Soziale Arbeit in katholischen Kirchgemeinden

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Soziale Arbeit in katholischen Kirchgemeinden
Soziale Arbeit in katholischen Kirchgemeinden
Interview mit Fridolin Wyss und Hans−Rudolf Häusermann
Fridolin Wyss ist Leiter der Fachstelle Diakonie der römisch−katholischen Kirche des Kantons
Basel−Stadt sowie der Fachstelle Soziale Arbeit der römisch−katholischen Landeskirche
Basel−Landschaft
Hans−Rudolf Häusermann ist Leiter des Dekanats Luzern−Stadt
SozialAktuell: Wie viele SozialarbeiterInnen arbeiten heute in den katholischen Kirchgemeinden der
Schweiz und welches sind ihre Einsatzschwerpunkte?
Fridolin Wyss: In den Pfarreien der Schweiz arbeiten insgesamt rund 120 SozialarbeiterInnen. Die
meisten sind in den Städten Zürich, Bern, Luzern, Basel sowie Winterthur und Umgebung
anzutreffen. Im Bistum Basel entsteht pro Jahr im Schnitt ein neuer Pfarreisozialdienst oder ein
regionaler Sozialdienst, der von mehreren Kirchgemeinden gemeinsam getragen wird. Vereinzelt
sind in den letzten Jahren auch ökumenische Sozialdienste entstanden. Ein neues Phänomen ist
auch, dass für konkrete Projekte SozialarbeiterInnen mit einem kleineren Pensum angestellt
werden.
Aufgabenschwerpunkte sind aus quantitativer Sicht die Sozialberatung und die Altersarbeit. Jedoch
entstehen je länger je mehr Projekte für spezifische Zielgruppen. Vor allem in der Altersarbeit
arbeiten die Pfarreisozialdienste mit Freiwilligen. Die professionelle Begleitung der Freiwilligen nach
den Standards von Benevol Schweiz wird zunehmend Alltag.
Wie sehen die strukturellen Voraussetzungen und die Rahmenbedingungen in den Kirchgemeinden
aus? Gibt es viele EinzelkämpferInnen?
Hans−Rudolf Häusermann: Die strukturellen Voraussetzungen haben sich in den letzten Jahren
verbessert. Seit 2001 besteht ein aktualisiertes Berufsbild für kirchliche SozialarbeiterInnen . Im
Bistum Basel wurde 1999/2000 eine empirische Studie zum Thema Pfarreisozialdienste gemacht.
Als eine Folge davon gibt es seit 2001 eine Fachorganisation, die regelmässig Tagungen
durchführt.
Bereits vorher entstanden in den Städten Luzern, Bern, Aarau und Basel Fachstellen, welche eng
miteinander zusammenarbeiten und die Qualität der pfarreilichen Sozialarbeit sicherstellen. In den
Städten haben sich die SozialarbeiterInnen auch überpfarreilich zusammengeschlossen, um
gemeinsame Interessen zu vertreten und gesamtstädtische Projekte durchzuführen. Allerdings ist
nicht zu übersehen, dass ihre Integration in die Pfarreiteams und in die Pfarreiarbeit an vielen Orten
noch nicht gelungen ist.
Fridolin Wyss: In den Pfarreien selber sind sie Einzelkämpfer in dem Sinn, dass sie alleine für die
professionelle Sozialarbeit kämpfen. Nur in wenigen Pfarreien sind zwei Personen in einem
Pfarreisozialdienst. Anderseits sind sie keine Einzelkämpfer, weil sie Mitglieder der Seelsorgeteams
und des Dekanats sind – eines gesamtstädtischen Gremiums, das die Seelsorge der gesamten
Stadt plant und gestaltet. In beiden Gremien haben sie dasselbe Mitspracherecht wie zum Beispiel
die Theologen und Theologinnen.
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Wie beurteilen Sie den Grad der Professionalität? Gibt es spezifische Weiterbildungsangebote?
Fridolin Wyss: Nach meiner Einschätzung haben heute über 80 Prozent der SozialarbeiterInnen in
Pfarreien einen Fachhochschul−Abschluss in Sozialarbeit. Daneben finden wir auch
GerontologInnen, Soziokulturelle AnimatorInnen und andere der Sozialarbeit Nahestehende in den
Pfarreisozialdiensten. Die Fachstellen, die die Pfarreisozialdienste beraten oder leiten – zum
Beispiel in Bern –, leisten ihren Beitrag zur Professionalisierung, in dem sie Arbeitsinstrumente
entwickeln. Selbstverständlich ist für die SozialarbeiterInnen fachspezifische Weiterbildung
vorgesehen. Da die Leitung der Pfarreisozialdienste jedoch – mit Ausnahme von Bern – alleine bei
den GemeindeleiterInnen liegt, haben wir gegen aussen kein einheitliches Bild von kirchlicher
Sozialarbeit. Als Fachstellen können wir mit den SozialarbeiterInnen zwar ein solches entwickeln.
