"Intuition ist in die Zukunft gewendete Erinnerung" Ismael Ivo im

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"Intuition ist in die Zukunft gewendete Erinnerung" Ismael Ivo im
"Intuition ist in die Zukunft gewendete Erinnerung"
Ismael Ivo im Gespräch mit Johannes Odenthal
Johannes Odenthal: Sie haben mit Ihren Tanztheaterproduktionen immer wieder das Publikum
gespalten. Die einen feiern die Arbeiten mit Ovationen, die anderen werfen Ihnen Narzissmus vor. Im
Zentrum steht bei Ihnen der Umgang mit dem Körper, dem nackten Schwarzen Körper auf der Bühne.
Zuletzt haben Sie mit dem Stück Mapplethorpe das Tabu des Schwarzen männlichen Körpers in der
Weißen Gesellschaft inszeniert.
Ismael Ivo: Wenn man sich mit Mapplethorpe beschäftigt, kommt man automatisch zu den Stereotypen des
schwarzen, männlichen, erotischen Körpers. Mapplethorpe hat das auch so gemeint. Als Künstler hat er dieses
Tabu, diese verborgenen Fantasien von vielen Menschen, in einer sehr offenen Weise ausgestellt. Das ist sehr
spannend: Sobald man ein Tabu unter dem Tisch hervorholt und offen legt, beginnen Menschen, sich damit
auseinander zu setzen, ob sie es nun mögen oder nicht, ob sie geschockt sind oder nicht. Deswegen handelt es
sich um eine Entmythisierung von Tabus. Und das ist Mapplethorpe gelungen.
Aber wo liegt das Tabu? Liegt es in dem verdrängten Verlangen? In einer verbotenen Sexualität?
Das Tabu war die westliche Fantasie des schwarzen erotischen Mannes. Vielleicht liegt der Ursprung in einem
kolonialistischen Konzept. Die Schwarze Bevölkerung war da, um benutzt und missbraucht zu werden. Hier
haben diese erotischen Fantasien ihren perversen Ursprung. Der Schwarze Körper ist eingesperrt in die
existenzielle Situation der Entmachtung. Das ist die Bedingung der Versklavung unter kolonialer Herrschaft.
Und deswegen ist das kein freies Begehren gewesen. In diesem Sinne hat Mapplethorpe eine Perspektive
verändert, indem er eine Sichtweise zu einem radikalen Extrem führte. Dadurch hat das koloniale Begehren an
Stärke verloren. Er hat eine Situation umgekehrt. Normalerweise könnte man sagen, das ist Pornografie. Aber
man konnte es nicht, weil er als Fotograf die Situation meisterte.
Gleichzeitig entwickelte sich aber auch ein anderes Phänomen, das sehr nah an Jean Genet heranführt. Man
nimmt etwas aus dem Untergrund und beschreibt dann diesen Untergrund, mit dem man auch persönlich
verbunden ist, in einer Wahrhaftigkeit, die das „Schmutzige“ aufklärt, die Schönheit dieser Welt aufdeckt. Was
Genet in seiner Literatur tat, die Beschreibung des Untergrunds und deren Transformation in eine „heilige“
Situation, das hat Mapplethorpe mit der Fotografie getan.
Wenn ich versuche, Ihre Produktionen der letzten Jahre in einen Zusammenhang zu stellen, dann sehe ich
immer auch politische Positionen, die in den Choreografien ihren Ausdruck finden. Da ist das Thema der
Apartheid, das Thema der Emanzipation und auch die Auseinandersetzung mit dem europäischen Kanon,
wie zum Beispiel in Othello oder später in den Zofen nach Jean Genet. In diesen Produktionen setzen Sie
sich neben den künstlerischen, inhaltlichen Themen auch mit den Bedingungen der postkolonialen
Complete interview published in «Der Black Atlantic» (3-9808851-5-1) | 2004 published by the House of World Cultures in Berlin
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Existenz auseinander, spielen mit politischen Subtexten. Die Zofen, von zwei Schwarzen Tänzern
interpretiert, steigen ein in das Labyrinth aus Begehren, Macht und Unterdrückung.1
Deswegen verletzt es mich auch, wenn Kritiker in meinen Arbeiten nur Narzissmus sehen wollen. Delirium of a
Childhood beispielsweise ist ein Solo über Hunger. Ich hatte eine Recherche über Hunger in der Welt gemacht
und auch Erinnerungen aus meiner eigenen Kindheit integriert, Dinge, die ich in meiner unmittelbaren
Umgebung gesehen habe. Aber ich habe meinen Weg trotz aller Widerstände nicht geändert. Meine
ursprüngliche Idee, Stücke zu entwickeln, habe ich niemals aufgegeben. So wie in Francis Bacon, wo ich mit
einem zehnminütigen Solo nackt beginne. Die Nacktheit ist Teil des Inhalts. Und so war mir klar, was in der
Kritik bei Mapplethorpe passieren würde. „Da kommt der schwarze Narziss.“ Vielleicht ist man in einer
mitteleuropäischen mehrheitlich Weißen Gesellschaft sofort stigmatisiert, wenn man sich mit dieser Konsequenz
darstellt, wie ich das tue. Ich bin sicher, dass man einen Weißen Tänzer in einem europäischen Stoff wie Bacon
anders sehen würde. Der Weiße nackte Körper entspricht dem europäischen Konzept des Selbst.
Ich definiere mich selbst immer als ein existenzialistischer Tänzer. Ich befrage die Existenz, den Körper, den
Schwarzen männlichen Körper, also meine eigene Sprache, meinen Kontext. Wenn ich Mapplethorpe vor
diesem Hintergrund sehe, dann muss ich auch danach fragen, was ist die soziale, wirkliche Situation von
Schwarzen Männern heute? Das gehört zu meinem Kontext, wenn ich einen männlichen Schwarzen Körper auf
die Bühne bringe. So gehörten Recherchen zu den sozialen Bedingungen von Schwarzen zu meinem Projekt. Ich
fand heraus, dass in den USA auffällig viele Schwarze unter 20 Jahren im Gefängnis sitzen, nicht wenige von
ihnen zum Tode verurteilt. Meine ursprüngliche Idee war, dass ich in der ersten Szene auf dem elektrischen
Stuhl sitze. Für mich ist das immer noch Mapplethorpe. Wir haben das schließlich geändert, trotzdem befinde
ich mich da in einer extremen Situation, eingesperrt zwischen zwei Glasscheiben, zwischen denen ich mich
kaum bewegen kann. Es ist das Gefängnis des Schwarzen Körpers, aber auch des Körpers schlechthin. Ich
versuche mich aus diesem Glaskasten zu befreien. Dabei stürzt die gigantische Vitrine auf die Bühne. Das ist so,
als würde ich in die wirkliche Welt herausgeschleudert. In die Welt des Fotografen. …
2003/04
Aus dem Englischen von Angelika Peters
Johannes Odenthal leitet den Bereich Musik, Tanz und Theater am Haus der Kulturen der Welt.
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Die Zofen, Tanztheaterproduktion nach dem gleichnamigen Stück von Jean Genet (1946 in Paris
uraufgeführt) ist eine Koproduktion des Hauses der Kulturen der Welt und des Theaterhauses Stuttgart aus dem
Jahr 2001 mit den Tänzern (und Choreografen) Koffi Kôkô und Ismael Ivo, bei der der durch Peter-BrookInszenierungen bekannt gewordene Schauspieler Yoshi Oida Regie führte.
Complete interview published in «Der Black Atlantic» (3-9808851-5-1) | 2004 published by the House of World Cultures in Berlin
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