende Firma Carl Berberich. Ähnlich wie die Firma Baier&Schneider hat auch diese Firma eine wichtige Wurzel in der Papierund Schreibwarengroßhandlung Gustav Ziegler. Vor der eigenen Unternehmensgründung
war Carl Berberich, der aus Höpfingen im Landkreis Buchen stammte, dort als Teilhaber tätig
gewesen15. Vom ersten Firmendomizil in der Dammstraße 27 wurden neben Papier- und
Schreibwaren auch Tüten und Beutel vertrieben. Außerdem erfolgte der Aufbau einer Fertigung von Geschäftsbüchern, für deren Export 1886 in Mailand eine Filiale eröffnet wurde.
Weitere Filialen folgten bis zum Ersten Weltkrieg in Stuttgart, München und Köln
(Schrenk/Weckbach 1994, S. 24). Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Firma Carl Berberich
der zweitgrößte Papiergroßhändler in Süddeutschland (Feyerabend 1987, S. 26). Von den
400 Beschäftigen im Jahr 2009 entfielen 330 auf den Geschäftsbereich Papierhandel. 70
Beschäftige waren im Geschäftsbereich Berberich Systems tätig, in dem Sonderanfertigungen von Organisationsmitteln wie z.B. Ordner und Stehsammler hergestellt werden.
Neben dem Stammsitz in Heilbronn unterhält Berberich Papier deutschlandweit nach wie vor
mehrere Filialen und seit 1971 ein Auslieferungslager in Abstatt. Dort erfolgt auch der Großteil der Produktion für den Geschäftsbereich Berberich Systems.
Nachdem der Wiederaufbau der Firma Gebrüder Rauch als Papierfabrik nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg weder möglich noch von Seiten der Stadt gewünscht war,
erfolgte ein Neuaufbau des Pionierunternehmens der Heilbronner Papierindustrie ab 1949
durch den Handel mit Druck- und Feinpapieren. Die ausgebrannte alte Lumpenkocherei
diente zunächst als Papierlager, in der früheren Leimküche wurde ein Büro eingerichtet
(Schulten 1962). Dieses improvisierte Intermezzo wurde nach zwei Jahren durch den Umzug
in einen Neubau in der Kreuzäckerstraße 15 beendet16. Trotz der örtlichen Konkurrenz durch
die Firma Carl Berberich gelang eine erfolgreiche Entwicklung durch Innovationen wie z.B.
den Bau eines der ersten Flachlager für Feinpapier 1958 und den Einsatz von Hebebühnen
13
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
an den Lastkraftwagen ab 1960. 1963 begann die Kooperation in der Papier Union, die 1988
in eine Fusion der beteiligten vier Papiergroßhändler mit einem Papierhersteller mündete
(Feyerabend 1987, S. 26f.). Zu diesem Zeitpunkt hatte die Firma Gebrüder Rauch 90 Beschäftigte. Die Geschäftsleitung der dezentral angelegten Papier Union wurde zunächst in
Frankfurt aufgebaut, zog aber bereits 1989 nach Hamburg. Die Firma Gebrüder Rauch ist
durch die Fusion zu einer den südwestdeutschen Raum abdeckenden und seit Anfang der
1990er Jahre in Talheim ansässigen Zweigniederlassung der Papier Union umfirmiert worden.
Stanzformen- und Anlagenzulieferer Marbach
Die verschiedenen Papier verarbeitenden Industriezweige im Raum Heilbronn, insbesondere
der Verpackungsdruck sind durch einen dreischrittigen Produktionsablauf gekennzeichnet:
Drucken – Stanzen – Kleben. Im Bereich der Stanzformtechnik ist in Heilbronn mit der Firma
Marbach der Weltmarktführer ansässig. Gegründet wurde das Unternehmen von dem Bauschlosser Karl H. Marbach 1923. Das erste Produkt war ein Aufsetzstanzmesser für die ansässige Schuhindustrie. Das Know-How für den Bau dieses Schmiedemessers hatte sich
Karl H. Marbach bei der Firma Kaco erworben, wo er Aufsetzstanzmesser für Lederdichtungen fertigte. Die Dichtungsindustrie blieb bis zum Zweiten Weltkrieg ein wichtiger
Kunde. Als weiteres Standbein kam bereits 1926 die Herstellung von Bandstahlschnitten
hinzu, ausgelöst durch eine Nachfrage des Böckinger Werbemittelherstellers Nupnau, der
Blockbuchstaben aus Karton herstellte. Dessen bisheriger Werkzeuglieferant, die Firma
Knabe, hatte ihren Sitz im weit entfernten Berlin und so suchte die Firma Nupnau nach
einem ortsansässigen Lieferanten. Der Nachbau eines von der Firma Knabe stammenden
Werkzeugmusters gelang. Für Karl H. Marbach bedeutete dieser gelungene Technologietransfer den Startschuss für ein – neben der Dichtungs- und Schuhindustrie – drittes Standbein. Bis zum Zweiten Weltkrieg blieb das Unternehmen allerdings ein Handwerksbetrieb mit
ca. 10 Mitarbeitern. Der Take-off der Faltschachtelindustrie brachte dann aber ab den 1960er
Jahren Expansionsmöglichkeiten für die Stanzformtechnik der Firma Marbach. Begründet
wurde das fortan stetig voranschreitende Wachstum vor allem durch technologische
Neuerungen, z.B. durch die Einführung der Lasertechnik 1972. Über die Fertigung von
Formen hinaus umfasst das Produktionsspektrum seit den 1990er Jahren den ganzen Bereich der Stanzformtechnik bis hin zum Maschinen- und Anlagenbau17.
