Sheldon (1998)
Transcription
Sheldon (1998)
Arbeitsmarktökonomie George Sheldon Juni 1998 3. Fassung 1. Einleitung Ein grosses Rätsel, vor dem die Arbeitsmarktforschung seit längerem steht, ist die stark ansteigende und persistente Arbeitslosigkeit, mit der die westeuropäischen Länder seit Mitte der 70er Jahre, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, konfrontiert sind. Abbildung 1 schildert die Problematik. Während sich die Arbeitslosigkeit in Nordamerika seit 1970 um eine relativ stationäre Arbeitslosenquote von rund sechs Prozent entwickelte und sich in Japan auf niedrigem Niveau bewegte, neigte die Unterbeschäftigung in den Industriestaaten Europas nach konjunkturellen Erholungen auf hohem Stand zu verharren. Auch die Schweiz ist gegen diese Entwicklung nicht gefeit gewesen, wenn auch sich das Problem - wie bei den anderen ehemaligen EFTALändern - erst später einstellte (Abbildung 2). Abbildung 1: Arbeitslosigkeit in OECD-Ländern, 1970-96 12 EG Arbeitslosenquote in Prozent 10 8 Nordamerika 6 EFTA 4 Japan 2 1996 1995 1994 1993 1992 1991 1990 1989 1988 1987 1986 1985 1984 1983 1982 1981 1980 1979 1978 1977 1976 1975 1974 1973 1972 1971 1970 0 Quelle: Employment Outlook, OECD, verschiedene Jahrgänge Im Hinblick auf Abbildung 1 ist ferner festzuhalten, dass die Arbeitslosigkeit in allen Regionen etwa zeitgleich anstieg, aber danach je nach Land unterschiedlich schnell fiel. Dies deutet darauf hin, dass die unterschiedlichen arbeitsmarktlichen Erfahrungen der Länder nicht in den Ursprüngen oder im Ausmass der die Arbeitslosigkeit auslösenden Schocks begründet liegen, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie die negativen Impulse von den nationalen Arbeitsmärkten verarbeitet wurden. Diese Beobachtung liegt hinter dem oft geäusserten Vorwurf, die Arbeitsmärkte Europas seien in Vergleich zu jenen Nordamerikas inflexibel und überreguliert (Stichwort "Eurosklerose"). 1 Abbildung 2: Arbeitslosenquote der Schweiz, 1970-1997 6.0 5.0 Prozent 4.0 3.0 2.0 1.0 1997 1996 1995 1994 1993 1992 1991 1990 1989 1988 1987 1986 1985 1984 1983 1982 1981 1980 1979 1978 1977 1976 1975 1974 1973 1972 1971 1970 0.0 Jahresanfang Quelle: Die Volkswitschaft, verschiedene Jahrgänge Die hohe und anhaltende Arbeitslosigkeit in Europa hat zu einer Vielzahl theoretischer und empirischer Arbeiten geführt, die das Phänomen bzw. einzelne Aspekte davon zu erklären versuchen. Der nachfolgende Beitrag soll einen Überblick über die erzielten Resultate geben. Angesichts der Seitenrestriktionen versteht es sich wohl von selbst, dass der Beitrag lediglich einen gerafften Streifzug durch die Literatur bieten kann. 1 Erschwerend kommt hinzu, dass von einem geschlossenen, in sich konsistenten und womöglich auch noch allgemein akzeptierten Erklärungsansatz derzeit keine Rede sein kann, wovon eine Gruppe unlängst im Journal of Economic Perspectives (1997) erschienenen Artikeln zur NAIRU (vgl. unten Abschnitt 2.3) deutlich Zeugnis ablegt. Die Arbeit gliedert sich wie folgt: Kapitel 2 stellt eine Auswahl theoretischer Ansätze dar, die zur Erklärung der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in Europa herangezogen werden können. Kapitel 3 sichtet die empirische Evidenz. Kapitel 4 zieht aus dem Dargelegten Lehren für die Schweiz. 1 Wesentlich umfangreichere Überblicke bieten u.a. LAYARD et al. (1991), BEAN (1994), und FRANZ (1996). 2 2. Erklärungsansätze Die treppenartige Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Europa wird üblicherweise als ein Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit beschreiben, wobei Sockelarbeitslosigkeit, als jenes Niveau der Arbeitslosigkeit verstanden wird, das diese in konjunkturneutrale Phasen aufweist. "Sockelarbeitslosigkeit" ist eigentlich kein Begriff der Volkswirtschaftslehre. Vielmehr spricht man dort von "gleichgewichtiger" Arbeitslosigkeit und meint damit jenes Niveau, auf dem die Arbeitslosigkeit bei einem Ausgleich der sie bestimmenden Kräfte zu verharren neigt. Im folgenden steht die Gleichgewichtsarbeitslosigkeit im Zentrum. Je nach Modellrahmen kann diese unterschiedlich definiert sein und folglich von anderen Faktoren abhängen. 2.1. Klassisches Arbeitsmarktmodell Um den Einstieg in die Materie zu erleichtern, lohnt es sich einen Blick auf das klassisches Arbeitsmarktmodell zu werfen. Graphisch betrachtet (vgl. Abbildung 3) besteht dieses aus einer Nachfragekurve (D), welche die Zahl der von den Firmen nachgefragten Arbeitskräfte in Abhängigkeit vom Reallohn angibt, und aus einer Angebotskurve (S), welche die Zahl der Stellensuchenden ebenfalls in Abhängigkeit vom Reallohn wiedergibt. Der negative Verlauf der Nachfragekurve besagt, dass Firmen nur dann bereit sind, mehr Personen zu beschäftigen, wenn der Lohn fällt. Umgekehrt suchen nur dann mehr Personen nach Arbeit, wenn der Lohn steigt, was die positive Neigung der Angebotskurve begründet. Der Schnittpunkt beider Kurven lässt sich als Gleichgewicht bezeichnen, da alle Personen, die bei einem Reallohn von w arbeiten möchten, auch Arbeit finden und alle Stellen, die zu diesem Lohn angeboten werden, auch besetzt werden. Im Gleichgewicht besteht somit ein Kräfte- bzw. Interessensausgleich, der den Arbeitsmarkt in dieser Position verharren lässt. Im Gleichgewicht des klassischen Arbeitsmarktmodells wird der Arbeitsmarkt geräumt. Es bestehen weder offene Stellen noch Arbeitslose. Eine Sockelarbeitslosigkeit bzw. Gleichgewichtsarbeitslosigkeit entsteht folglich nicht. Deshalb kann das Modell auch nicht herangezogen werden, um anhaltende Arbeitslosigkeit zu erklären. Das klassische Arbeitsmarktmodell versagt auch in anderer Hinsicht. Nach ihm ergeben sich oberhalb des Gleichgewichtslohns Arbeitslose im Umfang des horizontalen Abstands zwischen der Angebots- und Nachfragekurve, jedoch keine offenen Stellen, da bei solchen Lohnhöhen die Stellennachfrage das Stellenangebot stets übersteigt. 