Papier oder Datei? Die Zukunft der Musiknoten

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Papier oder Datei? Die Zukunft der Musiknoten
Papier oder Datei? Die Zukunft der Musiknoten
Am 1. April 2009 fand im Rahmen der Frankfurter Musikmesse eine Podiumsdiskussion zum Thema „Print Publishing: Glorious
Future or Sentimental Past?“ (Notendruck: glänzende Zukunft oder rührselige Vergangenheit?) statt. Veranstalter war die International Confederation of Music Publishers (ICMP). Einen entschiedenen und vielbeachteten Beitrag leistete Dr. Wolf-Dieter
Seiffert, Leiter des G. Henle Verlages. Wir geben den in englisch gehaltenen Vortrag in deutscher Übersetzung wieder.
Meine sehr geehrte Damen und Herren,
ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung der ICMP, an dieser Podiumsdiskussion teilnehmen zu dürfen. Seit Jahrhunderten werden Noten gedruckt und gebunden, wie Bücher. Doch wie wird die Zukunft von Musiknoten aussehen? Ist diese Präsentationsform durch die aktuelle
digitale Verbreitung von Noten im Internet, durch Download, Bildschirm und „Kindle“ grundsätzlich
in ihrer Existenz gefährdet?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns bitte klar: Diese Fragen beantworten nicht wir
Verleger, sondern unsere Kunden, die Musiker. Denn die Nachfrage bestimmt das Angebot, und
nicht umgekehrt. Also müssen wir die Musiker fragen: Wollt Ihr Eure Noten lieber selbst ausdrucken,
anstelle eine gebundene Notenausgabe auf das Pult zu legen? Ist es so, dass ihr diese Noten lieber
direkt vom Bildschirm ablest anstatt vom Papier?
Ich stelle seit Jahren den Musikern der so genannten „klassischen Musik“, ob Liebhaber, Student
oder Profi genau diese Fragen. Ich beobachte sie in Konzerten und im Kaufverhalten der Noten
meines Verlages. Die Antwort auf diese Fragen ist völlig klar und eindeutig: Wir Verleger stehen 2009
keinesfalls vor einem Umbruch unseres traditionellen Geschäftsmodells. Im Gegenteil: „Klassische“
Musiker sind und bleiben eine wertkonservative Klientel, sie schätzen die Qualität einer gebundenen
Notenausgabe und kaufen sie. Sie zeigen sich überhaupt nicht beeindruckt von dem derzeitigen
Hype um digitale Verbreitung. Und das wird nach meiner Einschätzung auch in 100 Jahren und viel
länger noch so sein. Meine Antwort auf die Frage unseres Panel-Themas lautet also: Notenausgaben
„klassischer Musik“ haben eine „glorious past“ und sie werden eine „long-lasting future“ haben.
Dr. Wolf-Dieter Seiffert, Geschäftsführender
Leiter des G. Henle Verlags
Zweifellos würde meine Antwort anders lauten, wenn wir die Popmusik einbeziehen würden. Was die „Klassik“ betrifft, so glaube ich, können
wir entspannt bleiben, selbst in diesen für uns nicht leichten Zeiten. Um die Diskussion anzuheizen, möchte ich in diesem Zusammenhang drei
Behauptungen aufstellen und sie kurz begründen.
1 Das Downloaden von Musikbild-Daten wird sich für Musikverlage nicht negativer
auswirken als das Fotokopieren bisher
Fotokopiert wird seit Jahrzehnten. Auch die „klassische“ Musik ist heftig davon betroffen. Fotokopien sind billiger als gedruckte Noten; mancher, etwa in China oder Russland kann sich gedruckte Noten schlicht nicht leisten. Also kopieren sie massenhaft. Und doch gibt es überall auf
der Welt sehr viele Musiker, die gedruckte, gebundene Noten kaufen und benutzen, anstatt sie zu fotokopieren. Warum? Sind das Idioten,
die kein Geld sparen wollen? Der Grund dafür ist doch denkbar einfach: Gedruckte und gebundene Noten sind qualitativ jeder Fotokopie und
jeder Bildschirmdarstellung enorm überlegen. Es gibt immer Leute, die so wenig wie möglich Geld für etwas ausgeben wollen. Sie erhalten
dafür eben auch weniger Leistung und Qualität. Vor allem für Musiker, die viel Zeit mit ihrem Instrument und den Noten verbringen, kann
das aber keine Alternative sein. Ich vergleiche das gerne mit dem Essen: Noten-Fotokopien sind wie „fast food“, solide Musikalien sind ein
dauerhafter und nahrhafter Genuss.
