Moderne Rhapsoden: Film und Fernsehen als soziale Enzyklopädie
Transcription
Moderne Rhapsoden: Film und Fernsehen als soziale Enzyklopädie
Technische Universität Berlin Fakultät I Geisteswissenschaften Institut für Sprache und Kommunikation Fachgebiet Medienwissenschaft Moderne Rhapsoden: Film und Fernsehen als soziale Enzyklopädie Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Arts im Studiengang Kommunikation und Sprache mit dem Schwerpunkt Medienwissenschaft vorgelegt von Annemarie Diehr Erstgutachter: Prof. Dr. Norbert Bolz Zweitgutachter: M.A. Johanna Lange Eingereicht am 6. März 2015 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ..................................................................................................................3 2. Sänger der Gegenwart: A Audiovisuelle Medien im Zeichen formaler Kontinuität ..........................................5 2.1 Mediale Darstellung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit.....................6 2.2 Mythos als Konstante audiovisuellen Erzählens.............................................13 3. Lernen durch Geschichten: m Mythen und Spielfilme als Enzyklopädien des sozialen Verhaltens ......................24 4. 5. 3.1 Wissen als soziales Konstrukt.........................................................................26 3.2 Mediale Wirklichkeit und Beobachtung von Verhalten..................................33 3.3 Sinnliches Erleben und Wissenserwerb ..........................................................41 Rhapsoden, Film und Fernsehen als Archivare sozialen Wissens ..........................53 4.1 Träger des kollektiven Gedächtnisses.............................................................53 4.2 Mythos als sinnstiftende Organisationsform...................................................61 Schlussbetrachtung und Ausblick ...........................................................................69 Literaturverzeichnis.........................................................................................................71 Anhang A: Die Reise des Helden in der Odyssee ...........................................................82 Anhang B: Die Reise des Helden in MATCH POINT ........................................................85 Anhang C: Die Reise des Helden in VINCENT WILL MEER .............................................87 1. Einleitung Achill und Brad Pitt (TROY, GB/USA 2004, Wolfgang Petersen), Athene und Isabel Lucas (IMMORTALS, USA 2011, Tarsem Singh) oder Zeus und Liam Neeson (CLASH OF THE TITANS, USA 2010, Louis Leterrier) – zwischen diesen mythischen Figuren und ihren modernen Verkörperungen liegen mehr als 2500 Jahre, die geprägt waren von tiefgreifenden medientechnischen und vielfältigen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die antiken Mythen haben dennoch nicht an Aktualität und Relevanz eingebüßt. Bei den Reinszenierungen mythischer Erzählungen in Blockbustern aus Hollywood, etwa den in Homers Ilias geschilderten Kampf des Griechischen Heeres mit der Stadt Troja im Film TROY, handelt es sich jedoch lediglich um die markantesten Manifestationen der Aktualität mythologischer Stoffe. Die Verbindung zwischen Odysseus und der Figur Chris Wilton im Film MATCH POINT (GB/USA/L 2005, Woody Allen) – der eine nach einem gewonnenen Krieg auf einer Irrfahrt in die Heimat, der andere ein Irrfahrer als sozialer Aufsteiger – bleibt für den zeitgenössischen Kinobesucher und Fernsehzuschauer hingegen meist latent. Die klassischen Mythen des antiken Griechenlands wie die Reise des Odysseus erzählen die fiktionalen Produktionen für Film und Fernsehen selten in ihrer ursprünglichen inhaltlichen Ausgestaltung und Bedeutung. Immer, wenn auch meist unbewusst, fungieren sie jedoch als Motivquellen und Handlungsmuster. Sie sind demnach als Form zu verstehen, die Geschichtenerzählern als Vorlage dienen: Inhalte werden erzählbar, indem ein universelles und begrenztes strukturelles Repertoire entsprechend der jeweiligen Erzählintention gestaltet wird. Wenn Film und Fernsehen Informationen in Form von audiovisuellen Erzählungen verbreiten und letztere ihr strukturelles Fundament in den mündlich erzählten und tradierten Mythen des antiken Griechenlands haben, bedeutet dies, dass die Massenmedien nichts Neues, nach Luhmann (vgl. 1987: 102) keine Informationen, sondern altbekannte Erzählungen in inhaltlich variabler Ausgestaltung vermitteln. Die Frage nach einer Erklärung für die fortwährende Präsenz der Struktur antiker Mythen in den fiktionalen Geschichten im Film und Fernsehen der Gegenwart berührt neben medienwissenschaftlichen Betrachtungen weitere Wissenschaftsdisziplinen wie die Psychologie, Literatur- und Kulturwissenschaft. Mit der vorliegenden Arbeit soll jedoch keinesfalls der Versuch unternommen werden, einen erschöpfenden Nachweis sowie eine endgültige Begründung für den dargelegten Zusammenhang zu erbringen. Vielmehr dient die Betrachtung von Mythen und Spielfilmen als formal äquivalente 3 Narrationen als Prämisse für die intendierte Analyse der Effekte und Funktionen des antiken Sängers einerseits sowie der audiovisuellen Medien andererseits. Film und Fernsehen werden verstanden als moderne Rhapsoden. Wie die Sänger der antiken Mythen, so die These der vorliegenden Arbeit, vermitteln die audiovisuellen Massenmedien tradiertes Wissen in Form von Erzählungen. Indem letztere hierdurch bestimmte Verhaltensweisen aufseiten des Rezipienten prägen, erfüllen die erzählten Geschichten damals wie heute vergleichbare Funktionen für die Gesellschaft. An die These Eric Havelocks (vgl. 1963: 27) anknüpfend, nach der die homerischen Epen die sozialen Enzyklopädien der antiken Gesellschaft sind, rücken die fiktionalen Film- und Fernsehproduktionen in ihrer zentralen Bedeutung als Sozialisationsinstanz und kollektives Gedächtnis in den Mittelpunkt des Interesses. Den theoretischen Rahmen für die sich anschließenden Betrachtungen bildet die Annahme, dass Wirklichkeit durch gesellschaftliche Prozesse entsteht und sich Individuen diese Wirklichkeit, die sich der persönlichen Erfahrung weitgehend entzieht, auf der Grundlage medialer Zeichenwelten aktiv aneignen. Aus dem skizzierten Forschungsinteresse ergibt sich der Aufbau der vorliegenden Arbeit. Neben Einleitung und Fazit gliedert diese sich in drei weitere Kapitel, deren grobe Unterteilung der vergleichenden Gegenüberstellung von Rhapsoden sowie Film und Fernsehen den nötigen Raum geben soll. Die Betrachtung des Fortbestandes sowohl der Darstellungsform als auch der Struktur der rhapsodisch vermittelten Narrationen in der Gegenwart bildet den Gegenstand des sich anschließenden zweiten Kapitels. Hiernach wird im dritten Kapitel die Vermutung überprüft, dass orale und audiovisuelle Medien und ihre Erzählungen vergleichbare Effekte auf den Rezipienten haben. Es wird zunächst nach dem Wesen des narrativ vermittelten Wissens gefragt, um daran anschließend zu ergründen, wie und mit welchem Ziel sich Zuschauer und Hörer dieses aneignen. Die sich andeutende Funktion von Erzählungen, zwischen Individuum und Gesellschaft zu vermitteln, wird im vierten Kapitel im Kontext einer historischen Perspektive untersucht. Ausgehend von der Annahme, dass Medien kollektives Wissen archivieren, wird hier auch die Frage zu beantworten sein, weshalb sich gerade der Mythos über Jahrtausende hinweg als Garant für die Kontinuität des gesellschaftlichen Zusammenlebens bewährt hat. 4 2. Sänger der Gegenwart: Audiovisuelle Medien im Zeichen formaler Kontinuität Mit der Annahme einer formalen Kontinuität zwischen den Rhapsoden des antiken Griechenlands und den Medien der Audiovisionen rücken die narrativen Qualitäten des jeweiligen Mediums in den Mittelpunkt. Medien vermitteln Bedeutung und dienen im Sinne eines instrumentellen Verständnisses von Medientechnologien zu deren Weitergabe und Verbreitung. Die Auffassung vom Medium als Vermittler macht die Frage nach den jeweiligen Vermittlungsstrukturen unumgänglich. Rhapsoden sowie Film und Fernsehen als konkrete historische Ausgestaltung eines kommunikativen Apparates, so die die Untersuchung leitende Auffassung, vermitteln ihre Inhalte in Form von Erzählungen. Die Figur des antiken Sängers illustriert dies exemplarisch. Die mündliche Darbietung epischer Dichtung durch den Rhapsoden folgt einer bestimmten Geschehensfolge, die in den vermittelten Inhalten strukturell angelegt ist. Die durch den Rhapsoden wiedergegebenen Inhalte werden narrativ vermittelt. Der antike „Storyteller“ (Havelock 1963: 83) erzählt neben anderen die Geschichten Homers, die in den Epen Ilias und Odyssee ihre formende Niederschrift finden. Homers Geschichten sind, der Einschätzung des Philologen Geoffrey Kirks (vgl. 1973: 240) folgend, die früheste schriftliche Überlieferung antiker Mythen. Im Hinblick auf die folgenden Ausführungen wird der Mythosbegriff jedoch nicht wie gemeinhin üblich inhaltlich, sondern formal zu bestimmen sein. Den antiken Rhapsoden als Vermittler der griechischen Mythen entsprechen in der Gegenwart die audiovisuellen Medien Film und Fernsehen1 als Erzähler fiktionaler Geschichten, wie Spielfilme sie als lediglich eine Variante von Film- und Fernsehnarration darstellen. Da das Erzählen nicht auf mündliche oder schriftliche Darstellungsformen von Sprache begrenzt ist, sondern Bilder ebenso einschließt, werden die audiovisuellen Medien gleichermaßen als erzählende Medien begriffen. Insbesondere das Fernsehen tritt als „Erzählmaschine“ (Hickethier 1994), „geschichtenerzählende[] Institution“ (Mikos 2000: 232), „system of storytelling” (Gerbner 1986: 18) oder „Bildergeschichtenerzähler“ (Haberer 1993: 128) in das Forschungsinteresse. Wenn die narrativen Vermittlungsstrukturen von antiken Rhapsoden sowie Film und Fernsehen in den Fokus der Betrachtung rücken, muss zwangsläufig die Jahrtausende 1 Wenn in dieser Arbeit umgangssprachlich Film und Fernsehen als audiovisuelle Medien bezeichnet werden, sind immer das Kino und das Fernsehen als technisch bedingte Vermittlungsformen gemeint. 5 währende medientechnische Entwicklung konstatiert werden, die den Nachweis einer formalen Homologie zwischen oralen und audiovisuellen Medien sowie ihren Inhalten scheinbar verbietet. Trotz des mediengeschichtlichen Fortschritts besteht eine solche formale Kontinuität, und zwar zugleich in zweifacher Hinsicht. Unter der Prämisse Rhapsoden sowie Film und Fernsehen als Erzähler aufzufassen, betrifft sie zum einen die mediale Darstellung selbst und zum anderen die Struktur der vermittelten Inhalte.2 Beide Aspekte der formalen Kontinuität werden im Folgenden beleuchtet. 2.1 Mediale Darstellung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Die Geschichte der Medientechnik ist geprägt von Evolutionen und Umbrüchen. Die bedeutendste und zugleich dem Entwicklungsprozess Impuls gebende Revolution markiert der Übergang von der Oralität zur Literalität durch die Erfindung der Schrift. Diesen tiefgreifenden Wandel verkörpert exemplarisch die Figur des antiken Sängers, dessen Vortrag sich auf beide Medientechnologien stützt: Auf der Grundlage schriftlich fixierter epischer Dichtung memoriert der Rhapsode die Inhalte seiner mündlichen und körperlichen Darbietung. Das Werk seines Vorgängers, des Aoiden, entbehrt in mykenischer Zeit (1600-1200 v. Chr.) noch jeglicher Schriftgrundlage. Der Aoide formt seine Geschichte im Akt des Singens. Da das gesprochene Wort flüchtig ist, mündet das Bedürfnis, die aoidischen Gesänge vor dem Vergessen zu bewahren, um 800 v. Chr. in die Entwicklung der phonetischen Alphabetschrift und die einsetzende Aufzeichnung der gesungenen Geschichten im Medium Schrift (vgl. Powell 2002: 186).3 Lange Zeit bleibt dies die einzige Bestimmung der Schrift, die zunächst nur von einigen wenigen Schriftkundigen angewandt wird (vgl. Powell 1991: 233). Zwar werden die aoidischen Überlieferungen durch die Entwicklung des griechischen Vokalalphabets dem Vergessen entzogen, doch geht deren schriftliche Fixierung auch mit einem Bedeutungsverlust der aoidischen Kunst einher. Nach ihrem endgültigen Niedergang im 5. Jahrhundert v. Chr. (vgl. Powell 2002: 140), dem Untergang der mykenischen Kultur und den Dunklen Jahrhunderten, treten die Rhapsoden im klassischen Griechenland die Nachfolge der 2 Diese Differenzierung entspricht dem strukturalistischen Ansatz von Seymour Chatman (vgl. 1978: 2226), der einerseits zwischen Inhalts- und Ausdrucksseite, andererseits zwischen Form und Substanz einer Erzählung unterscheidet. Die inhaltliche Form bezieht sich auf die Komponenten der Erzählung (Ereignisse und Charaktere sowie deren Verknüpfung in einer Handlung), die Form des Ausdrucks auf die Struktur der narrativen Vermittlung (mediale Darstellung der Narration). 3 Die frühesten Inschriften auf der Grundlage des griechischen Alphabets sind in Hexametern, dem gängigen Versmaß oraler Dichtung, verfasst (vgl. Havelock 1982: 15). 6 Aoiden an. Ihre Profession ist ein direktes Resultat der neuen Medientechnologie. Obgleich Rhapsoden schriftlich fixierte Dichtung darbieten, unterliegt die Art und Weise ihrer narrativen Vermittlung den Prinzipien aoidischer Darstellung. Die formende Anordnung der Worte im aoidischen Gesang gestaltet sich derart kunstvoll, dass diese Art der erzählenden Vermittlung nach heutigem Verständnis als Dichtung aufgefasst wird. In der oralen Kultur des antiken Griechenlands haben Rhythmus, Reim und Formelcharakter der Geschichten jedoch keine ästhetische, sondern mnemonische Funktion (vgl. Havelock 1963: 166). Die Vermittlung der aoidischen Geschichten folgt notwendigerweise bestimmten formalen Prinzipien, da dem Sänger außer seinem Gedächtnis keinerlei externe Speichermedien zur Verfügung stehen. Erforderlich ist eine gesprochene Sprache, die als erinnerbare und zugleich variable Form fungiert, um unterschiedlichste Inhalte zu bewahren und zu kommunizieren. Eric Havelock (ebd.: 147) beschreibt das grundlegende Muster der oralen Mnemotechnik als „variation within the same“. Formgebende Prinzipien der mündlichen antiken Dichtung sind ein fester Sprachrhythmus, der Hexameter als metrisches Schema, sowie der Gebrauch von Sprachformeln. Der Wechsel von kurzen und langen Sprechsilben erzeugt einen regelmäßigen Rhythmus, der sowohl das Erlernen als auch die Wiedergabe oraler Dichtung begünstigt. Der epische Sänger memoriert Inhalte jedoch nicht Wort für Wort, weshalb wiederholt vorgetragene Geschichten desselben Inhalts in ihrem Wortlaut variieren (vgl. Lord 1965: 108). Vielmehr erlernt und erinnert er eine zusammenhängende Gruppe von Wörtern, ganze Sätze und Verse, mit einem bestimmten thematischen Bezug. Infolgedessen verfügt der Sänger über ein Repertoire, welches ihm den Aufbau seiner Narration ermöglicht. Eine unter denselben metrischen Bedingungen regelmäßig zum Ausdruck derselben Idee verwendete Wortgruppe nennt der Philologe Milman Parry4 (zit. n. Lord 1965: 58) „Formel“ („formula“). Resultat dieser der Erinnerung dienenden Gestaltungsprinzipien5 ist ein formelhafter Erzählstil, der innerhalb der oralen Kultur Griechenlands eine Kunstsprache, eine Art künstliche Oralität, begründet. Diese wird ausschließlich von 4 Mit seiner Forschung erbrachte Parry den Nachweis, dass in den homerischen Epen Wortwahl und -form durch das Versmaß bedingt sind. Standardisierte Sprachformeln werden zur Anordnung ebenfalls standardisierter Themen genutzt. Hieraus entwickelt Parry die These, dass die Epen Homers nicht einem einzigen Dichter geschuldet sind, sondern in einer langen Tradition mündlicher Überlieferung stehen (vgl. Ong 32012: 22f.). 5 Die Formelhaftigkeit und thematische Verknüpfung der Gedächtnisinhalte begründen eine Technik, die erlernt werden muss. Albert Lord, ein Schüler Milman Parrys und Weiterführer seiner Forschung, beschreibt auf der Grundlage der Erfahrungen eines epischen Sängers in Jugoslawien die Etappen der entsprechenden Lehrausbildung (vgl. Lord 1965: 57-64). 7 den Sängern beherrscht, jedoch von allen Griechen verstanden (vgl. Powell 2002: 135).6 Zur Zeit der Aoiden dient diese Kunstsprache neben dem Erinnern der Geschehensfolge im Akt der Darbietung und der Gestaltung eigener Geschichten auch dem Erlernen bereits zirkulierender Geschichten auf Grundlage des Mündlichen (vgl. Powell 1991: 224). Zwar übernehmen die formalen Gestaltungsprinzipien später dieselben Funktionen für den Rhapsoden, jedoch kann dieser nunmehr auf schriftlich fixierte Dichtung als Lernvorlage zurückgreifen. Im Akt des Singens fallen erzählende Vermittlung und Erinnerung der epischen Inhalte zusammen. Dabei handelt es sich um einen reflexartigen Prozess, der fest an den Körper des Sängers gebunden ist. Die als Memorialtechnik fungierenden verbalen Strukturen materialisieren sich während der Performanz durch Artikulation und Phonation des Sängers in „sound patterns“ (Havelock 1986: 71) mit charakteristischen prosodischen Eigenschaften. Diese begründen den Rhythmus der gesprochenen Worte. Des Weiteren begünstigen der Einsatz von Musikinstrumenten sowie die Körperbewegungen des Sängers sowohl den rhythmischen Eindruck der Darbietung als auch die reflexartige Erinnerung des Rhapsoden. So koordiniert etwa die Betätigung der Leier durch die Hand des Sängers die Bewegung seiner Sprechorgane (vgl. Havelock 1963: 149) und versetzt schließlich den gesamten Körper in harmonische Bewegung. In der Darbietung von Aoiden und Rhapsoden gehen das gesprochene Wort und die Musik somit eine machtvolle auditive Allianz ein, die durch den unmittelbaren Eindruck der Körperbewegung um visuelle Qualitäten ergänzt wird. Für das Publikum begründen die narrativen Vermittlungsstrukturen, das Hören als Wahrnehmung von Sprache und Musik verbunden mit dem Sehen der Körperbewegungen des Sängers, ein sinnliches Erlebnis, welches für das Wesen oraler Kulturen bezeichnend ist. Vor der Erfindung der Schrift ist das gesprochene, durch den Menschen geformte Wort in seiner Gegenwärtigkeit der dominierende Sinneseindruck. In The Presence of the Word (1967) betont Walter Ong die präsentische Qualität von „Sound“, dem natürlichen und ursprünglichen Medium des Wortes, als Ereignis: Sound is more real or existential than other sense objects […]. Sound itself is related to present actuality rather than to past or future. It must emanate from a source here and now discernibly active, with the result 6 Walter Ong (32012: 36) beschreibt den formelhaften Charakter mündlicher Ausdrucksweise als eine tief in der Psyche ihrer Sprecher und Hörer verankerte Denkweise: „all expression and all thought is to a degree formulaic in the sense that every word and every concept conveyed in a word is a kind of formula, a fixed way of processing the data of experience, determining the way experience and reflection are intellectually organized, and acting as a mnemonic device of sorts”. Vgl. hierzu auch Havelock 1963; Powell 2002: 224. 8 that involvement with sound is involvement with the present, with here-and-now existence and activity (111f.). Mittels des gesprochenen Wortes werden Menschen ihrer Innerlichkeit gewahr und können sich im Bewusstsein ihrer Person auch anderen Menschen ganzheitlich darstellen. Das Erleben der eigenen Innerlichkeit in „Sound“ bildet für Ong (vgl. ebd.: 124f.) somit die Voraussetzung für die kommunikative Begegnung zwischen Menschen. Bedingt durch seine zeitlich und örtlich begrenzte Reichweite bindet das gesprochene Wort Individuen oraler Kulturen in enge Gemeinschaften (vgl. ebd.: 124; 32012: 68). Mit der Einführung der Schrift, die in der Erfindung des Buchdrucks und der massenhaften Verbreitung schriftlicher Erzeugnisse ihre technische Vervollkommnung findet, verlagert sich die Bedeutung innerhalb der verschiedenen Sinneswahrnehmungen: „As an intensification and extension of the visual function, the phonetic alphabet diminishes the role of the other senses of sound and touch and taste in any literate culture” (McLuhan 22011: 120). McLuhans (2008: 44) metaphorische Formel „Man was given an eye for an ear” kondensiert diesen Gedanken. Anders als es die Radikalität dieser Aussage vermuten lässt, handelt es sich bei der Umstrukturierung der menschlichen Sinneswahrnehmung um einen Jahrhunderte währenden Prozess: Trotz der potenziellen Anwendungsvielfalt der Schrift bleibt die griechische Gesellschaft noch viele Jahrhunderte lang eine zutiefst mündlich geprägte7. Erst in der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. ist die Alphabetisierung der Griechen auch institutionell abgeschlossen (vgl. Robb 1994: 253), sodass diese als Mitglieder einer literalen Kultur bezeichnet werden können. In der literalen griechischen Gesellschaft ist das attische Drama8 die erste mündliche Kunstform, die vollständig im Medium Schrift konzipiert wird (vgl. Ong 32012: 145). Ohne diese neue Medientechnologie wäre die komplexe Komposition griechischer Dramen kaum denkbar: Insbesondere die Aufteilung der Sprechrollen unter mehreren Darstellern verlangt nach einer koordinierenden Textgrundlage.9 Da der Autor sein Stück nach wie vor für eine mündliche Darstellung innerhalb einer oralen Gemeinschaft verfasst, prägen die formalen Charakteristika mündlicher Dichtung auch die dramatische 7 Noch in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. lernen Athenen, wenn überhaupt, erst im Erwachsenenalter schreiben. Zudem bleibt diese Fähigkeit weitgehend auf die eigene Unterschrift beschränkt. Gesellschaftlicher Standard wird die Kunde des Alphabets in der frühen Bildung erst im späten Verlauf desselben Jahrhunderts (vgl. Havelock 1963: 40). 