3 Umgekehrt treten unterhalb des Gleichgewichtslohns offene Stellen in Erscheinung, dafür aber keine Arbeitslosen, weil bei diesen Lohnhöhen die Stellennachfrage das Stellenangebot unterschreitet. Ober- und unterhalb des Gleichgewichtslohns kann es nach Massgabe des klassischen Marktdiagramms folglich entweder offene Stellen oder Arbeitslose geben, nicht jedoch beide gleichzeitig, was der allgemeinen Erfahrung jedoch widerspricht. Abbildung 3: Klassisches Arbeitsmarktmodell Reallohn E S w E D Arbeitskräfte Da in einem freien Markt kein Marktteilnehmer gezwungen werden kann, mehr Arbeit nachzufragen oder anzubieten, als er beim gegebenen Reallohn dazu bereit ist, lassen sich nur jene Punkte auf den Angebots- und Nachfragekurven im Markt realisieren, die auf den Innenseiten des Kurvenkreuzes liegen. Zusammen bilden diese Punkte den Bereich realisierbarer Beschäftigungsmöglichkeiten bzw. die sogenannte Beschäftigungskurve. Mit dieser Kurve befassen wir uns im kurzen weiter. 2.2. Matching-Modelle Die der Erfahrung widersprechende Modellaussage, dass offene Stellen und Arbeitslose nie gleichzeitig in Erscheinung treten, liegt darin begründet, dass das klassische Marktmodell von Marktunvollkommenheiten abstrahiert. Es unterstellt z.B. vollkommene Markttransparenz und homogene bzw. vollkommen substituierbare Arbeitsstellen und Arbeitskräfte. In Wirklichkeit jedoch bestehen Informations- und Mobilitätsbarrieren auf den Arbeitsmarkt, die einen sofortigen Marktausgleich verhindern. Derartige Marktineffizienzen stehen im Mittelpunkt von Matching-Modellen. 4 Der Einfluss von Marktunvollkommenheiten der genannten Art lässt sich im Marktdiagramm durch eine links des Kurvenkreuzes gezeichnete Beschäftigungskurve (EE in Abbildung 3) Rechnung tragen. Die daraus entstehende Graphik wird in Anlehnung an HANSEN (1970) vielfach als Hansen-Diagramm bezeichnet. Der horizontale Abstand der Nachfragekurve (D) und der Angebotskurve (S) von der nunmehr verschobenen Beschäftigungskurve EE gibt weiterhin die Zahl der offenen Stellen bzw. Arbeitslosen an. Aber die Linksverschiebung der Beschäftigungskurve führt nun dazu, dass Arbeitslose und offene Stellen in jeder Marktlage gemeinsam in Erscheinung treten können. Beim Gleichgewichtslohn bzw. im Gleichgewicht halten sich Arbeitslose und offene Stellen gerade die Waage. Die gleichgewichtige Arbeitslosenquote entspricht somit dem relativen Abstand [= (S-E)/S = Arbeitslosigkeit/Erwerbsbevölkerung] der Beschäftigungskurve (EE) und der Angebotskurve (S) in Höhe des Schnittpunktes der Nachfrage- und Angebotskurven. Nach Massgabe von Matching-Modellen hängt die Höhe der Gleichgewichts- bzw. Sockelarbeitslosigkeit vom Ausmass der Informations- und Mobilitätsbarrieren auf dem Arbeitsmarkt und von der Fähigkeit und Bereitschaft der Marktteilnehmer, diese Barrieren zu überwinden. Als potentielle Bestimmungsfaktoren zählen unter anderem die Qualität der öffentlichen Arbeits- und Stellenvermittlung, die Suchintensität der Marktakteure und deren Flexibilitätsbereitschaft, die allesamt die Gleichgewichtsarbeitslosigkeit senken, sowie das Ausmass der beruflichen, regionalen oder sonstigen Profildiskrepanzen zwischen den angebotenen und nachgefragten Arbeitsstellen (Stichwort: Strukturwandel), institutionelle Rigiditäten und die Grosszügigkeit bzw. Nachsicht der Arbeitslosenversicherung, die hingegen die Gleichgewichtsarbeitslosigkeit anheben. Die Höhe der Gleichgewichtsarbeitslosigkeit dient gleichzeitig als Messgrad der Effizienz des Arbeitsmarktes: Ein grosser Abstand zwischen der Beschäftigungskurve und der Angebotskurve impliziert, dass eine hohe Zahl an Arbeitslosen und Vakanzen trotz ihrer numerischen Ausgeglichenheit scheinbar unvereinbar einander gegenüberstehen. Man beachte, dass nach Massgabe von Matching-Modellen die Höhe des Reallohnes keinen unmittelbaren Einfluss auf die Höhe der gleichgewichtigen Arbeitslosigkeit hat. Empfehlungen, die Sockelarbeitslosigkeit durch Lohnsenkungen zu bekämpfen, lassen sich somit nicht auf der Basis von Matching-Modellen begründen. Ferner ist festzuhalten, dass die Gleichgewichtsarbeitslosigkeit an einem einzigen Punkt auf der 5 Beschäftigungskurve gemessen wird. Verschiebungen und Drehungen der Angebotsund Nachfragekurven sowie Veränderungen der Wölbung der Beschäftigungskurve haben solange keine Auswirkung auf die Höhe der gleichgewichtigen Arbeitslosigkeit, als der horizontale Abstand zwischen der Beschäftigungskurve und dem Schnittpunkt von Angebots- und Nachfragekurve unverändert bleibt. Mit anderen Worten: Die Höhe der Gleichgewichtsarbeitslosigkeit in Matching-Modellen ist von der allgemeinen Beschäftigungssituation unabhängig. Drei Varianten des Matching-Ansatzes sind in der Literatur zu finden: - sog. Mikro-Mengenrationierungsmodelle (vgl. DRÈZE/BEAN 1990), die unterstellen, dass zwar auf der Stufe eines vollständig homogenen und transparenten Teilmarktes offene Stellen und Arbeitslose nicht gemeinsam in Erscheinung treten, dass aber auf der aggregierten Ebene, welche die Summe aller Teilmärkte darstellt, ein Nebeneinander von Vakanzen und Stellenlosen gemäss dem