Emil Brunner - Willkommen auf der Homepage von Siegfried F

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Emil Brunner - Willkommen auf der Homepage von Siegfried F
Emil Brunner - Theologe des Wortes und Apologet der
Offenbarung
Eine Rezension
Siegfried F. Weber / Großheide
16.2.2010 AD
Rezension über die Biographie
Emil Brunner.
Biograph: Frank Jehle.
Rezensent: Siegfried F. Weber
Text und Fotos der Rezension
unterliegen dem Copyright.
Frank Jehle: Emil Brunner.
Theologe im 20.Jahrhundert,
TVZ, Zürich, 2006.
Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich
auf die Biographie.
Die Abbildung zeigt das Cover der
Biographie.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 1
Inhalt
Studium der Theologie in Zürich ........................................................................................................................... 3
Pfarrer ist Obstalden .............................................................................................................................................. 3
Heirat, Ehe und Familie ......................................................................................................................................... 4
Professor in Zürich ................................................................................................................................................ 4
Die jungen Dialektiker .......................................................................................................................................... 5
Unser Glaube ......................................................................................................................................................... 7
Der Mittler ............................................................................................................................................................. 9
Brunner und der biblische Fundamentalismus in den USA ................................................................................... 9
Emil Brunner und die Oxfordgruppenbewegung ................................................................................................. 10
Natur und Gnade.................................................................................................................................................. 14
Der Mensch im Widerspruch ............................................................................................................................... 16
Wahrheit als Begegnung ...................................................................................................................................... 16
Das 1800-jährige Missverständnis der Kirche ..................................................................................................... 17
Todesstrafe für Landesverräter? .......................................................................................................................... 18
Offenbarung und Vernunft und die Bibel ............................................................................................................ 19
Brunners Dogmatik ............................................................................................................................................. 21
Japan .................................................................................................................................................................... 21
Großevangelisation in Zürich .............................................................................................................................. 22
Über die letzten Dinge ......................................................................................................................................... 22
Ich fasse in aller Kürze die Biographie zusammen, um einen Überblick über das Buch zu
geben. Es handelt sich bei dem Werk von Frank Jehle nicht nur um eine Biographie mit den
wichtigsten Lebensdaten, was ihm auch am Herzen liegt, sondern es handelt sich auch um eine
ausgezeichnete Zusammenfassung der theologischen Werke, der theologischen Arbeit Emil
Brunners und seiner Beziehungen zu seinen Kollegen im In- und Ausland. Jehle skizziert die
Lebensstationen Emil Brunners nach und verknüpft diese mit den theologischen
Veröffentlichungen. Darum kann man sich auch die 600 Seiten zum Lesen einteilen, weil
jedes Kapitel in sich abgeschlossen ist. Es werden alle Publikationen berücksichtigt, selbst
Briefe kommen zur Sprache und auch der Nachlass wurde sorgfältig eingearbeitet. Jehle hat zu
vielen Personen Kontakt aufgenommen, die Emil Brunner noch selber gekannt haben. Wer
Emil Brunner als Mensch, als Apologet des Christentums und ausgezeichneten Lehrer der
biblischen Glaubenslehre kennenlernen möchte, der sollte unbedingt die Brunner-Biographie
von Jehle lesen. Wer sie gelesen hat, versteht die Zusammenhänge des theologischen Denkens
und der einzelnen Werke besser und kann daraufhin selber sich mit der Primärliteratur
beschäftigen.
Im Anhang werden in aller Kürze die biographischen Daten tabellarisch aufgelistet. Ein
ausführliches Personenregister ist vorhanden. Leider fehlt aber ein Sachregister, bzw. ein
ausführliches Inhaltsverzeichnis, so dass man das Buch als Nachschlagewerk benutzen
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 2
könnte, was wünschenswert wäre.
Jugendzeit
Lebensdaten: geb. 1889 in Winterthur, gest. 1966 in Zürich.
Seine Biographie unterstreicht seine Theologie: Emil Brunner, der Mensch im Widerspruch.
So heißt eins seiner Werke (1937), aber dieser Titel kennzeichnet sowohl seine Person als auch
seine Theologie (S. 11).
Geprägt und für die Theologie gewonnen von seinem Pfr. Hermann Kutten im
Konfirmandenunterricht und in der sonntäglichen Predigt.
Sein Elternhaus war pietistisch geprägt, der Vater war Primarlehrer in Zürich.
In der Schule nahm Emil am Kollegium Biblicum teil. Auf Alkoholkonsum wurde in diesem
Kreis verzichtet, ein Brauch, den Brunner zeit seines Lebens beibehielt.
Er las regelmäßig in der Bibel, in den Schriften Blumhardts und im Andachtsbuch “de
imitatione Christi” („Über die Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen).
Studium der Theologie in Zürich
1908 - 1912, Theologische Fakultät. Während dieser ganzen Zeit legte er
nur ein Gastsemester im Ausland ab, und zwar in Berlin bei Adolf von
Harnack.
Die Theologische Fakultät in Zürich war stark liberal, historisch-kritisch
und gemäß der religionsgeschichtlichen Schule geprägt. Ein einziger
Dozent ging neue Wege, nämlich Leonhard Ragaz1, der sich neben der
Vorlesungstätigkeit auch sozial-politisch und praktisch engagierte. Dieses
Vorbild bewegte und prägte den jungen Brunner.
Pfarrer ist Obstalden
Die auf dem Kerenzerberg gelegene Kirchengemeinde besteht
aus den Dörfern Obstalden2 und Filzbach. In beiden Dörfern
lebten nur 800 Einwohner und das waren vor allem
Bergbauern, 700 m über dem Meeresspiegel mit Blick auf die
Churfirsten und den Walensee. Von 1916 - 1924 war Brunner
dort Pfarrer (70). Er bezeichnete dieses kleine abgelegene
Nest als seine „Isolierung“, als „Glarner Hochwacht“ und als
„das Obstalder Patmos“ (190).
1
2
Das Foto von Leonhard Ragaz entstammt der Brunner-Biographie von Frank Jehle.
Foto: Obstalden im Kanton Glarus am Walensee. Foto: Dietrich M. Weidmann (commons.wikimedia.org).
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Seite 3
Heirat, Ehe und Familie
1917 heiratete Emil Brunner die Margrit Lauterburg 3 . Aus der Ehe gingen die Söhne
Hans-Heinrich (1918 - 1987)4, Peter (1919 - 1942), Thomas (1926 - 1952) und Andreas
hervor.
Margrit Brunner litt an Schwermut.
1939 war sie ein ganzes Jahr lang
depressiv.
Hans-Heinrich
folgte
den
theologischen
Fußstapfen
seines
Vaters, studierte Theologie und
promovierte in New York.
1942 starb der zweitälteste Sohn Peter
(Germanistikstudent) an Fieber und
Herzversagen. Am 1. August 1952 kam bei einem
Eisenbahnunglück im Engadin der Sohn Thomas ums Leben, der
sich auf der Hinfahrt zu seiner Verlobten befand.
Professor in Zürich
Ab 1924 ist Emil Brunner nach einer zweiten Habilitation ordentlicher Professor für
Systematische Theologie in Zürich. Brunner ist nun das genaue Gegenteil von David Friedrich
Strauss, der dort für kurze Zeit als liberaler Professor gewirkt hatte, die Wahrheit aller
Evangelien in Frage stellte und schließlich 1839 durch den „Züriputsch“ wieder abgesetzt
worden war. An der Universität hielt Brunner jeweils von 7.00-9.00 Uhr Vorlesungen, ohne
Pause, konzentriert, gestochen scharf, brillant, apologetisch, die Sätze kommen wie
Donnerschläge, die nacheinander herunterrasseln, wie es seine Zuhörer bezeugen.