8 Entwickelt hat sich das antike Theater aus den städtischen Dionysien als Nachfolger der Panathenäen mit rhapsodischen Vorträgen. Um 400 v. Chr. ist es endgültig in Griechenland etabliert (vgl. Faulstich 2006: 56). 9 Die Autoren der jeweiligen Stücke werden dementsprechend und ihrem Selbstverständnis nach als Produzenten bezeichnet (vgl. Havelock 1982: 265; 1980: 717). 9 Performanz.10 Das attische Drama steht darüber hinaus insofern in der Nachfolge des griechischen Rhapsoden, als es die auditiven und visuellen Qualitäten seiner Darstellung, Melodie und Rhythmus, beibehält und als Mehrpersonen-Medium sogar intensiviert. Mit Eric Havelock (vgl. 1982: 182) kann das Theater der griechischen Antike daher auch als intermediäre Kunst beschrieben werden, die die spezifischen Kräfte des mündlichen Vortrags bewahrt, gleichzeitig aber bedingt durch die Möglichkeiten der neuen Medientechnologie Schrift stärker reflexiv geprägt ist. Wenngleich die dramatische Performanz weiterhin den auditiven und visuellen Sinn anspricht, so lässt sich im Vergleich zur Darbietung des Rhapsoden eine stärkere Akzentuierung des Visuellen beobachten: Der Körper des Rhapsoden und die Bildlichkeit11 seiner sprachlichen Darstellung finden ihre dramatische Entsprechung in den Gesten gleich mehrerer Schauspielerkörper, die die Geschichte nicht erzählen, sondern in ihrer Verkörperung der Protagonisten, ausgestattet mit entsprechenden Gewändern und Masken, handelnd darstellen. Eine Aktualisierung mittels technischer Apparaturen erfährt die unmittelbare Audiovisualität der rhapsodischen und theatralen Darstellung Jahrtausende später in den elektronischen Medien Film und Fernsehen. Letztere vermitteln ihre Botschaften ebenfalls parallel auf zwei Wahrnehmungsebenen: auf der des Bildes sowie auf der des Tons. Obwohl technisch erzeugte und vermittelte Bilder und Töne kaum die Qualität der unmittelbar an den darstellenden Körper gebundenen sinnlichen Erfahrung mündlicher Kulturen erreichen, suchen sie diese nachzuahmen und noch zu übertreffen. Die technischen Möglichkeiten der Gegenwart schaffen die Voraussetzung für ungekannte Seh- und Höreindrücke, die in der wahrnehmbaren Realität jeder Entsprechung entbehren: Roboter mit übernatürlichen Fähigkeiten und synthetisch verzerrten Stimmen in ScienceFiction-Filmen beispielsweise. Audiovisuelle Bilder, obgleich zweidimensional, erzeugen aufgrund ihres Abbildens außerfilmischer Realität die Illusion eines dreidimensionalen Bildraumes. Sie zeigen jedoch nicht lediglich Reales im Sinne einer Abbildung. Vielmehr wird Reales in seiner zeitlichen und räumlichen Bewegung präsentiert, das Bild dadurch performativ (vgl. 10 Vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen medientechnischen Entwicklung stehen auch Film und Fernsehen insofern in dieser Tradition, als sie mündliche Kommunikation wahrnehmbar machen, die auf schriftlichen Vorlagen in Form von Drehbüchern beruht (vgl. Böhn/Seidler 22014: 40). Nach der Unterscheidung zwischen medialer und konzeptueller Mündlichkeit und Schriftlichkeit von Koch/Oesterreicher (vgl. 1994: 587f.) entspricht dies der Verknüpfung von mündlicher Realisationsform (mediale Mündlichkeit) und mündlicher Ausdrucksweise (konzeptuelle Mündlichkeit). 11 Die Worte des Sängers beschreiben stets die visuellen Aspekte von Dingen. Anschauliche sprachliche Formulierungen dienen nicht nur der Vorstellungskraft der Zuhörer, sie fungieren wie die verbalen Formeln als mnemonische Hilfestellung für den Sänger (vgl. Havelock 1963: 188f.). 10 Hickethier 32001: 42). Diese Eigenschaft teilen die elektronischen Medien Film und Fernsehen mit den Darbietungen des antiken Theaters: Theater- sowie Film- und Fernsehschauspieler imitieren eine Handlung, indem sie das Geschehen mittels Körperbewegungen zeigen. Der Autor spricht gewissermaßen durch die handelnden Figuren. Der Filmwissenschaftler David Bordwell (1985: 3) bezeichnet diesen Modus des Erzählens als mimetische Narration: „Mimetic theories conceive of narration as the presentation of a spectacle: a showing“. Bordwell bezieht sich hierin auf die artistotelische Unterscheidung zwischen verschiedenen Modi der Imitation: dem Zeigen einer fiktiven Handlung durch verkörperte Charaktere einerseits und dem Erzählen einer Handlung durch einen Erzähler andererseits.12 Die ideale Verkörperung letzteren Verfahrens, der diegetischen Narration13, ist der griechische Rhapsode: Seine Formulierungen evozieren das Geschehen in der Vorstellung der Zuhörenden; seine Körperbewegungen imitieren lediglich den Rhythmus der gesprochenen Worte, haben vorrangig mnemonische Funktion, und dienen nicht der Handlungsdarstellung. Für das audiovisuelle Erzählen hingegen ist die Performativität des technischen Bildes so essentiell14, dass Film und Fernsehen als Medien des „bildhaften Erzählens“ (Hickethier 32001: 42) beschrieben werden können. Darüber hinaus bedienen sich auch Film und Fernsehen, ebenso das Theater, insofern des diegetischen Erzählens, als diese Medien nicht nur erzählen, indem sie zeigen, sie erzählen auch durch das Sprechen der Figuren über etwas, was sie nicht präsentieren. Nicht weniger bedeutend für die narrative Vermittlung durch Film und Fernsehen ist demnach der Ton und damit der Dreiklang von Sprache, Musik und Geräuschen. Ein Fehlen dieser akustischen Mittel stört den audiovisuellen Wahrnehmungsprozess und lässt ihn unvollständig erscheinen (vgl. ebd.: 94). Die Ära des Stummfilms und mit ihr die Frühzeit des Kinos münden in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in die Entwicklung einer zufriedenstellenden Möglichkeit, Bild und Ton synchron aufzunehmen. Bereits in den Jahren zuvor wurden Filmvorführungen häufig musikalisch von Musikautomaten, Grammophonen, Klavierspielern oder ganzen Orchestern (vgl. Müller 2003: 90) begleitet. Aber erst mit der Einführung des Tonfilms konstituiert die Verbindung von Sprache, Musik und Geräuschen eine neben dem Bild wirkende und fortan unver12 In der Poetik ([Kap. 3]) heißt es hierzu: „es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten – in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht – oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen“. 13 „Diegetic theories conceive of narration as consisting either literally or analogically of verbal activity: a telling” (Bordwell 1985: 3). 14 Filmische und televisuelle Bilder zeigen die Welt darüber hinaus in einem Detailreichtum, der sich der alltäglichen Wahrnehmung entzieht. Heike Klippel (1997: 162) bezeichnet dieses Charakteristikum als „photographische Sichtbarkeitsfülle“. 11 zichtbare Wahrnehmungsebene. Beide Vermittlungsebenen können in unterschiedliche Beziehung mit je unterschiedlichen Effekten zueinander treten. Film und Fernsehen haben hierdurch vielfältige Narrationsmöglichkeiten und können gegenüber der mündlichen Mittelung von Geschichten sehr viel komplexere Handlungsstrukturen in Wort, Bild und Ton vermitteln. Nach der Jahrhunderte währenden Dominanz des geschrieben Wortes wird die neuerliche Betonung der auditiven Wahrnehmung durch die elektronischen Medien rückblickend als Wiederkehr des gesprochenen Wortes in der Gegenwart bezeichnet. Walter Ong nennt diesen Zustand in Orality and Literacy. The Technologizing of the Word (1982: 3) in Abgrenzung zur primären Oralität schriftloser Kulturen „sekundäre Oralität“: „The electronic age is also an age of ‚secondary orality’, the orality of telephones, radio, and television, which depends on writing and print for its existence”. Zur Materialisierung des Wortes in den Medien Sprache und Schrift zur Zeit der Rhapsoden sowie des antiken Theaters tritt dessen technische Verkörperung in der medialen Gegenwart. Das sich mit der Erfindung der Schrift konstituierende Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Ohr und Auge, welches sich gegenwärtig im audiovisuellen Einklang von Bild und Ton manifestiert, rückt erst mit der Entwicklung der elektronischen Medien im 19. und 20. Jahrhundert in das Interesse kulturanthropologischer und medientheoretischer Debatten. Erst das Bewusstsein eines Kontrasts zwischen den neuen elektronischen Medien und den Printmedien, hervorgerufen durch die ungewohnte Qualität des Mündlichen in Hörfunk und Fernsehen, sensibilisiert gleichermaßen für den mediengeschichtlichen Übergang von einem Zustand ausschließlicher Oralität zur Literalität (vgl. Ong 32012: 2) von Kulturen. In diesem Sinn formuliert Ong15 (ebd.): „In this diachronic framework, past and present, Homer and television can illuminate one another”. Primäre und sekundäre Oralität, konstatiert Ong (vgl. ebd.: 134), sind einander sowohl auffallend ähnlich als auch different16: Zwar sind orale Kulturen in ihren jeweiligen historischen Ausformungen durch einen starken Gemeinschaftssinn gekenn15 In Anlehnung an Eric Havelock geht es Ong um den Nachweis einer mit der Entwicklung der Alphabetschrift einhergehenden Veränderung der Mentalität schriftlicher im Vergleich zu mündlichen Kulturen. Walter Ong und Eric Havelock sind neben Marshall McLuhan die bekanntesten Vertreter der Toronto School, einer Denkschule, die der Debatte über das Verhältnis von Oralität und Literalität in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die entscheidenden Impulse gibt. In der theoretischen Auseinandersetzung werden, ausgehend von den Forschungen Milman Parrys und Albert Lords über den mündlich-erzählenden Charakter homerischer Dichtung, gesprochene und geschriebene Sprache als zwei selbstständige Erscheinungsformen von Sprache betrachtet. 16 Zu diesem Schluss kommt auch Kathleen Welch (vgl. 1993: 24), die viele der von Ong definierten Charakteristika primärer Oralität (redundant, formelhaft, additiv) ebenfalls im Medium Fernsehen identifiziert. 12 zeichnet. In ihrer gegenwärtigen Ausprägung umfasst diese Gemeinschaft jedoch sehr viel mehr Menschen17, da der Reichweite elektronisch vermittelter Mündlichkeit keine räumlichen und zeitlichen Grenzen gesetzt sind. Auch die Interaktion zwischen Erzähler und Zuhörer gestaltet sich, wie das nächste Kapitel zeigt, in der Rezeption des rhapsodischen Gesangs ähnlich wie in der Kino- und Fernsehrezeption – und doch anders. Das Zusammenwirken von auditiver und visueller Darstellungsebene im Rahmen der narrativen Vermittlung ist ein formales Charakteristikum, welches beiden untersuchten Medien, den griechischen Rhapsoden sowie Film und Fernsehen, gemeinsam ist: Das gesprochene oder gesungene Wort, zusammen mit dem visuellen Bild des Sprechers oder Sängers ist […] auf dem besten Wege, durch die Elektrotechnik seine alte Bedeutung wiederzugewinnen (Lord 1965: 11), schreibt der Literaturwissenschaftler Harry Levin in seinem Geleitwort zu Albert Lords bedeutendem Werk The Singer of Tales (1960; dt. Der Sänger erzählt. Wie ein Epos entsteht, 1965). Die formale Kontinuität zwischen den Medien der oralen Kultur Griechenlands und den audiovisuellen Medien der Gegenwart betrifft neben der medialen Darstellung die Struktur der jeweils narrativ vermittelten Inhalte. Im Folgenden rücken die Narrationsmuster von Mythos und Spielfilm in den Fokus der Untersuchung. 2.2 Mythos als Konstante audiovisuellen Erzählens Vor dem Hintergrund des Übergangs von der Oralität zur Literalität der griechischen Gesellschaft ist Homer neben dem Rhapsoden eine weitere emblematische Figur. Seine Dichtungen Ilias und Odyssee gelten als die frühesten Zeugnisse schriftlich fixierter Dichtung. Aristoteles (vgl. Poet.: [Kap. 3]) exemplifiziert an ihnen seine Gattungsdefinition des antiken Epos als berichtende Nachahmung in Abgrenzung zum Drama. Epos im antiken Griechenland meint jedoch nicht Literatur in einem zeitgenössischen, von der Wortbedeutung abgeleiteten Verständnis, nämlich künstlerisches Schrifttum (vgl. Moenninghoff 32007: 445). Vor ihrer kontinuierlichen Wiedergabe und Verbreitung in ihrer bis in die Gegenwart schriftlich überlieferten Form durch den rhapsodischen Sänger werden die homerischen Erzählungen in jahrhundertelanger Überlieferung mündlich 17 Ong bezieht sich hier auf McLuhans Metapher des „globalen Dorfes“, die die Welt aufgrund der elektronischen Vernetzung als eine Dorfgemeinschaft konzeptualisiert: „As electrically contracted, the globe is no more than a village. Electric speed in bringing all social and political functions together in a sudden implosion has heightened human awareness of responsibility to an intense degree” (McLuhan 2003: 6). 13 tradiert. Geschichten werden gesungen und sprachlich derart geformt, dass sie während der Darbietung erinnert werden können. Über die Einbettung in die beschriebenen rhythmischen Gesetzmäßigkeiten hinaus weist die erzählte Geschichte interne Strukturelemente auf, die heute als ästhetische Strategien betrachtet werden, die sich aber ursprünglich ebenfalls nach mnemonischen Bedürfnissen formiert haben. Voraussetzung für das Memorieren von Geschichten im Akt der Imitation ist die emotionale Identifikation des Erzählers mit den vermittelten Inhalten. Sie bildet die Grundlage für die aktive Einbindung des Rhapsoden in das Wechselspiel von Einübung, Wiederholung und Darbietung von Geschichten. Letztere setzen sich daher aus Handlungen und Geschehnissen zusammen, die von bedeutenden Personen ausgeführt werden bzw. sich durch diese ereignen (vgl. Havelock 1963: 217). Durch die mündliche Wiedergabe der Erlebnisse und aktiven Handlungen einer Figur wird es dem Sänger möglich, sich emotional mit dem Geschehen und den Figuren zu identifizieren. Es bedarf zudem bedeutender Charaktere, um Inhalte dauerhaft memorierbar zu machen: „persons whose deeds are monumental, memorable and commonly public. […] outsize figures, that is, heroic figures” (Ong 32012: 69). Die Taten des Helden18 konstituieren eine Kette von Ereignissen, deren Anfangs- und Endpunkt durch die Geburt und den Tod des Helden markiert sind (vgl. Havelock 1963: 171). Diese Eckpfeiler begrenzen die Leben aller handelnden Figuren und umspannen daher einen Zeithorizont, in dem die berichteten Ereignisse verortet werden. Um die Geschehnisse während der Erzählung in der Erinnerung wieder erlebbar zu machen, muss neben der Zuordnung eines Ereignisses zu einer handelnden Person eine weitere Bedingung erfüllt sein. Diese betrifft die Abfolge der berichteten Ereignisse selbst: Erst deren Organisation im Kontext eines Verlaufszusammenhangs macht die Aussage zu einer narrativen und ihren Inhalt zu einer Geschichte19. Die narrative Darstellung aufeinanderfolgender Ereignisse unterliegt ordnenden Strukturen, die über das Memorieren (vgl. Havelock 1963: 45) hinaus für die Wirkung der erzählten Geschichten relevant sind und die sich im Laufe der Jahrhunderte als Erzählkonventionen etabliert haben. Nach diesen Prinzipien formen sich die berichteten Geschehnisse nach dramatischen Gesichtspunkten zu einer in sich geschlossenen Handlung. In ihr spiegeln sich die 18 Nichtmenschliche Geschehnisse werden durch metaphorische Übertragung als Handlungen und Entscheidungen der Götterwelt (in Analogie zur menschlichen Welt) präsentiert. Unerklärliche Naturphänomene etwa werden hierdurch personifiziert und verständlich gemacht. Dadurch werden auch Handlungen, die sich nicht dem Menschen zuordnen lassen, memorier- und imitierbar (vgl. Havelock 1963: 168-171). 19 Entsprechend der Unterscheidung Gérard Genettes (vgl. 1998: 117) zwischen narrativer Aussage (Erzählung), narrativem Inhalt (Geschichte) und dem narrativen Akt (Narration) geht die Erzählforschung von einer Dichotomie von Erzählung und Geschichte aus (vgl. Andronikashvili 2009: 15). 14 Gliederung in Anfang, Mitte und Ende sowie die Relationen der Geschehnisse wider. Entsprechende Anforderungen an die epische Dichtung formuliert Aristoteles in der Poetik ([Kap. 23]): Was die erzählende und nur in Versen nachahmende Dichtung angeht, so ist folgendes klar: man muß die Fabeln wie in den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen bewirken kann. Mit Vergnügen sind Jammer (Eleos) und Schaudern (Phobos) gemeint, die als Wirkung vor allem dann eintreten, wenn Ereignisse unvorhergesehen und dennoch folgerichtig auseinander hervorgehen (vgl. ebd. [Kap. 9]). Dieses Ziel zu erreichen, ist Aufgabe des Dichters (vgl. ebd. [Kap. 14]): Er selektiert, ordnet und arrangiert die Geschehnisse überlieferter oder frei erfundener Stoffe in der Art, dass sie gemäß ihrer Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit aufeinanderfolgen. Wo dies nicht der Fall ist, spricht Aristoteles (vgl. ebd. [Kap. 9]) von episodischen als den schlechtesten Handlungen. Aristoteles rühmt die Leistung Homers, der sich gehütet hat, in der Ilias den gesamten trojanischen Krieg darzustellen, obgleich dieser ein Anfang und ein Ende hat. Die Handlung wäre andernfalls zu umfangreich oder kompliziert ausgefallen (vgl. ebd. [Kap. 23]). Stattdessen führt Homer die wesentlichen Taten und Ereignisse20, die ihrerseits jeweils in sich geschlossene, parataktisch nebeneinander stehende Episoden darstellen, zu einer einheitlichen Handlung zusammen (vgl. ebd. [Kap. 8]; [Kap. 26]). Letztere ist in ihrem Kern – es geht um Achilles Zorn – nicht länger als die einer Tragödie, durch die Ausgestaltung weiterer Ereignisse in zusätzlichen Episoden dennoch umfangreicher. Ebenso die Odyssee: „Er [Homer] hat sich […] einen einzigen Teil vorgenommen und die anderen Ereignisse in zahlreichen Episoden behandelt, wie im Schiffskatalog und in den übrigen Episoden, durch die er seine Dichtung auseinanderzieht“ (ebd. [Kap. 23]; vgl. hierzu auch [Kap. 17]).21 Die aristotelische Unterscheidung zwischen der zentralen Handlung der Ilias inklusive der sie konstituierenden Episoden einerseits und den zu- 20 Im aristotelischen Verständnis handelt es sich bei Ereignissen um Begebenheiten, zu denen auch Naturereignisse gehören, nicht aber unbedingt um intentionale Handlungen (vgl. Hofmann 2013: 14). 21 Die Zusammensetzung der Handlung aus mehreren, in sich geschlossenen, Episoden ermöglicht die Rezitation der Ilias: Im Rahmen seiner öffentlichen Auftritte bietet der Rhapsode nicht etwa den gesamten Epos dar, sondern lediglich ausgewählte Episoden (vgl. Havelock 1982: 175). In diesem Sinne können die Epen Homers als große Sammlungen einer Vielzahl von Geschichten betrachtet werden. Darin gleichen sie formal der Programmstruktur des Fernsehens. Dieses vermittelt eine große Erzählung, das Programm als narrative Einheit, die ihrerseits eine Addition von Episoden unterschiedlicher Formen (Spielfilme, Nachrichten) darstellt (vgl. Hickethier 2000a: 35). Darüber hinaus weisen Epos und Programm hierin eine formale Nähe zur gliedernden und klassifizierenden Struktur einer Enzyklopädie auf. 15 sätzlichen Episoden als selbstständige Teile andererseits bei gleichzeitiger Lobpreisung der homerischen Epen als vollkommene „Nachahmung einer einzigen Handlung“ (ebd. [Kap. 26]) ist nur scheinbar ein Widerspruch: Obwohl Aristoteles seine Überlegungen stets durch das Prisma der dramatischen Handlung anstellt (vgl. Andronikashvili 2009: 76), die in ihrem Umfang wesentlich kürzer ist und auf die Ausgestaltung von Episoden verzichtet (vgl. Aristot. poet. [Kap. 17]), betrachtet er für die epische Handlungsstruktur die Einheit der zentralen Handlung sowie der Episoden als konstitutiv. Die Anordnung der Ereignisse zu einer einheitlichen Handlung, die Handlungsstruktur, nennt Aristoteles Mythos (µῦθος): „Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse“ (ebd. [Kap. 6]). Die aristotelische Bestimmung des Mythos beinhaltet sowohl die Anordnung der Ereignisse im Akt der Konstruktion, der Dichtung, als auch die daraus resultierende Handlungseinheit im dichterischen Werk. Charakteristika des Mythos22 lassen sich aus den zuvor zitierten Anforderungen an die in Versen nachahmende Dichtung ableiten (vgl. ebd. [Kap. 23]): Der Mythos ist ein Ganzes, eine in sich geschlossene Handlung, die durch Anfang und Ende begrenzt wird. Zwischen diesen Konstanten entspricht die Abfolge der Ereignisse einem dramatischen Verlauf, der durch Peripetie und Wiedererkennung gekennzeichnet ist: Die Peripetie ist […] der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil […]. Die Wiedererkennung ist […] ein Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu Glück oder Unglück bestimmt sind (ebd. [Kap. 11]). Idealerweise fallen Peripetie und Wiedererkennung zusammen und bewirken dadurch Jammer und Schaudern (vgl. ebd. [Kap. 11]).23 Sie markieren im mittleren Teil des Mythos eine Wende, eine Zustandsänderung, die für die dramatische Spannung konstitutiv ist und das Ziel des Mythos definiert, nämlich den Umschlag von Glück in Unglück oder umgekehrt. Im Hinblick auf das Ziel der Handlung gehen alle Ereignisse folgerichtig auseinander hervor und stehen somit in einem logischen und kausalen Zusammen22 Aristoteles unterscheidet zwischen epischem, tragischem und komischem Mythos. Die wesentlichen Merkmale des Mythos sind den verschiedenen Gattungen gemeinsam: „Das Epos bedarf nämlich auch der Peripetien und Wiedererkennungen und schweren Unglücksfälle“ (Aristot. poet. [Kap. 24]). 