Hansen-Diagramm wohl existiert. - Matching-Funktionen, die auf einen Ansatz von HALL (1977) zurückgehen und Vermittlungen bzw. Austritte aus der Arbeitslosigkeit als eine Produktionsfunktion modellieren, bei der Bestände an Arbeitslosen und offene Stellen als Inputs dienen, woraus sich Vermittlungen als Outputs ergeben. Die Höhe der Gleichgewichtsarbeitslosigkeit entspricht in dieser Modellvariante dem Stand der "Produktionstechnologie". - Beveridge-Kurven, welche die inverse bzw. hyperbolische Beziehung zwischen der Zahl der offenen Stellen und Arbeitslosen, die das Hansen-Diagramm impliziert2, im Zeitablauf abbilden. Die Kurve wurde nach dem britischen Ökonomen William Henry Beveridge (1879-1963) benannt, der die Gleichheit von offenen Stellen und Arbeitslosen als Basis seines Vollbeschäftigungsbegriffs verwendete. Abbildung 4 präsentiert die Beveridge-Kurve der Schweiz für den Zeitraum 1970-96. Da die Beveridge-Kurve lediglich einen Spiegelbild der Beschäftigungskurve in Abbildung 3 darstellt, entspricht die Gleichgewichtsarbeitslosigkeit der Höhe der Arbeitslosigkeit, die sich im Schnittpunkt der Beveridge-Kurve mit der Winkelhalbierenden3 ergibt. Bei der Betrachtung einer empirischen Beveridge-Kurve ist jedoch zu beachten, dass diese nicht alle offenen Stellen und Arbeitslosen abbildet, sondern lediglich diejenigen, die auch von der Statistik erfasst werden. Dies wird in der Zeich2 3 Oberhalb (unterhalb) des Gleichgewichtslohns in Abbildung 3 nimmt die Zahl der Arbeitslosen gegenüber der Beschäftigungskurve EE zu (ab) und die Zahl der offenen Stellen ab (zu). Man beachte, dass entlang der Winkelhalbierenden der Zahl der offenen Stellen der Zahl der Arbeitslosen entspricht, was der Gleichgewichtsbegriff der Matching-Modelle voraussetzt. 6 nung dadurch Rechnung getragen, dass der Strahl vom Ursprung nach rechts gedreht wird, so dass nicht die numerische Gleichheit von Vakanzen und Arbeitslosen die Gleichgewichtsbedingung bildet, sondern ein Verhältnis von etwa 1:4. Das heisst: Es wird unterstellt, dass der Erfassungsgrad bei den Arbeitslosen viermal höher liegt.4 Dadurch erscheint 1991 als ein Jahr der Vollbeschäftigung. Punkte links des Strahls kennzeichnen Jahre der Überbeschäftigung, Punkte rechts davon solche von Unterbeschäftigung. Aber auch ohne die Korrektur ist klar zu erkennen, dass sich die Beveridge-Kurve hierzulande sukzessive nach aussen vorschoben hat, was zunächst auf eine abnehmende Effizienz des heimischen Arbeitsmarktes hinweist. Die BeveridgeKurve der 90er Jahre, die aufgrund der andauernden Wirtschaftsstagnation in Abbildung 4 nur in Umrissen zu erkennen ist, impliziert eine Sockelarbeitslosigkeit von rund 2,6 Prozent. Dies entspricht in etwa der Hälfte der Arbeitslosenquote des Jahres 1997. Abbildung 4: Beveridge-Kurve der Schweiz, 1970-1997 0.0050 1989 1990 0.0045 0.0040 0.0035 1988 1987 1980 Vakanzenquote 1981 1986 0.0030 1991 1997 1979 0.0025 1978 0.0020 1984 1977 1982 0.0015 1970 0.0010 1993 1995 1983 1972 1971 1973 1974 1992 1985 1996 1994 1976 1975 0.0005 0.0000 0.000 0.010 0.020 0.030 0.040 0.050 0.060 Arbeitslosenquote Quelle: Die Volkswirtschaft, verschiedene Jahrgänge, eigene Berechnungen 2.3. Verteilungskampfmodelle Im Mittelpunkt von Verteilungskampfmodellen, die auf der Phillips-Kurve aufbauen, stehen Tarifverhandlungen, die als Verteilungskampf zwischen organisierten Arbeitnehmer- und Arbeitgebergruppen um das Sozialprodukt aufgefasst werden. In ihrem 4 Für die 70er Jahre liegt das Verhältnis vermutlich etwa bei eins. Vgl. hierzu Abschnitt 3.2. 7 Streben nach Verteilungsgewinnen setzen die Arbeitnehmer ihre Lohnsetzungsmöglichkeiten ein, während die Arbeitgeber ihre Preissetzungsspielräume ausnutzen. Für einen Ausgleich zwischen den Verteilungsinteressen der Tarifpartner und somit dafür, dass der Verteilungskampf nicht in eine Inflationsspirale mündet, sorgt die Beschäftigungslage bzw. die Arbeitslosigkeit, welche den Arbeitnehmern mit dem Verlust der Arbeitsstelle und den Arbeitgebern mit Absatzeinbussen droht. Die Arbeitslosigkeit übernimmt damit die koordinierende Funktion, welche im klassischen Marktmodell der Preis bzw. Reallohn erfüllt. Unter diesen Modellannahmen gibt es eine Höhe der Arbeitslosigkeit, welche die Ansprüche der Tarifpartner an das Sozialprodukt so koordiniert, dass die Inflationsrate konstant bleibt. Die damit verbundene gleichgewichtige Arbeitslosenquote wird in der englischsprachigen Literatur NAIRU ("nonaccelerating inflation rate of unemployment") genannt. Die Höhe von NAIRU hängt ab von den Verteilungsansprüchen der Tarifpartner und deren Entschlossenheit, diese Ansprüche durchzusetzen. Je weniger einsichtig die Tarifpartner auf die Beschäftigungslage reagieren und je stärker sie ihre autonomen Verteilungsansprüche durchzusetzen versuchen, desto höher liegt die NAIRU. Der Sachverhalt lässt sich anhand des klassischen Marktdiagramms in Abbildung 3 veranschaulichen. Dabei ist die Nachfragekurve als das Preissetzungsverhalten der Firmen und die Angebotskurve als das Lohngebahren der Gewerkschaften aufzufassen. Die autonomen Verteilungsansprüche der Tarifpartner bestimmen die Lage der Kurven, ihre Entschlossenheit drückt sich in der Steigung der Kurven aus. Höhere Ansprüche führen zu Linksverschiebungen der Kurven, höhere Entschlossenheit zu flacheren Verläufen. Im Schnittpunkt beider Kurven besteht ein Interessensausgleich. Die Höhe der Arbeitslosigkeit, die sich mit der sich dabei ergebenden Beschäftigung verbindet, entspricht der NAIRU. Die Steigung