In Zürich lehrte auch Gottlob Schrenk, der Sohn des Evangelisten Elias Schrenk, der die
historisch-kritische Methode bejahte und die Verbalinspiration negierte. Für das Fach Altes
Testament war Ludwig Köhler zuständig, der durch das Wörterbuch „Köhler-Baumgartner“
bekannt wurde. Nachfolger von Ludwig Köhler wurde Walther Zimmerli (bekannt durch die
„Alttestamentliche Theologie“). Zimmerlis Nachfolger für den Lehrstuhl Altes Testament
wurde Hans Wildberger, der mit seinem dreibändigen Jesaja-Kommentar (BKAT 1972,
1978, 1982) an die Öffentlichkeit trat. Zwischen den Ehepaaren Wildberger und Brunner
entwickelte sich eine herzliche Freundschaft. Man duzte sich, was damals keineswegs
3
Das Foto zeigt Emil und Margrit Brunner mit ihrem ersten Sohn Hans-Heinrich als Baby (das Foto entstammt
der Brunner-Biographie von Frank Jehle).
4
Links das Foto zeigt Emil Brunner mit seinem ältesten Sohn Hans-Heinrich (das Foto entstammt dem Cover
des Buches von Hans-Heinrich Brunner: Mein Vater und sein Ältester, TVZ, Zürich, 1986. Es ist in meiner
Bibliothek vorhanden).
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 4
selbstverständlich war, und man nahm gegenseitig Anteil, wenn in der Familie jemand
erkrankte. Wildberger hat von Brunner gelernt, dass man trotz der historisch-kritischen
Methode an Jesus Christus glauben kann.5
Symbolsprache
1913 reichte Brunner seine Dissertation ein und erhielt daraufhin den Titel des „Lizentiaten
der Theologie“ (Lic. Theol.).
In der Arbeit geht es um die Erkenntnis Gottes. Wie können wir von dem unendlichen Gott
sprechen (S. 49ff.). Das ist möglich und zugleich unmöglich. Die Symbolsprache hilft uns
weiter. Die Symbolsprache ist die „Sprache des Unendlichen“ (S. 50). Vergleiche dazu später
die Diskussion mit Karl Barth über die „analogia entis“ (den „Vergleich des Seins“, also den
Vergleich alles Existierenden, alles Endlichen mit dem Unendlichen, eben mit Gott).
„Der Begriff ist die Sprache der Wissenschaft, das Symbol die Sprache des Lebens“
(51).6
Die jungen Dialektiker
 Die Nein-Denker
 Die
Denker
in
Gegensätzen
(Gott-Mensch;
Endlichkeit-Unendlichkeit;
Glaube-Unglaube…).
 Abgrenzung gegen die liberale Theologie und den Historismus des 19. Jahrhunderts.
 Abgrenzung gegenüber Schleiermacher (Glaube nur ein Gefühl).
 Abgrenzung gegen den Kulturprotestantismus (Bürgerlichkeit, Tugenden, Kaiserzeit,
Wissenschaftlichkeit: Ritschl, Harnack).
Die jungen Dialektiker7 (Barth, Brunner,
Gogarten, Turneysen) wollen sich von der alten
festgefahrenen und festgebissenen liberalen Schule
des Historismus des 19. Jahrhunderts sowie von
Schleiermacher befreien. Dazu trug vor allem
Barths Römerbrief-Kommentar von 1918 bei,
worin er mit dem Historismus und dem Denken
Schleiermachers abrechnete.
Brunner setzte sich in seinem Werk „Mystik und
5
Jehle, 572f.
Das Symbol in der religiösen Erkenntnis, Tübingen, 1914, S. 87
7
Das Foto zeigt Karl Barth, Rudolf Pestalozzi und Eduard Thurneysen (das Foto entstammt der
Brunner-Biographie von Frank Jehle).
6
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Wort“ (1924) mit der Theologie Schleiermachers auseinander. Die Mystik betont das Gefühl,
die Religion, die Spiritualität, die Sinnlichkeit.
Doch die alleinige Grundlage des christlichen Glaubens ist das Wort Gottes.
„Der Mensch ist Mensch dadurch, dass ihm das Wort gegeben ist. Er ist das
vernünftige Wesen dadurch, dass er Wort vernimmt. Er ‚lebt von einem jeglichen
Wort, das aus dem Munde Gottes geht‘. Gott kommt zu uns, indem er spricht. Die
Taten Gottes sind Kundmachungen, Euangelia.“8
„Die Offenbarung ist das Gegenteil alles Beweisbaren, ja auch
nur Verstehbaren; das nur zu Glaubende. […] Logos, Wort
Gottes9 ist alles: Die Wahrheit, die erkannt, der Anspruch, der
anerkannt und die Offenbarung, die geglaubt werden will. […]
Der Gott, der dem Glauben bekannt ist, ist der, der sich im Wort
offenbart, und seine Autorität ist die Autorität des Wortes, das
in Freiheit erkannt, anerkannt und geglaubt werden will. Das
Wort ist die schöpferische Potenz, der Ursprung aller Wahrheit,
alles Guten und aller Hoffnung.“10
Allerdings unterscheidet Brunner mit Barth das Bibelbuch von dem Wort Gottes.
„Ich bin Pauliner wegen dem paulinischen Evangelium, nicht wegen Paulus oder dem
Bibelbuch.“11
Zwar setzen de facto die jungen Dialektiker neue Schwerpunkte (Barth: „Gott, der ganz
andere“; Brunner: „der persönliche Gott“), aber überwunden haben sie die historisch-kritische
Methode (HKM) und den religionsgeschichtlichen Ansatz Ritschl’s nicht.
Zwar hat auch Brunner erkannt: Die historisch-kritische Methode geht mit der Bibel um wie
mit einem K u n s t w e r k . Die historisch-kritische Methode beschreibt die Entstehung des
Kunstwerkes, die Technik, die Komposition, den Werdegang, den Lokus, also eben alle
Äußerlichkeiten, aber sie beschäftigt sich viel zu wenig mit dem Inhalt, mit der eigentlichen
Intention, mit der Botschaft des Werkes. Ja selbst der Künstler, der Schöpfer des Werkes, wird
außer Acht gelassen. Das ist das Dilemma der historischen Erforschung der Bibel im 19.
Jahrhundert, das ist auch noch heute ihr Desaster.
„Gott ist so wichtig wie der Kuhhandel“, hatte der junge Karl Barth in einer Predigt in
Safenwil gesagt. Das konnte Brunner nur bestätigen und gab diese Botschaft sogleich an seine
eigene Gemeinde in Obstalden (Glarus) weiter. Die Bauern des Dorfes waren vom Kuhhandel
abhängig, ihre ganze Existenz hing davon ab. Die Arbeit auf dem Hof beschäftigte die Bauern
8
Mystik und Wort, 5, zitiert in: Jehle, 194.
Foto: ML-Bibel von 1819 im Besitz von S.F.Weber (Foto: S.F.Weber).
10
Mystik und Wort, 386, zitiert in Jehle, 194.
11
Nachlass 81,1, zitiert in Jehle, 184.
9
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den ganzen Tag über. Ihre Gedanken kreisten um den Hof. Aber genauso wichtig ist Gott,
unser Schöpfer. Denn schließlich hängt in der Beziehung zu ihm unsere ganze Ewigkeit davon
ab! Und genau diese Botschaft brachten die jungen Dialektiker an die Öffentlichkeit.
Denn wiederum setzten sie sich mit dieser Botschaft vom bürgerlichen Christentum des 19. Jh.
ab, das seine geistige und geistliche Nahrung am Kamin, im Wintergarten oder in der
Sommerlaube nur bei einer Lektüre von Schelling, Novartis oder Goethes „Bekenntnisse einer
schönen Seele“12 erhielt. Demgegenüber betonten die jungen Dialektiker, dass der Glaube
allein aus dem Wort Gottes kommt und dieses Wort Gottes gilt es zu bezeugen und zu
verkündigen.
Theologie der Krise
Brunner hat die Dialektische Theologie in den USA unter dem Namen “Theology of Crisis”
bekannt gemacht (1929).
Spätere Abgrenzung von der Dialektischen Theologie
Mit einer absoluten „Licht-Finsternis-Philosophie“ kann Brunner später nicht mehr arbeiten.13
Die Hetzjagd des dialektischen NEIN könne er nicht weiter verfolgen. Selbst der Glaube
würde schon durch die „Nein-Linse“ gesehen werden. Die dialektische Spiralbewegung
kommt nie zu Ende, aber in der Rechtfertigung des Menschen hat sie ihr Ende (gemäß
Röm. 8,33). Wo Gott ausschließlich und absolut als „der ganz Andere“ gepredigt werde, gehe
der biblische Satz „das Wort ward Fleisch“ verloren. Das Göttliche ist auch erfahrbar. Das
Heil ist ein Stück gegenwärtiger Realität. Deshalb war für Brunner die Ethik wichtig. Der
Glaube ist eine Aufgabe, eben auch eine soziale. Der Mensch ist nicht um der Erlösung willen
da, sondern die Erlösung um des Menschen willen. Neben der vertikalen gibt es auch die
horizontale Linie. Die horizontale Linie ist für Brunner die „analogia entis“, die Fußspuren des
Schöpfers in der Schöpfung.