Die Umsetzung jedoch liegt in den Händen der Gemeindeleitenden und der SozialarbeiterInnen
selber.
Hans−Rudolf Häusermann: Was fehlt, ist ein geklärtes Bild des Profils der pfarreilichen Sozialarbeit
im Pfarreiteam, das in grösseren Pfarreien ja nicht nur aus TheologInnen sondern auch aus
KatechetInnen, JugendarbeiterInnen, SekretärInnen und eben SozialarbeiterInnen besteht. Es gibt
auch einen Einführungskurs in die kirchliche Sozialarbeit. Ich finde es unentbehrlich, dass das
Spezifische der pfarreilichen Sozialarbeit bewusster wird und SozialarbeiterInnen sich ein Bild
machen können, in welcher Organisation sie wirklich tätig sind.
Die Beziehungen zwischen den TheologInnen und den Professionellen Sozialer Arbeit sind in der
reformierten Kirche nicht immer spannungsfrei («Vorrang des Wortes vor der Diakonie»). Wie sieht
es in den katholischen Kirchgemeinden aus?
Hans−Rudolf Häusermann: In den katholischen Pfarreien hat durch Einflüsse der politischen
Theologie und der Befreiungstheologie aus Südamerika die handlungsorientierte Dimension des
Gemeindelebens stark an Bedeutung gewonnen. Sie akzentuiert sich in der so genannten «Option
für die Armen», die vielerorts zu einer Grundaussage christlichen Gemeindelebens geworden ist.
Dies äussert sich denn auch in der vermehrten Einmischung in sozialpolitische Themen.
Trotzdem bleibt das Machtgefälle zwischen Theologie und Sozialer Arbeit erhalten – nicht zuletzt
deshalb, weil viele Leitungsfunktionen in der Katholischen Kirche an die theologische
Fachkompetenz und an die Ordination gebunden sind. Die unverzichtbare Partnerschaftlichkeit
zwischen den verschiedenen Fachkompetenzen gelingt nur dort, wo man die Berufsfelder
gegenseitig kennen lernt und anerkennt. Partnerschaftlichkeit hat viel mit Team−Kultur und
Leitungsstil zu tun, aber ebenso mit der Bereitschaft des Einzelnen, den Auftrag eines Pfarreiteams
als Ganzes wahrzunehmen und sich selber darin zu verorten. Es macht mich nachdenklich, dass
meine Diplomarbeit von 1976 , die sich mit dieser Frage beschäftigte, immer noch aktuell ist.
Fridolin Wyss: In der katholischen Theologie kennen wir den Vorrang des Wortes nicht. Die
Diakonie ist gleichwertig wie die Verkündigung. Wie Hans−Rudolf Häusermann mit Recht darauf
hinweist, hat die Befreiungstheologie, deren Ausgangspunkt das Leben der Armen ist, die tätige
Nächstenliebe gestärkt. Der deutsche Theologe Steinkamp sieht den Begriff «Option für die Armen»
als eine neue Bezeichnung für den alten Begriff «Diakonie».
Soweit die Theorie. In der heutigen Praxis stelle ich fest, dass die Zahl der befreiungstheologisch
beeinflussten TheologInnen in der Deutschschweiz eher abnimmt. Tendenziell konzentrieren sich
insbesondere jüngere Priester und Theologen (die männliche Form ist bewusst gewählt) auf die
Verkündigung, die Liturgie und auf die seelische Begleitung jener Menschen, die noch am
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Gemeindeleben teilnehmen. Trotzdem findet sich auch bei ihnen eine grosse Sensibilität für die Not
der Menschen und für sozialpolitisches Engagement.
Welchen Stellenwert hat die Soziale Arbeit innerhalb der katholischen Diakonie, die ja sehr viel
breiter definiert wird?