der Lohnfestsetzungskurve (S) dient seit COE (1985) als Mass der Reallohnflexibilität. Je steiler die Kurve verläuft, desto stärker reagieren Nominallöhne auf die Beschäftigungslage und desto schwächer auf die Preisentwicklung, was zu einer niedrigen NAIRU führt. In der Schweiz ist die so gemessene Reallohnflexibilität bezogen auf die 60-80er Jahre im internationalen Vergleich niedrig. Veränderung der NAIRU erfolgen unter anderem durch exogene Schocks (Faktorpreisschocks, erhöhte Ansprüche des Staates, Technologieschocks und dergleichen mehr), welche die Verteilungsspielräume der Tarifpartner einengen. Die Auswirkungen solcher Schocks verpuffen jedoch langfristig, da die Tarifpartner mit der Zeit die veränderten Verteilungsspielräume erkennen und ihre Erwartungshaltung entspre- 8 chend anpassen. Andernfalls würde eine endlose Lohn-Preis-Spirale entstehen. Permanent wirken dagegen lediglich Faktoren, welche die Koordinierung von Verteilungsansprüchen beeinflussen. Dazu zählen einerseits die im vorigen Abschnitt angesprochenen Variablen, welche auf die Effizienz der Zusammenführung ("Matching") von Vakanzen und Stellensuchenden einwirken. Ein effizientes Zusammenspiel sorgt dafür, dass sich die Verteilungsspielräume erst bei einer niedrigeren Höhe der Arbeitslosigkeit verengen. Zu den permanenten Einflussfaktoren gehören andererseits die Macht der Gewerkschaften und der Wettbewerb auf den Absatzmärkten, welche die Preis- bzw. Lohnabwälzungsmöglichkeiten der Tarifparteien tangieren. Diese schlagen sich in den Steigungen der Preis- (D) und Lohnfestsetzungskurven (S) in Abbildung 3 nieder. Der Vorteil von Verteilungskampfmodellen liegt darin, dass sie im Unterschied zu Matching-Modellen die Auswirkung der Beschäftigungslage auf die Inflation berücksichtigen. Die NAIRU definiert die Grenze, an der fiskalische und geldpolitische Impulse lediglich Verteilungskämpfe auslösen, die zur steigenden Inflation ohne langfristige Beschäftigungsgewinne führen. Die NAIRU scheint allerdings wenig stabil zu sein, was ihren wirtschaftspolitischen Nutzen deutlich einschränkt. In den USA steht die NAIRU derzeit auf dem tiefsten Stand (unter 5%) seit 30 Jahren und in der Schweiz mit zuletzt (1995) 3,3 Prozent (vgl. OECD 1996) auf dem höchsten Niveau seit mindestens 1960. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob sich die NAIRU der Schweiz zuverlässig messen lässt, da die amtliche Arbeitslosenquote, die im Rahmen solcher Schätzungen als Messgrad der Anspannung auf dem Arbeitsmarkt dient, vor 1990 in dieser Rolle weitgehend versagt (vgl. Abschnitt 3.2). Entsprechendes gilt im übrigen auch für die im Rahmen von Verteilungskampfmodellen gemessene Reallohnflexibilität. Da die ausgehandelten Löhne in Verteilungskampfmodellen nicht für eine Räumung des Arbeitsmarktes sorgen, stellt sich naturgemäss die Frage, warum keine Kräfte entstehen, welche stellenlosen Arbeitswilligen Arbeit sichern. Die Literatur liefert hierzu zwei Haupterklärungsansätze: Effizienzlohntheorien, die in erster Linie auf AKERLOF (1982), SALOP (1979), SHAPIRO/STIGLITZ (1984) und YELLEN (1984) zurückgehen, und Insider-Outsider-Modelle, wozu SOLOW (19885), BLANCHARD/SUMMERS (1986) und LINDBECK/SNOWER (1988) massgebend beitrugen. Effizienzlohntheorien erklären, warum gewinnmaximierende Firmen nicht an markträumenden Löhnen interessiert sein können. Der Hauptgrund liegt darin, dass Löhne 9 nicht nur einen Kostenfaktor darstellen, sondern auch eine gewinnerhöhende Anreizfunktion für die Beschäftigten haben: Ein über der eigentlichen Arbeitsproduktivität liegender Lohn steigere die Leistungsintensität (unterbindet "shirking" bzw. Bummelei) des Einzelnen, vermindere die Personalfluktuation und erhöhe die Qualität (negative "adverse selection") der Stellenbewerber. Insider-Outsider-Modelle hingegen erklären, wie das Lohngebahren der Beschäftigten die Einstellung von Arbeitslosen beeinträchtigt. Gemäss diesem Modellansatz wirken Personen ("Insider"), die eine Stelle haben, auf eine Lohnentwicklung hin, die lediglich ihre eigene Beschäftigung sichert, aber keine zusätzlichen Arbeitsplätze für die Arbeitslosen ("Outsider") schafft. Die Macht dazu schöpfen die Insider nach diesem Ansatz aus den Fluktuationskosten, welche der Firma aus der Entlassung von Insidern (Trennungsgelder, Verlust von firmengeschaffenen Humankapital) und aus der Einstellung und Einarbeitung der Outsider entstehen. Vor dem Hintergrund dieser "Marktabschottungs"-Ansätze greift der Ruf nach Lohnkorrekturen zu kurz: Es müsste noch dargelegt werden, wie offensichtlich rational handelnde Tarifpartner dazu gebracht werden können, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln. Angesichts der beachtlichen Personenbewegungen auf dem Arbeitsmärkten der EU (vgl. BURDA/WYPLOSZ 1994) vermögen diese "Marktabschottungs"-Ansätze trotz einer nicht abzusprechenden formalen Eleganz nicht besonders zu überzeugen. Selbst während der gegenwärtigen Wirtschaftsstagnation hierzulande wird der Arbeitslosenbestand etwa anderthalbmal im Jahr "umgeschlagen". Aus dem Vorangegangenen dürfte deutlich geworden sein, dass das NAIRU-Konzept von einem stark korporativistischen bzw. zentralisierten Lohnbildungsprozess ausgeht. Der Ansatz ist zur Analyse des Schweizer Arbeitsmarkts, der sich durch stark dezentral geführte Lohnverhandlungen auszeichnet, deshalb nicht sonderlich geeignet. Dass er im Rahmen dieses Beitrags dennoch Berücksichtigung finden, liegt darin begründet, dass er fasst zum Standardarbeitsmarktmodell