Unser Glaube
Ein noch heute gern gelesenes und oft übersetztes Werk ist “Unser Glaube” (1935), eine
christliche Glaubenslehre für Nichttheologen. Die Broschüre wurde in 14 Sprachen übersetzt,
u. a. auch in Hebräisch. Das Werk ist eine Frucht der Oxfordgruppenbewegung und der
biblischen Männerstunden in seinem Hause.
Auch in seiner Habilitation „Erlebnis, Erkenntnis, Glaube“ (1921) setzt er sich mit dem
Glauben auseinander: Glaube ist kein Führwahrhalten, sondern ein Vertrauensakt wie wenn
eine Mutter ihrem Sohn sagt: „Ich glaube an dich!“
„Das Wort Glaube ist falsch übersetzt, wenn es nicht auch heißt: Gehorsam. Alles soll
12
In den Bekenntnissen einer schönen Seele kennzeichnet Goethe die Charakterzüge einer Pietistin nach in
seinem Werk „Wilhlem Meisters Lehrjahre“ (1795).
13
Jehle, 158-162
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 7
Christus untertan sein, nicht nur die Herzen, sondern auch die Verhältnisse.“14
In der Bibel spricht die Stimme Gottes – „His Masters Voice“
„An allen Straßen sieht man Plakate der Grammophongesellschaft ‚His Masters Voice‘, das
heißt auf Deutsch: ‚Seines Meisters Stimme‘. Also, will die Grammophongesellschaft sagen,
kauf eine Platte, und du hörst des Meisters, Carusos,
Stimme. Ist das wahr? Aber sicher! Wirklich seine
Stimme? Jawohl! Und doch – ja eben: der Grammophon15
macht halt noch sein eigenes Geräusch. Das ist nicht des
Meisters Stimme, das ist Gekratz von Hartgummi. Aber
schilt nicht über den Hartgummi! Nur durch die
Hartgummi-Grammophonplatten kannst du ‚des Meisters
Stimme‘ hören. Sieh, so ist’s mit der Bibel. Sie macht dir des wirklichen Meisters Stimme
vernehmlich, wirklich seine Stimme, seine Worte, was er sagen will. Aber es hat
Nebengeräusche dabei, eben darum, weil Gott durch Menschenmund sein Wort spricht.“16
Der Vergleich scheint zunächst sehr treffend und einleuchtend zu sein, aber m. E. bezieht sich
das Gekratze nicht auf die menschlichen Verfasser, denn durch sie redete der Hl. Geist
vollkommen Gottes Wort (2.Petr. 1,20-21), sondern das Gekratze, die Nebengeräusche,
beziehen sich auf die Überlieferung der Bibel, also auf die Abschriften mit ihren Differenzen,
wodurch wir uns nicht verunsichern lassen sollen, denn wir hören noch immer ‚des Meisters
Stimme‘.
Lebensmotto:
“Nicht Wächter der Menschen sind wir in erster Linie, sondern Wächter dieses
Wortes”.17
Brunner vertritt eine Theologie der Offenbarung (Natur und Gnade) und des Wortes Gottes.
Und darum war er zeit seines Lebens ein systematischer Theologe.
Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist personal, eine Ich-Du-Beziehung.
Gott ist nur im Glauben zugänglich.
14
E. Brunner: Die Aufgabe der Christen an der Welt, Monatsblatt der Evangelischen Gesellschaft des Kantons
Zürich, 9. Jahrgang, Nr. 2, 1926, S. 19, zitiert in: Jehle, S. 206.
15
Foto Grammophon: Sammlung.ient.rwth-aachen (Institut für nachrichtentechnische Sammlung Aachen).
16
Brunner: Unser Glaube, 15, in: Jehle, 324
17
Brief an Ernst Hurter vom 10.09.1924, - Jehle, 15.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 8
Der Mittler
Im Jahre 1927 veröffentlichte Brunner die christologische Schrift „der Mittler“ (565 Seiten)18,
in der wiederum apologetisch und evangelisch für den soteriologischen Kreuzesweg Christi
propagierte. Selbst Karl Barth, Paul Althaus in einer Rezension als auch
der in Paris wirkende russische Philosoph Nikolaj Berdjajew waren
begeistert.
Schon am Anfang heißt es:
„Es gibt nur eine Frage, die ganz ernst ist: die Gottesfrage. […] Sie ist
heute und jederzeit und für jedermann die Entscheidungsfrage. […] Die
Gottesfrage, als Entscheidung erkannt, ist die Christusfrage.“19
„Die christliche Erkenntnis ist die Erkenntnis der unüberbrückbaren
Kluft, des unheilbaren Risses, d. h. des Risses, den nur ein besonderes
Geschehen von Seiten Gottes heilen kann, die Kluft, die nur von Gott selbst überbrückt
werden kann. Diese Brücke über die Kluft heißt: der Mittler.“20
Aufgabe der Theologie: „[Die Theologie] soll nicht den Glauben erzeugen, sondern den
Glauben bewusst machen und ihn unterscheiden von den Glaubensfälschungen. Die Arbeit der
Theologie gleicht der einer Prüfstelle für Lebensmittel. Der Theologe hat die
Glaubensnahrung, die die Kirche der Welt in der Verkündigung darbietet, auf ihren Nährwert,
auf ihre Echtheit zu untersuchen und die Surrogate auszuscheiden.“21
Brunner und der biblische Fundamentalismus in den USA
Auf seiner zweiten USA-Reise 1928 hielt Brunner Vorträge an verschiedenen theologischen
Seminaren, vor allem an reformierten: Lancaster Theological Seminary (Pennsylvania),
Central Theological Seminary (Ohio), Western Theological Seminary (Pittsburgh in
Pennsylvania, presbyterianisch), Princeton Theological Seminary in New Jersey.
Brunner lehnt die Verbalinspiration ab, und zwar aus theologischen Gründen: Der Glaube
hängt nicht von der Verbalinspiration ab.22
Am Princeton werden die Exaministen gefragt, ob sie mit der historischen Faktizität der
Jungfrauengeburt und der Auferweckung des Lazarus rechneten oder nicht. 23 Eine solche
versteinerte Haltung lehnt Brunner ab.
Das Wort Gottes in der Hl. Schrift dürfe nicht mit den Wörtern der Hl. Schrift identifiziert
werden, konstatiert Brunner, ähnlich wie vor ihm schon J. S. Semler (Wort Gottes müsse in der
Bibel gefunden werden) und wie Karl Barth, der vom „Ereignis des Wortes Gottes in der
18
Bei dem Foto „Der Mittler“ handelt es sich um das eingescannte Buchcover aus der Bibliothek des
Rezensenten.
19
E. Brunner: Der Mittler, S. V, in Jehle, 231.
20
A.a.O., 125, in Jehle, ebd.
21
E. Brunner: Der Mittler, S. VI, in Jehle, 232.
22
E. Brunner: Crisis, 19, in Jehle, 247.
23
Jehle, 244f.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 9
Verkündigung“ sprach. 24 Dennoch wurde Brunner von den biblischen Fundamentalisten
gerne gehört, denn in der dialektischen Theologie setzte er sich ja kritisch mit Schleiermacher
und dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts auseinander. Brunner schrieb an seine Frau
Margrit, dass er mit den biblischen Fundamentalisten gut auskomme. Der Schweizer meinte,
dass die biblischen Hardliner sogar seinen Darwinismus und seine Bibelkritik schlucken
würden, wenn sie sehen, um was es ihm geht.25
Als er zehn Jahre später noch einmal für ein knappes Jahr (25.9.1938-22.4.1939) als Dozent
für Systematische Theologie nach Princeton berufen wurde, hatte sich die Lage gerändert.26
Die gemäßigt Liberalen hatten das Ruder in die Hand genommen, so dass der konservative
Theologe John Greshem Machen das Seminar verließ und das Westminster Theological
Seminary in Philadelphia gründete. Brunner musste sich immer wieder hart mit den
Konservativen auseinandersetzen, weil er die Jungfrauengeburt ablehnte und das machte ihn
auch körperlich und seelisch zu schaffen. Außerdem gewann er keine Vertrautheit. Er
vermisste seine Heimat und seine Familie. Somit verließ er im April 1939 USA wieder, um
nach Zürich heimzukehren. Dort angekommen, musste er sich erst einmal 3 Monate lang
erholen. Er war völlig erschöpft gewesen.