23 Obgleich Aristoteles die Wirkung des Epos nicht ausführt, lässt sich annehmen, dass diese ebenfalls Jammer und Schaudern betrifft. Denn fast alle Elemente, die die Tragödie beinhaltet, schreibt Aristoteles auch dem Epos zu. Unterschiede zwischen den Gattungen betreffen die Art der Nachahmung (vgl. ebd. [Kap. 3]), die Melodik und Inszenierung (vgl. ebd. [Kap. 24]) sowie das Versmaß und die Ausdehnung des Handlungsgefüges (vgl. ebd.). Da die Wirkung der Dichtung maßgeblich durch die Handlung bedingt ist, misst Aristoteles dem Mythos im Hinblick auf die Formelemente der Tragödie (die qualitativen Teile der Tragödie: Mythos, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik (vgl. ebd. [Kap. 6])), die größte Bedeutung bei (vgl. ebd. [Kap. 6]). 16 hang. Die strukturelle Einheit des Mythos ergibt sich aus aristotelischer Sicht demnach aus den konstitutiven Elementen Anfang, Mitte und Ende24 sowie einer Wende von einem Zustand in einen anderen. Insofern bildet das dichterische Werk, mit dessen Erzeugung der aristotelische Mythosbegriff eng verbunden ist (vgl. Andronikashvili 2009: 71), eine abgeschlossene Einheit, einen fiktionalen Raum außerhalb der Welt, die es nachahmt. Die Nachahmung des Dichters betreffe laut Aristoteles (Poet. [Kap. 9]) das Allgemeine, welches darin bestehe, „daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut“. Handlungen haben somit Modellcharakter. Letzterer lässt sich nicht nur aus der Geschichte extrahieren, sondern leitet bereits das dichterische Schaffen: Überlieferte und erfundene Stoffe soll der Dichter zunächst im Allgemeinen skizzieren und erst dann mit den Eigennamen der handelnden Charaktere befüllen und zu ihrer vollen Länge entwickeln (vgl. ebd. [Kap. 17]). Aristoteles exemplifiziert den ersten Schritt am Stoff der Odyssee: Jemand weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, daß Freier seinen Besitz verzehren und seinem Sohne nachstellen. Er kehrt nach schweren Bedrängnissen zurück und gibt sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt selbst unversehrt und vernichtet die Feinde (ebd.). Obgleich Aristoteles inkonsequent hinsichtlich der Nennung von Eigennamen verfährt – indem Poseidon konkretisiert wird, Odysseus aber nicht –, deutet sich in seiner Beschreibung die dichterische Leistung der konkreten Ausformung von Stoffen und ihrer dramatischen Zuspitzung im Mythos25 an. Für diese Schritte bildet die Modellierung des Handlungsverlaufs, des Allgemeinen, das strukturelle Gerüst. Tatsächlich bedient sich Homer einer komplexen Erzählweise mit Parallelhandlungen (z.B. die „Telemachie“), Einschüben und Rückblenden.26 So werden etwa die Abenteuer, die Odysseus auf seiner Irrfahrt von Troja in seine Heimat zu bestehen hat, erst im zentralen Teil des Epos durch 24 Vgl. hierzu den aristotelischen Ganzheitsbegriff (Aristot. poet. [Kap. 7]): „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht“. 25 Mythen, in denen wie in der Odyssee „die Guten und die Schlechten ein entgegengesetztes Ende finden“, nennt Aristoteles (ebd. [Kap. 13]) zweifach zusammengesetzte Fabeln. 26 Ob diese Stilmittel um der dramatischen Spannung willen bewusst eingesetzt wurden oder der Genese des Epos aus der mündlichen Überlieferung geschuldet sind, lässt sich angesichts der umstrittenen Entstehung, Autorschaft und Überlieferung der Odyssee nicht mit Sicherheit feststellen. 17 Odysseus’ eigene Schilderung erzählt, obwohl sie der Heimkehrererzählung zeitlich vorausgehen. In Entsprechung zu Aristoteles unterscheidet die strukturalistische Erzähltheorie zwischen zwei für die Erzählung konstitutiven Dimensionen: histoire und discours. Die erfundenen oder imitierten Geschehnisse (nach Aristoteles ‚Stoff’) werden in der Geschichte (histoire) zu einer Kette von Ereignissen (nach Aristoteles ‚Mythos’) verknüpft und mit Charakteren sowie situativen Elementen verbunden. Das ‚Was’ der Geschichte materialisiert sich im ‚Wie’ des Diskurses (discours), der die Mittel beschreibt, durch die die Geschichte kommuniziert wird (vgl. Kloepfer 42008: 287). An diese Unterscheidung anknüpfend, begreift Seymour Chatman (1978: 19f.) ‚Erzählung’ unter Berufung auf den französischen Strukturalisten Claude Bremond als eine unabhängige Struktur, die sich in verschiedenen Medien manifestieren kann: sowohl im Medium des Rhapsoden als auch in Film und Fernsehen. Im Hinblick auf die Odyssee lässt sich ausgehend vom aristotelischen Mythos oder der Chatmanschen Story zudem eine weitaus abstraktere Struktur27 identifizieren. Diese Struktur ist zyklisch und wird von dem amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell (32004: 28) wie folgt beschrieben: A hero ventures forth from the world of common day into a region of supernatural wonder: fabulous forces are there encountered and a decisive victory is won: the hero comes back from this mysterious adventure with the power to bestow boons on his fellow man [Herv. i. Orig.]. Die in dieser schematischen Beschreibung der Heldenreise enthaltenen Schlüsselmomente Aufbruch (departure), Initiation (initiation) und Rückkehr (return) sind der Kern dessen, was Campbell (vgl. ebd.) als Monomythos28 identifiziert. Entsprechend der aristotelischen Handlungseinheit mit Anfang, Mitte und Ende handelt es sich auch bei dieser universalen Struktur um eine Triade: der Aufbruch des Helden aus seiner gewohnten Welt, die zu bestehenden Abenteuer während der Reise und seine Rückkehr.29 Aus der 27 Der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili (vgl. 2009: 72-78) bezeichnet die abstrakte logische Struktur des Mythos als Logos (abgeleitet von gr. logoi ‚Stoff’). Der Logos ist das gemeinsame Substrat für die historischen Vorlagen und die erdichteten Fabeln und enthält „Verknüpfung und Lösung, die Bewegung vom Anfang bis zur Wende und von der Wende bis zur Katastrophe. Der Logos ist ein Schema, das für Drama und Epos, in Verlängerung aber vermutlich für alle mimetischen Künste, gleichermaßen gilt“ (ebd.: 78). 28 Campbell entlehnt den Begriff aus James Joyces Werk Finnegans Wake (vgl. Estés 2004: xxv). 29 Dies schließt die innere Reise des Helden in Form eines Reifeprozesses, einer Selbstentdeckung, insofern mit ein, als die Struktur der Heldenreise mit ihren Verwirklichungsstufen und Prüfungen die seelische Wandlung in der persönlichen Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen widerspiegelt (vgl. Campbell 1994: 150). 18 Analyse mythischer Geschichten aus der ganzen Welt schlussfolgert Campbell, dass die erzählten Geschichten stets diese Form haben.30 In The Hero with a Thousand Faces (1949) beschreibt er die Struktur des Monomythos als eine siebzehn Stadien umfassende Heldenreise. Die Anwendung dieser Grundstruktur auf Homers Odyssee (vgl. Anhang A) verdeutlicht ihre Variabilität: Weder müssen alle Phasen narrativ entwickelt sein – eine Vielzahl von Geschichten konzentriert sich laut Campbell (vgl. ebd.: 228) auf die umfassende Darstellung von ein oder zwei Stationen der Reise –, noch müssen sie zwingend in der beschriebenen Reihenfolge auftreten. Episoden können außerdem miteinander verschmelzen oder in vielfacher Variation wiederkehren. Das zyklische Handlungsschema der Heldenreise ist das strukturelle Gerüst einer jeden Geschichte. Es ist universell, existiert unabhängig von Ort und Zeit und ermöglicht die umweltspezifische Ausgestaltung unter vielfältigen kulturellen und historischen Bedingungen. Campbell spricht deshalb von einem „archetypal pattern” (ebd.: 36) mit „archetypal stages“ (ebd.: 355). Für ihn sind Mythen nicht nur Manifestationen des Unbewussten, sondern kontrollierte und vorsätzliche Äußerungen geistiger Prinzipien, die im Laufe der Menschheitsgeschichte ebenso konstant geblieben sind wie die Form der menschlichen Psyche selbst (vgl. ebd.: 239). Mit dieser psychologischen Interpretation des Mythos und dem Begriff des Archetypus nimmt Campbell Bezug auf die Lehre des analytischen Psychologen Carl Gustav Jung. Jung (vgl. 1995: 14) bestimmt Archetypen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als seit jeher vorhandene allgemeine Bilder, die Inhalt des kollektiven Unbewussten sind. Dieses ist im Gegensatz zum persönlichen Unbewussten „in allen Menschen sich selbst identisch und bildet damit eine in jedermann vorhandene, allgemeine seelische Grundlage überpersönlicher Natur“ (ebd.: 13f.). Inhalte und Verhaltensweisen entstammen nach Jung nicht der persönlichen Erfahrung und Erwerbung, sondern sind angeboren und daher allen Individuen gemeinsam. Als psychisches Konstrukt sind Archetypen lediglich formal als gegebene Möglichkeit einer Vorstellungsform bestimmt, insofern sie noch keiner bewussten Bearbeitung unterliegen. Inhaltlich greifbar wird der Archetypus erst durch seine Wahrnehmung, dadurch dass er mit bewusster, individueller Erfahrung ausgefüllt und dadurch gleichsam verändert wird (vgl. ebd.: 95). Ihren symbolischen Ausdruck finden die unbewussten Archetypen unter anderem in Träumen 30 Gleiches beschreibt der russische Formalist Wladimir Propp bezüglich russischer Volksmärchen. In seiner Analyse der Morphologie des Märchens (1928) weist er deren einheitliche Handlungsstruktur nach, die er als eine Abfolge von einunddreißig invarianten Funktionen bestimmt. 19 und Mythen, die als psychische Manifestationen das Wesen der Seele darstellen.31 In Erzählungen beständig wiederkehrende Personentypen (Mutter, Narr) betrachtet Jung demnach als Signifikanten eines seelischen Signifikats. Ein Archetyp im Sinne Jungs ist auch die von Campbell ausführlich beschriebene Figur des Helden, die, wie der Titel seines Buches suggeriert, lediglich in ihrer historischen und kulturellen Erscheinung mannigfaltig ist: „Im Kern, könnte man sogar sagen, gibt es nur einen einzigen archetypischen mythischen Helden, dessen Leben in vielen Ländern von vielen, vielen Menschen nachgestaltet worden ist“ (Campbell 1994: 161). Hieß der Held vor knapp dreitausend Jahren Odysseus oder Achilles, so nimmt er heute die Gestalt von Indiana Jones oder Harry Potter an. Für das zeitgenössische Erzählen in Film und Fernsehen erweist sich Campbells Mythenforschung in der Folgezeit als äußerst fruchtbar. Ausgehend von den Überlegungen Campbells und Jungs erarbeitet Christopher Vogler in Anlehnung an seine Tätigkeit in der Entwicklungsabteilung von „The Walt Disney Company“ ein wenige Seiten umfassendes Handbuch für Filmautoren und -regisseure. A Practical Guide to The Hero with a Thousand Faces (1985) wird 1992 unter dem Titel The Writer's Journey: Mythic Structure for Storytellers and Screenwriters32 zu einer umfangreichen Veröffentlichung ausgearbeitet, die in der amerikanischen Filmszene hohen Rang und Einfluss genießt (vgl. Schneider 2007: 332). Den Campbellschen Entwurf leicht modifizierend beschreibt Vogler (vgl. 21998: 54-75) die Dramaturgie der Heldenerzählung als eine zwölf Stadien umfassende Reise33, mit deren Hilfe sich eine Geschichte so konstruieren lässt, „daß sie sich nahezu jeder Gegebenheit anpasst und obendrein noch dramatisch, unterhaltsam und psychologisch stimmig ist“ (Vogler 21998: 50). Das Erfolgspotenzial des mythischen Narrationsmusters wurde insbesondere von der amerikanischen Filmindustrie erkannt und umgesetzt: Hollywood-Produktionen 31 Den theoretischen Grundstein für die Interpretation literarischer Werke auf der Grundlage wiederkehrender Archetypen legt der Literaturkritiker Northrop Frye mit Anatomy of Criticism (1957). Unter Archetypen versteht Frye (1964: 102) „ein Symbol, das ein Gedicht mit einem anderen verbindet und so dazu beiträgt, unsere literarische Erfahrung zu größerer Einheit und Ganzheit zu führen“. Von Interesse ist für Frye nicht der Ursprung solcher Archetypen, sondern ihre Effekte und Funktionen. 32 Zwei überarbeitete Fassungen wurden 1998 und 2007 jeweils unter dem Titel The Writer's Journey: Mythic Structure For Writers veröffentlicht. 33 Das Schema fasst Vogler (vgl. 21998: 74f.) wie folgt zusammen: Der Held wird in seinem Leben in der gewohnten Welt vorgestellt und erhält einen Ruf des Abenteuers. Er zögert und verweigert den Ruf, wird aber von einem Mentor ermutigt, die erste Schwelle zu übertreten, woraufhin Bewährungsproben, Verbündete und Feinde auf ihn warten. Der Held dringt zur tiefsten Höhle vor, wobei er eine zweite Schwelle überschreiten muss, und hat dann die entscheidende Prüfung zu bestehen. Er nimmt die Belohnung an sich und ist auf seinem Rückweg in die gewohnte Welt Verfolgungen ausgesetzt. Danach hat er noch eine dritte Schwelle zu überschreiten, erlebt seine Auferstehung und wird von dieser Erfahrung grundlegend verändert. Nun kann er mit dem Elixier, dem Schatz oder einer Wohltat in die gewohnte Welt zurückkehren. 20 lassen sich weltweit vermarkten, da sich in den audiovisuell vermittelten Geschichten vertraute Formen und Symbole manifestieren, die in jeder Kultur latent vorhanden sind und mit denen sich die meisten Menschen identifizieren können (vgl. hierzu Röll 1998: 152; Görden/Meiser 1994: 39). Tatsächlich lässt sich das narrative Muster der Heldenreise in Filmen aller Genres und nicht nur in amerikanischen Produktionen identifizieren, wie eine exemplarische Analyse des Thrillers MATCH POINT (GB/USA/L 2005, Woody Allen; vgl. Anhang B) sowie des Dramas VINCENT WILL MEER (D 2010, Ralf Huettner; vgl. Anhang C) zeigt. Wie Campbell konzipiert auch Vogler sein Handlungsschema als einen zyklischen Dreischritt, Akt I-III, und folgt damit dem in der Drehbuchtheorie etablierten Paradigma des idealen Aufbaus der Filmhandlung. Die Drei-Akt-Struktur der Filmdramaturgie steht in der Tradition sowohl des aristotelischen Mythos als auch der klassizistischen Konzeption des geschlossenen Dramas: Die formalen Grundlagen der klassischen Tragödie wurden in der Neuzeit standardisiert und zu einer Norm erhoben. Aus der aristotelischen Poetik, „dem Grundbuch der europäischen Dramentheorie“ (Hofmann 2013:14), wurde das geschlossene Drama abgeleitet, dessen Bauform mit fünf Akten 34 Gustav Freytag in dem dramaturgischen Lehrbuch Die Technik des Dramas (1863) festschreibt. Die Drei-Akt-Struktur des Spielfilms stellt sich als eine komprimierte Form des Fünfakters mit Exposition, Verwicklung (steigende Handlung mit Höhepunkt und Peripetie) und Katastrophe bzw. Lösung dar (vgl. Ryssel 2012).35 Im Zeitalter der elektronischen Medien manifestiert sich die dramatische Stofforganisation in der Darstellung des Geschehens vor der Kamera. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um eine Ebene, auf der Film und Fernsehen ihre narrativen Inhalte36 innerhalb des konstitutiven Rahmens Anfang, Mitte und Ende gestalten. Die narrative Vermittlung umfasst darüber hinaus die in die Kamera eingeschriebenen Formen des Erzählens (Perspektive, Standpunkt) sowie die Montage und den Schnitt des filmischen Materials. Audiovisuelles Erzählen meint demnach in Analogie zum mündlichen Erzählen die Erfindung und Gestaltung eines Geschehens durch den Erzähler bzw. durch die Zusam34 Die Strukturierung der Handlung in fünf Akte entspricht einem pyramidalen Spannungsaufbau mit Exposition, steigender Handlung mit erregendem Moment, Höhepunkt und Peripetie, fallender Handlung mit retardierendem Moment und Katastrophe. 35 Die Gründe für die Entwicklung vom Fünf- zum Vier- und schließlich zum Dreiakter in populären Lustspielen sowie dessen Adaption auf die Filmdramaturgie sind nicht eindeutig benennbar (vgl. Ryssel 2012). 36 Gemeint sind Spielfilme. Letztere sind seit der Erfindung von Fernsehen und Video nicht mehr ausschließlich dem Kino zugeordnet: Zum einen werden Kinofilme auch im Fernsehen ausgestrahlt, zum anderen werden Filme eigens für das Medium Fernsehen produziert. Auch haben Fernsehfilme die Erzählformen der fiktionalen Narrationen des Mainstreamkinos zu ihrem Standard gemacht. Hickethier (2000b: 157) spricht dementsprechend von einer „Filmisierung des Fernsehens“. 21 menarbeit von Drehbuchautor, Regisseur und Produzent. Auch wird die Handlungsstruktur eines Spielfilms nicht nur als Fabel oder Plot, sondern in Anlehnung an die aristotelische Definition auch als Mythos (vgl. Hickethier 32001: 114) bezeichnet. Die bestehende formale Homologie zwischen Rhapsoden sowie Film und Fernsehen operiert demnach auf zwei Ebenen: auf der Ebene des Mediums selbst und dessen Darstellungsmitteln sowie auf der Ebene der narrativ vermittelten Inhalte, die sich strukturell als ein geschlossenes Ganzes darstellen, innerhalb dessen die Geschehnisse in einer funktionalen Beziehung zueinander stehen. Die im Vorherigen vorgenommenen Bestimmungsversuche des vielschichtigen Mythosbegriffs37 lassen sich in der Art zusammenführen, dass die Allgegenwart des Mythos in jeder Kultur und zu jeder Zeit deutlich wird. Die poetologische Bestimmung des Mythos als nachahmende Handlung geht zwar von der Prämisse der Schrift und der Forderung einer dramatischen Wirkung aus. Gültigkeit besitzt sie jedoch für jede Art von Geschichte, auch für die im Medium des gesprochenen Wortes konstruierte, insofern alle Narrationen über eine Handlung im Sinne eines bestimmten Arrangements des zugrunde liegenden Stoffes verfügen. Diese Betrachtungsweise macht ersichtlich, weshalb der Begriff ‚Mythos’ gemeinhin mit den Erzählungen des antiken Griechenlands assoziiert wird: Die frühesten Zusammenstellungen von Geschehnissen sind mündliche, im Gesang des Aoiden tradierte Mythen38, die mit der Erfindung der griechischen Alphabetschrift erstmals schriftlich fixiert, dauerhaft erhalten und als Stoffvorlage nutzbar gemacht werden. Diese früheste inhaltliche Ausgestaltung einer Handlungsstruktur fungiert demnach als Bezugsgröße sowohl für die formale als auch für die inhaltliche Deutung des Mythos. Die formale Bestimmung des Mythos als Handlung erweist sich als äußerst fruchtbar, da sie auf zwei für den Nachweis der Kontinuität zwischen Rhapsoden sowie Film und Fernsehen wesentliche Aspekte verweist. Zunächst bildet die Handlung in ihrer jeweiligen inhaltlichen Ausgestaltung das strukturelle Gerüst der Geschichte: Mythos als Form organisiert den narrativen Inhalt zu einem in sich geschlossenen Ganzen, das von Rhapsoden sowie Film und Fernsehen narrativ vermittelt wird. Des Weiteren stellt der Mythos ein universales Grundmuster des Erzählens dar. Das Konzept des Monomythos rekurriert auf eine von Archetypen bevölkerte, biologisch vorprogrammierte Denkweise, 37 Als ein zeitloses, „sich eindeutigen Zuschreibungen immer wieder entziehendes Phänomen“ bezeichnen Krüger/Stillmark (2013: 10) den Mythos. Bestimmungsversuche variieren hinsichtlich wissenschaftlicher Disziplinen und Denkschulen. 38 Eric Havelock (vgl. 1982: 181) und Berry Powell (vgl. 2002: 18ff.) betonen die enge Verbindung zwischen Mythos und Oralität. 22 ohne die kulturelle Geprägtheit konkret ausgestalteter Plots zu negieren. Hinsichtlich dieses Aspekts stellt sich der Mythos nicht nur als ein narratives Vermittlungssystem, sondern ebenfalls als ein narratives Erkenntnissystem (vgl. Bleicher 1999) dar, welches durch die Struktur von Heldenreise und Archetypen organisiert ist und sich in verschiedenen Medien artikuliert. So unterschiedlich der Mythos definitorisch auch gefasst wird, in Bezug auf seinen Leistungswert und seine Funktion haben sich einander ähnelnde Konzepte herausgebildet. In ihnen wird der Mythos als ein Modell für das menschliche Verhalten und Denken in Auseinandersetzung mit der Umwelt aufgefasst (vgl. hierzu Bartel 2004: 16, Görden/Meiser 1994: 48): Indem Menschen ihre Erfahrungen in bestimmte – narrative – Strukturen, in einen Zusammenhang aus konkreten Objekten und miteinander verbundenen Ereignissen einordnen, werden diese sinnhaft organisiert. Infolgedessen scheint die Annahme gerechtfertigt, dass sich die Formgleichheit von antiken Mythen und zeitgenössischen Spielfilmen aus einer funktionalen Notwendigkeit ihrer Vermittlung speist. Die Beantwortung der Frage, worin diese Notwendigkeit besteht, wird im folgenden Kapitel eingeleitet durch eine Analyse der Effekte, die die Vermittlung von Erzählungen durch Film und Fernsehen sowie Rhapsoden auf die Rezipienten hat. 23 3. Lernen durch Geschichten: Mythen und Spielfilme als Enzyklopädien des sozialen Verhaltens Die audiovisuellen Medien Film und Fernsehen aktualisieren in der narrativen Ver- mittlung ihrer Inhalte sowohl die Darstellungsweisen der rhapsodischen Darbietung als auch die Struktur mythischer Erzählungen. In der formalen Homologie zwischen den erzählenden Medien der Antike und der Gegenwart deutet sich insofern eine ebenfalls vergleichbare Wirkungsweise an, als die formalen Gestaltungsmittel des Mediums dessen Effekte auf den Rezipienten bedingen. Für die Frage nach den Wirkungen eines bestimmten Mediums sind unter anderem die mediale Darstellung und die Rezeptionssituation (vgl. Lukesch 1996: 24f.) bedeutsame formale Charakteristika. Da bei der Rezeption audiovisuell vermittelter Inhalte die gleichen Wahrnehmungskanäle aktiviert werden wie während der rhapsodischen Darbietung, können vergleichbare Effekte von Rhapsoden sowie Film und Fernsehen auf den Rezipienten angenommen werden. Einem tiefgreifenden Wandel unterliegt hingegen der situative Kontext der Rezeption: Während in oralen Gesellschaften die Präsenz des Sängers und die des Publikums einander bedingen, lösen technische Entwicklungen den Rezeptionsvorgang aus seiner örtlichen und zeitlichen Gebundenheit an den Produktionsvorgang. Mit der Erfindung technischer Apparaturen zur Aufzeichnung von bewegten Bildern und von Tönen wird es nicht nur möglich, ästhetische Inhalte beliebig oft zu reproduzieren (vgl. Benjamin 1939), sondern auch Filmaufnahmen aus der ganzen Welt im Kino oder im heimischen Wohnzimmer etliche Jahre später zu rezipieren. Neben der formalen Umsetzung von Inhalten durch ein bestimmtes Medium sind auch die Inhalte selbst relevant für die Medienwirkung (vgl. Schenk 2007: 40). Im Rahmen dieser Untersuchung gilt das den Inhalt betreffende Forschungsinteresse in Entsprechung zum vorangegangenen Kapitel jedoch lediglich der Struktur der vermittelten Inhalte. Die Frage nach der Medienwirkung gründet sich auf die Annahme, dass die Nutzung von Medien nachweisbare Effekte auf das Individuum hat. Wirkung in diesem Sinne meint die ursächliche, eindeutig identifizierbare und nachweisliche Veränderung, die von einem Objekt oder Subjekt auf ein anderes ausgeht (vgl. Kübler 2010: 18).39 Über die Qualität der Wirkung sowie ihr Ausmaß herrscht hingegen kein wissenschaftlicher Konsens (vgl. McQuail 62010: 454). Auch ist der eindeutige Nachweis von Medienef39 Die Abgrenzung von Effekten und Funktionen der Medien ist aufgrund von Überschneidungen häufig schwierig. In Anlehnung an den Kommunikationswissenschaftler Klaus Merten (vgl. 1994: 293) wird die Wirkung eines Mediums als bezogen auf ein Individuum verstanden, während die Funktion eines Mediums die Gesellschaft betrifft. 