der Makroökonomie geworden ist. 10 2.4. Stock-Flow-Modelle Stock-Flow-Modelle des Arbeitsmarktes unterscheiden sich von den bisher behandelten Ansätzen vor allem dadurch, dass sie neben den Änderungen des Arbeitslosenbestands ("stock") auch die dahinterstehenden Strombewegungen ("flow") betrachten. Bezogen auf den Bestand der Arbeitslosen handelt es sich bei den Strömen einerseits um Eintritte von Personen in die Arbeitslosigkeit und andererseits um Austritte von Arbeitslosen aus diesem Zustand heraus. Durch die Berücksichtigung von Strömen rückt die Durchlässigkeit der Arbeitslosigkeit (Stichwort Langzeitarbeitslosigkeit) mit in die Betrachtung. Die Suchtheorie (MORTENSEN 1986, DEVINE/KIEFER 1991) bildet die modelltheoretische Basis dieser Ansätze. Die ersten stromanalytischen Untersuchungen der Arbeitslosigkeit stammen von MARSTON (1976). Ein konsequenter Ausbau des Stock-Flow-Ansatzes führt zur sogenannten Bevölkerungs- und Arbeitskräftegesamtrechnung (AGR), die vom inzwischen verstorbenen Nobelpreisträger Richard STONE (1971) entwickelt wurde und der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nachempfunden ist.5 In seiner denkbar einfachsten Form unterscheidet ein Stock-Flow-Modell der Arbeitslosigkeit zwischen zwei Erwerbszuständen: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit. Ein Gleichgewicht zeichnet sich im Rahmen dieses Modellansatzes dadurch aus, dass die Höhe des Arbeitslosenbestands trotz laufender Neuzugänge und Abgänge unverändert bleibt. In einer solchen Situation entspricht die Gleichgewichtsarbeitslosigkeit dem Produkt aus dem Risiko einer Erwerbsperson, in einem gegebenen Zeitraum in die Arbeitslosigkeit zu treten, und der durchschnittlichen Dauer des Verbleibs in diesem Zustand. Die zentrale Einsicht, die der stromanalytische Ansatz im Hinblick auf die gestiegenen Sockelarbeitslosigkeit in Europa liefert, ist die Erkenntnis, dass der Anstieg in erster Linie auf eine Zunahme der individuellen Verbleibzeit in der Arbeitslosigkeit zurückzuführen ist und nicht auf ein erhöhtes Risiko, arbeitslos zu werden (vgl. BEAN 1994). Mit anderen Worten: Nicht die Verhinderung von Arbeitslosigkeit ist ausschlaggebend, sondern die Schnelligkeit ihres Abbaus. Infolgedessen dürfte Massnahmen, die - wie das viel gepriesene VW-Modell - vor allem auf die Vermeidung von Arbeitslosigkeit abzielen, geringer Erfolg in Kampf gegen eine hohe Sockelarbeitslosigkeit beschieden werden. Ein Stock-Flow-Modell des Arbeitsmarktes bildet typischerweise den analytischen Rahmen zur Untersuchung der Auswirkungen der Arbeitslosenversicherung auf die Höhe der gleichgewichtigen Arbeitslosigkeit. Dies liegt darin begründet, dass die Re5 Für die Schweiz vgl. hierzu SHELDON/THEISS (1995). 11 gelungen einer Arbeitslosenversicherung in erster Linie die Ströme beeinflussen. Sie können, wie im Falle der Kurzarbeit, Zugänge in die Arbeitslosigkeit bekämpfen und/oder, wie bei der Umschulungs- und Weiterbildung, Abgänge aus der Arbeitslosigkeit fördern. Im Mittelpunkt einer stromanalytischen Untersuchung der Auswirkung der Arbeitslosenversicherung stehen Hazardfunktionen, welche die individuelle Wahrscheinlichkeit angeben, in der folgenden Periode aus der Arbeitslosigkeit auszutreten, in Abhängigkeit von der Dauer des bisherigen Verbleibs in der Arbeitslosigkeit. In Abbildung 5 erscheinen Hazardfunktionen für die Schweiz bezogen auf die zweite Hälfte der Jahre 1991, 1992 und 1993. Die Hazardfunktionen zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, im nächsten Monat die Arbeitslosigkeit zu verlassen, im allgemeinen zunächst ansteigt und danach fällt. Der Anstieg zu Beginn der Arbeitslosigkeit lässt sich mit der zunehmenden Marktübersicht erklären, die ein Arbeitsloser in den ersten Wochen der Stellenlosigkeit gewinnt und die seine Vermittlungschancen kontinuierlich erhöhen. Der Abfall danach kann grundsätzlich zwei Ursachen haben (vgl. HECKMAN/BORJAS, 1980): - Zum einen könnten sich die Stellenaussichten eines Arbeitslosen mit der Dauer seiner Arbeitslosigkeit sinken, sei es, weil berufliche Qualifikationen durch anhaltende Erwerbslosigkeit verloren gehen, oder sei es, weil Arbeitgeber hinter Langzeitarbeitslosigkeit besondere Mängel vermuten. Man spricht in diesem Zusammenhang von "negative duration dependence". - Zum anderen könnten die mit der Höhe der Dauerklasse abnehmenden Abgangsquoten auf einen Sortierprozess zurückzuführen sein, der darin besteht, dass Arbeitslose, die günstige Voraussetzungen besitzen, den Arbeitslosenbestand nach kurzer Dauer verlassen und Arbeitslose mit entsprechend ungünstigen Merkmalen zurücklassen, die in den oberen Dauerklassen folglich übervertreten sind. Auch in diesem Fall entsteht das Bild von mit der Höhe der Dauerklasse abnehmenden Abgangsquoten, das aber in Wirklichkeit nicht auf die Höhe der Dauerklasse, sondern auf deren unterschiedlichen Zusammensetzungen (Heterogenität) zurückzuführen ist. Welche Erklärung in Wirklichkeit zutrifft, ist arbeitsmarktpolitisch von grossem Interesse. Ist eine negative Dauerabhängigkeit dafür verantwortlich, impliziert dies, dass die individuelle Chance, eine Stelle zu finden, mit der Dauer der Stellensuche abnimmt. In diesem Fall versagt der arbeitsmarktliche Allokationsmechanismus. Die Arbeitslosigkeit droht zu verhärten. Gelingt es nicht, Stellenlose relativ schnell einer 12 Arbeit zuzuführen, besteht die Gefahr, sie nie wieder ins Erwerbsleben eingliedern zu können. Ist dagegen ein Sortierprozess verantwortlich, bleiben Verhärtungen aus, sofern es gelingt, die vermittlungshemmenden Merkmale zu beseitigen. Empirische Untersuchungen für die Schweiz zeigen, dass beide Faktoren im Spiel sind. Auffallend in Abbildung 5 ist die kontinuierliche Rechtsverschiebung der in den oberen Dauerklassen befindlichen Spitze. Diese Verlagerung ist auf eine zweimal erfolgte Verlängerung der höchsten Taggeldbezugsfrist von zunächst 12 Monaten (1984-91) auf 14 Monate (1992-93) und dann 19 Monate (1993-96) zurückzuführen. Obwohl die verstärkten Abgänge mit dem Wegfall des Versicherungsschutzes ("Aussteuerung") zusammenhängen, handelt es sich nicht um einen reinen Aussteuerungseffekt. 