Emil Brunner und die Oxfordgruppenbewegung
Die Oxfordgruppenbewegung 27 wurde 1921 von dem Amerikaner Frank Nathan Daniel
Buchmann (1878 in Pennsburg/Pennsylvanien – 1961 in
Freudenstadt) gegründet. Buchmanns Vorfahren kommen aus der
Schweiz. Nach seinem Theologiestudium besuchte er Deutschland
(Bethel, das Rauhe Haus in Hamburg und die Berliner Stadtmission).
Zurück in den USA gründete er in Philadelphia ein Heim für
verwaiste und verlassene Kinder. 1908 hatte er das entscheidende
Erlebnis der Begegnung mit dem Kreuz Christi auf einer Tagung der
Keswickbewegung, der englischen Heiligungsbewegung, die 1875
von dem Erweckungsprediger Robert Pearsall Smith hervorgerufen worden war und
alljährlich eine Konferenz in Keswick (Nordengland) veranstaltete. Von jetzt an zog er durch
die Lande und verkündigte das Evangelium. Immer mehr Zuhörer versammelten sich in den
Veranstaltungen von Buchmann. Er gründete „Hauspartien“. In diesen Kreisen wurde die
Bibel gelesen, Alltagsprobleme anhand des Evangeliums besprochen, es wurde gebetet und
persönliche Seelsorge angeboten. Jeder Christ sollte ein „Leben unter der Diktatur des Hl.
24
E. Brunner: Crisis, 20, in Jehle, 247
Brief an Margrit Brunner vom 22. Sept. 1928, in Jehle, 245.
26
Jehle, 355-380
27
Fr. W. Bautz, in: BBKL, I, 190, Sp. 790-792. http://www.bautz.de/ vom 5.3.2010. Siehe auch: G. Ruhbach:
Art. „Frank Buchmann“ in: ELThG, I, 319. Das Foto entstammt der Biographie von Frank Jehle.
25
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 10
Geistes“ führen. Die Stille Zeit wurde eingeführt. 1921 kam die Gruppe um Buchmann nach
Oxford, wo der Hauptsitz gegründet wurde. Die Erweckungsbewegung wurde nun in ganz
Europa unter dem Namen „Oxforder Gruppenbewegung“ bekannt. Die Gruppe durchzog
auf ihren Evangelisationszügen Holland, Südafrika, Schweiz, Norwegen, Schweden und
Dänemark. Schon früh bestand ein großes Ziel darin, nicht nur die Menschen geistlich zu
erwecken, sondern alle Menschen sozial in Frieden und Gerechtigkeit zu vereinigen (soziales
Engagement). Wenn alle Menschen die vier Tugenden von Wahrhaftigkeit, Reinheit,
Selbstlosigkeit und Liebe verfolgen, dann ist Frieden auf dieser Welt möglich. Darum nannte
sich die Gruppe ab 1938 auch die „Moralische Aufrüstung“. Sie trat ihren Siegeszug in mehr
als 120 Ländern an, um für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung zu werben (1965
Zentralsitz in Luzern). Weil nun nach dem Zweiten Weltkrieg das Evangelium vernachlässigt
wurde, kam es zu Abspaltungen. In Deutschland entstand der „Marburger Kreis“ (MK) um
Arthur Richter („Auf der Suche nach Freiheit“), in dem neue geistliche Akzente gesetzt
wurden. Der MK ist eine lockere Vereinigung von überkonfessionellen Christen, die sich in
verschiedenen Hauskreisen zum Bibellesen, Gebet, Klärung von Alltagsfragen anhand des
Evangeliums und zur persönlichen Seelsorge treffen.28
Als Frank Buchmann mit seiner Oxforder Gruppe 1933 in die Schweiz kam, füllten sich
sogleich die Hallen. Aber auch vor Ärzten, Arbeitslosen, Beamten hielt Buchmann Vorträge.
Auf seiner Initiative hin schlossen sogar Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände Frieden.
Der Romanist Theohpil Spoerri an der Universität Zürich machte Emil Brunner persönlich mit
Frank Buchmann bereits 1932 bekannt. Zunächst war er noch etwas reserviert gewesen, als er
Buchmann persönlich sah, denn der Mann glich mehr einem „Weinhändler“ als einem „einem
christlichen Zeugen“, aber was Buchmann sagte, sei so unerhört direkt, so einfach, so
wahrhaftig, so selbstverständlich, so überzeugend und herausfordernd, dass Brunner sich
fortan der Oxforder Bewegung anschloss. Als die Teammitglieder sich mit Buchmann
versammelten, darunter auch Spoerri und Brunner, da forderte Buchmann plötzlich aller
Zuhörer auf, sich mit ihm hinzuknien und zu beten – das taten alle – auch Emil Brunner. Ein
nüchternes Loben und Danken aus vieler Zeugen Mund fing an. Wir glaubten und wussten um
die lebendige Gegenwart Christi mitten unter uns.
Der Stil der Oxfordgruppenbewegung brachte in Brunner eine emotionale Saite zum Klinge,
die seit den Tagen der Kindheit in seinem erwecklichen Elternhaus verschüttet gewesen war.
An Thurneysen schrieb Brunner, dass Leute, die vorher keine Bibel anrührten, nun eifrige
Bibelleser geworden waren. Sie hätten einen Sinn für Christus, für die Vergebung und sogar
für die Kirche bekommen.29 Und noch einmal schrieb der Theologieprofessor aus Zürich an
28
G. Ruhbach: Art. „Frank Buchmann“ in: ELThG, II, 1293. Siehe auch die Homepage des Marburger Kreises:
http://www.marburger-kreis.de/
29
An Thurneysen am 25. Mai 1932, in: Jehle, 276.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 11
seinen Freund Thurneysen:
„[Mir ist] vor allem immer wieder aufgefallen, wie vollkommen das, was die Leute zu
verwirklichen suchen, mit dem übereinstimmt, was ich in meiner Ethik theoretisch
entwickelt habe. Keine Gesetzlichkeit, sondern alles Abstellen auf das konkrete Gebot
Gottes (guidance nennen sie es); kein Moralismus, sondern alles […] gesehen vom
Kreuz, von der Versöhnung in Christus her, wobei diese allerdings nicht mit dem
lutherischen, sondern mit dem reformierten Akzent auf die […] Kraft Christi, auf die
neu schaffende Kraft des Heiligen Geistes, versehen ist. […] Kein Bekehrungskrampf,
sondern der schlichte Weg: Erkenntnis der Sünde, Vergebung in Christus, Neuwerden
aus der insertio in Christum per spiritum sanctum [Einpfropfung in Christus durch den
Hl. Geist].“30
Auch für Emil Brunner gab es praktische Veränderungen in seinem Leben: Persönliche Stille
Zeit, Beichte unter vier Augen und eine bessere Beziehung zu seiner Frau.
Er nahm an Hauskreisen und Gebetsstunden teil. Zusammen las man in der Bibel, tauschte
sich darüber aus und betete. In der persönlichen Seelsorge unter vier Augen bekannte einer
dem anderen seine Sünden. Vor allem Brunners Schwester Lydia war eine treue Anhängerin
der Oxfordgruppenbewegung. Emil Brunner hielt Bibelstunden, worüber er schreibt:
„Ist es denn nichts, wenn in Zürich durch die Gruppe 600 Leute nun angefangen haben,
die Bibel zu lesen, beten, wissen um Sündenvergebung, die es vorher nie getan? Wir
haben 20 Bibelgruppen, deren Leiter mit mir den Römerbrief gelesen haben, um ihn
nachher in ihren Gruppen auslegen zu können.“31
Seiner Schwester Lydia erzählte er, dass 400-500 Männer seine Bibelstunde besuchen würden.