24 fekten in der Praxis problematisch, da die aussagekräftigsten Resultate gewöhnlich innerhalb spezifischer Versuchsreihen und somit unter höchst künstlichen Bedingungen erbracht werden (vgl. Perse 2001: 22). Umfassende Erklärungen für die Wirkung von Medien stehen bislang aus. In den vergangenen Jahrzehnten verschob sich der Fokus des Untersuchungsinteresses von den Gefahren des Medienkonsums und seinen negativen Folgen hin zu den positiven Effekten des Medieneinflusses: Während in der Frühphase der Medienwirkungsforschung in der ersten Hälft des 20. Jahrhunderts das Medium und die Suche nach Kausalbeziehungen zwischen den Darstellungen in den Massenmedien und den Einstellungen der Zuschauer im Mittelpunkt stehen40, rückt in den siebziger Jahren der Rezipient als aktiver Konstrukteur von Bedeutung im Prozess der Mediennutzung in den Vordergrund (vgl. McQuail 62010: 456-459). Der rezipientenorientierte Ansatz in der Medienwirkungsforschung41 untersucht die kommunikationsrelevanten Motive der Mediennutzung (vgl. Bonfadelli 2004: 33) und ist eng verknüpft mit konstruktivistischen Überlegungen. Letztere beziehen sich sowohl auf das Medium als ein Wirklichkeit konstruierendes und vermittelndes als auch auf den Rezipienten, der sich die Medienwirklichkeit vor dem Hintergrund und in Wechselwirkung mit seiner subjektiv konstruierten Realität sinnhaft aneignet (vgl. McQuail 62010: 459). Die sinnliche Erfassung und kognitive Verarbeitung von Medienbotschaften wird in der vorliegenden Arbeit in diesem Sinne begriffen als ein subjektiver, aktiver und konstruktiver Prozess. Die in die Medienrezeption involvierte „psychologische Trias“ (Trepte/Reinecke 2013: 16) aus Emotion, Kognition und Verhalten spiegelt sich auch auf der Ebene der Medieneffekte wider.42 Die Medienwirkungsforschung unterscheidet entsprechend zwischen affektiven und kognitiven Effekten sowie Wirkungen auf der Ebene des Verhaltens (vgl. McQuail 62010: 467; Schenk 2007: 41; Perse 2001: 3). Obgleich sich die psychologischen Aspekte des Erlebens und Verhaltens einzeln benennen und auf jeweils unterschiedliche Wirkungsdimensionen beziehen lassen, sind sie im Prozess der Mediennutzung doch unmittelbar aneinandergekoppelt. 40 Die Annahme, dass Massenmedien unmittelbar und in gleicher Weise auf Individuen wirken, visualisiert das Stimulus-Response-Modell. Die Theorie einer monokausalen Wirkung von Massenkommunikation entstand mit dem Aufkommen der modernen Massenpresse und beruft sich auf die Macht von Medien, Verhalten zu steuern und Meinungen zu beeinflussen (vgl. Bonfadelli 2004: 29f.). 41 Modelliert wird diese Theorie im Uses-and-Gratifications-Ansatz, als dessen Manifest der 1959 veröffentlichte Aufsatz Mass Communications Research and the Study of Popular Culture von Elihu Katz gilt (vgl. Mehlig 2007: 11). 42 Die Beschreibung und Erklärung des mit der Medienrezeption und -wirkung verbundenen Erlebens und Verhaltens ist Gegenstand der medienpsychologischen Forschung (vgl. Trepte/Reinecke 2013: 15f.). 25 Wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, Rhapsoden sowie Film und Fernsehen im Hinblick auf ihre Effekte auf den Rezipienten zu erforschen, geht es weniger um die Abgrenzung und Darstellung unterschiedlicher Wirkungsebenen, als vielmehr um die Analyse des Zusammenspiels von Fühlen, Denken und Verhalten im Rahmen der Rezeption medialer Narrationen. In der Rezeption von Mythen und Spielfilmen, so die These, wirken die medialen sowie inhaltlichen Strukturen in der Art auf die Emotionen und die Kognition des Rezipienten, dass dieser neues Wissen erlangt und bereits vorhandenes Wissen bekräftigt oder modifiziert wird. Die Untersuchung der Gestalt des mündlich und audiovisuell vermittelten Wissens, dessen Relation zur Wirklichkeit des Rezipienten sowie der Prozess des Wissenserwerbs durch selbigen sind Gegenstand dieses Kapitels. 3.1 Wissen als soziales Konstrukt Die Charakterisierung von Film und Fernsehen als Enzyklopädien wirft die Frage auf, inwiefern sich der traditionell auf Schrifterzeugnisse bezogene Gattungsbegriff auf die audiovisuellen Medien übertragen lässt. In der Literaturwissenschaft meint Enzyklopädie „die Gattung von Werken der Wissensliteratur […], die die Gesamtheit des theoretischen und praktischen Wissensstoffs und/oder den Zusammenhang und die Anordnung des Wissens, seine Gliederung und Klassifikation enthält“ (Meier 32007: 192). Die in dieser Definition enthaltenen Bedeutungskomponenten verweisen auf einen semantischen Wandel in der Begriffsgeschichte. Die definitorische Betonung des Zusammenhangs und der Anordnung von Wissen hat ihren Ursprung in der Etymologie des Wortes: In der griechischen Antike bedeutet enkýklios paideía ‚Kreis der/kreisförmige Erziehung/Bildung’. Das Bild des Kreises bezieht sich zunächst auf die Einheit der Bestandteile der chorischen Erziehung43 und wird erst im 19. Jahrhundert auf das im Kreisbild implizite Moment der Gesamtheit und damit auf die umfassende Darstellung des Wissens ausgeweitet (vgl. Dierse 1977: 2-6). Die gegenwärtige, an ein schriftlich fixiertes und vermitteltes Wissen geknüpfte Bedeutung von ‚Enzyklopädie’ gründet sich auf eine Form der Wissensvermittlung, die ursprünglich oraler Natur ist: Bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. ist der Begriff enkýklios paideía eng mit dem griechischen Mousike, dem Dreiklang aus Rhythmus, 43 Ulrich Dierse (vgl. 1977: 6) widerlegt die Annahme, dass sich das griechische enkýklios paideía von Beginn an auf die Freien Künste (artes liberales) bezieht. Dies sei erst seit dem 1. Jahrhundert infolge der Wiederbelebung des Begriffs durch die Neopythagoreer der Fall. 26 Melodie und Sprache (vgl. ebd.: 6; Havelock 1982: 186; Murray/Wilson 2004: 1), verbunden. Mousike ist das Curriculum der griechischen Oberklasse (vgl. Havelock 1990: 80) und beinhaltet die mündliche Unterweisung junger Griechen in instrumenteller Musik, Rezitation und rhythmischer Bewegung. Zum Zwecke der musischen Bildung werden mündliche Dichtungen älterer Sänger memoriert und wiedergegeben (vgl. Havelock 1982: 14), währenddessen die rhythmischen Memorialtechniken eingeübt und angewandt. Diese Unterrichtskomponenten verlieren erst mit der Durchsetzung der Schrift und der institutionellen Vermittlung der Lese- und Schreibfähigkeit an Bedeutung. Die durch das gesprochene Wort wirkenden Kräfte Rhythmus und Harmonie sind nach griechischem Verständnis die seelenformenden Kräfte schlechthin (vgl. Jaeger 2 1936: 18), insofern die geistige Tätigkeit von zentraler Bedeutung für die Wirkung der Paideia ist (siehe Kapitel 2.2). Rhythmus und Melodie des gesprochenen Wortes sind nicht Inhalt und Ziel der griechischen Erziehung, sondern vielmehr deren Vehikel. Im Medium der mündlichen Dichtung manifestiert sich der eigentliche Gegenstand der Paideia: der griechische Mythos. Mythen exemplifizieren das Ideal griechischer Erziehung in Form von Geschichten und sind deshalb für die Ausbildung der Arete von vitaler Notwendigkeit. Der Begriff ‚Arete’, die Vortrefflichkeit einer Person bezeichnend, ist seit Sokrates eng mit der Paideia verknüpft, die somit zum Inbegriff des idealen körperlichen und seelischen Geformtseins wird (vgl. ebd.: 362). In seinem Denken um die richtige Lebensführung 44 bezeichnet Sokrates mit Arete das sittlich Gute, für dessen Hervorbringung allein die richtige Vorstellung genügt (vgl. Plat. Men.: 97a-98c). Verkörpert in den homerischen Epen, manifestiert sich die Arete des Helden in dessen Tapferkeit und Klugheit sowie seiner körperlichen Stärke und Anmut (vgl. Jaeger 2 1936: 27). Diese Eigenschaften befähigen etwa Achill zu überragenden und ruhmrei- chen Taten im Trojanischen Krieg. Indem der epische Held verschiedenste Herausforderungen besteht und an diesen kontinuierlich wächst, erweist er sich letztendlich als ideale Verkörperung eines tugendhaften Lebens, wodurch ihm die Rolle des heroischen Vorbildes zuteil wird. „So fällt die Geschichte der griechischen Bildung im Wesentlichen zusammen mit der sogenannten Literatur. Sie ist im ursprünglichen Sinne ihrer Schöpfer der Ausdruck der Selbstformung des griechischen Menschen“, schreibt Wer44 Ausgangspunkt für Sokrates’ Betrachtungen im Dialog mit Menon von Pharsalos, Gegenstand des von Platon verfassten Werkes Menon, bildet Menons Frage, ob Tugend erlernt oder eingeübt werden könne oder angeboren sei (vgl. Plat. Men.: 70a). Sowohl der sokratische Tugendbegriff als auch die Frage nach der Lehrbarkeit der Arete sind von zentraler Bedeutung für die Forschung, die sich darüber hinaus mit dem Problem der Unterscheidung zwischen der Philosophie des historischen und des platonischen Sokrates konfrontiert sieht. Auf vertiefende und hinsichtlich des Wissensbegriffs sicherlich aufschlussreiche Ausführungen wird an dieser Stelle zugunsten der weiteren Untersuchung verzichtet. 27 ner Jaeger (ebd.: 18; vgl. hierzu auch Havelock 1963: 47) in seinem Standardwerk Paideia. Die Formung des griechischen Menschen (1934-1947). Im griechischen Denken der Antike geht das Ästhetische der Dichtung mit dem Ethischen der Erziehung einher. Die homerischen Epen erklärt Jaeger (vgl. ebd.: 73) aufgrund ihrer idealbildenden Qualität zur Wurzel der griechischen Bildung schlechthin. Diese These vertritt auch Eric Havelock (vgl. 1963: 87). Platons Kritik an den poetischen Qualitäten der Erziehung in der Politeia als Ausgangspunkt seiner Betrachtung nehmend, untersucht der Philologe unter anderem die Form und den Inhalt des in den homerischen Epen bewahrten Wissens. Letzteres ist derart umfassend, dass Havelock (1963: 27) die Ilias und die Odyssee als Enzyklopädien der griechischen Paideia bezeichnet: „a sort of encyclopedia of ethics, politics, history and technology which the effective citizen was required to learn as the core of his educational equipment”. In oralen Kulturen, die weder über in Gesetzen schriftlich fixierte Normen noch über Handbücher verfügen, sind sowohl das Wissen um moralische45 Gebote und Regeln des Zusammenlebens als auch Kenntnisse und Fertigkeiten der praktischen Lebensführung relevant. Wenn Homer beispielsweise im ersten Buch der Ilias (vgl. Havelock 1963: 81) ausführlich das Beladen, Ab- und Anlegen sowie Entladen eines Schiffes beschreibt, dient dieser Bericht nicht nur der narrativen Ausgestaltung zur Steigerung der Anschaulichkeit, sondern auch, und entscheidender, der Vermittlung praktischer Kenntnisse der Seemannskunst. Die richtige Vorstellung von einem Leben im Sinne der Arete wird in mündlichen Erzählungen nicht im Hinblick auf grundlegende Prinzipien oder dahinter stehende Ideen beschrieben. Narrationen als Enzyklopädien des sozialen Wissens zu begreifen, bedeutet nicht, dass Geschichten eine präzise Definition eines Wissensbereiches geben oder Verhaltensregeln formulieren. Wissen offenbart sich in ihnen vielmehr in der Schilderung bestimmter Situationen und der Interaktion von Figuren: Geschichten illustrieren sittliche Verhaltensweisen durch die Handlungen von Figuren (vgl. Havelock 1986: 77; Robinson/Hawpe 1986: 124) und lediglich im Hinblick auf ihre Effekte im Kontext bestimmter Figurenkonstellationen. Havelock (1963: 223) exemplifiziert dies am Beispiel der Ilias: „We learn the importance of piety, or its reverse sacrilege, from what happens to Agamemnon and to the army in the opening of the Iliad. We are not treated to the notion, still less to the definition, of ‚piety per se’.” 45 Moral bezeichnet in der Soziologie die Gesamtheit der Anschauungen und Normen, von denen der Mensch in seinem praktisch-sittlichen Verhalten gesteuert wird (vgl. Rammstedt 42007: 443f.). 28 Mythen organisieren die tradierten Verhaltensmuster der Mitglieder einer Gemeinschaft narrativ, sodass sich im Handeln und in der Rede von Figuren die Normen und Werte der Gemeinschaft manifestieren (vgl. ebd.: 77). Demnach fungiert die narrative Darstellung des Handelns, der Haltung sowie der Rede von Figuren als situativ angemessenes im Kontrast zu einem unangemessenen Verhalten als Modell. An diesem orientieren sich junge Griechen, um eine Vorstellung darüber zu erlangen, welches Verhalten in der Gemeinschaft akzeptiert ist und welches nicht. Als Beispiel kann auch hier Achill herangezogen werden: Dessen Erziehung befähigt ihn, sich sowohl in einer Gruppe, gegenüber Agamemnon, einem gleichrangigen Gefährten oder einem Sklaven angemessen zu verhalten (vgl Robb 1994: 165). Durch die Aneinanderreihung zahlreicher Episoden liefert das Epos vielfältige Beispiele für sittliche Verhaltensweisen in den unterschiedlichsten sozialen Situationen (vgl. Havlock 1963: 186). Das innerhalb des erzählerischen Rahmens vermittelte Wissen umfasst demzufolge die Gesamtheit der Kenntnisse, über die ein Grieche verfügen muss, um erfolgreich mit der Gemeinschaft zu interagieren und sich hierdurch als ihr Mitglied zu erweisen. Dieses Wissen beinhaltet im Sinne der Arete die Kenntnis der in der Gruppe herrschenden Werte und Normen. Nach soziologischem Verständnis bezeichnen Werte bewusste oder unbewusste Vorstellungen des Gewünschten und Guten, die sich bei der Wahl zwischen Handlungsalternativen als Präferenz niederschlagen (vgl. Friedrichs 42007: 725). Aus ihnen lassen sich Normen ableiten, die die Einhaltung des jeweiligen Wertes als das Richtige vorschreiben (Kettner 2004: 222) und die somit als Verhaltensregeln fungieren. Durch die narrative Darstellung handelnder Figuren definieren und veranschaulichen Mythen situationsbezogene Verhaltensregeln, die das Leben in der Gemeinschaft orientieren. Für das gemeinschaftliche Miteinander sind Mythen deshalb unabdinglich. Obwohl der Rhapsode als Träger und Übermittler der Paideia eine Sonderstellung innehat, ist Erziehung in der griechischen Antike ein gemeinschaftlicher Prozess (vgl. Jaeger 21936: 2): Die Wertvorstellungen, nach denen Heranwachsende über den Umweg der epischen Dichtung geformt werden, wurden in der Gemeinschaft durch das gemeinschaftliche Zusammenleben entwickelt und sind daher für die Gemeinschaft konstitutiv. Die narrativ geformte Sprache repräsentiert dieses gemeinschaftliche Wissen, welches die kollektiven Erfahrungen und die aus ihnen abgeleiteten kollektiven Erwartungen, wie in der Gemeinschaft gehandelt werden soll, umfasst. Das im Vorhergehenden in Bezug auf die dichterische Sprache Dargelegte, formuliert der Sozialpsychologe George Herbert Mead (vgl. 1973: 187ff.) im Hinblick auf die 29 Sprache als solche. Sprache begreift Mead als Symbol, welches innerhalb einer Gemeinschaft auf einen generellen Sinnzusammenhang verweist. Die sich im Symbol der Sprache manifestierenden Bedeutungen leiten ihm zufolge nicht nur das menschliche Handeln, sie konstituieren sich überhaupt erst durch die Interaktion von Menschen. Im Bemühen um eine Synthese zwischen Behavorismus, der den Menschen als auf seine Umwelt reagierendes soziales Wesen betrachtet, und Pragmatismus, eine Sozialphilosophie, die das Wesen des Menschen in seinem Handeln erkennt, begreift Mead Menschen als Wesen, die auf Reize in Form von Verhalten reagieren und somit wechselseitig aufeinander einwirken (vgl. Abels 2010: 73f.). Auf äußere Reize, körperliche oder lautliche Gebärden, reagiert der Mensch in der Art, dass er, die Haltung des Anderen einnehmend, in Gedanken dessen Handlung als Reaktion auf die eigene Aktion antizipiert (vgl. Mead 1973: 300). Diesen interaktiven Prozess wechselseitiger Verschränkung der eigenen mit der Perspektive anderer, bei dem die individuelle stets die soziale Perspektive involviert, nennt Mead (ebd.) die Fähigkeit zur „Übernahme der Rolle anderer“. Sie lässt Reize zu Symbolen werden, zu Zeichen also, die auf den auf Erfahrungen basierenden Sinn von Dingen verweisen und auf die Menschen reagieren. Dass sie letzteres im Wissen um den Unterschied zwischen dem Ding und seiner Bedeutung tun, zeichnet die Menschen als denkende Wesen aus (vgl. ebd.: 161ff.). Üben Gebärden auf das ausführende Individuum die gleichen Effekte aus wie auf dasjenige, an das sie sich richten, handelt es sich um signifikante Symbole (vgl. ebd.: 85). In diesem Sinne stellt Sprache für Mead ein komplexes Symbolsystem dar, dem die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft die gleiche Bedeutung beimessen, das bei ihnen die gleichen Reaktionen auslöst und das somit ihr Verhalten leitet. Die Bedeutung der durch den Menschen wahrnehmbaren Dinge, die als Symbole fungieren, ist jedoch keineswegs starr und auf Dauer festgelegt. Vielmehr unterliegen die in der sozialen Interaktion entstehenden oder aus ihr abgeleiteten Bedeutungen einem interpretativen Prozess, der sie modifiziert. Unter dieser Prämisse systematisiert Herbert Blumer, ein Schüler Meads, dessen Ansatz und gibt ihm den Titel Symbolischer Interaktionismus. Indem Individuen Dingen und Handlungen bestimmte Bedeutungen beimessen, so die theoretische Überlegung, definieren sie den Sinn der Situation. Da sie dies fortlaufend und in Reaktion auf die Interpretation der anderen tun, legen sie den Rahmen der gemeinsamen Situation kontinuierlich neu fest (vgl. Abels 2010: 94ff.). Verdeutlichen lässt sich diese Überlegung im Hinblick auf die soziologische Diskussion des Normbegriffs (vgl. Peters 2008: 207): Soziale Normen lassen sich zwar sprachlich 30 formulieren, aber sie liegen nicht als objektive Regeln vor. Vielmehr sind sie Vorstellungen Handelnder, die die wechselseitige Interpretation von Handlungen leiten, die dabei aber ebenso je nach Kontext in ihrer Bedeutung aktualisiert werden. Die aufgezeigte narrative Darstellung lediglich der Effekte sittlich guten Handelns in den homerischen Epen illustriert diesen Umstand. Meads theoretische Verknüpfung von sozialem Handeln mit der Entstehung von geistiger Bedeutung eröffnet einen neuen Zugang zum komplexen Begriff des Wissens. Wissen erscheint nun nicht mehr als etwas außerhalb des Menschen Liegendes, das diesem lediglich vermittelt wird oder der Erkenntnis durch individuelle Wahrnehmungsund Denkprozesse bedarf. Von der erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise unterscheidet sich Meads Zugang insofern, als er den Menschen als Teil eines sozialen Zusammenhangs betrachtet. Erkenntnis und soziales Handeln sind für ihn eng miteinander verknüpft. Mead und der Symbolische Interaktionismus gelten damit innerhalb der Wissenssoziologie, deren zentrale These eben die Sozialität von Wissen und Erkennen ist (vgl. Knoblauch 2005: 14), als Vorläufer des von Peter Berger und Thomas Luckmann begründeten Sozialkonstruktivismus. In The Social Construction of Reality (1966; dt. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 1969) entwerfen Berger/Luckmann im Anschluss an Alfred Schütz, der seinerseits den Ansatz des Symbolischen Interaktionismus aufgreift (vgl. Knoblauch 2005: 138), und unter von Mead beeinflussten sozialpsychologischen Voraussetzungen (vgl. Berger/Luckmann 1969: 18) eine Theorie, nach der Wirklichkeit nur in und durch gesellschaftliches Handeln besteht. In dieser Wirklichkeit kommt dem Wissen eine zentrale Rolle zu, denn es „bildet die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe“ (ebd.: 16). Berger/Luckmann beziehen sich damit auf jenes „Allerweltswissen“ (ebd.), welches das menschliche Verhalten in der Alltagswelt reguliert (vgl. ebd.: 21).46 Wie Schütz vertreten Berger/Luckmann die Ansicht, dass der überwiegende Teil des Wissens im menschlichen Bewusstsein nicht durch eigene Erfahrungen begründet und demnach kein Erfahrungswissen ist, sondern von anderen Menschen vermittelt wird und deshalb sozial abgeleitet ist (Knoblauch 2005: 148). Das gesellschaftlich entwickelte, vermittelte und bewahrte Wissen gerinnt für die Individuen einer Gemeinschaft zu der Wirklichkeit (vgl. Berger/Luckmann 1969: 3), die als eine objektivierte, d.h. als eine durch die Anordnung der Objekte konstituierte, erscheint. Durch Objektivation, die Typisierung von Erfahrungen und Erwartungen in der 46 ‚Wissen’ definieren Berger/Luckmann (1969: 1) allgemein als „die Gewissheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben“. 