Druck- und Verpackungsdienstleistungen
Im Druck allein lässt sich auf Grund von Überkapazitäten auf der Angebotsseite kaum noch
Geld verdienen. Notwendig ist eine die gesamte Wertschöpfungskette umfassende Dienstleistung für bestimmte Marktsegmente oder die Spezialisierung auf eine Marktnische. Ein
Beispiel für einen Fullservice-Druckdienstleister ist die seit 1949 bestehende Firma Walter
Medien in Brackenheim mit ihren 120 Beschäftigten. Sie verfügt neben den Geschäftsfeldern
Presseverlag und Geschäftsdruckerei mit dem Kalenderdruck über einen dritten Schwerpunkt. Alle drei Schwerpunkte umfassen einen Komplettservice von der Druckvorstufe bis
zur Logistik18.
Die Ursprünge der Firma Stäudle reichen bis 1892 zurück, als Wilhelm Walter das Hohenloher Tagblatt gründete. Nach der Übernahme der Druckerei durch seinen Schwiegersohn
14
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Wilhelm Stäudle 1920 entwickelte sich das Unternehmen zur Akzidenzdruckerei. Der Niedergang des Geschäftsdrucks in den 1980er Jahren zwang zu einer Umstrukturierung und
Spezialisierung der Druckerei in Richtung Haftklebeetiketten. In diesem Nischenmarkt konnte
sich das Unternehmen als Anbieter von Verkaufs- und Logistikprozessen mit seinen 40 Beschäftigten etablieren19.
Das in den 1970er Jahre aufkommende Direktmarketing eröffnete für die Druck- und Weiterverarbeitungsunternehmen ein neues Marktsegment, in dem die Heilbronner Traditionsfirma
Wilhelm Pfau wichtige Produktinnovationen platzieren konnte. Ein nach wie vor erfolgreich
für diesen Markt produzierendes Unternehmen ist die Firma Datacolor Dialog-Medien in Öhringen, die 1978 als Rotakon Rollenoffsetdruck gegründet und 2007 mit der Firma Datacolor
in Lüneburg verschmolzen wurde. Mit 75 Mitarbeitern am Standort Öhringen stellt das Unternehmen personalisierte Sonderwerbeformen wie z.B. Beihefter, CD-Präsentationen, Antwortelemente oder Bestellbögen in Millionen-Auflagen her. Über den reinen Druck hinaus
erfolgen noch verschiedene Veredelungsprozesse wie z.B. Gummieren, Perforieren, Codieren oder Etikettieren. Zusammenfassend bezeichnet man diese Verarbeitungsschritte als
Finishing20.
Durch die Weiterentwicklung vom Lettershop-Unternehmen, das zunächst nur im Direktmarketingbereich beheimatet war, zum Fulfillment-Unternehmen mit einem umfassenden
Dienstleistungsportfolio ist die Firma Ideal-Pack seit 1995 sehr dynamisch gewachsen. Beim
Fulfillment handelt es sich um Verpackungsformen, die vom Standard der Konsumgütersteller abweichen und wegen ihrer größeren Bandbreite und Personalintensität von externen
Dienstleistern vollzogen werden. Ein Beispiel wären Onpack-Aktionen, bei denen verschiedene Produkte zusammenzuführen und in Folie einzuschweißen sind. Die zunehmende
Ausweitung des E-Commerces als zusätzlichem Vertriebskanal zum Filialgeschäft hat für
den zweiten Wachstumsschub bei der Firma Ideal-Pack gesorgt. So ist das Unternehmen
über das Fulfillment hinaus auch im Online- und Teleshopping Management mit 200 festangestellten Mitarbeitern und 300 Teilzeitkräften zu einem spezialisierten Dienstleister
herangewachsen21.