Brunner predigte in jenen Jahren in verschiedenen Kirchen der Stadt, aber auch sogar im
säkularen Volkshaus das Evangelium von JESUS Christus.
In diesem Kontext erschien die Broschüre „Um die Erneuerung der Kirche – Ein Wort an alle,
die sie lieb haben“ (1934). Darin heißt es:
„Wahre Kirche und wahres Christentum ist nur da, wo von Kirche und Christentum werbende
Kraft und missionarischer Wille ins Volksganze hinausgeht. […] Die werbende Kirche muss
mobile Stiftshütte sein im Unterschied zur erhaltenden und pflegenden, die die Stabilität des
Tempels zum Muster ihrer Struktur hat.“32
Am 11. Sept. 1933 fand ein Treffen zwischen Bart, Brunner, Theo Spoerri, Pstalozzi u. a. statt.
Spoerri legte Zeugnis von JESUS ab und rief wohl auch Barth zur Bekehrung auf. Brunner
hatte nichts einzuwenden. Barth reagierte heftig. Nun brach die Eiszeit zwischen Barth und
Brunner an.
30
31
32
An Thurneysen am 29. August 1932, in: Jehle, 277.
Nachlass 82, in: Jehle, 285.
Erneuerung, 29, in: Jehle, 287.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 12
Sichtbare und unsichtbare Kirche
Man darf nicht zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Kirche unterscheiden, denn es gibt
nur eine, nämlich eine sichtbare Kirche, die nach außen wirkt und missionarisch aktiv ist, die
geistliches Leben hat, ansonsten ist sie nicht Kirche. Die ganze Kirche mit allen ihren
Mitgliedern muss für Christus mobil gemacht werden!
Abschied von der Gruppe
Natürlich haben Thurneysen, Gottlob Schrenk und Barth ihren Freund immer wieder
„gewarnt“, doch das half zunächst nichts. Erst, als Buchmann sich in seiner großen und
geistlichen Verblendung zu den „Deutschen Christen“ der Nationalsozialisten stellte, um wohl
weiterhin in Deutschland offene Türen zu behalten, wurde nun auch Brunner stutzig. Er
warnte Buchmann, keine Kompromisse mit den „Deutschen Christen“ zu machen, aber das
half nichts. Buchmann meinte sogar, dass der Reichsbischhof Ludwig Müller unter der
Führung des Hl. Geistes eine lebendige Kirche anstrebe.33 Der Hörer fragt sich, wie es so
schnell zu so einer Verblendung und Verführung kommen kann? Es zeigt sich mal wieder,
dass sich selbst der erweckliche Christ täuschen lassen kann und dass es angebracht ist, sich
selbst mit der Materie der Ideologien zu beschäftigen und sich auseinanderzusetzen. Das hatte
Buchmann wohl unterlassen. Hätte er sich mit den Schriften der Nationalsozialisten
beschäftigt, dann hätte ihm der Hl. Geist garantiert die Augen geöffnet und dazu war er wohl
zu bequem und das Image der Gruppe in Deutschland war ihm wohl wichtiger als die
Wahrheit. Viel wachsamer war da in Deutschland die Bekennende Kirche, die bereits ein Jahr
nach der Machtergreifung Hitlers mit dem Barmer Bekenntnis reagierte.
Darum nahm Brunner 1938 Abschied von der Oxforder Gruppe und von Buchmann. Sowohl
Buchmann als auch die Gruppe ließen sich nicht korrigieren. Die Gruppe ist alles. Sie gleicht
einem Orden. Es gibt für Brunner auch außerhalb der Gruppe kirchliche Bewegungen, die
Gottes Wort verkündigen. Das wurde von der Gruppe nicht mehr gesehen und deshalb trennte
sich der Zürcher Theologieprofessor von der Erweckungsbewegung.
33
Das Entgegenkommen Buchmanns half nichts. Die Oxfordergruppenbewegung wurde von den
Nationalsozialisten in Deutschland verboten.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 13
Natur und Gnade
Karl Barth über die Fehde mit Emil Brunner:
„Lieber, nimm doch das alles in der Zeideutigkeit und Harmlosigkeit, mit
der es gemeint ist, und vor allem: nimm doch mich und – dich nicht so
blutig ernst, du fürchterlicher Wahrheitssucher mit allen deinen
systematischen Saugnäpfen und Fangarmen. […] Also lass nicht Zank sein
zwischen dir und mir!34
Schon der erste Artikel der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai
1934 sprach gegen Brunners Auffassung von „Natur und Gnade“ (Mai
1934)35, dessen Verfasser Karl Barth gewesen war.
Karl Barth ließ sich allerdings mit der Antwort auf Brunners „Natur und Gnade“ Zeit. Erst im
November 1934 gab er sein Pamphlet heraus mit dem unvergesslichen ironischen Titel:
„NEIN! Antwort an Emil Brunner.“ Barth ordnete alle anthropologischen Grundfragen der
Versöhnungslehre unter.
Die sechs Antithesen Barths fasst Brunner in seiner Schrift „Natur und Gnade“ kurz
zusammen36:
1) Die dem Menschen von Gott anerschaffene Gottebenbildlichkeit ist seit dem
Sündenfall völlig, d.h. restlos, ausgetilgt.
2) Jeder Versuch, eine allgemeine Offenbarung Gottes in der Natur, im Gewissen, in der
Geschichte geltend zu machen, ist rundweg abzulehnen.
3) Es gibt keine von der Schöpfung der Welt her wirksame und in Gottes Erhaltung der
Welt sich an uns erweisende Schöpfungs- und Erhaltungsgnade.
4) Deswegen gibt es auch keine Erhaltungsordnungen Gottes, weshalb ein aus der
Schöpfung abgeleitetes Naturrecht als ein heidnischer Gedanke verworfen werden
muss.
5) Aus demselben Grund ist es auch nicht statthaft, von einem Anknüpfungspunkt des
erlösenden Handelns Gottes zu sprechen.
6) Ebenso ist die neue Schöpfung in keiner Weise Vollendung, sondern ausschließlich
eine durch Vernichtung des Alten hindurch geschehende Neusetzung, Ersetzung des
alten durch den neuen Menschen.
Für Barth gibt es keine „analogia entis“ – eine Analogie des Seins, also eine Analogie der Erde
mit dem Himmel. Schon der Römerbriefkommentar hätte eine solche Analogie des Glaubens
niemals zugelassen und so lässt er es auch jetzt nicht zu. Für Barth gibt es nur einen
Anknüpfungspunkt bei dem Menschen und das ist der Hl. Geist, bzw. das wirkt der Hl. Geist.
Punktum!
Brunner betont dagegen die Erhaltung der formalen Gottebenbildlichkeit, weshalb Gott auch
34
35
36
Barth an Brunner am 26. Mai 1921, in: Jehle, 295.
Das eingescannte Cover „Natur und Gnade“ stammt aus der Bibliothek des Rezensenten.
Brunner: Natur Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, Tübingen, 21935, 7-8
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 14
in seinem Wort zu den Nichtgläubigen sprechen kann.
Der Anknüpfungspunkt ist die Voraussetzung für die Predigt, stellt Brunner fest.
Es gibt einen negativen Anknüpfungspunkt (Kierkegaard), nämlich die menschliche
Verzweiflung. Und es gibt einen positiven Anknüpfungspunkt: Schöpfung, Gewissen,
Gottebenbildlichkeit (Röm. 1; Apg. 14,17; Apg. 17,16-34). In Bezug auf den positiven
Anknüpfungspunkt sprach der in Erlangen wirkende Lutherische Theologe Paul Althaus
(1888-1966) von der Uroffenbarung.
Der Mensch ist eben nicht nur erlösungsbedürftig, sondern auch erlösungsfähig!
Schöpfungsordnung (Ehe) und Schöpfungserhaltung (Staat) gilt allen Menschen.
Gerhard Sauter konstatiert: In Krisenzeiten mag eine Problemreduktion (Versöhnungslehre.
Die eine Offenbarung gegenüber anderen Offenbarungen durch die nationalsozialistische
Religion) vorteilhaft und nützlich sein, auf Dauer aber führt dies zur Diskursverengung.37
In der Diskussion warf Bonhoeffer Barth einen Offenbarungspositivismus vor.
