Ein Blatt am Stammbaum ist kein Blatt im Wind
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Ein Blatt am Stammbaum ist kein Blatt im Wind
Ein Blatt am Stammbaum ist kein Blatt im Wind Christine Chapuis-Kobel Der Murtener Stadtarzt Johann Friedrich Ludwig Engelhard sammelte historische Dokumente, verfasste im Jahr 1828 «Der Stadt Murten Chronik und Bürger Buch» und widmete dieses nützliche Handbuch «im Gefühle wahrer Hochschätzung und Ergebenheit dem löblichen Munizipal-Rathe und sämmtlicher zuverehrenden Bürgerschaft der Stadt Murten». Die Stadt Murten war in unserer Jugendzeit oft Ziel unserer Sonntagsausflüge. Bei diesen Gelegenheiten zeigte meine Mutter, Monique Ruth Kobel-Mesey, heimatberechtigt in Murten, uns Kindern in der französischen Kirche das im Chorfenster eingearbeitete Familienwappen unserer Vorfahren mütterlicherseits. Sie weckte dadurch mein geschichtliches Interesse. Noch heute verfolge ich immer neue Spuren meiner interessanten Vorfahren. Der Name Mesey stammt ursprünglich aus Ungarn. Dort ist er sehr geläufig, wird allerdings Mezey geschrieben und bedeutet, vage übersetzt, «Feldherr». Der Name, in der Schweiz nicht besonders geläufig, wurde in historischen Dokumenten oft falsch geschrieben. So entdeckte mein Grossvater in «Engelhards Chronik der Stadt Murten» einen kleinen Fehler in der Liste der Bürgermeister zu Murten von 1469–1798. Anno 1603 führte der Chronist einen amtierenden Bürgermeister namens Wilhelm Misey auf. Grossvater korrigierte den Druckfehler handschriftlich. Trotz dieses kleinen Fehlers bin ich dem Stadtarzt Johann Friedrich Ludwig Engelhard, Mitglied der schweizerischen geschichtsforschenden Gesellschaft, für seinen ausgeprägten geschichtlichen Ordnungssinn dankbar. Gestützt auf das in seinem Buch integrierte Verzeichnis der noch blühenden bürgerlichen Das Wappen der Familie Engelhard in der Geschlechter zu Murten, gelang es französischen Kirche Murten. meinem Grossvater, den Stammbaum (Bild: Christine Chapuis) 75 bis zu Jacob Mesey (Thorwächter 1547 und Läufer 1548) zu rekonstruieren. Engelhard listete insgesamt 42 Murtener Geschlechter auf, machte darauf aufmerksam, dass keine vollständige Genealogie erwartet werden dürfe und bedau erte, dass er keines der Geschlechter mit Bestimmtheit auch nur bis zur Schlacht bei Murten von 1476 hinaufführen konnte. Sein öffentlicher Beruf und die ihm obliegenden Amtsgeschäfte hätten ihm wenige Nebenstunden gelassen, schrieb Engelhard im Vorwort seiner Chronik. Seiner eigenen Familiengeschichte widmete der Arzt knapp 20 Zeilen im Verzeichnis der Murtener Familien. Er reihte Amt an Amt (1816 Mitglied des Amtsgerichts, 1817 Mitglied des Rats, Spitalverwalter von 1817–1823, Stadtarzt ab 1818, Mitglied des Gesundheitsrats des Kantons 1826, Stadtsäckelmeister 1827 und Amtsprokurator 1828), erwähnte jedoch weder sein Geburtsdatum noch die Geburtsdaten seiner Söhne. Das Wirken seines Vaters Johann Friedrich, ebenfalls Stadtarzt und Verfasser von medizinischen Schriften, beschrieb er wesentlich spannender und gründlicher. Eine gewisse Vorliebe für Ämter hatten nicht nur die Engelhards, sondern auch die Meseys, die über Generationen öffentliche Ämter wie Seevogt oder Waisenvogt, Weibel, Spitalverwalter, Polizeiwächter, Brunnenaufseher oder Sigrist bekleideten und deshalb schriftlich registriert wurden. Grossvater konnte auf seine Ahnen stolz sein. Enttäuscht versah er einzig folgende Bemerkung in der Chronik mit dicken roten Strichen (Seite 43, Originaltext): «1414 wurde Murten durch eine Feuers- 76 brunst grösstentheils eingeäscht. Viele wichtige Documente wurden ein Raub der Flammen.» Mein Onkel hat Engelhards Chronik sorgfältig aufbewahrt, und einer meiner Cousins ergänzt den Stammbaum laufend. Er gibt sich zeitgemäss und hat versucht, die Linien der Frauen weiterzuführen. Deshalb steht auch mein Name auf einem der kleinen Blätter des mächtigen Baumes und gibt mir das gute Gefühl, fest verwurzelt zu sein. In Murten sind die Spuren der Familie Engelhard unübersehbar. Ein Porträt vom Vater des Chronisten, Stadtarzt Johann Friedrich Engelhard (geboren 1753, gestorben 1836), hängt im Historischen Museum. Johann Anton Friedrich und Carl Joachim Oscar, die beiden Söhne des Chronisten, präsentierten sich um 1835 in der Kadettenuniform. Sie sind in dieser Montur im Historischen Museum zu bewundern, ebenso wie das reich verzierte Familienwappen, dessen kleinere Ausführung sich in der französischen Kirche in die Reihe der Wappen der Familien Friolet, Wissaula und Delosea einreiht. Im gegenüberliegenden Fenster sind die Konturen der Wappen der Familien Mesey, Chatoney, Äschlimann und Rubli in Blei gegossen. Im dritten Fenster finden sich die Familien Roggen, de Rougemont, Derron und Fasnacht wieder. Wie ich dem Schweizerischen Kunstführer «Stadt Murten» entnehmen konnte, wurde die spätgotische Kapelle nach 1710 Pfarrkirche für die in Minderheit geratenen Welschmurtener. Die weitere Abnahme der französisch sprechenden Bevölkerung führte 1812 zur Vereinigung ihrer Kirchgemeinde mit derjenigen von Meyriez-Merlach. «Bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut» – der Spruch voller Schadenfreude gegenüber Karl dem Kühnen sitzt, obwohl im Lauf der Jahre manches aus dem Geschichtsunterricht in Vergessenheit gerät. Und wer in Murten die ausgetretenen Stufen zur Ringmauer hochgeht oder längere Zeit im Historischen Museum in der alten Mühle verweilt, kann die bewegte Vergangenheit der Stadt wirken lassen und vielleicht einen Moment lang seine eigenen Wurzeln spüren. Christine Chapuis Christine Chapuis-Kobel, 1954 in Bern geboren, besuchte dort die Handelsschule und arbeitete anschliessend einige Jahre im Auskunfts- und Reisebüro der SBB, später im Reklamationsdienst der Generaldirektion SBB. Der Herausforderung, Gedanken und Ereignisse in einer bestimmten Form weiterzugeben, begegnet sie uns heute als Journalistin beim Bieler Tagblatt. Sie bildet sich am Medienausbildungszentrum Luzern (MAZ) weiter. 77