Hans−Rudolf Häusermann: «Diakonie» ist ein theologischer Begriff und meint, dass für das
Gemeindeleben, aber auch für das Leben des Einzelnen das konkrete Handeln im Sinne des
Evangeliums unverzichtbar ist. Zu diakonischem Handeln ist jeder getaufte Christ, jede getaufte
Christin beauftragt. Weder ist Diakonie das ausschliessliche Arbeitsfeld der SozialarbeiterInnen,
noch können die TheologInnen die Diakonie an die SozialarbeiterInnen delegieren. So engagieren
sich TheologInnen diakonisch zum Beispiel in sozialen Projekten oder bei Krankenbesuchen und
SozialarbeiterInnen bringen ihre Anliegen in die Liturgie ein.
Fridolin Wyss: Die sozialen Problemstellungen sind heute derart komplex geworden, dass meines
Erachtens die professionelle Sozialarbeit für die adäquate Wahrnehmung des diakonischen
Auftrages unabdingbar geworden ist. Jene kirchlichen Kreise, die das nicht so sehen, glauben mit
Freiwilligen den gesamten diakonischen Auftrag erfüllen zu können. Dagegen spricht meines
Erachtens, dass die Freiwilligen einer professionellen Begleitung bedürfen und jene Freiwilligen, die
diesen Bedarf nicht haben, aussterben werden.
Ein zweites Argument für die professionelle Sozialarbeit in der Diakonie ist deren permanenter
Entwicklungsbedarf. Wir stellen fest, dass einige Pfarreien im diakonischen Bereich heute noch
dasselbe Angebot machen wie vor dreissig Jahren. Somit gehen sie kaum auf die neuen sozialen
Herausforderungen ein. Die professionelle Sozialarbeit hat das entsprechende Instrumentarium, um
das tun zu können. Um jedoch nicht allen TheologInnen ungerecht zu werden, muss erwähnt
werden, dass manche von ihnen sich heute das entsprechendes Handwerkszeug aneignen, um auf
die aktuellen Herausforderungen eingehen zu können. Auch sie initiieren neue soziale Projekte
oder Institutionen, zum Beispiel eine Tagesstätte zur Entlastung von pflegenden Angehörigen. Für
mich ist das ein möglicher Weg zur Stärkung der Diakonie, im Sinne einer ergänzenden
Massnahme, zusätzlich zur Förderung von Pfarreisozialdiensten.
Welches sind heute Fragen und Themen, die kirchliche SozialarbeiterInnen bewegen?
Hans−Rudolf Häusermann: Ein wichtiges Thema ist nach wie vor der Stellenwert der Sozialen
Arbeit und die Stellung der SozialarbeiterInnen in Pfarrei und Pfarreiteam. Ein anderes Thema ist
die Verortung der pfarreilichen Sozialberatung im Sozialbereich eines Gemeinwesens. Dazu gehört,
dass die pfarreiliche Sozialberatung ein Profil hat, das auch nach aussen hin in die «Landschaft»
passt und kommuniziert ist. Das heisst nicht, dass die pfarreiliche Sozialarbeit Aufgaben
übernehmen soll, die Sache der öffentlichen Hand sind. Sodann gewinnen multikulturelle Fragen
und die Integration von MigrantInnen stark an Bedeutung, ebenso die Planung von und die Mitarbeit
an Projekten in Quartieren und Gemeinden.
Fridolin Wyss: Ergänzend zu den Aussagen von Hans−Rudolf Häusermann sind für mich zwei
Stichworte aktuell: soziale Integration und Freiwilligenarbeit. Vereinzelt entwickeln Pfarreien neue
Projekte, die die soziale Integration von sozial benachteiligten Menschen bewirken. So hat eine
Pfarrei eine Gruppe gebildet, die aus sozial benachteiligten (zwei Drittel) und sozial bevorzugten
(einem Drittel) Menschen besteht, die für vier grosse Pfarreianlässe die Verantwortung übernimmt.
In dieser Gruppe werden sozial Benachteiligte zu aktiven Akteuren. Gerade die Kirche, die sich als
Gemeinschaft versteht, könnte in diesem Bereich einiges anpacken.
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Die Freiwilligen – so klagt man auch in der Kirche – scheinen zu verschwinden. Wir stellen jedoch
fest, dass Projekte, in denen die Freiwilligen professionell begleitet werden und somit ihre
Kompetenzen erweitert werden können, kein Problem haben beim Gewinnen neuer Freiwilliger. Die
professionelle Sozialarbeit kann einen zentralen Beitrag dazu leisten, dass Freiwillige sich sozial
engagieren.
Interview: Daniel Iseli
www.avenirsocial.ch
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