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DOKUMENTE
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Projekt „17. Juni 1953“
Gerda Rondé, Schülerin, über den 17. Juni in Reichenbach bei Görlitz
Abschrift
Gerda Rondé, Schülerin aus Reichenbach bei Görlitz
Als Dreizehnjährige war es meine Aufgabe, in regelmäßigen Abständen meinem Großvater in
Düsseldorf — der natürlich noch kein Telefon hatte — zu schreiben. Häufig fehlten mir die
Themen. Von diesem 17. Juni wollte ich ihm unbedingt erzählen.
Wir wohnten 11 Kilometer westlich von Görlitz, in dem damals etwa 2000 Einwohner
zählenden Ort Reichenbach, direkt am Markt. Durch außergewöhnlichen Lärm aufmerksam
geworden, hatte ich vom Wohnzimmerfenster aus beobachtet, wie aus dem ersten Stock im
Rathaus schräg gegenüber eine Schreibmaschine und weiße Papierbögen in die Höhe flogen
und zwischen den alten Häuschen an der Görlitzer Straße zu Boden fielen.
Mein Vater war dazugekommen und riss mich vom Fenster weg. Er war sehr aufgeregt und
verbot meiner Schwester und mir, aus dem Fenster zu sehen, die Gardine zu bewegen und aus
dem Haus zu gehen. Erst sechs Jahre vorher war er aus russischer Kriegsgefangenschaft
zurückgekommen. Seine Kriegserlebnisse waren noch nicht verblasst.
Auf dem Markt, wo wir sonst gespielt hatten, wo höchstens von Zeit zu Zeit ein Freiluftzirkus
gastierte, rückten Panzer ein. Es wurden immer mehr, bis der Platz zugestellt war. Er war
menschenleer und totenstill. So viel geballte Staatsgewalt machte Angst. Ich wusste nicht,
warum das alles geschah.
Später erfuhr ich, dass in der Glasfabrik, die hinter dem Bahnhof lag, gestreikt worden war.
Und dass Herr Bormann nun in Bautzen im „Gelben Elend“ sei, weil er das Schild „Platz der
Befreiung“ mit dem Wort „Markt“ überschrieben hatte. Einige Jahre später habe ich den
Vater unserer Mitschüler als wortlosen, kranken Mann, der zum Greis geworden war, wieder
gesehen.
Es war ein ungewohnt langer Brief, den ich damals meinem Großvater in Düsseldorf
geschrieben hatte. Ich hatte mir sehr viel Mühe gegeben. Wegen der Postkontrollen war ich
streng dazu angehalten worden, alle Briefe, bevor sie in einem Umschlag verschwanden und
die deutsch-deutsche Grenze passierten, meinem Vater vorzulegen. Auch für Kinder hatte der
eiserne Vorhang seine eigenen Gesetze. Mein Vater wurde blass, als er meinen Brief las.
„Den kannst Du wohl unmöglich abschicken!“ sagte er zu mir und zerriss ihn in viele kleine
Stücke.
[Quelle: Peter Lange/Sabine Roß (Hg.), 17. Juni 1953 – Zeitzeugen berichten. Protokoll
eines Aufstands, unter Mitarbeit von Barbara Schmidt-Mattern im Auftrag der Stiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Deutschlandfunk, Münster 2004, S. 181-182.]
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