31 menschlichen Interaktion, entsteht aus subjektiv sinnvollen Vorgängen eine intersubjektive Welt (vgl. ebd.: 22) und mit ihr ein kollektiver Wissenshorizont. Das wichtigste Medium solcher Objektivationen ist auch für Berger/Luckmann (vgl. ebd.: 41) die Sprache. Sprache vergegenständlicht – typisiert – Erfahrung, indem sie ihr Kategorien zuteilt, mittels derer sie nicht nur für das Individuum, sondern auch für seine Mitmenschen sinnhaft erscheint: „Sie [die Sprache] wird so zugleich Fundament und Instrument eines kollektiven Wissensbestandes“ (ebd.: 72f.). Sprache hat dadurch institutionalen Charakter. „Durch die bloße Tatsache ihres Vorhandenseins halten Institutionen menschliches Verhalten unter Kontrolle. Sie stellen Verhaltensmuster auf, welche es in eine Richtung lenken“, schreiben Berger und Luckmann (ebd.: 58). Indem dieses Verhalten von den Individuen einer Gemeinschaft akzeptiert und fortlaufend in den Interaktionen des Alltags, die auf eben diesen von der Gesellschaft bereitgestellten Institutionen beruhen, bestätigt wird, verfestigt es sich zu sozialem Wissen, das permanent soziale Ordnung schafft. Die Gesellschaft stellt nun die objektive, geordnete Wirklichkeit dar, die im Denken und Handeln ihrer Mitglieder fortlaufend produziert wird. Als ‚Wissen’ bezeichnen Berger/Luckmann (ebd.: 75) also „die objektivierte Sinnhaftigkeit institutionalen Handelns“. Das wichtigste Medium zur Weitergabe des Wissens einer Gemeinschaft ist die Sprache (vgl. ebd.: 73). Jedoch erfolgt die Weitergabe nicht voraussetzungslos: Sie erfordert einen gesellschaftlichen Apparat, in dem einige Menschen zu Vermittlern, andere zu Empfängern des Wissens bestimmt sind (vgl. ebd.: 75). Der Charakter dieses Apparates und mit ihm die Prozeduren der Wissensvermittlung variieren je nach Gesellschaftsform. So liegt es nahe, in oralen Kulturen, die in räumlich voneinander getrennte und dadurch mehr oder weniger geschlossene Gemeinschaften zerfallen, fahrende Sänger mit der Weitergabe des Wissens zu betrauen. Während in den zwar vernetzten, aber in Bezug auf den zahlenmäßigen Umfang und die räumliche Ausdehnung viel weiter gefassten Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts ein Medium benötigt wird, welches die Reichweite von Film und Fernsehen hat. Insofern Wissen symbolisch vermittelt ist, stellt sich im Folgenden die Frage, in welche Beziehung das in den Kontext mündlich und audiovisuell vermittelter Geschichten eingebundene Wissen zur unmittelbaren Erfahrungswelt des Zuschauers und Hörers tritt. 32 3.2 Mediale Wirklichkeit und Beobachtung von Verhalten Wie die antiken Sänger vor mehr als 2500 Jahren haben die audiovisuellen Medien Film und Fernsehen in der Gegenwart die Aufgabe, Kenntnisse über alle Lebensbereiche (vgl. Hickethier 1999: 349) zu vermitteln. Dass Film und Fernsehen bilden, darüber herrscht in der Forschung weitestgehend Konsens (vgl. Ball/Palmer/Millward 1986: 130; Hartley 1999: 7; Hoggart 1960: 41; Hickethier 1992: 84). Auch im Programmauftrag der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ist dieses Ziel festgeschrieben. In seinen Richtlinien für die Sendungen und Telemedienangebote vom 11. Juli 1963 in der Fassung aus dem Jahr 2009 formuliert das ZDF wie folgt: „Die Angebote [Programme und Telemedien] sollen umfassend informieren, anregend unterhalten und zur Bildung beitragen.“ Insbesondere in ausgewiesenen Wissenssendungen für Erwachsene wie TERRA X (ZDF) oder W WIE WISSEN (ARD) und WISSEN MACHT AH! (WDR) für Kinder manifestiert sich der Bildungsauftrag öffentlich-rechtlicher Programme. Darüber hinaus verfolgt eine Vielzahl von Kindersendungen das Ziel der Wissensvermittlung sehr viel subtiler, etwa mittels spielerischer Elemente. Diese als Edutainment (vgl. Hochschule der Medien o. J.) bezeichnete Strategie des unterhaltsamen Lernens verwirklicht beispielsweise die SESAMSTRAßE, der das ZDF in seiner Sendungsinformation den Titel „Lernen mit Spaß für Kinder“ (ZDF 2014) verleiht. An den Edutainmentprogrammen wird eine Entwicklung deutlich, die sich pessimistisch als Abnahme des audiovisuellen Bildungsangebots öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten beschreiben lässt, der die kontinuierliche Zunahme des Unterhaltungsangebots komplementär gegenübersteht (vgl. Hickethier 1988: 5). Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass das Fernsehen seinen Bildungsauftrag vernachlässigt. Bildung, sofern man darunter nicht nur den Erwerb des akademischen Wissenskanons, sondern die Ausbildung der für das Leben in einer Gemeinschaft notwendigen Kompetenzen versteht, findet zu einem Großteil gerade nicht in den ausgewiesenen Sendeformaten statt. Wissen über gesellschaftlich relevante Verhaltensmuster vermitteln gerade Filme mit fiktionalen Handlungen, die „anregend unterhalten“ (ZDF 2009). Mit ihren Unterhaltungsangeboten verfolgen Film und Fernsehen einen „heimlichen Lehrplan“47, der in Analogie zur rhapsodischen Darbietung auf die Erziehung des Individuums zu einem Mitglied der Gesellschaft zielt. 47 Der von Philip Jackson geprägte Begriff „hidden curriculum“ (Life in Classrooms, 1968) meint die als Beiprodukt der offiziellen Schulbildung verstandene Vermittlung sozialer Regeln. Hinsichtlich der Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit dem Unterhaltungsangebot des Fernsehens vgl. auch Lukesch 1996: 29; Hickethier 1999: 350. 33 Die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft ist Gegenstand und Ziel des lebenslangen Prozesses der Sozialisation (vgl. Abels 2010: 9). Im Mittelpunkt des Interesses der Sozialisationsforschung stehen der soziale Lernprozess und die Frage, wie sich Individuen die Werte und Normen der Gemeinschaft aneignen, um als deren Mitglieder am sozialen Leben teilzuhaben. Bei George Herbert Mead verbinden sich das Individuelle und das Soziale im Begriff der Kommunikation – für Mead (1973: 299) „das Grundprinzip der gesellschaftlichen Organisation des Menschen“. Diese zentrale Rolle fällt der Kommunikation zu, da die Erzeugung von Bedeutung und damit von Wissen aus der menschlichen Interaktion resultiert. Obwohl Mead diese Verbindung nicht explizit macht, erweist sich sein theoretischer Ansatz auch für das sozialwissenschaftliche Grundthema der Sozialisation als fruchtbar. Kommunikation bedingt die Entwicklung des Menschen als soziales Wesen insofern, als die in der Sprache zum Ausdruck kommenden kollektiven Vorstellungen die gegenseitige Anpassung der Individuen innerhalb einer gesellschaftlichen Handlung garantieren (vgl. ebd.: 86): Individuen lernen, wie sie sich in einer Gemeinschaft richtig verhalten, indem sie ihr Verhalten wechselseitig beobachten, die gesellschaftlichen Symbole, die hinter diesem Verhalten stehen, in gleicher Weise interpretieren und sich damit auf das für eine soziale Gruppe typische Verhalten beziehen. Indem in der Interaktion durch die Übernahme der Rolle des anderen dessen mögliche Reaktionen wechselseitig mitgedacht werden, unterliegt das situative Verhalten der sozialen Kontrolle: Diese Kontrolle der Reaktion des Einzelnen durch die Übernahme der Rolle des anderen ist es, was, vom Standpunkt der Organisation des Gruppenverhaltens aus gesehen, den Wert dieser Art der Kommunikation ausmacht. […]Und so kommt es, daß diese gesellschaftliche Kontrolle, die mittels der Selbstkritik wirkt, das Verhalten des Einzelnen so eindringlich und umfassend beeinflußt und dazu dient, den Einzelnen und seine Handlungen im Hinblick auf den organisierten gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozeß zu integrieren (ebd.: 301). Sozialisation als Integration des Individuums in einen derart organisierten Verhaltensprozess stellt jedoch keinen unterdrückenden Zwang dar. Vielmehr funktioniert der Mechanismus der gesellschaftlichen Kontrolle gerade aufgrund der Beteiligung des Individuums als reflektierender Akteur (vgl. ebd.: 301f.): Während der Einzelne sein eigenes Verhalten sowie das des anderen in der Interaktion beobachtet, unterzieht er es sogleich einer an den „verallgemeinerten gesellschaftlichen Haltungen“ (ebd.: 307) orientierten Kritik. Unter „verallgemeinerten gesellschaftlichen Haltungen“ versteht Mead Handlungsweisen, die allen Mitgliedern einer Gesellschaft gemeinsam sind, inso34 fern diese auf bestimmte Situationen identisch reagieren. Solche überindividuellen Haltungen erlauben es dem Einzelnen, aus den beobachteten Reaktionen Schlüsse über ein in der Gesellschaft angemessenes Verhalten zu ziehen, das eigene Verhalten daran zu orientieren und die Reaktionen anderer entsprechend zu bewerten. Die generalisierten Haltungen der Gemeinschaft sowie die Fähigkeit zur Rollenübernahme48 erwirbt das Individuum im Prozess der Sozialisation durch die Orientierung am „verallgemeinerten Anderen“ (ebd.: 302). Dieses Konstrukt beinhaltet die Summe aller Perspektiven in einem bestimmten Handlungszusammenhang. Im generalisierten Anderen kondensieren sich die kollektiven Vorstellungen, Haltungen, Erwartungen (vgl. ebd.: 196) und somit auch die Normen und Werte einer Gesellschaft: In der Form des verallgemeinerten Anderen beeinflußt der gesellschaftliche Prozeß das Verhalten der ihn abwickelnden Individuen, das heißt, die Gemeinschaft übt Kontrolle über das Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder aus, denn in dieser Form tritt […] die Gemeinschaft als bestimmender Faktor in das Denken des Einzelnen ein (ebd.: 198). Sozialisation vollzieht sich nach der Theorie Meads allgemein als Kommunikation zwischen dem Individuum und dem generalisierten Anderen und konkret als fortlaufende Interaktion zwischen Individuen mit bestimmten Erwartungen. Durch die Verwendung der sozialen Symbole, etwa der Sprache, integriert sich der Einzelne in die geregelte Gesellschaft (vgl. Abels 2010: 84). Die theoretischen Überlegungen Meads finden Eingang in die Konzeption eines zwei Phasen umfassenden Sozialisationsprozesses durch Berger/Luckmann (vgl. 1969: 141). Die Ausbildung der Fähigkeit zur Rollenübernahme bezeichnen sie als Primärsozialisation49: die Einführung eines Individuums in die objektive Welt einer Gesellschaft (vgl. ebd.: 140f.). Ziel der Sozialisation ist die Aneignung der objektiven Wirklichkeit durch das Individuum oder, wie Berger/Luckmann (ebd.: 139) es nennen, deren Internalisierung: „das unmittelbare Erfassen und Auslegen eines objektiven Vorgangs oder Ereignisses, das Sinn zum Ausdruck bringt, eine Offenbarung subjektiver Vorgänge bei einem Anderen also, welche auf diese Weise für mich subjektiv sinnhaft werden“. Internalisierung bildet die Grundlage sowohl für das Verstehen anderer Menschen als auch für das Erfassen der Welt als eine sinnhafte Wirklichkeit (vgl. ebd.: 140). 48 Mead (vgl. 1973: 192-206) beschreibt zwei Phasen, in denen das Kind die Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive anderer als Voraussetzung für die Entwicklung eines Bewusstseins der eigenen Identität entwickelt: im freien Rollenspiel und im organisierten Spiel. 49 Sekundäre Sozialisation meint entsprechend jeden späteren Prozess, durch den eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft eingeführt wird (vgl. Berger/Luckmann 1969: 141). 35 Die Anpassung des Individuums an seine soziale Umgebung stellt sich in den skizzierten Theorien als ein natürlicher Prozess dar, den jedes Mitglied der Gesellschaft in der Kommunikation mit anderen Individuen durchläuft. Angesichts der den Medien zugeschriebenen Rolle, Wissen mitzuteilen (vgl. Knoblauch 2005: 325), stellt sich die Frage, auf welche Weise die vermittelten Inhalte in den Sozialisationsprozess hineinwirken. In Bezug auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand – fiktionale rhapsodische sowie audiovisuelle Narrationen – betrifft diese Frage insbesondere auch die Interaktion des medialen Realitätsentwurfes mit der sozialen Wirklichkeit. Denn neben die objektiv geordnete Wirklichkeit der Alltagswelt tritt die mediale, narrative Wirklichkeit als eine weitere symbolische Ordnung. In ihr ist Wissen im Sinne Meads in Form von lautlichen und körperlichen Gebärden, dem menschlichen Verhalten, objektiviert. Das mediale Wissen ist für die Aneignung durch den Rezipienten in besonderem Maße zugänglich, da sich in den fiktionalen Darstellungen häufig die handlungsleitenden Themen der gesellschaftlichen Wirklichkeit widerspiegeln. Schon Aristoteles thematisiert das Verhältnis von künstlerischer und außerkünstlerischer Wirklichkeit mit dem Begriff der Mimesis: Dichtung definiert er (vgl. Poet. [Kap. 2]) als Nachahmung menschlicher Handlungen. Im Kontext der sozialkonstruktivistischen Theorie Berger/Luckmanns, nach der Wirklichkeit nur in und durch menschliches Handeln existiert, müsste es entsprechend heißen, dass die narrativ erschaffene Welt einen weiteren Wirklichkeitsentwurf hervorbringt. Dichtung beschränkt sich für Aristoteles allerdings nicht auf das genaue Abbild dessen, was wirklich geschehen ist, dies entspräche vielmehr der Geschichtsschreibung. Der Dichter solle stattdessen darstellen, „was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“ (ebd. [Kap. 9]). Die Freude an der dichterischen Nachahmung der Wirklichkeit erscheint für Aristoteles eng verknüpft mit der menschlichen Lust am Lernen: Die narrative Darstellung von Dingen, die in der Realität unerträglich sind, wie etwa unansehnliche Tiere oder Leichen, bereitet deshalb Freude, weil die Menschen durch sie „etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei“ (ebd. [Kap. 4]). Dinge, zu denen Menschen in der Wirklichkeit keinen Zugang haben, sei es aufgrund von mangelnden Möglichkeiten oder Unlust, werden in der Narration erfahrbar. Dichtung fungiert in aristotelischer Sicht somit als ein Mittel der Erkenntnis. Die Betrachtung von Medien als Instrumenten der Wirklichkeitskonstruktion tritt mit der zunehmenden Dominanz massenmedialer Inhalte im Alltag des 20. Jahrhunderts einerseits und der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft andererseits in den Mittel36 punkt kommunikations- und sozialwissenschaftlicher Forschungen. So befasst sich die Wissenssoziologie der siebziger Jahre zunehmend mit den kommunikativen Prozessen der Wissensvermittlung. Im Anschluss an die soziale Konstruktion der Wirklichkeit wendet sich etwa Luckmann der kommunikativen Konstruktion derselbigen zu. Unter Kommunikation versteht er zunächst jede Form der Informationsvermittlung. Erst wenn dieser auf Zeichen, beispielsweise der Sprache, basierende Prozess Teil von sozialen Handlungen ist, handelt es sich entsprechend um kommunikative Handlungen. 50 In kommunikativem Handeln konstruiert sich nach Auffassung Luckmanns (vgl. 2006: 2225) gesellschaftliche Wirklichkeit. Auch der Umgang mit Medien, die Rezeption von Medieninhalten, lässt sich als kommunikatives Handeln begreifen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie dieses sich konkret gestaltet, da zwar der Rezipient auf das Medium reagiert, etwa emotional, das Medium sich umgekehrt aber nicht auf das Verhalten des Rezipienten beziehen kann, da es über keinen Rückkanal verfügt. Im Rahmen der Rezeption mündlich oder audiovisuell vermittelter Geschichten meint kommunikatives Handeln daher nicht die wechselseitige Beobachtung und Reaktion von Medium und Rezipient mittels Zeichen, sondern die Beobachtung medialer menschlicher Interaktion durch den Rezipienten. Wie mit Aristoteles gezeigt wurde, erzählen Geschichten von miteinander interagierenden Menschen. Menschliche Handlungen werden entweder in der Vorstellung, wie im Falle mündlich vermittelter Geschichten, oder als audiovisuelle Darstellung durch den Zuschauer und Hörer beobachtbar. Da sich der Einzelne nicht selbst in der Interaktion beobachtet, sondern beobachtet, wie sich miteinander interagierende Individuen selbst beobachten, handelt es sich bei der Rezeption fiktionaler Geschichten gewissermaßen um eine Beobachtung zweiter Ordnung. Erst durch die Beobachtung, wie andere Menschen beobachten, handeln und kommunizieren, wird dem Individuum die Konstruiertheit seiner Wirklichkeit bewusst: Wirklichkeitsentwürfe variieren, da sie sich gemäß den biologischen, kognitiven und soziokulturellen Bedingungen der individuellen Lebensumwelt herausbilden (vgl. Schmidt 1994: 5). Dementsprechend versteht sich der Konstruktivismus auch als eine Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung (vgl. ebd.). Für Niklas Luhmann, Vertreter des operativen Konstruktivismus, bedeutet Erkennen Beobachten und somit Unterscheiden 51. In Die Realität der Massenmedien bestimmt 50 Soziales Handeln muss keineswegs kommunikativ sein. Knoblauch (vgl. 2005: 173) führt ein entsprechendes Beispiel an: Einem anderen Menschen Essen zu geben ist eine soziale Handlung, in der nicht kommuniziert wird, insofern das Essen nicht als Zeichen gedeutet wird. 51 Beobachten heißt, etwas durch Unterscheidung zu bezeichnen. Luhmann bezieht sich in seiner Systemtheorie auf die Arbeit des Neurobiologen Humberto Maturana. Dessen systematischer Ansatz definiert 37 Luhmann (vgl. 42009: 104) die Gewöhnung des Menschen an den Modus der Beobachtung zweiter Ordnung als eine wesentliche Aufgabe der Massenmedien und speziell des Programmbereiches Unterhaltung. Fiktionale Geschichten, die sämtliche Aspekte des menschlichen Lebens darzustellen vermögen, verleihen dem Rezipienten den Standpunkt eines uneingeschränkten Beobachters und gewähren ihm einen umfassenden Einblick in eine Variante einer narrativen Wirklichkeitskonstruktion. Dieser Einblick wiederum lässt deswegen individuelle Rückschlüsse auf die soziale Wirklichkeit zu, weil letztere durch die narrative Realität repräsentiert wird. Die fiktionalen Narrationen der Massenmedien bilden für Niklas Luhmann einen Realitätsausschnitt, in dem mit optischen und akustischen Mitteln eine zweite Welt konstituiert wird. In dieser Welt gilt eine eigene fiktionale Realität, die Luhmann mit der Welt des Spiels52 gleichsetzt. Gerade die Differenz von realer und fiktionaler Realität produziert den Unterhaltungswert von Unterhaltungskommunikation (vgl. ebd.: 78f.). Gleichzeitig muss die dargebotene zweite Realität auf bereits vorhandenes Wissen des Rezipienten Bezug nehmen: Um aus den Narrationen Rückschlüsse auf die individuelle Wirklichkeit ziehen zu können, muss die fiktionale an die reale Realität anknüpfen. „Unterhaltung hat insofern einen Verstärkungseffekt auf schon vorhandenes Wissen. Aber sie ist nicht, wie im Nachrichten- und Berichtsbereich, auf Belehrung ausgerichtet“, schreibt Luhmann (ebd.: 75). Ihren „heimlichen Lehrplan“ tarnen orale und audiovisuelle Erzählungen, indem sie dem Rezipienten in vergleichbarer Weise Vergnügen bereiten wie die Situation des Spiels53. Unbewusst werden Zuschauer und Hörer dazu gebracht, sich selbst als Beobachter von Beobachtungen zu begreifen und ähnliche Einstellungen und Verhaltensweisen in sich selbst zu entdecken (vgl. ebd.: 76): „Man lernt Beobachter beobachten und zwar im Hinblick auf die Art, wie sie auf Situationen reagieren, also: wie sie selber beobachten.“ (ebd.: 78). Somit bilden die medial angebotenen Verhaltensmodelle für den Rezipienten einen Orientierungsrahmen, in dem er sein eigenes Verhalten in dem Bewusstsein ausrichten kann, dass dieses gesellschaftlich akzeptiert ist. Geschichten erWirklichkeit als ausschließlich durch die Operationen eines Beobachters konstituierten Wirklichkeitsbereich (vgl. Riegler 2008: 323f.). 52 Im Konzept des Spiels treffen sich Luhmanns (vgl. 42009: 74) These, im Programmbereich Unterhaltung werde die Beobachtung zweiter Ordnung erlernt, und Meads (vgl. 1973: 192f.) Vorstellung, dass das Kind durch das Spiel die Fähigkeit zur Rollenübernahme und damit zur wechselseitigen Beobachtung erlernt. 53 Aktuelle medienpsychologische Ansätze bestimmen Unterhaltung als eine besondere Form des Spiels nach der Definition Johan Huizingas (vgl. Schwab 2008: 243). In seinem Werk Homo ludens (1938) untersucht Huizinga die Rolle des Spiels in verschiedenen Bereichen der Kultur und kommt zu dem Schluss, dass der Mensch seine Fähigkeiten vor allem über das Spiel entwickelt (vgl. hierzu auch die funktionale Bestimmung des Spiels bei Luhmann und Mead). 38 möglichen und gewährleisten so die Selbstverortung des Individuums in der dargestellten Welt. Auch wird dieses sich hierdurch seiner eigenen Identität im Kontext der gesellschaftlichen Wirklichkeit gewahr: „Unterhaltung re-imprägniert das, was man ohnehin ist“ (ebd.: 75). Es gibt keine Geschichte, die sich zur Illustration dieser These nicht als Beispiel anführen ließe; ebenso wie umgekehrt keine Facette des menschlichen Verhaltens denkbar ist, die narrativ noch nicht inszeniert worden wäre. Dies betrifft so alltägliche Situationen wie das Verhalten in Liebesbeziehungen54, aber auch aktuelle Zustände, die bedeutend für die Zukunft einer Gemeinschaft sind und zu welchen sich das Individuum positionieren muss. So ist etwa im Kontext der Debatte um die Zukunft Deutschlands als Immigrationsland das sogenannte Migrantenkino, Filme über und von Migranten, relevant. Filme wie 40 QM DEUTSCHLAND (D 1985, Tevfik Başer) und IN THIS WORLD (GB 2002, Michael Winterbottom) zeigen das Schicksal von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen in einer Gesellschaft, die ihnen fremd ist und in der sie als Fremde gelten. Durch die erzählerische Gegenüberstellung von Fremden und Einheimischen stellen diese Narrationen eine Aufforderung an den Zuschauer dar, sich in einer der beiden Gruppen zu verorten. Zu der ihm unmittelbar zugewiesenen Rolle kann der Rezipient in Auseinandersetzung etwa mit den afghanischen Flüchtlingen Jamal und Enayat im Film IN THIS WORLD Stellung beziehen und eigene Denk- und Verhaltensweisen gegenüber der anderen Gruppe hinterfragen. Zwar ermöglichen Unterhaltungsangebote dem Zuschauer, Rückschlüsse auf die eigene Person vorzunehmen, dieser Effekt lässt sich laut Luhmann (42009: 78) jedoch nicht mit dem Konzept der Analogiebildung und der Nachahmung erfassen: „Man wird nicht zur Angleichung eigenen Verhaltens motiviert“55. Da die psychologischen Effekte der Rezeption fiktionaler Narration zu komplex und individuell verschieden sind, um vorhersehbar zu sein, lässt Luhmann sie in seiner Theorie der massenmedialen Kommunikation außen vor.56 Dass mediale Unterhaltungsangebote Gelegenheiten zum Lernen bieten (vgl. ebd.: 75), ist dadurch nicht ausgeschlossen. Dies muss sogar der Fall sein, 54 Liebesgeschichten sind ein elementarer Bestandteil von Erzählungen. Während sie in Action- und Kriminalfilmen häufig Nebenhandlungen sind, kreisen etwa romantische Komödien ausschließlich um die Annäherung, Trennung und das erneute Zueinanderfinden zweier Menschen. Filme wie FRIENDS WITH BENEFITS (USA 2011, Will Gluck) und NOTTING HILL (GB/USA 1999, Roger Michell) prägen und geben Auskunft über die gesellschaftlichen Konventionen in Liebesbeziehungen. 