Zwei Sichtweisen derselben Medaille
Barth schlüpft in den Ertrinkenden hinein, der nach seiner Errettung nur dem Retter danken
kann, sonst sieht er nichts und gar nichts. Brunner beschreibt die Rettungsaktion als Zeuge, als
Außenstehender oder als Reporter: Es gibt äußere Umstände der Rettung (Hilfeschreie). Es
gibt auch Hilfsgegenstände (Rettungsring). Aber es gibt nur einen Retter, darüber sind sich
beide einig.38
Versöhnung auf dem Bergli 1935
Barth musste Deutschland verlassen und zog nach Basel. Ende Juni 1935 trafen sich Barth und
Brunner an einem Wochenende in Oberrieden auf dem Bergli. Beide konnten in brüderlicher
Weise miteinander reden.
Ein letztes Treffen gab es 1960 in Basel.
37
38
Sauter in: Jehle, 311
Jehle, 317-319
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 15
Der Mensch im Widerspruch
In dieser Schrift 39 von 1937 entwirft Brunner seine Anthropologie. Er weist auf die
Verantwortlichkeit des Menschen als den „Kernpunkt aller Anthropologie“ hin. Brunner
unterscheidet zwischen dem wahren Menschen und dem wirklichen Menschen. Der wahre
Mensch ist der, der seinen Ursprung im göttlichen Wort und damit
seine Verantwortlichkeit so hat, dass er von diesem Wort her und
auf dieses Wort hin existiert.
Der wirkliche Mensch ist der, der seinen Ursprung zwar auch im
göttlichen Wort hat, der dies aber leugnet und dessen
Verantwortlichkeit sich deshalb verkehrt hat. Das ist der Mensch
im Widerspruch. Der Widerspruch kommt dadurch zustande, dass
der Mensch im Gegensatz zu seinem Ursprung lebt. Der Ursprung
besteht in der Ebenbildlichkeit Gottes. Der Mensch aber stellt sich
in Gegensatz zu seinem Schöpfer. Er ist egozentrisch, bzw.
exzentrisch geworden. Nur durch die Erneuerung des Ebenbildes
durch Jesus Christus wird die Verantwortlichkeit des Menschen wieder hergestellt.
Wahrheit als Begegnung
So lautet das Werk 40 Brunners von 1938. Brunners Herz schlägt gegen das intellektuelle
Missverständnis des christlichen Glaubens. Die Verschiebung vom personalen Verständnis
des Glaubens auf das intellektuelle sieht Brunner das kirchliche Grundübel. Der intellektuelle
Glaube ist ein Überbleibsel des griechisch-philosophischen Denkens in der
Kirche. Während die Bibel die Geschichte der Offenbarung Gottes in lauter
Verben der Bewegung beschreibt, spekuliert die Theologie in der
intellektuellen Mitteilung von Lehrwahrheiten.
Wir können Brunner soweit zustimmen. Für Gott spielt die Begegnung, die
Beziehung zum Menschen in erster Linie die entscheidende Rolle. Das
bezeugen die vielen Geschichten in der Bibel (Abraham, Jakob, Gideon,
David ...). Aber: die Bibel hebt dadurch die Lehrwahrheiten (über Gott, über
Jesus, über die Schöpfung, über die Erlösung, über den Hl. Geist, über die Gemeinde, über
Israel, über die Eschatologie) n i c h t auf!!!
Die Begegnung mit Gott, eine Beziehung zu Gott aufbauen, ist entscheidend wichtig, sie zu
Jesus aufzubauen, ist heilsentscheidend, aber genauso wichtig ist die Nachfolge, die
Bewahrung vor Verführung und Abfall (Mt. 24; Briefe des NT)!
39
Bei dem Foto „Der Mensch im Widerspruch“ handelt es sich um das eingescannte Buchcover aus der
Bibliothek vom Rezensenten.
40
Beim Foto „Wahrheit als Begegnung“ handelt es sich um das eingescannte Buchcover aus der Bibliothek des
Rezensenten.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 16
Und hier nun können wir Brunner nicht mehr folgen: Er wendet sich nun gegen eine
„Bibelorthodoxie“ und gegen eine „Dogmenorthodoxie“. Er hat etwas gegen pietistische
Aussagen wie: „Wenn nur deine Haltung der Lehre gegenüber klar und eindeutig ist, so bist
du ein Christ.“
Wahrheit spielt für Brunner eine sekundäre Rolle. Sie will gelebt werden in der Beziehung zu
Jesus Christus. Der Inhalt der Wahrheit, die Lehre tritt bei Brunner zurück.
„Glaube ist nicht primär Glaube an etwas Wahres – auch nicht an das Wahre, dass Jesus der
Sohn Gottes sei, sondern er ist primär Vertrauen und Gehorsam.“41
Brunner ist seiner Zeit weit voraus. Der Rücktritt der Wahrheit gegenüber dem Erlebnis, die
Verdrängung der biblischen Lehre und der Moral gegenüber gelebten Beziehungen
(„personale Korrespondenz“) wird im 21. Jh. immer stärker die Gemeinden prägen.
Das 1800-jährige Missverständnis der Kirche
Brunner denkt 1951 über den Kirchenbegriff nach. Dass die Kirche als Institution gedacht
wurde, ist das 1800jährige Missverständnis der Kirche. 42 Kirche ist persönliche
Christusgemeinschaft. Sie ist ein lebendiger Organismus. Kirche ist nicht Anstalt und
Institution, sondern eine gelebte Bruderschaft (vgl. Bonhoeffer: communio sanctorum:
Gemeinschaft der Heiligen).
Der Heilige Geist, der die Kirche hervorgebracht hat und durch die Charismen lebendig in
jedem Glied des Leibes wirkt, ist verdrängt worden. Er wurde zum Stiefkind der Theologie.
Die Kirche im Neuen Testament hat zwar Institutionen, aber sie ist keine Institution.
Heute aber, so meint der Schweizer, sei das Wort Gottes durch das
Dogma ersetzt worden und der persönliche Glaube durch das
Moralgesetz. Jetzt hat man reine Lehre – aber ohne den Geist des
Wortes Gottes; richtigen Glauben – aber ohne die Liebe; Gemeinden
und Ämter – aber ohne die Verbundenheit im gegenseitigen Dienst.
Die Kirche der Urchristen, die eine Kirche der Bekennenden war,
wurde durch die konstantinische Volkskirche abgelöst.
Emil Brunner plädiert für „lebendige Gemeinschaftszellen“
(Hauskreise).
Formen der Christusgemeinschaft kann es nun nach dem reformierten
Theologen in verschiedenen Kirchen und Konfessionen geben. Damit öffnet sich Brunner der
ökumenischen Bewegung. Das Ziel der ökumenischen Bewegung besteht nicht in der
institutionellen Einheit der Kirchen, sondern in ihrer brüderlichen Gemeinschaft. Hiermit sagt
er dasselbe aus wie einst Kardinal Josef Ratzinger: „Es gibt viele Kirchen, die Kirche bleiben
und eine Kirche werden“ (jetzt Papst Benedikt XVI.). Allerdings geht der Gedanke Ratzingers
einen Schritt weiter in der Aussage „... die eine Kirche werden“ (welche Kirche gemeint ist,
liegt wohl auf der Hand).
