NITS Malpensa 1

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NITS Malpensa 1
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Famoses Spätwerk der Niederländer
Reifer, weiser, wunderbarer Pop: Nits
Seit fast 40 Jahren zählen Nits zu meinen favorisierten Pop-Bands.
Die Niederländer verstehen es vortrefflich, durch ihre Eigenständigkeit und unverwechselbare
Aura immer wieder zu faszinieren und positiv zu überraschen. Selbst bei Alben, auf denen sie
nicht gänzlich zu überzeugen wissen, findet sich stets der eine oder andere Song, der
outstanding ist. Mit “Malpensa” (VÖ 30. März) ist dem Trio ein Album gelungen, dass
durchgängig dieses Prädikat verdient und zu einem der herausragenden in ihrem ohnehin
exzeptionellen Werk gezählt werden muss. Anspruchsvoller Pop der Extraklasse.
Eine besondere Stärke der Nits kommt auf “Malpensa” nachhaltig zum Tragen – die Fähigkeit
und Reife der Reflexion, mit der Henk Hofstede, Robert Jan Stips und Rob Kloets aus
scheinbaren Marginalien große Geschichten zu erzählen verstehen. In ihren verdichteten
kreativen Skizzen entwerfen die Holländer durch ihre spezielle Sicht auf Ereignisse und
Begebenheiten eine eigene kleine Welt, die sie mit ihren individuellen Interpretationen sowohl
rational als auch emotional hochgradig aufladen. Der versierten Band gelingt mit diesem
nachhaltigen Vibrationsgrad eine wunderbare Balance aus Melodie und Poesie, aus Leichtigkeit
und Ernsthaftigkeit, aus Popularität und Progressivität. Es ist fast so als würden die Nits so
spielerisch das Gleichgewicht auf ihrem musikalischen Drahtseil aus Anspruch und
Unterhaltung halten wie der in “Man on a wire” gewürdigte Hochseilartist Philippe Petit, der
1974 zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers wandelte.
Die Nits erweisen sich als künstlerische Cosmopoliten, die auf “Malpensa” mal eben die halbe
Welt bereisen von Ägypten über Amerika bis nach Deutschland, dem auf diesem Album
besondere Bedeutung zukommt, weil mit der Hohenzollern Brücke in Köln, der Schwebebahn in
Wuppertal und namentlich Konrad Adenauer und Willy Brandt mehrere bedeutsame Orte und
Menschen verewigt sind. Die Globetrotter starten mit orientalischem Flair auf dem Tahir Platz
in Kairo und entführen uns mit “Five Fingers” vortrefflich in ihren ureigenen Songkosmos. In
“Love-Locks” werden die Symbole der ewigen Liebe besungen, die von Liebenden in Form von
Sicherheitsschlössern zu tausenden an der Kölner Eisenbahnbrücke befestigt werden, um
hernach die Schlüssel in den Rhein zu werfen. Ein bedächtiger Pop-Song, der eine Spur
Geheimnis mit sich führt und im sirenenhaften Mantra “love never dies” gipfelt.
Relaxed wie der besagte Spaziergang von Petit in luftigen Höhen zwischen den Twin Towers
kommt “Man on a wire” daher. Schwebend auch die Melancholie in “Blue Things”, einem
dieser unnachahmlichen Nits-Songs, die einen bei aller Schwermut nicht runterziehen, sondern
stets zugleich Wärme, Licht und Hoffnung mit transportieren. Herrlich locker das kurze,
rhythmisch akzentuierte “The Poor” mit seiner angedeuteten Dschungel-Charakteristik, in der es
von exotischen Stimmen wimmelt.
Das auf Deutsch gesungene “Schwebebahn” klingt wie eine in die Pop-Moderne überführte
Brecht/Weill-Komposition und hat eine merkwürdig expressionistische Atmosphäre – eine
kryptische, mystisch inszenierte Liebesgeschichte aus der Vergangenheit. Berauschend schön
das traurige “Minus Second Floor”, das an die großen Frühwerke der Nits wie “Adieu Sweet
Bahnhof” (1984) ebenso anknüpft wie an den letzten großen Wurf “Les Nuits” (2005), aufs
Wesentliche an Klangeffekt reduziert und gerade darum ganz groß. Mit “Big Black Boats”
frönen die Nits ihrem Faible für avantgardistisch angehauchte Songs, die nicht ganz so
zugänglich sind. Gleich darauf setzen sie zum großen Finale an und konfrontieren uns mit der
nachdenklichen Hymne “Thing Thing”, die ebenfalls das für die Band so typische
Spannungsmoment besitzt, das ihre Songs vom gängigen und gewöhnlichen unterscheidet und
abhebt.
Dann folgt der ultimative Höhepunkt des Albums mit einem der besten Songs, den die
Niederländer je geschrieben haben. “Bad Government And Its Effects On Town And Country”
ist eine herausragende Betrachtung der Zeitläufte im Zeichen des globalisierten Kapitalismus.
Liedzeilen wie “your soul is covered with ice”, “bankers and robbers are partners in crime” und
“politicians lying all the time” sprechen Bände. Auch musikalisch ungeheuer dicht und düster
arrangiert, konsequent mit dräuendem Bläsergroll überzogen und in einen sessionmäßigen
Ausklang geführt, der wie ein Song-Abspann auf die Welt von heute klingt – ein fabelhaft
apokalyptisches Soundszenario, in dem Hofstede die verloren gegangene und nicht wieder
auffindbare Liebe beklagt.
Und dass die Nits es nach diesen deprimierenden Botschaften verstehen, zum Schluss mit
“Paper” dann doch noch hinter das vermeintliche Ende einen versöhnlichen
poetischen Schlusspunkt zu setzen, macht diese tolle Gruppe einmal mehr zu einer überaus
sympathischen Erscheinung, die sich jede Empathie für “Malpensa” redlich verdient hat.
Reflektierter, tiefsinniger, weitblickender, poetischer, unterhaltsamer, ergo: relevanter kann Pop
nicht sein. Ein Kunstwerk, vor dem ich jederzeit mit tiefstem Respekt Herrn Hofstedes CoverHut ziehe.

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