55 In einer ergänzenden Fußnote (vgl. 42009: 78) schließt Luhmann nicht aus, dass gewisse Nachahmungseffekte, vor allem in Bezug auf das Aussehen und Auftreten, aus der Rezeption von Unterhaltungsangeboten resultieren. 56 Im Rahmen eines operativen Konstruktivismus geht es Luhmann (vgl. 42009: 78) um die Tatsache, dass jede im fiktionalen Bereich der Imagination ablaufende Operation auch auf die reale, gewusste Realität referenziert. 39 da nach Luhmann (vgl. ebd.: 105) die Realität der Massenmedien – die Realität der Beobachtung zweiter Ordnung – die Wissensvorgaben ersetzt, die in früheren Gesellschaftsformen etwa durch Weise oder Priester bereitgestellt wurden. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, lautet Luhmanns (ebd.: 9) programmatische Formel. In ihren Darstellungen machen Massenmedien die Gesamtheit des sozialen Wissens erfahrbar, welches sich der individuellen, unmittelbaren Erfahrung in der realen Wirklichkeit größtenteils entzieht. In der Aneignung medialer Wirklichkeitskonstruktionen durch den Rezipienten wirken dann mediale und reale Wirklichkeit derart ineinander, dass das medial Wahrgenommene einer Konsistenzprüfung mit der individuellen Wirklichkeitsannahme unterzogen wird (vgl. ebd.: 83) und es hiernach im besten Fall Bedeutung im Leben des Rezipienten erlangt (vgl. Keppler 2005: 102f.).57 Die Luhmannsche Formel deutet eine Entwicklung an, die mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ihren Anfang nahm und die gegenwärtig durch die Komplexität derselbigen sowie die Individualisierung ihrer Mitglieder geprägt ist. Da die alltägliche Wirklichkeit von ihrer Kommunizierbarkeit abhängt, entsprechen elektronische Medien dem gegenüber antiken Gemeinschaften erhöhten Bedarf an sozialer Koordination, indem sie mit Hilfe technischer Mittel zur Überbrückung von Distanzen und zur Verteilung von Wissen beitragen (vgl. Hejl 1994: 58). Darüber hinaus nehmen Medien im Alltag, zumindest der westlichen Gesellschaften, eine derart zentrale Rolle ein, dass sie als integraler Bestandteil desselbigen betrachtet werden müssen. Für die Realität der sozialen Verhältnisse sind Massenmedien konstitutiv. Die Wechselwirkung von sozialer und medialer Wirklichkeit wird demnach als eigenständiger Prozess der Wirklichkeitskonstruktion bestimmt (vgl. Keppler 2005: 95). Nichts anderes meint eine mögliche Lesart des Luhmannschen Titels Die Realität der Massenmedien. Insofern in den vermittelten Geschichten das Wissen einer Gesellschaft beobachtbar ist, fungieren Medien als Instrumente der kommunikativen Verknüpfung zwischen Individuum und Gesellschaft. Medienrezeption als kommunikatives Handeln ist zugleich sinnvermittelnd und strukturbildend (vgl. Knoblauch 2005: 173). Die aktive Aneignung des oral und audiovisuell vermittelten Wissens bewirkt in Abhängigkeit von der individuellen Entwicklungsphase des Rezipienten den Aufbau kognitiver Strukturen, etwa in der Primärsozialisation des Heranwachsenden, die Festigung kognitiver Strukturen im 57 Keppler (vgl. 2005: 104) bezeichnet die im Gebrauch von Medien hervorgebrachten Bedeutungen als wirklichkeitsrelevantes Orientierungswissen. 40 lebenslangen Prozess der Sozialisation oder auch die Modifikation kognitiver Muster durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Fiktionale Geschichten eignen sich zur Beobachtung und Aneignung des sozialen Wissens in besonderem Maße, wie von Luhmann in Bezug auf den massenmedialen Programmbereich Unterhaltung illustriert. Die vermittelnde Form des innerhalb einer Gemeinschaft Wissbaren, „ein Sammelsurium von Maximen, Moral, Sprichwortweisheit, Werten, Glauben […], dessen Integration eine beträchtliche geistige Kraft benötigt“ (Berger/Luckmann 1969: 70), ist heute dieselbe wie zu Zeiten Homers. Begründen lässt sich dies mit der Wirkung, die sowohl auditive und visuelle Reize als auch Erzählstrukturen auf die Kognition haben. Dass das Unterhaltungserleben, welches die Medienrezeption begleitet, die Aneignung narrativer Wirklichkeiten begünstigt, wird im Folgenden dargelegt. 3.3 Sinnliches Erleben und Wissenserwerb „Die Kunst hat in sich eine unbegrenzte Fähigkeit der geistigen Übertragung […]. Nur sie besitzt gleichzeitig jene Allgemeingültigkeit und erlebnishaft unmittelbare Sinnfälligkeit, die die beiden wichtigsten Bedingungen der erzieherischen Wirkung sind“, schreibt Werner Jaeger (21936: 65) unter Würdigung der homerischen Epen. In dieser Fähigkeit übertrifft die Kunst nach Ansicht Jaegers (vgl. ebd.) sogar das wirkliche Leben, welches sich zwar durch Sinnfälligkeit auszeichnet, dessen Erlebnisse jedoch der Allgemeingültigkeit entbehren. Dem Mythos hingegen wohnt etwas Allgemeingültiges inne (vgl. ebd.: 70f.): Als unerschöpflicher Vorrat an heroischen Vorbildern ist er die maßgebende Instanz für das menschliche Handeln. Die „erlebnishaft unmittelbare Sinnfälligkeit“ (ebd.: 65) von Narrationen ist längst nicht nur ein Produkt ihrer Form58, sondern resultiert auch aus der Form ihrer Vermittlung. Menschliches Erleben, und somit auch die Medienrezeption als eine spezifische Art des Erlebens, involviert sowohl kognitive als auch emotionale Prozesse (Trepte/Reinecke 2013: 77). Die Aneignung und kontinuierliche Festigung von Wissen durch die kognitive Wahrnehmung, Verarbeitung und Speicherung von Geschichten wird von der rhapsodischen und audiovisuellen Darstellung insofern begünstigt, als diese das sinnli58 „Erzählen bedeutet […], eine sinnhaft, phantasiegeleitete Organisation von Ausschnitten des Geschehens herzustellen und damit Sinn zu stiften, Anfang und Ende eines Geschehens zu bestimmen […]. Sinnstiftung besteht gerade darin, daß Anfang und Ende in einen Bezug zueinander gesetzt werden, und daß die einzelnen Elemente in ein beziehungsreiches Gefüge eingeordnet werden“ (Hickethier 32001: 120). Vgl. Kapitel 4.2. 41 che Erleben in den Mittelpunkt stellen. Aus der auditiven und visuellen Wahrnehmung der Stimme und des Körpers von Sänger und Schauspieler resultieren in Verbindung mit der Handlungsstruktur der verkörperten Geschichte emotionale Reaktionen aufseiten des Rezipienten. Befinden sich die hervorgerufenen Emotionen in Einklang mit den individuellen Zielen der Mediennutzung, etwa Stimmungsausgleich, Entspannung oder sozialer Kontakt, empfinden Rezipienten Vergnügen. Diesen Gefühlszustand, der starke Verbindungen zwischen emotionalen und kognitiven Prozessen herzustellen vermag, bestimmt die medienpsychologische Forschung als Unterhaltungserleben (vgl. ebd.: 96). Unterhaltung und Lernen schließen sich demnach keineswegs aus. Für den Erwerb geistiger und sozialer Kenntnisse ist die emotionale Einbindung des Lernenden in den Prozess der Aneignung wesentlich. Wird der Rezipient in einen positiven Gefühlszustand versetzt, wie dies von Narrationen intendiert wird, erfolgt die Aneignung der vermittelten Inhalte fast beiläufig, ohne dass sich der Rezipient dessen bewusst ist.59 Diese Art des Lernens hat demnach eine völlig andere Qualität als die bewusste Aneignung eines enzyklopädischen Wissenskanons, wie ihn etwa die Schulbildung vermittelt. In der oralen griechischen Kultur meint Lernen die ständige Abfolge von Einprägen, Wiederholen und Erinnern epischer Dichtung (vgl. Havelock 1963: 157). Nicht nur der Rhapsode eignet sich im Rahmen seiner Ausbildung auf diese Weise den Inhalt seiner Darbietungen an. Alle Griechen durchlaufen diesen Prozess etwa im Kontext musikalischer Agone: Spiele, bei denen Rhapsoden gegeneinander antreten und beispielsweise Homerverse rezitieren (vgl. Rachet 2002: 245). Solche Agone sind ein wesentlicher Bestandteil des öffentlichen Lebens im antiken Griechenland und häufig eingebettet in größere Feierlichkeiten wie etwa die Panathenäen, ein zu Ehren der Göttin Athene von den Athenern begangenes Fest (vgl. ebd.: 224). In der ausgelassenen und freudvollen Atmosphäre des Festes entfaltet die Dichtung ihre erzieherische Wirkung, indem sich das Publikum mit dem Inhalt und der Performanz der rhapsodischen Darbietung emotional identifiziert. Die Verschmelzung der Perspektive, der Gefühle und Einstellungen des Rezipienten mit denen des Rhapsoden, der sich seinerseits vollständig mit der Narration identifiziert, ist ein Produkt des emotionalen Involvements60 (vgl. Havlock 1963: 159) des Rezipienten in das Geschehen. Das Denken und Fühlen des Publikums geht vollständig in der rhapsodischen Darbietung auf. 59 Diese Strategie verfolgen die im Vorherigen benannten televisuellen Edutainmentprogramme. Das Involvement beschreibt die Intensität der Auseinandersetzung mit einem Medienstimulus in der Rezeption (vgl. Trepte/Reinecke 2013: 106). 60 42 Die hohe Intensität der emotionalen und kognitiven Interaktion zwischen Medium und Rezipient beruht zum einen auf der medialen Darstellung – der rhythmischen Bewegung von Sängerkörper, musikalischer Begleitung und Stimme – und zum anderen auf der Form des Mythos. In der dramatischen Handlung reiht sich ein Ereignis an das andere. Das geistige Durchleben der ereignisreichen Handlung im Prozess des Erinnerns ruft zunächst entsprechende Körperreflexe des Rhapsoden hervor, die sich während der Darbietung auch auf das Publikum übertragen: „The oral audience participated […] by active participation in the language used. They clapped and danced and sang collectively, in response to the chanting of the singer” (ebd.: 78). Die rhythmischen Körperbewegungen setzen das Unbewusste der menschlichen Psyche frei und entlasten das Bewusstsein somit von Spannungen, Sorgen und Ängsten. Havelock (vgl. ebd.: 152) bezeichnet diesen Zustand als Hypnose. In ihm liegt das sinnliche Vergnügen begründet, ohne das der Mythos und damit die griechische Paideia wirkungslos sind, garantiert es doch die unmittelbare Akzeptanz (vgl. ebd.: 157; Robb 1994: 166f.) des enzyklopädischen Wissens durch das Publikum und damit die unreflektierte Nachahmung der narrativ vermittelten Verhaltensmuster. Im Gegensatz zu nachfolgenden und in der Gegenwart vorherrschenden Lernmethoden 61 ist die moralische und praktische Unterweisung der Mitglieder oraler Gemeinschaften untrennbar mit deren persönlichen Neigungen und mit einem positiven Gefühlszustand, einem Unterhaltungserleben, verbunden: „The pull between the pleasurable inclination to act in one way and the unpleasant duty to act in another way was relatively unknown” (Havlock 1963: 158). Doch schon Platon kritisiert die Verschränkung von Erziehung und Dichtung, und damit die sinnliche Erkenntnisform überhaupt, aufgrund des epischen Vermögens, die Gefühle und damit das Irrationale, Unbewusste, der menschlichen Seele anzusprechen (vgl. ebd.: 26). All jene Qualitäten der Vermittlung der griechischen Paideia, gegen die sich Platon wendet, verdichten sich in seiner Definition des Begriffs Mimesis in der Politeia: „The term mimesis is chosen by Plato as the one most adequate to describe both re-enactment and also identification, 61 Insofern der Prozess des Lernens, des Wissenserwerbs, die individuelle Wirklichkeitskonstruktion betrifft, hinterfragt die moderne Wissenspsychologie auch die Methoden des Lehrens. Vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Didaktik wird Lehren als Versuch gesehen, die Umwelt des Lernenden so zu verändern, dass dieser die kognitiven Strukturen aufbaut, die ihm vermittelt werden sollen (vgl. Müller 1996a: 62). Als eine Spielart einer „konstruktivistisch fundierten Lernumgebung“ (Müller 1996b: 87) beschreibt Müller (vgl. ebd.: 87f.) etwa die simulierte Situiertheit, also die Einbettung lernrelevanter Situationen in mediale Darstellungen. Durch die Integration von Problemsituationen in den authentischen, kohärenten Sinnzusammenhang narrativer Formen etwa, wird Wissen sogleich im Anwendungskontext erworben. Daher sind auch handlungsorientierte Arbeitsformen wie Rollenspiele lernfördernd. 43 and as one most applicable to the common psychology shared both by artist and by audience” (ebd.: 160). Aristoteles hingegen misst nicht nur dem Mimetischen eine positive Bedeutung bei (vgl. Kapitel 2.2), auch betont er die entlastende Wirkung der Kunst: Die Handlung der Tragödie etwa soll so konstruiert sein, dass sie Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch „eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirk[t]“ (Aristot. poet. [Kap. 6]). Aus der Erregung von Affekten und der anschließenden seelischen Reinigung (Katharsis) resultiert zum einen die Freude der Zuschauer an der tragischen Mimesis, zum anderen spricht Aristoteles diesen Kräften eine bildende Wirkung zu. Der Zusammenhang von Wirkungsabsicht und Affekterregung bleibt in der Geschichte der Dramentheorie von zentraler Bedeutung (vgl. Schiewer 32007: 7). Insbesondere in der Aufklärung und der Klassik wird er unter Rückbesinnung auf die Antike aktualisiert. In dieser Zeit entwickelt sich das Theater zu einem Leitmedium der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft. Theatertheoretiker und -praktiker des 18. Jahrhunderts rühmen das Theater als unverzichtbares Mittel zur Erziehung des Menschen (vgl. Hentschel 2005: 1). Für Johann Christoph Gottsched, mit dem die Entwicklung des Theaters zu einer bürgerlichen Institution ihren Anfang nimmt, soll die dramatische Handlung jeweils einen moralischen Lehrsatz veranschaulichen (vgl. Dörr 2009: 8). Dass „das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll“ (Lessing 31978: [2. Stück]) ist auch der zentrale Gedanke von Lessings Theaterreform, die er in seinem periodisch erscheinenden Journal Hamburgische Dramaturgie (1767/68) formuliert. Wie Gottsched orientiert sich auch Lessing am antiken Vorbild der aristotelischen Poetik und interpretiert sie vor dem Hintergrund der Aufklärungsphilosophie (vgl. Hentschel 2005: 5). Im Mittelpunkt seines Interesses steht die poetische Wirkungsästhetik, die bei der Ausübung der sozialen Funktion des Theaters zielführend sein soll (vgl. ebd.: 4f.). Erst im Gefühlserlebnis der Zuschauer erfüllt sich für Lessing die ethische und politische Funktion des Bühnengeschehens. Die aristotelischen Affekte Phobos und Eleos übersetzt Lessing mit Furcht und Mitleid.62 Im Mitleiden mit dem Schicksal der Charaktere und der Furcht des Rezipienten, von einem ähnlichen Schicksal ereilt zu werden, erfüllt sich für Lessing die Reinigung (Katharsis) des Menschen von seinen Leidenschaften und damit seine moralische Besserung (vgl. Dörr 2009: 10ff.). Um diesen Zu- 62 Lessing verleiht dem Begriffspaar Phobos und Eleos mit seiner Übersetzung eine moralische Konnotation, die außerhalb des aristotelischen Verständnisses von zwei lediglich starken Affekten liegt. Erst die Übersetzung der Poetik durch Manfred Fuhrmann (vgl. 1982: 162f.) rehabilitiert die intendierte Bedeutung der Begriffe, indem sie mit Jammer und Schaudern übersetzt werden. 44 stand zu erreichen, sind Charaktere notwendig, mit denen sich der Zuschauer identifizieren kann. Die darstellenden Figuren müssen sich deshalb durch Eigenschaften auszeichnen, die dem Rezipienten aus seiner Alltagswelt bekannt sind. Lessing entwirft daher das Konzept der ‚vermischten Charaktere’, die in ihrem sittlichen Verhalten nicht vollkommen sind und dadurch der Lebenswelt des Zuschauers nahe stehen (vgl. Hentschel 2005: 5): „diese Vermischung muß sich in jedem dramatischen Gemälde von Sitten finden, weil es zugestanden ist, daß das Drama vornehmlich das wirkliche Leben abbilden soll“ (Lessing 31978: [92. Stück]). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts legitimiert auch Friedrich Schiller das Theater als Träger von Religion und Gesetz in einer Rede vor der Kurfürstlichen Deutschen Gesellschaft. In der daraufhin erscheinenden Abhandlung Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1802) betont Schiller unter Bezugnahme auf die Bedeutung des Theaters im antiken Griechenland auch das Vermögen der Bühne, den Nationalgeist eines Volkes zu formen. Nur die Schaubühne kann „die Ähnlichkeit und Übereinstimmung seiner [des Volkes] Meinungen und Neigungen“ (Schiller 1906: 60) bewirken, „weil sie das ganze Gebiet des menschlichen Wissens durchwandert, alle Situationen des Lebens erschöpft und in alle Winkel des Herzens hinunter leuchtet; weil sie alle Stände und Klassen in sich vereinigt und den gebahntesten Weg zum Verstand und zum Herzen hat“ (ebd.). In der beschriebenen Wirkung der Bühne auf Verstand und Herz deutet sich an, dass der moralisch erziehende Effekt im schillerschen Denken einhergeht mit einer Gefühlsregung. Unterhaltung und Erziehung gehen im Theater eine Allianz ein: Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet […]. Wenn Gram an dem Herzen nagt, wenn trübe Laune unsre einsamen Stunden vergiftet, wenn uns Welt und Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seele drücken und unsre Reizbarkeit unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht, so empfängt uns die Bühne – in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wieder gegeben, unsre Empfindung erwacht (ebd.: 61). Die rhapsodische Darbietung und das Theater stehen somit in einer wirkungsästhetischen Tradition, die sich in der medialen Gegenwart in den Audiovisionen von Film und Fernsehen fortsetzt. Lessing stellt die handelnden Charaktere in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Affekterregung im Drama und verweist damit auf einen Zusammenhang, der in Versuchen, die Effekte von Medienangeboten zu beschreiben, von zentraler Bedeutung ist. Wie mit den Vertretern des Sozialkonstruktivismus gezeigt wurde, ist die individuelle 45 Aneignung symbolisch vermittelten Wissens in einen personalen Interaktions- und Kommunikationszusammenhang eingebettet. Der Darstellung handelnder Personen kommt in der Narration daher eine besondere Bedeutung zu. Obgleich die sinnliche Wahrnehmung der Körperlichkeit des Handelnden durch die technische Vermittlung stark beeinträchtigt wird, verstärkt die „Parzellierung des ganzheitlichen Ausdrucks“ (Hickethier 32001: 171) die Intensität des Darstellens: Ausdrücke des Schauspielerkörpers, etwa ein von Tränen überströmtes Gesicht oder die vor Wut geballte Faust, wirken in der Großaufnahme unmittelbar und intensivieren die Wahrnehmung des Geschehens. Ebenso wie die mediale Inszenierung beeinflusst auch die Figurengestaltung die Intensität der Interaktion zwischen Rezipient und Medienfigur. Nur wenn letztere einen kohärenten Charakter erkennen lässt, werden ihre Handlungen für den Zuschauer nachvollziehbar. Die Glaubwürdigkeit der Medienfigur entscheidet darüber, ob der Rezipient gewillt ist, an ihrem Schicksal teilzuhaben. Beispielsweise wird es dem Zuschauer leicht gemacht, Vincents (vgl. VINCENT WILL MEER, D 2010, Ralf Huettner) Erkrankung, seine durch sie bedingten Tics und ausfallenden Verhaltensweisen nachzuvollziehen, da das Spiel dieser Figur auch und vielleicht vor allem dann überzeugt, wenn der Zuschauer selbst nicht vom Tourette-Syndrom betroffen ist. Obgleich dieser selbst keine persönliche Erfahrung mit der Erkrankung haben mag, sich vielleicht kaum etwas unter ihr vorstellen kann und Betroffene im alltäglichen Leben möglicherweise meiden würde, entspricht Vincents Verhalten womöglich der Vorstellung, die der Rezipient sich mittels anderer Quellen von Menschen mit Tourette-Syndrom gemacht hat, und überzeugt durch seine Konsistenz. Entwickelt der Zuschauer oder Hörer affektive Anteilnahme mit den Protagonisten fiktionaler Narrationen, verschmelzen die Perspektiven, sodass sich der Rezipient für einen begrenzten Zeitraum in verringertem Maße selbst und als eigenständigen sozialen Akteur wahrnimmt (vgl. Trepte/Reinecke 2013: 102).63 Die temporäre Übernahme der Eigenschaften und Gefühle der medialen Figur im Prozess der Identifikation lässt den Rezipienten auch deren Werte und Verhaltensweisen, ihre Art der Weltsicht, entdecken und bewerten. Das durch die charakterliche Vielfalt der handelnden Figuren entworfene „Tableau verschiedener Verhaltensdimensionen“ (Hickethier 32001: 128) bietet vielfäl- 63 In der Kognitionsforschung wird die Identifikation des Individuums mit anderen Personen im Rahmen der Theory of Mind behandelt. Diese beruft sich auf die Fähigkeit des Menschen, sich vom Innenleben anderer Personen eine Vorstellung machen zu können, sodass deren Erleben in ihm die Emotionen auslöst, von denen er annehmen kann, dass es diejenigen der anderen Person sind (vgl. Schwender 2001: 78ff.). 