6 Wäre dies der Fall, müssten die Hazardraten jenseits der Aussteuerungsschwelle auf null fallen, was sie aber nicht tun. Abbildung 5: Hazardfunktionen der Arbeitslosigkeit, Schweiz 0.30 Monatshazardraten 0.25 0.20 0.15 0.10 0.05 2. Jahreshälfte 1991 2. Jahreshälfte 1992 2. Jahreshälfte 1993 0.00 1 6 12 18 24 Bisherige Verbleibdauer in Monaten Quelle: AVAM-Statistiktape, eigene Berechnungen Der in Abbildung 5 erkennbare Versicherungseffekt nennt man "moral hazard", in Anspielung auf den Tatbestand, dass das Risiko ("hazard"), vor dessen Folgen eine Versicherung schützen soll, seinerseits vom Ausmass des Versicherungsschutzes bzw. dessen Einfluss auf das Verhalten ("moral") der Versicherten abhängt. Neueren Schät6 Im Gegensatz zur landläufigen Meinung führt ein Wegfall des Versicherungsschutzes nicht zu einer Aussteuerung aus der amtlichen Arbeitslosenstatistik. 13 zungen (SHELDON 1997) zeigen, dass die 1992 und 1993 erfolgte Verlängerung der Taggeldbezugsfrist die gleichgewichtige Arbeitslosenquote hierzulande um etwa einen Prozentpunkt anhob. Mit anderen Worten: Der Ausbau des Versicherungsschutzes hat teilweise selbst zu jenem Problem beigetragen, das er eigentlich hätte bekämpfen sollen. 2.5 Persistenz Die bisher behandelten Ansätze befassen sich ausschliesslich mit der Höhe der Sokkel- bzw. Gleichgewichtsarbeitslosigkeit. Abbildung 1 zeigt jedoch, dass es sich bei der anhaltenden hohen Arbeitslosigkeit in Europa nicht nur um einen Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit handelt, sondern auch um einen im Vergleich zu Nordamerika langsam erfolgenden Abbau. Der zögerliche Rückgang der Arbeitslosigkeit im Anschluss an einem negativen Schock wird in der Literatur (vgl. CROSS 1988) als Persistenz bezeichnet oder gar Hysterese, wenn eine negativer Impuls die Arbeitslosigkeit permanent anhebt. Die Präsenz von Persistenz hat weitreichende wirtschaftspolitische Implikationen. Sie bedeutet, dass eine Arbeitslosigkeit, die womöglich konjunkturell begann, sich in eine "strukturelle", d.h. konjunkturunabhängige wandeln kann. In einem solchen Fall liefert die ursprüngliche Ursache der gestiegenen Arbeitslosigkeit nicht notwendigerweise einen verlässlichen Hinweis dafür, welche Massnahmen sich zu ihrer Bekämpfung am besten eignen. Die Literatur liefert im Grunde drei Erklärungen für ein Persistenzverhalten der Arbeitslosigkeit: - Insider-Outsider-Strukturen (vgl. Abschnitt 2.3), - "negative duration dependence" (vgl. Abschnitt 2.4) und - Sachkapitalmangel (BURDA 1988). Das Kapitalmangelargument beruht auf der Überlegung, dass eine anhaltende Unterauslastung des Sachkapitalstocks die Firmen veranlässt, den Kapitalbestand abzubauen, so dass beim Wiederaufschwung das notwenige Sachkapital zur Wiederbeschäftigung der Arbeitslosen zunächst fehlt und erst wiederaufgebaut werden muss, was die Erholung auf dem Arbeitsmarkt verzögert. Als Beleg für diese These werden in der Regel sinkende Investitionsquoten und der Tatbestand angeführt, dass sich der gleiche Auslastungsgrad heute mit einer höheren Arbeitslosenquote verbindet. 14 Persistenz wird im Rahmen von Verteilungskampfmodellen durch die Modellierung der NAIRU als eine Funktion der beobachteten Arbeitslosigkeit vorangegangener Perioden Rechnung getragen. COE (1985) findet Evidenz für Persistenzeffekte in einer Reihe europäischer Länder. In Matching-Modellen hingegen finden Persistenzeffekte durch die Aufnahme des Anteils an Langzeitarbeitslosen als zusätzlicher erklärender Variablen Berücksichtigung. Dabei zeigt sich, dass der Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern einen beachtlichen Erklärungswert für die Rechtsverschiebung der Beveridge-Kurve besitzt (vgl. die Übersicht in CHRISTL 1992). Stock-Flow-Modelle liefern einen Grund für diesen Erklärungserfolg. Im Rahmen solcher Modelle lässt sich nämlich zeigen, dass der Anteil an Langzeitarbeitslosen eine gute Proxy für die Median-Dauer der Anpassung der Arbeitslosigkeit auf einen negativen Schock abgibt. Die dahinter liegende Intuition besteht in der Erkenntnis, dass je grösser der Anteil an Langzeitarbeitslosen ist, desto länger wird es dauern, bis sich eine konjunkturelle Erholung die Mehrzahl der Arbeitslosen erreicht hat. Abbildung 6: Arbeitslosigkeit und Langzeitanteil, 1989 80 Anteil an Langzeitarbeitslosen (in %) BEL ITA 70 IRE 60 POR 50 SPN GRE NLD GER FRA UKD 40 30 DEN AUS 20 JAP NZL NOR 10 SWZ SWE FIN 2 4 USA CAN 0 0 6 8 10 12 14 16 18 Arbeitslosenquote (in %) Quelle: Employment Outlook, OECD Der Zusammenhang liefert auch eine Erklärung für die immer wieder festgestellte positive Beziehung zwischen der Höhe der Arbeitslosigkeit und dem Anteil an Langzeitarbeitslosen. Abbildung 6 zeigt den Zusammenhang in bezug auf einen internationalen Querschnitt von OECD-Ländern für das Jahr 1989. Da die Konjunktur damals welt- 15 weit gut lief, entspricht die in der Graphik abgebildete Arbeitslosigkeit in etwa der Sockelarbeitslosigkeit. Die Abbildung deutet folglich darauf hin, dass eine hohe Sokkelarbeitslosigkeit in erster Linie in einem langen individuellen Verbleib in der Arbeitslosigkeit liegt.7 Demzufolge ist es zur Vermeidung einer hohen Sockelarbeitslosigkeit unerlässlich, dass Stellenlose möglichst schnell in den Erwerbsprozess wieder eingegliedert werden. Lange Taggeldbezugsfristen (vgl. Abschnitt 2.4) sind in dieser Hinsicht kontraproduktiv. 