Cluster-Funktion
Zulieferverflechtungen
Die Struktur der Papier verarbeitenden Industrie im Raum Heilbronn liefert kaum Ansätze für
intensive Zulieferverflechtungen. Zum einen liegt dies an der Vielzahl der Industriezweige,
die jeweils nur durch wenige Unternehmen vertreten sind. Zum anderen zeichnen sich die
Unternehmen durch eine hohe Fertigungstiefe aus, die eine Zulieferung von vornherein auf
Betriebsmittel, Halbfertigprodukte und Hilfsstoffe beschränkt. Der größte Industriezweig der
Faltschachtelhersteller mit seinen insgesamt acht Unternehmen ist durch den Produktionsdreiklang Drucken, Stanzen und Kleben gekennzeichnet. Neben den Maschinen und Werkzeugen werden Halbfertigprodukte in Form von Papier, Pappe und Karton sowie die Hilfsstoffe Farben, Lacke und Kleber benötigt. Alle drei Zulieferbereiche sind durch die Konzentration in europaweiten Konzernstrukturen geprägt. Der Pappe- und Kartonmarkt wird z.B.
von Konzernen aus Skandinavien und Österreich beherrscht.
Bis auf zwei Unternehmen unterscheiden sich die Marktsegmente der Faltschachtelhersteller.
Die Bandbreite reicht von der einfachen Lebensmittelverpackung bis zur hochwertigen Lu15
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
xusverpackung für Kosmetik. Es kommt also nur vereinzelt zu einem direkten Wettbewerb.
Die Voraussetzung für eine nicht die Kernkompetenzen berührende Kooperation wäre also
gegeben und angesichts der Konzentration auf der Anbieterseite auch geboten. Die Anbahnung einer Zusammenarbeit beim Energie-Einkauf, Material-Einkauf oder der AbfallEntsorgung ist wegen der unterschiedlichen Anforderungen der Unternehmen jedoch gescheitert.
Die Wertschöpfung von der Druckvorstufe über den Druck und die Weiterverarbeitung erfolgt
jeweils vollständig im eigenen Unternehmen, zum Teil sogar noch die Logistik. Eine Zulieferverflechtung innerhalb der Faltschachtelzweigs gibt es nur sporadisch in Form der Auslagerung von Teilaufträgen bei Kapazitätsengpässen oder aber wenn ein Unternehmen nicht
über die notwendige Bearbeitungsmaschine für eine besondere Form der Veredelung verfügt.
Häufiger kommen branchenübergreifende Zulieferverflechtungen vor, bei denen das eigene
Vertriebssortiment durch solche Produkte von Herstellern aus der Region ergänzt wird, die
man entweder gar nicht oder nicht so kostengünstig produzieren kann. In einigen Fällen treten die beiden Partner durch gegenseitige Zulieferung dabei als Kunde und Zulieferer auf.
Insgesamt ist das Volumen dieser Zulieferverflechtungen aber eher gering.
Einen verlängerten Arm für alle Papier verarbeitenden Unternehmen bietet das Dienstleistungsunternehmen Ideal-Pack. Bei arbeitsintensiven Verpackungen kann Ideal-Pack die
Produktionskette durch seine Verpackungsdienstleistungen ergänzen. Die Papier verarbeitenden Unternehmen können ihren Kunden dadurch Komplettangebote machen.
Netzwerkbildung
Seit 1999 besteht in der Region Heilbronn-Franken ein durch die Industrie- und Handelskammer in Person von Peter Schweiker initiierter Chef-Arbeitskreis, der sich aus ca. 15 Papier verarbeitenden Unternehmen aus dem Stadt- und Landkreis Heilbronn sowie den Landkreisen Hohenlohe und Main-Tauber zusammensetzt. Ziel der zwei- bis viermaligen Treffen
im Jahr ist ein Benchmarking unter Unternehmern. Die bei den Mitgliedsunternehmen stattfindenden Sitzungen folgen einem wiederkehrenden Dreischritt. Nach einer Präsentation von
Kennzahlen zum Unternehmen folgt ein Betriebsrundgang und zum Abschluss ein intensives
Feedback.