46 tige Anreize für die Reflexion eigener Handlungsentwürfe. 64 Hierfür besonders anregend ist die Gegenüberstellung von angemessenem und normwidrigem Verhalten, die vor allem in Kriminalfilmen, etwa aus der Fernsehreihe TATORT, deutlich ausgeprägt ist. Indem eine Tat von der Polizei zu einem Normverstoß der Täter erklärt wird, geben Kriminalgeschichten Auskunft über die Werteauffassung einer Gesellschaft. Sie zeigen auf, welche Art des Verhaltens der geltenden Ordnung zuwiderläuft. Auch in dem Fall, dass der Zuschauer die Motive des Verbrechers nachvollziehen kann und an seinem Schicksal Anteil nimmt, wird ihm dadurch, dass der Täter am Ende gefasst und sein Verbrechen durch die Polizei geahndet wird, suggeriert, dass das Bestreben, regelwidrig zu handeln, nicht lohnenswert ist. Während die emotionale Totalidentifikation mit einem heroischen Vorbild für die Beziehung zwischen dem Rhapsoden und der griechischen Gemeinschaft prägend ist, stellen audiovisuelle Medienfiguren lediglich Identifikationsangebote dar: In der medialen Gegenwart ist der Modus des Beobachtens vorherrschend. Wie mit Luhmann gezeigt wurde, nimmt sich das Individuum in der Rezeption von Unterhaltungsangeboten als Beobachter von Beobachtungen und demnach vorwiegend als einen von der Medienfigur getrennten sozialen Akteur wahr. Insofern die Medienrezeption aber ein kommunikatives Handeln darstellt, kann in ihr die Illusion einer wechselseitig aufeinander bezogenen Reaktion zwischen Zuschauer und Figur entstehen. Etwa wenn sich in dem Film LA VIE D’ADÈLE (F/B/E 2013, Abdellatif Kechiche) Emma von ihrer Freundin Adèle trennt, weil diese sie aus Einsamkeit betrogen hat. In diesem Moment kann die Perspektive des Zuschauers so stark mit der Adèles verschmolzen und der Eindruck einer direkten Interaktion mit Emma so stark sein, dass der Zuschauer ebenso in Tränen ausbricht wie die Medienfigur Adèle. Seit Donald Horton und Richard Wohl (Mass Communication and Para-social Interaction, 1956) wird diese Art der Auseinandersetzung mit einer Medienfigur als parasoziale Interaktion bezeichnet. Ausgehend von ihrer Beobachtung, dass Moderatoren von Fernsehnachrichten die Illusion eines Face-to-Face-Kontaktes vermitteln, übertragen sie das Konzept der sozialen Interaktion auf die Mediensituation (vgl. Trepte/Reinecke 2013: 98). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass mediale Figuren, Personae genannt, in der Wahrnehmung ähnliche kognitive und emotionale Prozesse auslösen, wie 64 Heike Klippel (1997: 174) beschreibt das Kino als einen Ort, „an dem an tausend Handlungsmöglichkeiten gerührt wird, wobei der Zuschauer in Ruhe gelassen und zu nichts verpflichtet wird. Es ist damit ein Ort der Reflexion.“ 47 die personale Interaktion (vgl. Hartmann/Schramm/Klimmt 2004: 26).65 Die Adressierung des Rezipienten durch die Personae erfolgt entweder direkt, mit einer Mitteilungsabsicht wie im Falle eines Nachrichtensprechers, oder aber indirekt in der Beobachtung interagierender Personae durch den Zuschauer. In letzterem Fall gründet sich die Adressierung auf implizite Handlungsaufforderungen, die den interagierenden Medienfiguren insofern inhärent sind, als sich ihr Handeln immer an ein Publikum richtet (vgl. ebd.: 39).66 Indem der Zuschauer das Kommunikationsangebot annimmt, löst er sich aus seiner Beobachterposition und reagiert auf das mediale Angebot in Form parasozialer Interaktionen. Diese beinhalten nach der Konzeptualisierung von Hartmann/Schramm/Klimmt (ebd.: 30) affektive (ausgelöste Emotionen), konative (beobachtbare Verhaltensäußerungen) sowie perzeptiv-kognitive (Aspekte der Wahrnehmung und des Denkens) Prozesse. Letztere stellen eine Beziehung zwischen Personae und Rezipient her sowie infolgedessen einen unbewussten Vergleich zwischen dem beobachteten Verhalten der Medienperson und den Fähigkeiten und Eigenschaften, dem Selbst(bild), des Rezipienten (vgl. ebd.: 33). Selbstbilder können durch die in der Narration erfolgreich oder nicht erfolgreich handelnden Personae entweder bestätigt oder erschüttert werden. Auch die Verwicklung des Rezipienten in ihm bisher unbekannte Verhaltensweisen und somit die Generierung neuen sozialen Wissens ist denkbar. Aus der Beziehung zu Medienpersonen können Muster 67 erwachsen, in denen Selbstbild, Personae und situatives Interaktionsschema derart verschmelzen, dass sie das künftige Handeln des Zuschauers in alltäglichen Situationen beeinflussen. Medienpersonen können somit, wie etwa Claudia Wegener (vgl. 2007: 197) hinsichtlich der Medienrezeption Jugendlicher bemerkt, regelrecht zu Sozialisationsagenten werden.68 65 Verschiedene Eigenschaften sowohl der Rezipienten als auch der Medienpersonen beeinflussen die Intensität parasozialer Beziehungen, etwa die Art der Adressierung durch die Medienfigur, deren mediale Präsenz sowie die Motivation des Publikums (vgl. Hartmann/Schramm/Klimmt 2004: 37). 66 Umgekehrt kann die Reaktion des Zuschauers aufgrund des fehlenden Rückkanals keinen Einfluss auf das Verhalten der Personae nehmen. 67 Durch die wiederholte parasoziale Interaktion mit einer Personae im Laufe mehrerer Rezeptionssequenzen, wie etwa im Falle einer Fernsehserie oder eines mehrteiligen Films, speichert der Zuschauer Informationen über die Medienperson. In der kognitiven Repräsentation der Personae stabilisieren sich die Interaktionsmuster und nehmen die Form einer parasozialen Beziehung an (vgl. Hartmann/Schramm/ Klimmt 2004: 10f.). 68 Hartmann/Schramm (vgl. 2007: 216) betonen die Bedeutung der parasozialen Interaktion für die Identitätsentwicklung bei Jugendlichen. Eine Analyse parasozialer Interaktionen und deren Stimulation neuer Verhaltensmuster im Kontext eines indischen Radio-Edutainment-Programms legten Michael Papa et al. (vgl. 2000) vor. 48 Ein Beispiel stellt der international erfolgreiche Spielfilm HIGH SCHOOL MUSICAL (USA 2006, Kenny Ortega) dar, der zweimal mit derselben Besetzung fortgesetzt wurde (vgl. HIGH SCHOOL MUSICAL 2, USA 2007; HIGH SCHOOL MUSICAL 3: SENIOR YEAR, USA 2008). Während die ersten beiden Teile in Deutschland erstmals im Disney Channel ausgestrahlt wurden, wurde der dritte Teil für das Kino produziert. In Deutschland belegt er unter den erfolgreichsten Kinofilmen des Jahres 2008 Platz 15 (vgl. InsideKino 2012). Im Mittelpunkt der Filmhandlung stehen Troy Bolton, Kapitän des Basketballteams Wildcats der East High School, und die Musterschülerin Gabriella Montez. Während eines Karaoke Singens entdecken beide ihre Leidenschaft für den Gesang sowie füreinander und bewerben sich daraufhin für die Hauptrolle des alljährlich stattfindenden Schulmusicals. Gesangseinlagen und Tanzperformances sind wesentliche Elemente des Films und seiner Fortsetzungen. Wie bei einer Serie erleben die jugendlichen Zuschauer die Entwicklung der Protagonisten über einen langen Zeitraum hinweg. Gegenstand des letzten Teils ist schließlich das Abschlussjahr von Troy und Gabriella. Thematisiert wird in diesem Zusammenhang die Frage nach der richtigen Studienwahl, die sich auch der jugendliche Zuschauer einmal stellen wird. Letzterer lernt anhand der Interaktion der handelnden Figuren, dass Entscheidungen, die die persönliche Zukunft beeinflussen, nicht voraussetzungslos sind, sondern im Spannungsfeld zwischen den persönlichen Neigungen und den Erwartungen der Gesellschaft erfolgen. So ist Troy, für den aus Sicht seines Vaters nur das Basketballstipendium der University of Albuquerque in Frage kommt, zwischen den Erwartungen seiner Familie, seiner Leidenschaft sowohl für den Sport als auch für das Musical sowie seiner Freundin Gabriella, die in Stanford studieren wird, hin- und hergerissen. Letztendlich entscheidet sich Troy, in Berkeley zu studieren, wo er nicht nur Basketball, sondern auch Theater spielen kann und wo er nur eine Autostunde vom Studienort seiner Freundin entfernt sein wird. Für den Rezipienten hält der Film folglich die Botschaft bereit, dass man sich nicht zwangsläufig für das eine und gegen das andere entscheiden muss, sondern mit Hilfe von Kompromissen eine Lösung finden kann, die sowohl den gesellschaftlichen Erwartungen als auch den persönlichen Ansprüchen gerecht wird. Darüber hinaus exemplifiziert HIGH SCHOOL MUSICAL 3: SENIOR YEAR viele weitere Verhaltensdimensionen, die das Erwachsenwerden markieren und dem Zuschauer als Anknüpfungspunkt dienen können. Etwa wenn Troys bester Freund Chad ihm gegenüber äußert „Das weiß man doch, dass man nicht mit seiner High School-Freundin zusammen bleibt“ (01:19:40), Troy aber bewusst ist, dass Gabriella ihm so viel bedeutet, dass er sich entgegen des gesellschaftli49 chen Konsens für ein Studium in ihrer Nähe und die Fortführung der Beziehung entscheidet. Nachdem der Zuschauer nach zwei Vorgängerfilmen bereits eine Beziehung zur Personae Troy aufgebaut hat, kann deren Handeln ihm in einer vergleichbaren realen Situation durchaus als Vorbild dienen. Die Übertragung der Prämissen des Sozialkonstruktivismus auf die mediale Rezeptionssituation untermauert die Annahme, dass das von einem Unterhaltungserleben begleitete Hören von Geschichten und Sehen von Spielfilmen als leiblich-sinnliche, affektive sowie pragmatische Erfahrung begriffen werden kann. Es handelt sich bei dieser Art der Rezeption um einen aktiven Prozess sowohl der Wissenserzeugung als auch der Bestätigung oder Revision bereits vorhandener Verhaltensweisen. In diesen theoretischen Kontext fügt sich auch die Sozial-kognitive Lerntheorie Albert Banduras. Auch für Banduras Theorie ist die Annahme grundlegend, dass Wissen nicht aus der direkten Erfahrung, etwa aus der Interaktion mit Familienmitgliedern, Freunden oder Lehrern, hervorgehen muss, sondern dank der kognitiven Fähigkeiten des Menschen auch in der Beobachtung des Verhaltens anderer erworben werden kann: Observers can acquire cognitive skills and new patterns of behavior by observing the performance of others. The learning may take varied forms, including new bahavior patterns, judgemental standards, cognitive competencies, and generative rules for creating behaviors. Observational learning is shown most clearly when models exhibit novel patterns of thought or behavior which observers did not already possess but which, following observation, they can produce in similar form (Bandura 1986: 49). Auch symbolisch, etwa sprachlich oder audiovisuell, repräsentierte Interaktionen anderer fungieren demnach als Modell69 für individuelle Handlungsentwürfe. Durch kognitive Modellierungsprozesse können Individuen die aus den beobachteten Verhaltensweisen abstrahierten Verhaltensregeln verinnerlichen (vgl. Bandura 1971: 6). Ob aus den erlernten, in der Kognition symbolisch repräsentierten Handlungsmodellen tatsächlich manifestes Verhalten resultiert, hängt in der Folge davon ab, welche Konsequenzen das beobachtete Verhalten für das Modell hat (vgl. ebd.: 8): Positive Reaktionen seitens der beobachteten Handlungspartner motivieren dazu, erlerntes Verhalten in 69 Banduras Theorie wird auch bezeichnet als Theorie des Modelllernens, Beobachtungslernens oder des sozialen Lernens. Für die Erklärung von Medieneffekten auf das menschliche Verhalten wird diese Theorie häufig herangezogen (vgl. Perse 2001: 190; McQuail 62010: 491). Eine Frage, die in diesem Zusammenhang vielfach diskutiert wurde, ist die nach den Effekten medial dargestellter Gewalt auf den Rezipienten. Bandura selbst untersuchte solche Effekte in verschiedenen Verhaltensexperimenten mit Kindern (vgl. Bobo Doll- und Rocky-Experiment). Zwar sieht er in den medialen Gewaltdarstellungen eine wesentliche Quelle für das Erlernen entsprechender Verhaltensmuster, deren Ausführung in der Realität unterliegt wiederum sowohl hemmenden als auch stimulierenden Effekten (vgl. Bonfadelli 32004: 130; Kunczik/Zipfel 52006: 152-155). 50 der Realität umzusetzen, während negativ sanktioniertes Verhalten dessen Ausführung hemmt. Gelangt der Rezipient zu einer positiven gedanklichen Stellungnahme hinsichtlich der Gerechtfertigtheit sowie Erwünschtheit des beobachteten Verhaltens und tritt ein der beobachteten Situation ähnelnder Umstand ein, wird die wirkliche Ausführung des Verhaltens wahrscheinlich. Ist letzteres auch in der Realität erfolgreich, führt dies wiederum zu seiner Verstärkung, die die wiederholte Ausübung motiviert und die langfristige Speicherung des Verhaltensmusters bewirkt. Aufgrund der langen Zeitdauer, die Menschen in der westlichen Welt Fernsehen schauend verbringen, misst Bandura (vgl. ebd.: 10) insbesondere den symbolischen Repräsentationen der Massenmedien eine einflussreiche Rolle hinsichtlich der Formung von Verhaltensweisen und Einstellungen bei. Der Psychologe formuliert diesen Gedanken in seiner Jahrzehnte später erscheinenden Abhandlung Social Cognitive Theory of Mass Communication (2001), in der er das Prinzip des Modelllernens auf die Medienwirkung überträgt. Bandura betont auch hier den wesentlichen Unterschied zwischen dem Erwerb und der konkreten Ausführung erlernten Wissens und bestimmt Massenmedien dementsprechend einerseits als Lehrer, andererseits als ein bestimmtes Verhalten stimulierende Motivatoren (vgl. Bandura 32009: 113). Die Effekte massenmedialer Kommunikation resümiert Bandura wie folgt: “In sum, modeling influences serve diverse functions – as tutors, motivators, inhibitors, disinhibitors, moral engagers and disengagers, social prompters, emotion arousers, and shapers of values and public conceptions of reality” (ebd.: 108). Die Befunde Banduras belegen, dass Medien eine wichtige Sozialisationsinstanz70 darstellen. In der Rezeption von Spielfilmen, ebenso wie im Hören von Geschichten, erfolgt Lernen im Kontext eines positiven Gefühlszustandes inzidentell (vgl. Lukesch 1996: 55ff.). Sinnliche Wahrnehmung und Kognition gehen in der Rezeption mündlicher und audiovisueller Narrationen eine machtvolle Allianz ein. Diese vermag es, soziales Verhalten zu imprägnieren und fortlaufend zu re-imprägnieren. Der Einzelne wird somit befähigt, soziale Situationen richtig zu lesen, im Hinblick auf ihre impliziten Normen zu verstehen und angemessen zu reagieren. Mit dem Effekt der „Behavioral Literacy“ (Wittrock 2005) erbringen Film und Fernsehen sowie Rhapsoden eine wesent70 Für Fritz/Sting/Vollbrecht (vgl. 2003: 13) sind Medien nach der Familie, der Schule und den Gleichaltrigen die vierte wichtige Sozialisationsinstanz. McQuail (vgl. 62010: 492) betont, dass die Theorie der Mediensozialisation zwei Aspekte umfasst: Einerseits behandelt sie Medien als Unterstützer der Arbeit anderer Sozialisationsagenten, andererseits besteht die Gefahr, dass Medien die von der Familie und der Schule gesetzten Werte und Normen unterwandern. Es gilt als wahrscheinlich, dass das soziale Umfeld eines Kindes über die Art und Stärke der Wirkung von Medienbotschaften und -formen bestimmt (vgl. Hurrelmann 1994: 399). 51 liche Funktion für die Gesellschaft, nämlich die Integration des Individuums in die soziale Wirklichkeit unter Erarbeitung seiner persönlichen Identität. Die Sozialisation des Einzelnen als eine lebenslange Notwendigkeit findet zwar im Hier und Jetzt statt, zugleich ist ihr eine historische Perspektive eingeschrieben: Da sich der Kontext des sozialen Handelns kontinuierlich ändert und Wissensbestände in der menschlichen Interaktion fortlaufend aktualisiert werden, unterliegen die Verhaltensregeln einem ständigen Wandel. Die Werte und Normen westlicher Gesellschaften des 18. Jahrhunderts besitzen in der Gegenwart keine Gültigkeit mehr, gleichwohl haben sich aus ihnen die aktuellen gesellschaftlichen Regeln entwickelt, sodass sie ein bedeutender Teil der gesellschaftlichen und individuellen Identität sind. Historische Spielfilme wie BARRY LYNDON (GB 1975, Stanley Kubrick) und Epen wie die Ilias halten historisches Wissen präsent und machen es der individuellen Erfahrung zugänglich. Die Leistung von Film und Fernsehen sowie der antiken Rhapsoden, tradiertes Wissen zu vermitteln, speist sich aus ihrer Speicherkapazität, deren Untersuchung sich im Folgenden anschließt. 52 4. Rhapsoden, Film und Fernsehen als Archivare sozialen Wissens Die formale und infolgedessen wirkungsästhetische Homologie von Rhapsoden, Film und Fernsehen liegt in der gemeinsamen Funktion dieser Medien begründet, soziales Wissen zu speichern und zu vermitteln. Medien sind Instrumente, die Bedeutung in Form von auditiven und visuellen Narrationen codieren, um sie als Sinnangebote verfügbar zu machen. Gewährleistet wird hierdurch die Teilhabe des Einzelnen an einem kollektiven Wissen, welches die aktuellen sozialen Verhaltensdimensionen beinhaltet und sich darüber hinaus auch „auf die Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit stützt“ (Assmann 1992: 17). Da diese Vergangenheit nicht persönlich erfahrbar ist, konstituieren Medien mit der Vielzahl und Vielfältigkeit ihrer Narrationen eine wesentliche Quelle für die historische Verortung der Gesellschaft. Medien fungieren, dies wird im folgenden Kapitel ausführlich betrachtet, als Träger des kollektiven Gedächtnisses. Für dieses narrativ strukturierte Gedächtnis stellt der Mythos eine sinnstiftende Grundform bereit. 4.1 Träger des kollektiven Gedächtnisses Symbolische Objektivationen wie die Sprache binden den Einzelnen an einen gemeinsamen Handlungsraum mit bestimmten Regeln und schaffen hierdurch Vertrauen. Die für die Kohärenz der sozialen Wirklichkeit notwendige Weitergabe dieser Regeln begründet das Wissen um eine geteilte Vergangenheit, welches wiederum Erinnerung stiftet. Beide Aspekte, sowohl die Sozial- als auch die Zeitdimension, die „in einen fortschreitenden Gegenwartshorizont Bilder und Geschichten einer anderen Zeit einschließt […], fundieren Zugehörigkeit oder Identität, ermöglichen dem Einzelnen, ‚wir’ sagen zu können“ (ebd.: 16). Sie konstituieren die Kultur71 einer Gruppe von Menschen. Eine Kultur zeichnet sich für Jan Assmann durch ihre konnektive Struktur aus, deren charakteristische Grundprinzipien die Vergegenwärtigung und Wiederholung von Handlungen sind (vgl. ebd.: 17). Einzelne Handlungen ordnen sich hierdurch zu wiedererkennbaren Mustern, die als Wesenszüge einer Kultur beschreibbar werden. 71 Obgleich das Konzept ‚Kultur’ in vielfältigen Bedeutungen gebraucht wird, beinhalten die verschiedenen kulturtheoretischen Ansätze zumeist die von Assmann herausgearbeiteten Dimensionen. Ein konstruktivistisch geprägter Kulturbegriff beschreibt den Gesamtkomplex der sich in symbolischen Objektivationen materialisierenden Vorstellungen, Denkformen und Empfindungsweisen als einen von Menschen erzeugten (vgl. Nünning, A. 2013: 28). 53 Den Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Traditionsbildung erforscht Assmann in Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (1992). Den mit der Erfindung der Schrift einsetzenden mediengeschichtlichen Umbruch bestimmt er als einen kulturellen Übergang von der Dominanz der Wiederholung kultureller Überlieferung hin zur Dominanz ihrer Vergegenwärtigung: Da Wissen in oralen Kulturen in Form mündlicher Narrationen weitergeben wird, müssen die entsprechenden Geschichten beständig vorgetragen werden. Die Schrift hingegen erlaubt die dauerhafte Fixierung sozialen Wissens, wodurch dessen kontinuierliches Durchleben in der Identifikation hinfällig wird. Mit dem Entstehen dieser neuen konnektiven Struktur wandelt sich die Art und Weise, in der sich die Gemeinschaft an ihre Gegenwart und Vergangenheit bindet: Erfolgt dies im Rahmen mündlicher Überlieferungen durch Nachahmung und Bewahrung, so setzt mit Einführung der Schrift der Modus der Auslegung und Erinnerung ein (vgl. ebd.: 18). Die mentale Vergegenwärtigung der Vergangenheit wandelt sich hierdurch zu einem interpretativen Akt, weshalb die kulturelle Identität72 des Einzelnen nunmehr von individuellen Voraussetzungen beeinflusst ist. Da verschiedene Medientechnologien unterschiedliche Formen der Kommunikation und der Wahrnehmung erzeugen, übt die Medienevolution Einfluss auf die Wissensorganisation aus (vgl. Holl 2003: 183). Wie mit den Vertretern des Sozialkonstruktivismus gezeigt wurde, entsteht Wissen in der Interaktion, wobei die menschliche Fähigkeit, Sinneswahrnehmungen zu speichern und wieder in das Bewusstsein zu rufen, eine Grundvoraussetzung für diesen Vorgang ist. Bewusstsein und individuelles Gedächtnis wiederum bilden sich erst in sozialem Handeln und damit in Abhängigkeit von der Gemeinschaft. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs, in seinem Wirken beeinflusst von Émile Durkheim, Henri Bergson, Marcel Mauss und Carl Gustav Jung, stellt zu Beginn des 19. Jahrhunderts als erster Forscher die These der sozialen Bedingtheit des individuellen Gedächtnisses auf. Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Theorie einer „mémoire collective“ bildet die Abhandlung Les cadres sociaux de la mémoire (1925). 72 Das Hineinwachsen des Einzelnen in die Kultur der ihn umgebenden Gesellschaft, seine Enkulturation als ein Teilprozess der Sozialisation, steigert sich erst in der Bewusstwerdung dieser Zugehörigkeit zu einer kollektiven Identität. Als kulturelle Identität begreift Jan Assmann (vgl. 1992: 134) entsprechend die reflexiv gewordene Teilhabe an einer Kultur. 