Die Gefahr für das Evangelium
41
42
Brunner: Wahrheit als Begegnung, 1938, 105, in: Jehle, 350
Vgl. Jehle, 506 ff. Das Foto stellt das Buchcover dar.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 17
„Eine der grössten (!) Gefahren für das Leben der Kirche in einem demokratischen Land
besteht in der Versuchung, das Evangelium in einer Weise zu verkünden, die dem allgemeinen
Volksempfinden nahe steht.“43
Kein Pluralismus
„Ebenso können die Religionen den wahren Gott darum nicht erreichen, weil sie nicht
begründet sind auf [dem] Faktum der sich selbst hingebenden heiligen Gottesliebe. […]
Darum ist der Gott, der sich als Vater Jesu Christi kundtut, ein anderer als der Gott der
Religionen und ein anderer als der Gott der philosophischen Spekulationen.“44
Über die Predigt
„Der Prediger muss das menschliche Herz kennen: die Sehnsüchte des menschlichen Herzens,
die Schliche, mit denen sich der Mensch Gott entzieht. Kniffe, die der Mensch braucht, um
Gottes Wort fern zu halten. Schläfrigkeit, Faulheit des menschlichen Herzens. Der Mensch
will nicht den Preis zahlen, den der Glaube kostet.“45
Nie sei „der Versucher dem Pfarrer näher, als wenn er von der Kanzel heruntersteigt.“
Entweder denke er: „Du hast es wieder einmal gut den Menschen gesagt.“ Oder: „Es nützt
doch alles nichts. Du bist ein totaler Versager.“46
Evangelische Heimstätte Boldern
Emil Brunner ist Mitbegründer der evangelischen Heimstätte Boldern hoch über dem
Zürichsee in Männedorf 1947. Dort sollten Freizeiten, Seminare, theologische Schulungen für
die allgemeine Bevölkerung stattfinden. Schon damals wurde die Notwendigkeit der
Freizeitarbeit entdeckt. Die Christen sollten für ein paar Tage dem Alltag entfliehen können,
damit sie unter Gottes Wort auftanken, seelsorgerlich betreut und biblisch gelehrt werden
konnten.47
Todesstrafe für Landesverräter?
Die zivile Todesstrafe wurde in der Schweiz am 1.1.1942 aufgehoben, im Kriegsfall aber erst
1992. Im Zweiten Weltkrieg wurden drei Landesverräter, die Granaten nach Deutschland
geschmuggelt und den Verlauf eines Schutzwalls bekannt gegeben hatten, zum Tode
verurteilt. Der Synodale der reformierten Kirchen in der Schweiz Paul Trautvetter brachte eine
Resolution an den Staat heraus, mit der Aufforderung, die Todesurteile aufzuheben. Emil
Brunner aber berief sich auf der einberufenen Synode auf Römer 13, dem Staat nicht ins
43
44
45
46
47
Das Ärgernis des Christentums, Zürich, 31988 (1957), 108, - Jehle, 478.
A.a.O., 48, - Jehle, 479
Brief von Konrad Staehelin an Frank Jehle vom 4. Juni 2005, Biographie, 487.
A.a.O., Biographie, ebd.
Jehle, 488 ff.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 18
Handwerk zu fuschen, denn ihr ist auch das Schwert gegeben. Seine Rede vor den Synodalen
bewog die Anwesenden mit 143 gegen 20 Stimmen die Resolution Trautvetters abzulehnen.
Ragaz reagierte empört: „Professor Brunner hat mit seiner Haltung in dieser Sache das
Todesurteil über sich als berufenen Zeugen Christi gesprochen, und ich fahre fort: dieses
Todesurteil kann nur aufgehoben werden – durch Gnade!“48
Offenbarung und Vernunft und die Bibel
Ende 1941 veröffentlichte Brunner sein Werk „Offenbarung und Vernunft“. Dieses Thema
erscheint auch in dem Buch „Wahrheit als Begegnung“ und in der Prolegomena seiner
Dogmatik. In diesem Zusammenhang wird Brunners Bibelhaltung offensichtlich.
Die V e r b a l i n s p i r a t i o n lehnt Brunner ab.
Keine Evangelienharmonie
„Nur ein Unkundiger oder Unwahrhaftiger bringt heute noch eine vollständige
Evangelienharmonie oder eine widerspruchslose Verbindung des paulinischen und des
lukanischen Berichtes von den Auseinandersetzungen zwischen den Aposteln zustande.“49
Eine Evangelienharmonie, die die vier Evangelien nach den Ereignissen zusammenstellt, setzt die
Historizität, die Zuverlässigkeit und Authentizität der Berichte voraus. Alle Evangelien ergänzen sich
in wunderbarer Weise. Eine solche Darstellung lehnt Brunner ab.
In Bezug auf „den paulinischen und lukanischen Bericht“ geht um den Zusammenhang von Apg. 15
(dem Apostelkonzil, wovon Lukas berichtet) und den biographischen Notizen des Apostels Paulus in
Gal. 2. Es geht darum, wie beide Ereignisse zeitlich zusammenpassen könnten, oder ob Gal. 2 nicht
vielmehr in die Zeit von Apg. 11 einzuordnen ist, also noch vor dem Apostelkonzil, so dass keine
Widersprüche in den Aussagen bestehen.
Widersprüche und Irrtürmer
Die Berichte über „Geschehenes“ in der Bibel sind „nicht widerspruchslos und irrtumsfrei“.50
Was alle neutestamentlichen Bücher gemeinsam haben, ist:
„Er selbst, Jesus Christus, das Wort Gottes; er ist der Mittelpunkt ihres Zeugnisses, aber ihre
Zeugnisse von ihm, ihre besondere matthäische, paulinische oder johanneische Lehre, sind
wie Radien, die von verschiedenen Seiten her auf diese Mitte hinzielen, ohne dass einer diese
Mitte ganz erreichte. Sie sind menschliche, geistgewirkte, gottgegeben (!) Zeugnisse vom
Wort Gottes; sie haben Anteil an seiner unbedingten Autorität und sind doch nicht dieses
selbst, sondern Mittel, durch die es uns gegeben wird.“51
48
49
50
51
Jehle, 421
Offenbarung und Vernunft, Zürich 1941, 127. Zitiert bei Jehle, 429.
A.a.O., 127. Jehle, 429.
A.a.O., 128. Zitiert bei Jehle, 429. Das Ausrufungszeichen weist auf die Originalität des Zitates hin.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 19
Keine Buchreligion
Und auch in Bezug auf den Kanon gilt es, sich bewusst zu machen, dass die „Kanonbildung
[…] das Werk der Kirche“ ist. Sie ist „Glaubensurteil, ein Erkenntnisentscheid, ein ‚Dogma‘
[…]. Darum ist die Kanonfrage grundsätzlich nie definitiv beantwortet, sondern immer wieder
offen.“52 Der Kanon sei eine Größe mit fließenden Rändern.53 Der
Gott des christlichen Glaubens „ist nicht ein Buchgott“.54
Jeder „geschichtslosabstrakte Biblizismus“ ist abzulehnen, da
„zwischen dem Bibelwort und dem Gotteswort nur eine indirekte
Identität besteht“.55
„Die Heilige Schrift56 doziert nicht theologische Lehre. Es ist eine
Tatsache von höchster Bedeutsamkeit, dass die Bibel nichts enthält,
was auch nur entfernt einem ‚Katechismus christlicher Lehre‘ oder
gar einem Lehrbuch der Dogmatik ähnlich wäre.“57
Zur gleichen Zeit hielt Rudolf Bultmann in Marburg seine Vorlesungen über „das Neue
Testament und die Mythologie“.
Über die Urgeschichte
„Es war Kurzsichtigkeit des kirchlichen Glaubens, bzw. der Theologie, zu meinen, die
Verneinung der Geschichtlichkeit der alttestamentlichen Urgeschichte oder der
Patriarchengeschichte müsste den Ruin des christlichen Glaubens bedeuten.“58
Bultmann und Schlatter
„Es ist gut, dass nicht alle Gläubigen so kritisch sind wie ein Bultmann und nicht alle Forscher
so konservativ wie ein Schlatter, wer möchte aber als Ausleger des Neuen Testaments die
Arbeit des einen oder des anderen missen?“59
Später jedoch distanziert sich Brunner nicht nur vom Biblizismus, sondern noch stärker von
Bultmann und seiner Entmythologisierung des Neuen Testaments:
„Aber noch viel weiter als von einem solchen naiven – und im Grunde unredlichen –
Biblizismus sind wir geschieden von einer Theologie der ‚Entmythologisierung‘, die uns
zumutet, eine ‚Interpretation‘ des neutestamentlichen Glaubens anzuerkennen, die aus diesem
die ganze Dimension der Zukunft eliminiert. […] Kann eine solche Amputation der Zukunft
aus dem Evangelium im Ernst als ‚Interpretation‘ in Frage kommen?“60 – „Der Glaube ohne
52
53
54
55
56
57
58
59
60
A.a.O., 129. Jehle, 429.
A.a.O., 130. Jehle, 429.