Nach 10 Jahren und knapp 30 Sitzungen erfolgte 2009 eine Evaluation dieser institutionalisierten Form der Vernetzung branchenähnlicher Unternehmen durch eine Befragung der
Mitglieder. Die Organisation in einem dreistündigen Zeitfenster mit einem dreigliedrigen Ablauf wurde als effizient eingeschätzt. Gewinn ziehen die Mitglieder aus dem Austausch über
allgemeine betriebliche Abläufe, also Fragen zur Organisation des Unternehmens, der Ausund Weiterbildung, Entsorgung oder Finanzierung. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse und
Einsichten dienen als Grundlage für eine kritische Prüfung des eigenen Unternehmens. Zumindest „Kleinigkeiten“ wie die Gestaltung des Empfangs kann man immer als Anregung für
Veränderungen mit nach Hause nehmen. Die Auseinandersetzung mit einem anderen Unternehmen und die Diskussion im Arbeitskreis liefern also Optimierungsimpulse und ermöglichen die Reflektion über das eigene Unternehmen von einer Außenperspektive.
Zusammenfassend lässt sich diese Funktion des Arbeitskreises als Fortbildung zur Unternehmensorganisation umschreiben. Die größeren Unternehmen mit mehreren Hundert Be-
16
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
schäftigten können von dieser Funktion auf Grund ihrer anders gelagerten Probleme eher
nicht profitieren und nehmen den Arbeitskreis gar nicht oder nur sporadisch in Anspruch.
Ebenso wichtig wie der produktübergreifende Dialog sind das gegenseitige Kennenlernen
und der Aufbau von Vertrauen. Dadurch sind intensivere bilaterale Kontakte mit einem fachbezogenen Informationsaustausch außerhalb des Arbeitskreises entstanden.
Fazit
Die heterogene Branchenstruktur und eine nur geringe Ausgründungsdynamik weisen die
Papier verarbeitende Industrie im Raum Heilbronn zunächst nur als potenziellen Cluster aus.
Neben dem Vorhandensein von zwei Papierfabriken bildete die Nachfrageseite der sich in
Heilbronn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelnden Industrie die wichtigste
Voraussetzung für ein Wachstum der Papierbranche. Aus dieser „Papierdichte“ heraus haben sich verschiedene Papierverarbeitungszweige mit einer entsprechenden Unternehmenskonzentration in der Stadt Heilbronn und nach dem Zweiten Weltkrieg auch in deren Umland
entwickelt. Dem durch das Ende der Papierproduktion und den Niedergang des Akzidenzdrucks bedingten Beschäftigtenrückgang steht das Wachstum der Faltschachtelindustrie
gegenüber. Der Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn hat den Strukturwandel also
erfolgreich gemeistert und den Ruf Heilbronns als Papierstadt konsolidiert.
Was die Frequenz und Intensität von unternehmensübergreifenden Interaktionen angeht,
lassen sich Synergien feststellen, die sich aus der räumlichen Konzentration der Unternehmen im Raum Heilbronn ergeben. Zulieferverflechtungen bestehen auf Grund von
Kapazitätsengpässen, zur Ergänzung des Lieferprogramms, zur Vervollständigung einer
Lieferkette und als reziprokes Lieferanten-Kunden-Verhältnis. Die Förderung kollektiver
Lernprozesse erfolgt durch einen Chef-Arbeitskreis für die Geschäftsführer der Papier verarbeitenden Unternehmen. Die aus strukturellen Gründen eingeschränkten Interaktionsmöglichkeiten dieser Unternehmen versucht man, so weit wie möglich auszuschöpfen. Aus
einer Netzwerkperspektive heraus kann der Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn
deshalb durchaus als ein aktiver Cluster eingestuft werden, der erfolgreicher als die Summe
seiner Einzelunternehmen ist.
17
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Abb. 1: Entwicklungsbaum des Papierverarbeitungs-Clusters im Raum Heilbronn (Quelle:
Eigene Erhebung 2009)
2010
2000
Blanke
May er-Kuv ert-Net work
Riedle
Mayer-K uvert
Hepack
Mey er/ St emm le Dierolf
Mayer
Bauernf eind
Papier Union
1980
Mondi
MM Packaging
LOTUS
Cartondruck
1960
Ahorn
DPS
Eugen Dierolf
Bauer
Gebr. Rauch
1940
Eugen Dierolf
Marbach
Fritz Seel
1920
Wilhelm Pfau
Schilling
1900
Weis ert&Daur
1880
Ernst Mayer
Baier&Schneider
C.F. Müller
1903
Höhing
Carl Berberich
1860
Gustav Ziegler
1840
1820
Landerer
Gebr. Rauch
Produktionsunternehmen
Wichtiger vorheriger Arbeitgeber
Handelssunternehmen
Umfirmierung
Produktions-/Handelsunternehmen
Verkauf
Werkzeug-/Anlagen-Zulieferer
MBO (Management-Buy-Out)
Know-How-Transfer
18
Prof. Dr. Peter Kirchner, Abschlussbericht zum IHK-Forschungsprojekt „Papierverarbeitungs-Cluster im Raum Heilbronn“
Literatur
Baier&Schneider (Hg. 1977): Festschrift zum 100-jährigen Firmenjubiläum. Heilbronn.