3. Empirische Evidenz 3.1. Internationaler Vergleich In einem neulich erschienenen Arbeit untersucht NICKELL (1997), inwiefern eine Reihe der im Kapitel 2 dieses Beitrags diskutierten Bestimmungsfaktoren zur Erklärung der unterschiedlichen Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den OECD-Ländern empirisch beiträgt. Auf der Basis einer Länder-Panelregression kommt er zu folgenden Resultaten: • Folgende Faktoren liefern keine statistisch gesicherte Erklärung für das internationale Beschäftigungs- bzw. Arbeitslosigkeitsgefälle: - hohe Reallohnflexibilität, - restriktive arbeitsrechtliche Vorschriften, - hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad, - hohe Lohnnebenkosten und - kurze Jahresarbeitszeit. • Folgende Faktoren bieten eine knapp gesicherte Erklärung für das internationale Gefälle: - hoher Taggeldsatz (-)8 und - hohe Gesamtsteuerlast (-). • Folgende Faktoren besitzen einen deutlich gesicherten Erklärungswert: - lange Taggeldbezugsfrist (-), - hoher Einsatz von Präventivmassnahmen9 (+), 7 8 9 Wäre dagegen die Stärke des Zustroms an neuen Arbeitslosen ("Arbeitslosigkeitsrisiko") massgebend, müsste eine negative Beziehung zu beobachten sein. Die nachfolgende Vorzeichen geben an, ob sich der jeweilige Faktor im Hinblick auf das Vollbeschäftigungsziel als förderlich (+) oder als hinderlich (-) erweisen. Bei statistisch ungesicherten Effekten ist das Vorzeichen definitionsgemäss unbekannt. Präventivmassnahmen umfassen arbeitsmarktpolitische Instrumente, die im Gegensatz zu reinen Taggeldzahlungen die Wiedereingliederung der Arbeitslosen in den Erwerbsprozess aktiv unterstützen. 16 - breite gewerkschaftliche Tarifreichweite (-) sowie - Rivalität unter den Arbeitgeber- bzw. der Arbeitnehmerorganisationen (-). Aufgrund seiner Befunde ist zu schliessen, dass eine deutlich eingeschränkte Taggeldbezugsfrist, der starke Einsatz von Präventivmassnahmen, Tarifverhandlungen auf der Ebene der Einzelfirma sowie ein konzertiertes Vorgehen der Tarifpartner günstige Voraussetzungen im Kampf gegen steigende Arbeitslosigkeit bieten. 3.2. Sonderfall Schweiz Wie NICKELL in seiner Arbeit anmerkt, sind die Arbeitsmärkte der OECD zu heterogen, um alle über einen Kamm zu scheren. Im Hinblick auf die Schweiz sind diesbezüglich zwei Besonderheiten anzuführen. Abbildung 7: Arbeitslose und Erwerbstätige, Schweiz, 1970-1996 4000000 3750000 Personen 3500000 Arbeitslose Erwerbstätige 3250000 3000000 2750000 1996 1994 1992 1990 1988 1986 1984 1982 1980 1978 1976 1974 1972 1970 2500000 Jahresanfang Quelle: Die Volkswirtschaft, verschiedene Jahrgänge, eigene Berechnungen Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die hohe Arbeitslosigkeit in der Schweiz in den 90er Jahren nicht in erster Linie auf einen hohen Stellenabbau zurückzuführen ist, sondern auf eine zunehmende Geschlossenheit des heimischen Arbeitsmarktes. Dies lässt sich anhand von Abbildung 7 demonstrieren. Die Graphik zeigt die Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen und der Arbeitslosen seit 1970. Wie zu erkennen ist, brach die Beschäftigung im Gefolge der ersten Erdölkrise Mitte der 70er Jahre wesentlich deutlicher ein (- 8%) als zu Beginn der 90er Jahre. Trotzdem stieg die Ar17 beitslosigkeit damals kaum an: Die Arbeitslosenquote überschritt nicht einmal die Einprozentmarke. Grund dafür war ein seinerzeit wesentlich "offener" Arbeitsmarkt. Vor 1977 war die Arbeitslosenversicherung nicht Pflicht und ein wesentlich grösserer Anteil der ausländischen Erwerbsbevölkerung als heute nicht sesshaft. Deshalb schied ein grösserer Anteil der Erwerbstätigen beim Verlust ihres Arbeitsplatzes aus dem Arbeitsmarkt aus: Ausländische Arbeitskräfte wurden nicht ersetzt, und Erwerbspersonen ohne Taggeldansprüche vielfach nicht als arbeitslos gezählt. Inzwischen ist der Anteil der sesshaften Ausländer gestiegen und die Zahl der Stellenlosen, die einen Anspruch auf Taggeldleistungen geltend machen können, gewachsen. Die Folge ist, dass ein gegebener Stellenabbau sich heute viel stärker in der hiesigen Arbeitslosenstatistik niederschlägt als früher. Abbildung 8: Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung am Erwerbspersonen- bzw. Arbeitslosenbestand, Schweiz, 1975-1995 0.45 0.40 0.35 Ausländeranteil 0.30 0.25 an Erwerbsbevölkerung an Arbeitslosenzahl 0.20 0.15 0.10 0.05 1995 1993 1991 1989 1987 1985 1983 1981 1979 1977 1975 0.00 Jahr Quelle: Die Volkswirtschaft, verschiedene Jahrgänge, eigene Berechnungen Zum anderen ist auf die kontinuierlich abnehmende durchschnittliche Qualifikation der heimischen ausländischen Erwerbsbevölkerung zu verweisen, die ihren Ursprung in einer verfehlten Ausländerpolitik hat. Schlecht qualifizierte Erwerbspersonen werden überdurchschnittlich häufig arbeitslos und bleiben, einmal betroffen, überdurchschnittlich lang ohne Stelle. Die Konsequenzen für die Entwicklung der Arbeitslosigkeit hierzulande lassen sich an Abbildung 8 ablesen. Obwohl der Anteil der Jahresaufenthalter und Niedergelassenen an der Erwerbsbevölkerung (Summe der Erwerbstätigen und Arbeitslosen) seit 1975 konstant um rund 18 Prozent schwankt, hat sich deren Anteil an den Arbeitslosen trendmässig von etwa 20 Prozent auf 45 Prozent erhöht. 