Das Downloaden von Musik stellt keinen prinzipiellen Unterschied zum bisherigen Fotokopieren dar. Das massenweise legale oder illegale, kostenlose oder kostenpflichtige Downloaden von Notenbilddaten ist „dank“ des Internets lediglich das bequemere Fotokopieren von heute und
morgen: Für sehr viel Musikstücke muss man sich heute nicht mehr die materielle Vorlage bei einem Freund oder in einer Bibliothek besorgen,
um sie auf einen Fotokopierer zu legen. Ein Knopfdruck genügt, und schon spuckt der eigene Homeprinter die Seiten aus. Downloaden ist also
lediglich eine technische Weiterentwicklung des Prinzips des Fotokopierens. Aber ist das nicht eine noch stärkere Gefahr für uns Verleger als es
der Fotokopierer ohnehin schon ist? Ich meine, nein, denn wer bis heute, nach über 30 Jahren Koexistenz mit dem Fotokopierer, immer noch
gedruckte Noten kauft anstatt sie zu fotokopieren, der hat verstanden und wird weiterhin verstehen, dass die gebundene Musikalie hohen
Nutzen zu (meist) akzeptablem Preis bedeutet. Und: Wer als Musikverlag bis heute, nach über 30 Jahren Koexistenz mit dem Fotokopierer,
überlebt hat, wird auch das Downloaden überleben. Denn durch die Download-Möglichkeit als solche wird sich das Nutzungsverhalten des
beschriebenen Qualitätsmusikers nicht ändern: Er wird der Musikalie, sofern sie lieferbar existiert und eine gewisse Preisschwelle nicht überschreitet, immer oder zumindest überwiegend den Vorzug vor dem „fast food“ geben. Wir leben mit dieser Marktbeschneidung schon seit
Jahrzehnten, aber wir existieren noch.
2 Die Distribution digitaler Noten bietet neuartige Absatzchancen, vor allem für
Unbekanntes und selten Gespieltes
Auf der anderen Seite glaube ich, dass Digitalisierung und digitale Distribution ein gewisses neuartiges Potential für uns Musikverlage bietet. Die Archive unserer Musikverlage sind gefüllt mit Musikstücken, die einstmals hergestellt und gedruckt wurden, die aber heute kaum
jemand kennt oder spielt. Sie sind in der Regel nicht mehr lieferbar. Im schlimmsten Fall liegen solche alte Druckausgaben in dem Lagern
und verstauben über die Jahre, Jahrzehnte. Würden die Verlage nun diese Werke scannen und online zum Download anbieten, wäre sicherlich mit einem gewissen Wiederbelebungseffekt zu rechnen. Musiker, auf der Suche nach selten Gespieltem, könnten in Datenbanken
stöbern und würden vielleicht motiviert, auch einmal etwas jenseits des Mainstreams zu musizieren. Wir Verlage würden damit unsere „lieferbaren“ Titel massiv erweitern können und hoffentlich damit neue Absatzchancen kreieren. „Lieferbar“ bedeutet dann eben mehrerlei:
je nach zu erwartendem Absatz entweder gedruckt und gebunden oder als Druckvorlage zum kostenpflichtigen Download. Natürlich wird
das kein gewaltiges Umsatzplus kreieren; aber die Kosten scheinen mir im Verhältnis zu den über die Jahre zu erwartenden Umsätzen zu
stehen. Und wer sein Archiv nicht selbst zum Download aufbereitet und anbietet, könnte dies ja über Drittanbieter in Lizenz tun.