Ernst Mayer Briefhüllenfabrik (Hg. 1977): Festschrift zum 100-jährigen Firmenjubiläum. Heilbronn.
Feyerabend, S. (Hg. 1987): Die Entwicklung der Papierindustrie in Heilbronn und ihr Einfluß
auf die Industrialisierung der Stadt. Festreden anlässlich des 225-jährigen Bestehens der
Firma Gebrüder Rauch am 5. November 1987. Heilbronn.
Hell, H. (1989): Die Erfolgsstory des Direktmarketing. Moderne Industrie. Landsberg/Lech.
Jacobi, U. (1988): 150 Jahre Knorr. Heilbronner Stimme. Heilbronn.
Klagholz, B. (1986): Die Industrialisierung der Stadt Heilbronn von den Anfängen bis zum
Jahr 1914. (=Kleine Schriftenreihe des Archivs der Stadt Heilbronn, Bd. 17). Stadtarchiv
Heilbronn.
Meidinger, G. (1986): Die Entwicklung der Heilbronner Industrie. Vom Ersten Weltkrieg bis
zum Beginn der Achtziger Jahre. Scriptae Mercaturae. (=Veröffentlichungen des Archivs der
Stadt Heilbronn, Bd. 30). St. Katharinen.
Schmid, E. (1993): Die gewerbliche Entwicklung in der Stadt Heilbronn seit Beginn der Industrialisierung. (=Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn, Bd. 3).
Stadtarchiv Heilbronn.
Schmidt, F. (1994): Von der Mühle zur Fabrik. Die Geschichte der Papierherstellung in der
württembergischen und badischen Frühindustrialisierung. Regionalkultur. Ubstadt-Weiher.
Schmidt-Bachem, H. (2001): Tüten, Beutel, Tragetaschen. Zur Geschichte der Papier, Pappe
und Folien verarbeitenden Industrie in Deutschland. Waxmann. Münster.
Schrenk, C./Weckbach, H. (1994): „… für Ihre Rechnung und Gefahr“. Rechnungen und
Briefköpfe der Heilbronner Firmen. (=Kleine Schriftenreihe des Archivs der Stadt Heilbronn,
Bd. 30). Stadtarchiv Heilbronn.
Schulten, J.H. (1962): Festschrift zum 200-jährigen Firmenjubiläum der Gebrüder Rauch.
Bad Homburg.
Tuffentsammer, H. (2000): Heilbronns Mühlen – Industrielle Keimzellen. Dokumente zur
Mühlengeschichte am Neckar. (=museo 15). Städtische Museen Heilbronn.
Weisert&Daur (Hg. 1996): Festschrift zum 100-jährigen Firmenjubiläum. Heilbronn.
1
Interview mit Ulrich Landerer am 20. Mai 2009
Interview mit Tilmann Höhing am 27. Mai 2009
3
Interview mit Robert Esenwein jr. am 10. Juni 2009
4
Interview mit Werner Reule am 21. April 2010
5
Interview mit Thomas Bach am 17. März 2010
6
Interview mit Eberhard Bauer am 4. März 2009
7
Interview mit Peter Heim am 17. März 2009
8
Interview mit Horst Neudel am 14. September 2009
9
Interview mit Atilla Eren am 14. Mai 2009
10
Interview mit Walter Vogt, ehemaliger langjähriger Produktionsleiter der Firma Eugen Dierolf
11
Interview mit Edlef Bartl am 9. April 2009 und schriftliche Mitteilung von Klaus-Dieter Mayer am 25.
Mai 2010
12
Interview mit Dr. Peter Haunss am 30. April 2009
13
Schriftliche Mitteilung von Klaus-Dieter Mayer am 25. Mai 2010
14
Interview mit Matthias Schneider am 15. April 2009
15
Schriftliche Mitteilung von Eva Eren am 2. Juli 2009
16
Mündliche Mitteilung von Herrn Stefan Feyerabend am 1. März 2010
17
Interview mit Peter G. Marbach und Karl G. Marbach am 18. März 2009
18
Interview mit Dr. Eberhard Nehl am 9. April 2009
19
Interview mit Wolfgang Stäudle am 4. März 2009
20
Interview mit Detlef Rauchbach am 17. März 2009
21
Interview mit Hans Klein am 18. März 2009
2
19

Documents pareils