18 Das heisst: Die Ausländer sind im Arbeitslosenbestand inzwischen um über das Zweifache übervertreten. Die Wiedereingliederung arbeitsloser Ausländer erweist sich aufgrund fehlender Berufsausbildung oder Sprachkenntnisse als äusserst schwierig. 4. Lehren für die Schweiz Aus dieser Übersicht geht hervor, dass zur Vermeidung hoher Sockelarbeitslosigkeit es unabdingbar ist, dass sich Arbeitslose in den Erwerbsprozess schnell integrieren. Die Verhinderung von Arbeitslosigkeit hingegen ist von nachrangiger Bedeutung. Eine schnelle Wiedereingliederung der Arbeitslosen kann grundsätzlich an zwei Fronten angegangen werden: - auf Seiten des Arbeitskräfteangebots, indem die Vermittlungswilligkeit und die Vermittelbarkeit der Betroffenen gefördert werden, und - seitens der Arbeitskräftenachfrage, indem die Entstehung neuer Arbeitsplätze in zukunftsträchtigen Bereichen unterstützt wird. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine ständige Ausweitung der Taggeldbezugsfrist als kontraproduktiv. Sie lindert zwar materielle Not, aber begünstigt gleichzeitig die Entstehung von Langzeitarbeitslosigkeit, welche die Sockelarbeitslosigkeit ansteigen lässt. Auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes ist zu bemängeln, dass eine Anzahl wirtschaftlicher Bereiche, in denen in den anglo-amerikanischen Ländern ein Grossteil der neuen Arbeitsplätze entstanden ist, in der Schweiz staatlich reglementiert bzw. kartellisiert sind. In diesem Zusammenhang zu nennen sind bspw. der Einzelhandel mit seinen Ladenschlusszeiten oder die Telekommunikation mit ihrem staatlichen Teilmonopol. Derartige Leistungseinschränkungen beeinträchtigen das Wachstum dieser Märkte und damit die Entstehung neuer Arbeitsplätze. Vor diesem Hintergrund dürften Massnahmen, welche den Wettbewerb auf den Absatzmärkten fördern, auch zur Bekämpfung einer hohen Sockelarbeitslosigkeit beitragen. 19 LITERATUR AKERLOF, G. (1982), "Labor Contracts as Partial Gift Exchange", in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 97, S. 543-69. BEAN, C. (1994), "European Unemployment: A Survey", in: Journal of Economic Literature, Bd. 32, S. 573-619. BLANCHARD, O., SUMMERS, L. (1986), "Hysterisis and the European Unemployment Problem", in: S. Fisher (Hrsg.), NBER Macroeconomics Annual, Cambridge (USA), S. 15-78. BURDA, M. (1988), "Is There a Capital Shortage in Europe," in: Weltwirtschaftliches Archiv, Vol. 124, pp. 38-57. BURDA, M., WYPLOSZ, C. (1994), "Gross Worker and Job Flows in Europe", in: European Economic Review, Bd. 38, S. 1287-1315. CHRISTL, J. (1992), The Unemployment/Vacancy Curve, Heidelberg. COE, D. (1985), "Nominal Wages, the NAIRU and Wage Flexibilty", in: OECD Economic Studies, Bd. 5, S. 87-126. CROSS, R. (Hrsg.), Unemployment, Hysteresis & the Natural Rate Hypothesis, Oxford. DRÈZE, J., BEAN, C. (1990), Europe’s Unemployment Problem, Cambridge (USA). FRANZ, W. (1996), Theoretische Ansätze zur Erklärung der Arbeitslosigkeit: Wo stehen wir 1995?", in : B. Gahlen, H. Hesse, W. Franz (hrsg.), Arbeitslosigkeit und Möglichkeiten ihrer Überwindung, Wirtschaftswissenschaftliches Seminar Ottobeuren, Tübingen, S. 3-45. HALL, R. (1977), "An Aspect of the Economic Role of Unemployment", in: G. Harcourt, Microeconomic Foundations of Macroeconomics, London, S. 354-72. HANSEN, B. (1970), "Excess Demand, Unemployment, Vacancies and Wages", in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 84, S. 1-23. HECKMAN, J., BORJAS, G. (1980),"Does Unemployment Cause Future Unemployment? Definitions, Questions and Answers from a Continuous Time Model of Heteroge-neity and State Dependence," in: Economica, Vol. 47, pp. 247-283. KIEFER, N., NEUMANN, G. (1989), Search Models and Applied Labor Economics, CUP, Cambridge (UK). LAYARD, R., NICKELL, S., JACKMAN, R. (1991), Unemployment. Macroeconomic Performance and the Labour Market, Oxford. LINDBECK, A. SNOWER, D. (1988), The Insider-Outsider Theory of Employment and Unemployment, Cambridge (USA). MARSTON, S. (1976), "Employment Instability and High Unemployment Rates," in: Brookings Papers on Economic Activity, 1976-1, pp. 169-203. MORTENSEN, D. (1986), "Job Search and Labor Market Analysis", in: O. Ashenfelter, R. Layard (Hrsg.), Handbook of Labor Economics, Bd. 2, Amsterdam, S. 849-919. 20 NICKELL, S. (1997), "Unemployment and Labor Market Rigidities: Europe versus America", in: Journal of Economic Perspectives, Bd. 11, S. 55-74. OECD (1996), Switzerland, OECD Economic Surveys, Paris. SALOP, S. (1979), "A Model of the Natural Rate of Unemployment", in: American Economic Review, Bd. 69, S. 117-25. SHAPIRO, C., STIGLITZ, J. (1984), "Equilibrium Unemployment as a Worker Discipline Device", in: American Economic Review, Bd. 74, S. 433-44. SHELDON, G. (1997), "Unemployment and Unemployment Insurance in Switzerland," in: Ph. Bacchetta, W. Wasserfallen (eds.), Economic Policy in Switzerland, London, S. 62-92. SHELDON, G., THEISS (1995), Bevölkerungs- und Arbeitskräftegesamtrechnung für die Schweiz 1982-1991, Bern. SOLOW, R. (1985), "Insiders and Outsiders in Wage Determination", in: Scandinavian Journal of Economics, Bd. 87, S. 411-28. STONE, R. (1971), Demographic Accounting and Model-Building, OECD, Paris. YELLEN, J. (1984), "Efficiency Wage Models of Unemployment", in: American Economic Review, Bd. 74, S. 200-5. 21