3 Das Musik-E-book hat keine Zukunft
Vielleicht kennt jemand von Ihnen das „MusicPad“, oder den „Electronic Music Stand“ oder den „eStand Reader“? Das sind im wesentlichen Bildschirme für Musiker mit sehr viel Speicherplatz für digitale Notenbildseiten. Sie spielen bezeichnenderweise in der musikalischen
Praxis bis heute überhaupt keine Rolle – und sie werden sich nach meiner festen Überzeugung auch niemals etablieren. Wenn Computerfreaks, die keine Ahnung von der musikalischen Praxis haben, die angeblichen Vorteile des Digitalen vor dem Realen bewerben, liest
sich das so: „For centuries, musicians have been plagued by the problems of working with, handling, sharing and editing sheet music.
Issues caused by the limitations and fragility of paper have cost musicians vast amounts of time and money. Every musician has wished
for an easier way to make individual notations, change notations, share and duplicate music, catalogue and store music and even just
turn pages.” [aus dem Internet-Werbetext des „eStand Reader“]. Einverstanden, es ist sehr Platz sparend wenn man hunderte, ja tausende Musikstücke auf kleinstem Raum abspeichern und abrufen kann. Und auch das Scrollen von Bildschirmseiten ist ein, wenn auch
überschätzter, Vorteil. Die Behauptung, dass man elektronisch, also auf seinem Bildschirm, leichter im Notentext Notizen anbringen und
ändern kann als auf Papier zeugt m. E. von einem Autoren, der vermutlich die Kulturtechnik des Schreibens mit einem Stift vor lauter
Bildschirmarbeit verlernt hat.
Die genannten Geräte kosten viel Geld: zwischen US $ 750,00 und US $ 1.400,00. Dafür kann man wirklich sehr viele Notenhefte kaufen.
Ein Notenheft schlage ich auf – und beginne zu spielen. Das Notenheft ist die Sache selbst. Ich will Ihnen ein paar Argumente nennen,
warum Musiker zum Lesen von Noten keinen technischen Vermittler benötigen; vielleicht teilen Sie einige davon mit mir?:
 Wir alle wissen: Technik veraltet; irgendwann, meist früher als später, brauche ich ein neues Gerät. Papiernoten halten auch nicht ewig,
aber ihre Lebenszeit liegt meist weit über unserer eigenen.
 Wenn mein Bildschirm auf den Boden fällt, geht er kaputt. Papiernoten fallen seit 500 Jahren auf den Boden und halten das problemlos
aus.
 Wenn der Strom ausfällt wird mein Bildschirm schwarz. Papiernoten werden auch in 500 Jahren keinen Strom benötigen.

Software wird permanent „updated“, Speichermedien verändern sich unaufhörlich: Ob ich also mit der technischen Generation von
morgen oder übermorgen meine mühsam gespeicherten und gescannten und heruntergeladenen Noten überhaupt noch lesen oder
konvertieren kann (und wie viel Zeit und Geld das womöglich kostet), bleibt unsicher. Papiernoten brauchen keine Software und kein
Laufwerk; sie sind die Sache selbst.
„Die Sache selbst“ – das ist der Kern meiner Aussage. Das elektronische Gerät stellt sich zwischen mich und die Sache selbst, und es
schafft dadurch völlig überflüssige Probleme. Niemand braucht diese teuren Geräte, die mehr Probleme als Nutzen schaffen.
Musiknoten auf Papier sind ein 500 Jahre altes Medium. Ein für den Zweck des Musikmachens optimal angepasstes Hilfsmittel. Das stellt
u.a. eine kulturelle Prägung dar, die wir, selbst wenn wir es wollten, nicht so schnell abschütteln können und werden. Selbst wenn also
der Bildschirm alle Vorteile des Papiers hätte – das Gegenteil ist der Fall! –, selbst wenn es dereinst einmal sehr kostengünstige Bildschirme
und Speichermedien, mit einer garantierten Lebensdauer von 100 Jahren und garantierter Problemfreiheit geben sollte, würde also noch
eine sehr lange Zeit vergehen, bevor Neugier und Willen unsere tiefe kulturelle Prägung und Gewohnheit aufbrechen würden, um dann
schließlich nie mehr ein gedrucktes Notenheft in die Hand zu nehmen. Sind Sie, meine Damen und Herren, nicht auch der Meinung, dass
wir alle das nicht erleben werden?
Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.