A.a.O., 140. Jehle, 429.
A.a.O., 142 f. - Jehle, 429.
Die ML-Bibel von 1819 gehört zur Bibliothek des Rezensenten (Foto: SF.Weber).
A.a.O., 146
A.a.O., 279, Jehle, 430
A.a.O., 289, Jehle, 431
Das Ewige als Zukunft und Gegenwart, 131, Jehle, 470.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 20
Hoffnung ist ebenso nichtig wie der Glaube ohne Liebe.“ 61 „Der Glaube an Jesus ohne
Erwartung seiner Parusie ist ein Gutschein, der nie eingelöst wird, ein Versprechen, das nicht
ernst gemeint ist. Ein Christusglaube ohne Parusieerwartung ist wie eine Treppe, die
nirgendwohin führt, sondern im Leeren endet.“62
Brunners Dogmatik
In den Jahren 1946, 1950 und 1960 erschienen die drei Bänder seiner Dogmatik.63 Im Vorwort
des ersten Bandes legt Brunner den Grund der theologischen Reflexion offen:
„Die Selbstbesinnung der christlichen Gemeinde über Grund, Sinn und Inhalt der ihr
gegebenen und aufgetragenen Botschaft ist das, was man von alters her Dogmatik nennt.“64
Der große Vorteil dieser Dogmatik besteht darin, dass Emil Brunner eine
pädagogisch-rhetorische Begabung besitzt. Sie ist spannend zu lesen und
er versteht es, komplizierte Zusammenhänge einfach darzustellen. Seine
Dogmatik ist eine Apologie des christlichen Glaubens. Sie ist
überzeugend, frisch, spritzig und kurz. Sein Zeitgenosse Karl Barth hatte
ja die Gabe der Länge – seine 14 Bände umfassen 9000 Seiten. In der
Bibliologie (die Lehre der Bibel als Wort Gottes) und in der Angelologie
(die Lehre von den Engeln) folgt Emil Brunner der liberalen Theologie,
obwohl er nie so weit geht wie Bultmann. Empfehlenswert sind die
Bereiche der „Eigentlichen Theologie“ (die Lehre von Gott als Person, als
Du, als unser Gegenüber), der Christologie (die Lehre von Christus), der Soteriologie (die
Lehre vom Heil), der Anthropologie (die Lehre vom Menschen, seine formale und materielle
Ebenbildlichkeit), der Ekklesiologie65 (die Lehre von der Gemeinde) und der Eschatologie66
(die Lehre von den letzten Dingen), in denen er sich in der Argumentation immer wieder auf
die Bibel beruft.
Japan
Von 1953 bis 1955 war Emil Brunner Gastprofessor an der „Internationalen Christlichen
Universität“ (ICU) von Tokio in Japan. Dort gab er Vorlesungen in der christlichen Ethik und
in der christlichen Philosophie.
61
A.a.O., 150f., Jehle, 470
A.a.O., 152, Jehle, 470
63
Foto „Die christliche Lehre von Gott“ von S.F.Weber (das Buch stammt aus der Bibliothek des Rezensenten).
64
Dogmatik I, Zürich, 1972 (1946), 7
65
Die Ekklesiologie wird im dritten Band der Dogmatik behandelt. Darin verarbeitet ist die Schrift „Das
1800-jährige Missverständnis der Kirche“.
66
Die Schrift „Das Ewige als Zukunft und Gegenwart“ wurde in der Eschatologie berücksichtigt.
62
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 21
Großevangelisation in Zürich
Nach seiner Rückkehr aus Japan nahm Brunner an einer Großevangelisation in Zürich aktiv
teil. Die Aktion hieß „Zürich wohin?“ und sie wurde 1956 durchgeführt. Es gab
Großveranstaltungen im Kongresshaus und in den wichtigsten Kinos. Brunner gehörte zu den
Hauptinitianten und setzte dafür viel von seiner Energie ein. Bereits auf der
Vorbereitungstagung in Wildberg (Winterthur) hielt er das Hauptreferat.
„Wir wollen die Botschaft zu denen bringen, die nicht in der Kirche [sind]. Darum in
weltlichen Lokalen! Darum die Laien (Nichtpfarrer) vor! Darum die Botschaft nicht als
Predigt, sondern [als] Zeugnis, angewandt auf das tägliche Leben!“67
Am Ende seines Lebens kam noch einmal der „Geist der Erweckung“ nach Frank Buchmann
und der Oxforder Bewegung zum Vorschein. Ihm lag es am Herzen, dass jeder Mensch mit
dem guten Evangelium von Jesus Christus konfrontiert wird. Darum war er auch nach Japan
gegangen. An Jesus Christus zu glauben, ihm nachzufolgen, ihm in seinem Reich zu dienen
und auf ihn allein im Leben und im Sterben zu hoffen - alle diese Zeugnisse kristallisierten
sich bereits in seinen apologetischen Reden und Schriften heraus. Auch seine Thesen in der
Schrift „Das 1800-jährige Missverständnis der Kirche“ wurden wieder angewandt: Es reicht
nicht aus, wenn jemand einfach so zur Institution Kirche dazugehört oder wenn jemand eine
Konfession hat, sondern es kommt auf den persönlichen Glauben an Jesus Christus an. Und
dieser Glaube muss durch die Verkündigung in einem Menschen geweckt werden.68
Brunner eröffnete die Evangelisation mit einer großen Rede, trat an den verschiedenen
Veranstaltungen als Moderator auf und hielt am letzten Abend im Freien auf dem (Frau-)
Münsterhof die flammende Schlussansprache auf Schweizerdeutsch.
Über die letzten Dinge
In der Zeit, in der seine zwei Söhne gestorben waren, beschäftigte
Brunner sich intensiv mit den Fragen um die Ewigkeit und mit den
letzten Dingen (die Lehre von der Eschatologie).69 Sein Werk „Das
Ewige als Zukunft und Gegenwart“ wurde 1953 publiziert und war
seinen beiden verstorbenen Söhnen Peter und Thomas gewidmet. Er
versuchte seinen Schmerz zu verarbeiten, indem er sich der
Eschatologie zuwandte. Emil Brunner wusste um die himmlische
67
Jehle, 555 (Nachlass 92).
Frank Jehle schreibt in einer Fußnote über die Evangelisation in Zürich: „Der damals frisch konfirmierte
Verfasser wirkte bei einer stark besuchten Veranstaltung im Kino Corso am Bellevue mit - als Ordnungshüter
und versehen mit einer Armbinde - , konnte sich für den erwecklichen Stil aber nicht erwärmen und fand das
Ganze eher ‚komisch‘.“ Jehle, 555
69
Foto vom Buchcover.
68
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 22
Berufung, um die Erlösung, um Versöhnung und er war sich gewiss, dass Gottes Kinder sich
im Himmel einmal wiedersehen werden.
„Das Ewige als Zukunft und Gegenwart“ wurde von Brunner im letzten Teil seiner Dogmatik
eingebaut, so schreibt er selber im Nachwort zum dritten Band der Dogmatik 1960.
„Wen aber Gott bei seinem Namen nennt und ihn ‚mein‘ heisst (!), den lässt er nicht im Tode
untergehen und zu nichts werden. Der bleibt in Ewigkeit der von Gott Gerufene. […] Den wird
[Gott] als sein Geschöpf […] vollenden und ihm das Leben schenken, für das er ihn geschaffen
hat, das Leben in Gemeinschaft mit Gott, das ewige Leben.“70
JESUS ist das Ziel
„In Jesus Christus erkennen wir den Schöpfungsgrund und das Schöpfungsziel in einem, den
Gott, der mein und der Welt Woher und mein und der Welt Wohin ist.“71
Interim zwischen Tod und Auferstehung
„Unser Auferstehungstag ist für alle derselbe und ist doch vom Todestag durch kein Intervall
von Jahrhunderten getrennt – denn es gibt diese Zeitintervalle nur hier, nicht aber dort, in der
Gegenwart Gottes, wo ‚tausend Jahre sind wie ein Tag‘.“72
70
71
72
Jehle, 467 (Nachlass 76).
Das Ewige als Zukunft und Gegenwart, 205, Jehle, 471.
A.a.O., 167, Jehle, 473.
E.Brunner – Apologet der Offenbarung
Seite 23

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