54 Halbwachs beruft sich für den Nachweis der sozialen Geprägtheit individueller Erinnerung auf das Konzept der „sozialen Rahmen“73. Sozial vorgegebene Rahmen der Bedeutsamkeit organisieren menschliche Wahrnehmung und konstituieren sowie stabilisieren die Erinnerung des Einzelnen: „il n'y a pas de mémoire possible en dehors des cadres dont les hommes vivant en société se servent pour fixer et retrouver leurs souvenirs“ (Halbwachs 1994: 79). Insofern Erinnern die Sinngebung für Erfahrungen in einem durch die Gesellschaft definierten Rahmen meint, muss das sich konstituierende Gedächtnis ein überindividuelles, kollektives sein: nos souvenirs demeurent collectifs, et ils nous sont rappelés par les autres, alors même qu'il s'agit d'événements auxquels nous seuls avons été mêlés, et d'objets que nous seuls avons vus. C'est qu'en réalité nous ne sommes jamais seuls (Halbwachs 1950: 6). Demnach ist die Gegenwart der individuellen Erinnerung ebenso wie die wirkliche Gegenwart eine soziale Konstruktion einer bedeutsamen Welt des Erlebens und Handelns. „Ces souvenirs […] ce sont, en même temps, des modèles, des exemples, et comme des enseignements. En eux s'exprime l'attitude générale du groupe ; ils ne reproduisent pas seulement son histoire, mais ils définissent sa nature, ses qualités et ses faiblesses“, schreibt Halbwachs (1994 : 151) und verweist damit auf die identitätsstiftenden Effekte der kollektiven Gedächtnisinhalte. Das Gedächtnis als ein soziales Konstrukt entfaltet sich in der menschlichen Interaktion, in der Teilhabe an kommunikativen Prozessen. Bricht die Kommunikation ab oder ändern sich die Bezugsrahmen der kommunizierten Wirklichkeit, ist laut Halbwachs (vgl. 1925: 279) Vergessen die Folge. Den Begriff der „mémoire collective“ weitet Halbwachs damit auf den Bereich der kulturellen Überlieferung und Traditionsbildung aus. Diese Phänomene verbinden sich in der Terminologie Jan und Aleida Assmanns im Begriff des kulturellen Gedächtnisses. 74 Während sich das kollektive Gedächtnis in nicht intendierter Weise, etwa in kommunikativen Praktiken oder der Architektur, nie73 Der amerikanische Soziologe Erving Goffman hat sich eingehend mit diesem Konzept befasst. In Frame-Analysis (1974; dt. Rahmen-Analyse, 1980) erforscht er die Organisation von Erfahrungen. Goffman (1980: 19) geht davon aus, „daß wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente […] nenne ich ‚Rahmen’“. Soziale Rahmen liefern einen Verständigungshintergrund für Ereignisse, an denen das intentionale, orientierte Tun eines Menschen beteiligt ist (vgl. ebd.: 32). 74 Jan Assmann übernimmt von Halbwachs die sozialkonstruktivistische Konzeption der Vergangenheit, der zufolge sich die Beschaffenheit letzterer aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten her ergibt. Laut Assmann (vgl. 1992: 46) sind die von Maurice Halbwachs erarbeiteten Thesen von großer Bedeutung für die Kulturanalyse, da sie weithin für Mechanismen kultureller Überlieferung überhaupt gelten können. In Das kulturelle Gedächtnis führt Assmann (vgl. ebd.: 48-56) die Unterscheidung zwischen zwei Formen des kollektiven Gedächtnisses ein: dem kulturellen Langzeitgedächtnis und dem kommunikativen Kurzzeitgedächtnis. 55 derschlägt (vgl. Welzer 2001: 12), realisiert sich das kulturelle Gedächtnis intentional (vgl. Assmann 1992: 24), etwa in eigens geschaffenen Institutionen. Denn obgleich Kulturen ebenso wie Individuen ihr Gedächtnis in der Interaktion aufbauen und die Notwendigkeit der generationenübergreifenden Weitergabe kollektiven Sinns besteht, entbehrt das Gruppengedächtnis einer neuronalen Basis (vgl. ebd.: 89). Um dauerhaft gespeichert und von Generation zu Generation überliefert zu werden, müssen die Objektivationen intersubjektiver Erfahrungsablagerungen mit Hilfe eines Zeichensystems vollzogen werden. Dieses ermöglicht es, die Objektivationen gemeinsamer Erfahrungen zu wiederholen (vgl. Berger/Luckmann 1969: 72).75 Grundlegend für die gesellschaftliche Erfahrungsablagerung ist zunächst das Zeichensystem Sprache. Nach Berger/Luckmann (vgl. ebd.: 72f.) ist sie Medium und konstitutives Moment von Wissen und Gedächtnis. Auch unter den von Aleida Assmann in Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (1999) benannten „Gedächtnismedien“ (ebd.: 20) rangiert die Sprache bzw. die Schrift unter den wichtigsten Fundamenten und Instrumenten des kollektiven Gedächtnisses. Als „materielle Stütze“ (ebd.) gewährleistet die Schrift die Speicherung kollektiven Wissens sowie dessen Vermittlung in der Interaktion mit dem Gedächtnis des Einzelnen. Zeichensysteme sichern somit die Wiedererkennbarkeit und Kontinuität einer Kultur (vgl. Assmann 1994: 114f.). In ihrer Funktion als Träger des kollektiven Gedächtnisses entscheiden die technischen Möglichkeiten von Gedächtnismedien darüber, was und wie erinnert wird. Der medientechnische Wandel bedingt die Verfasstheit des kollektiven Gedächtnisses. Folgerichtig definiert die Theorie Jan und Aleida Assmanns eine Kultur als den „historisch veränderliche[n] Zusammenhang von Kommunikation, Gedächtnis und Medien“ (ebd.: 114). Bei Assmanns löst der Gedächtnisbegriff, ein komplexes Handlungs- und Institutionengefüge bezeichnend, das Konzept der Tradition ab. Ihre in den Kulturwissenschaften äußerst wirkmächtige Theoriebildung zum Verhältnis von Gedächtnis und Gesellschaft kann insofern auch als Medientheorie bzw. Medienanthropologie (vgl. Erll 2008: 3) gelesen werden. Ihre sinnliche Konkretisierung erfahren kollektive Gedächtnisinhalte nicht nur in der Sprache, sondern auch in Bildern und Körpern. Die Analyse der formalen Homologie 75 Berger/Luckmann (vgl. 1969: 72) räumen zwar ein, dass in der Theorie auch gemeinsames Handeln die Grundlage für Überlieferungen bilden könnte. Empirisch sei dies jedoch unwahrscheinlich, da sich Erfahrung leichter übertragen lässt, wenn sie von der konkreten Einzelexistenz gelöst und in ein allgemein zugängliches Zeichensystem überführt wird. 56 von Rhapsoden sowie Film und Fernsehen hat gezeigt, dass sowohl die antiken Sänger als auch die audiovisuellen Medien dieses Repertoire externer Speichermedien in ihrer Darstellung vereinen. Jedoch tun sie dies unter medientechnologisch völlig anderen Voraussetzungen. In Kulturen primärer Oralität ist das kulturelle Gedächtnis ein im doppelten Sinne lebendiges: Zunächst ist es an einen lebenden Organismus, den Sänger, gebunden, dessen individuelles Gedächtnis das kollektive Wissen organisiert. Die Multimedialität der Wissensvermittlung, eine Inszenierung von Stimme, musikalischen Klängen, Mimik und Gestik, ist ein direktes Resultat der rhapsodischen Verkörperung der griechischen Tradition. In der „lebendigen Inszenierung des sozialen Gedächtnisses“ (Assmann 1994: 133) reproduziert sich die kulturelle Identität der Gemeinschaft. Des Weiteren speist sich das Wissen um die gemeinsame kulturelle Identität aus einer Erinnerung, die lebendig ist, die lediglich bewahrt, was für die Gegenwart relevant ist: „It [the living memory] prefers to remodel rather than discard. New information and new experience are continually grafted on to inherited models” (Havelock 1963: 122). Das zeitlich Spezifische wandelt sich kontinuierlich zum Typischen der Gegenwart. Ein historisches Zeitbewusstsein ist folglich unmöglich (vgl. ebd.). Während es in oralen Kulturen kein Wissen und kein Gedächtnis außerhalb menschlicher Körper gibt, wird es mit der Erfindung der Schrift möglich, kollektives Wissen auf materiale Träger auszulagern und den Einzelnen von der Aufgabe der Bewahrung des Gruppengedächtnisses zu entlasten. Zwar ist der antike Sänger im Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit weiterhin damit beauftragt, soziale Werte und Normen zu vermitteln. Mit der Entwicklung des griechischen Alphabets besteht jedoch erstmals die Möglichkeit, Wissen abzulagern und kontinuierlich neues Wissen zu schaffen, ohne bestehendes Wissen dadurch zu modifizieren. So bildet sich neben dem beständig in der Interaktion aktualisierten Wissen ein Gedächtnis heraus, das weitaus komplexer ist, als dass es im Bewusstsein des Einzelnen präsent sein könnte. Es lässt sich schlicht mehr schriftlich aufzeichnen, als die menschliche Psyche erinnern kann. Für dieses Gedächtnis, welches über den in einer bestimmten Epoche tradierten und kommunizierten Sinn hinausgeht, prägen Jan und Aleida Assmann (vgl. 1994: 122) in Abgrenzung zum kulturellen Funktionsgedächtnis den Begriff des kulturellen Speichergedächtnisses. Dessen Bewahrung ist nicht die Aufgabe einzelner Subjekte, sondern die ganzer Institutionen, etwa von Archiven und Bibliotheken. Das sich in vielfältigen Zeichen manifestierende Funktionsgedächtnis hingegen repräsentiert als „gleichmäßig ausgeleuchteter Erinne- 57 rungsraum“ (Assmann 1999: 408) die Gesamtheit des orientierenden Erfahrungswissens, welches an die nächste Generation weitergegeben werden soll.76 Die homerischen Epen begründen demnach gewissermaßen die Herausbildung des Speichergedächtnisses der westlichen Kultur. Havelock (1982: 167) betrachtet sie als das früheste Schriftzeugnis einer bis dahin mündlich überlieferten Tradition: In ‚Homer’ we confront a paradox unique in history: two poems we can read in documented form, the first ‚literature’ of Europe; which however constitute the first complete record of ‚orality’, that is, ‚nonliterature’. Ihre identitätsstiftende Funktion entfalten die mündlich vorgetragenen Epen Homers in der archaischen griechischen Gesellschaft: Die in der Ilias kodifizierten Erinnerungen an die mykenische Zeit fundieren eine gemeinsame Vergangenheit, die es den Griechen erlaubt, sich ungeachtet sowohl ihrer unterschiedlichen Stämme und Stände als auch des kulturellen und gesellschaftlichen Bruchs zwischen Vergangenheit und Gegenwart als Einheit zu begreifen. Als zentrales Erinnerungsmoment für die Integration auf Grundlage der Ilias identifiziert Assmann (vgl. 1992: 273) die Geschichte einer Koalition gegen den gemeinsamen Feind Persien. Mit dem Entstehen literaler Gesellschaften verlagert sich die „enzyklopädische Verantwortung“ (Havelock 1990: 16) des Rhapsoden nach und nach auf gleich mehrere Institutionen: Soziale Normen und Werte werden in Gesetzestexten kodifiziert und in religiösen Praktiken vermittelt. Im Laufe der Jahrhunderte begründen und legitimieren insbesondere Religionen langfristig kulturellen Sinn und erweisen sich für die individuelle Identitätssuche als richtungsweisend (vgl. Reichertz 2007: 161). In den zunehmend säkularisierten Gesellschaften der westlichen Welt wird die Bedeutung von Religionen gegenwärtig jedoch zugunsten massenmedialer Sinnstifter wie Film und Fernsehen zurückgedrängt.77 Audiovisuelle Medien fundieren das Gedächtnis einer Gesellschaft in einer den antiken Rhapsoden vergleichbaren Art, indem sie in ihren auditiven und visuellen Darstellungsweisen die materiellen Speichermöglichkeiten kollektiven Sinns aktualisieren: Das verkörperte Wissen ist zwar nicht länger unmittelbar durch den Sänger wahrnehmbar, 76 Beim Funktionsgedächtnis handelt es sich im Sinne Aleida Assmanns (1999: 137) „um ein angeeignetes Gedächtnis, das aus einem Prozeß der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkonstitution […] hervorgeht. Die strukturlosen, unzusammenhängenden Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.“ 77 Bezugspunkt für Wertangebote, bemerkt Reichertz (vgl. 2007: 163), ist im Medium Fernsehen nicht mehr das Jenseits, sondern der diesseitige Mensch. Zu den religiösen Funktionen des Fernsehens vgl. auch Hickethier 2000a. 58 jedoch gewährleistet das elektronische Bild eine vergleichbare Qualität der sinnlichen Wahrnehmung der Schauspielerkörper (vgl. Kap. 1.1; Kap. 3.3). Das kollektive Gedächtnis konstituiert sich in der Interaktion des Mediennutzers mit den medialen Botschaften. Zwar stellen audiovisuelle Massenmedien lediglich einen von vielen möglichen Zugängen zum Gedächtnis einer Gesellschaft dar. Aufgrund ihrer Omnipräsenz im Alltag des Einzelnen und ihres umfangreichen Angebots handelt es sich aber um die einfachste, bei Spielfilmen sogar von einem Unterhaltungserleben begleitete, Art der individuellen Teilhabe an der Erfahrungswelt einer Gesellschaft. Zudem stehen die sinnlichen Qualitäten audiovisueller Zeichen der unmittelbaren Erfahrungswelt des Zuschauers ungleich näher als etwa schriftliche oder architektonische Gedächtnisträger. Insofern die von Film und Fernsehen präsentierte fiktive Realität soziales Wissen verfügbar macht und dieses Wissen als authentische Wirklichkeits- und Vergangenheitsversion aufgefasst wird, prägen mediale Darstellungen auch die individuelle Erfahrung historischer Ereignisse, also die Erinnerung. Dies betrifft insbesondere Erinnerungen an eine historische Vergangenheit, die nicht Gegenstand der persönlichen Erfahrung ist. In Erinnerungsfilmen haben sie zurzeit Hochkonjunktur: Kulturelle Erinnerung identifiziert Astrid Erll (vgl. 2008: 1) als Leitthema des Films; zugleich ist der Film das Leitmedium der Erinnerungskultur. Für den amerikanischen Bildungswissenschaftler Sam Wineburg (vgl. 2001: 181) deutet einiges darauf hin, dass etwa das Geschichtsbild von Schülern nicht durch die Schule, sondern zunehmend durch die Massenmedien vermittelt wird. Er beruft sich unter anderem auf das Beispiel eines Schülers, namentlich John, in dessen Erinnerung der Vietnamkrieg zu einer filmisch vermittelten Vergangenheit gerinnt, in der sich Fiktion und Fakten mischen, die für John aber eine historische Tatsache darstellt. Doch auch wenn die historische Vergangenheit eine selbst erfahrene ist, ist Erinnerung nicht ein bloßes Abbild dieser, sondern selbst eine Form der Wirklichkeitskonstruktion. Erinnern verfährt Aleida Assmann (1999: 29) zufolge grundsätzlich rekonstruktiv, denn „es geht stets von der Gegenwart aus, und damit kommt es unweigerlich zu einer Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung“. Die individuellen Erinnerungen sind perspektivisch und existieren nicht isoliert (vgl. Assmann 2001: 117). Auch die Bilder und Handlungsdarstellungen audiovisueller Medien formen die Erinnerung aufgrund ihrer Allgegenwart unweigerlich mit. Das Beispiel des Schülers John hat gezeigt, dass mediale Bilder als getreues Abbild der realen Wirklichkeit rezipiert werden, obgleich sie historische 59 Inhalte nach ästhetischen Gesichtspunkten transformieren.78 Medien fungieren nicht als neutrale Träger des kollektiven Gedächtnisses. Aus konstruktivistischer Sicht müssen sie vielmehr als Erzeuger von Wirklichkeit betrachtet werden: Indem sie den Rahmen des Erinnerns bereitstellen, wirken Medien als eine „gedächtnisbildende Macht“ (Erll 2005: 142). Die kollektive Geprägtheit des individuellen Gedächtnisses versteht Astrid Erll (vgl. ebd.: 140) entsprechend als eine inhärent mediale Geprägtheit. Die besondere Leistung audiovisueller Massenmedien besteht darin, den Wissenshorizont einer Kultur beständig zu aktualisieren. Neue Film- und Fernsehnarrationen sind häufig in der Gegenwart verortet und stets das Produkt in der Gegenwart lebender Individuen. Sie erweitern den Bestand des kollektiven Gedächtnisses kontinuierlich und halten den Einzelnen damit stets „auf dem Laufenden“. Den Lernprozess der Verhaltensmodellierung begreift Hickethier (1999: 351) entsprechend als eine Flexibilisierung der Wahrnehmung: „Das Fernsehen macht die eingefahrenen kulturellen Sehgewohnheiten, die kulturellen Wertsetzungen und Sichtweisen auf Welt flexibel, d.h. veränderbar im Sinne der langfristigen Umstrukturierung von Gesellschaft.“ Die Bereitschaft zu einer flexiblen Wahrnehmung erzeugt das Fernsehen strukturell, indem es in seinen Darstellungen Muster variiert und die Bereitwilligkeit schult, sich auf Neues einzulassen und anzupassen: In der Vielfalt der Spielfilme, Fernsehfilme, Fernsehspiele und Serien können immer wieder neue Verhaltensvarianten kennengelernt werden. Akzeptables und nichtakzeptables Verhalten wird demonstriert. Hier werden langfristig Modernisierungsanforderungen an das Alltagsverhalten plausibel und verständlich gemacht und als akzeptabel durchgesetzt. Angemessenes Verhalten stellt sich oft als das ‚moderne’ gegenüber dem ‚verschrobenen’ und ‚altmodischen’ Verhalten dar (ebd.: 350). In ihrer Funktion als „Modernisierungsagenturen“ (ebd.: 349) betreiben Film und Fernsehen nicht nur die Anpassung an neue Verhaltensmuster, die mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen notwendig werden. Im Gegensatz zu den Sängern mündlicher Überlieferungen hält das Fernsehen auch die „altmodischen“ Verhaltensformen präsent und gewährleistet hierdurch, dass alle Generationen kontinuierlich in den Rezeptionszusammenhang integriert werden. Indem Film und Fernsehen ebenso wie Rhapsoden die relevanten Inhalte des Funktionsgedächtnisses beständig erneuen, erweisen sie sich als sehr viel funktionaler als eine gedruckte Enzyklopädie. Im Gegensatz zu dieser wie auch zu den antiken Sängern 78 Dies betrifft selbst die Form des Dokumentarfilms. 60 halten audiovisuelle Medien aufgrund ihrer unbegrenzten Speicherkapazität zugleich ältere Produktionen als historische Vergangenheitserinnerung präsent. Gleichwohl lässt sich die Metapher der Enzyklopädie in Beziehung zu der Funktion von Rhapsoden, Film und Fernsehen setzen, das kollektive Gedächtnis zu tragen und zu vermitteln: Die Gesamtheit der Mythen und Spielfilme fundiert als Enzyklopädie des sozialen Verhaltens die Gesamtheit des kulturellen Wissensbestandes und sichert somit die kulturelle Identität einer Gemeinschaft. Film und Fernsehen sind in der Gegenwart ebenso wenig willkürliche Trägermedien wie die Rhapsoden des antiken Griechenlands. Sie erweisen sich als ausgezeichnete Bewahrer der Tradition einer Kulturgemeinschaft, da sie einen geeigneten Sinnrahmen bereitstellen, in dem Erfahrungen organisiert und als Erinnerungen dauerhaft bewahrt werden (vgl. Halbwachs 1994: 79). Den ältesten und nach wie vor wirkmächtigsten sozial vorgegebenen Rahmen der Bedeutsamkeit stiften Narrationen. Rhapsoden sowie Film und Fernsehen als deren Vermittler beziehen ihr Sinnpotenzial aus der Struktur von Erzählungen. Der griechische Mythos scheint die sinnstiftende Grundform von Erfahrung und Erinnerung darzustellen. Dies gilt es im Folgenden zu ergründen. 4.2 Mythos als sinnstiftende Organisationsform Erinnerungen sind flüchtig, labil und bedürfen, da sie darüber hinaus fragmentarisch und ungeformt sind, einer Struktur, die sie konserviert. Zwar unterliegen auch stabilisierte Erinnerungen einem beständigen Wandel, da sich deren Bewertung und Bedeutung für das Individuum mit der Zeit verändern. Doch schützt die Formgebung gegen das Vergessen: „Der Akt des Speicherns“, schreibt Aleida Assmann (1999: 29), „geschieht gegen die Zeit und das Vergessen, deren Wirkungen mit Hilfe bestimmter Techniken außer Kraft gesetzt werden“. Eine solche Technik, die zugleich grundlegendste und, ihrer langen Tradition nach zu urteilen, effektivste, ist die der Erzählung. Der Zusammenhang zwischen Erzählen und Erinnern, Gedächtnis und Identität ist ein in der Kulturwissenschaft und Psychologie vielfach erforschtes Phänomen (vgl. Sommer 2009: 230; Schmidt 1993: 391). Wesentlich auch für diese Denkfigur ist die Annahme, dass Bedeutung ein Konstrukt menschlicher Wahrnehmung ist. Erst der Gebrauch der Sprache und insbesondere die Erzeugung von Erzählungen verleihen dem unstrukturierten menschlichen Erleben Sinn und eine kommunizierbare Form. Letztere 61 schafft die Grundlage dafür, sich an dieses Erleben erinnern zu können (vgl. Nünning, V. 2013: 148). Mit der sinn-, wirklichkeits- und identitätserzeugenden Kraft des Erzählens befasst sich die narrative Psychologie. Die in den achtziger Jahren eingeleitete methodische Spezifizierung auf narrative Aspekte psychologischer Forschung dokumentiert der Sammelband Narrative Psychology. The Storied Nature of Human Conduct (1986) von Theodore Sarbin. Unabhängig vom jeweiligen Forschungsgebiet, resümiert der amerikanische Psychologe (Sarbin 1986: xviii) einleitend, treffe folgende Erkenntnis hinsichtlich der Darstellung des Selbst auf alle versammelten Studien zu: „lives are presented as narratives, and the form and content of the narratives are fashioned not only by ‚facts’ but by the purpose, biases, interests, and moral posture of the storyteller”. Identität konstituiert sich nach Auffassung narrativer Psychologen als eine konstruierte Selbsterzählung, die den eigenen Handlungen und Lebenserfahrungen Bedeutung zu verleihen vermag (vgl. Nünning, A. 2013: 28). Die narrative Codierung von Erfahrung im individuellen und kollektiven Gedächtnis betrifft zwei Ebenen: Zum einen ist das menschliche Erleben, die Wahrnehmung und Interpretation eines Geschehens als Produkt gesellschaftlicher Konstruktionen, bereits von narrativen Mustern vorgeprägt. Kulturen stellen ein Repertoire narrativer Plots zur Verfügung (vgl. ebd.: 36), die innerhalb kognitiver Prozesse die Wahrnehmung strukturieren und in der Funktion eines Selektions- und Schematisierungsapparats darüber entscheiden, welche Wahrnehmungen überhaupt in das Bewusstsein gelangen (vgl. Erll 2005: 110f.). Damit dienen kulturspezifische Erzählmuster der kognitiven Bearbeitung und psychischen Integration von Kontingenz (vgl. Straub 1998: 142). Zum anderen bildet sich handlungsleitendes Wissen – Lebenserfahrung als Gesamtheit der Erlebnisse eines Individuums – in der Erinnerung, die ihrerseits wiederum narrativ verfährt. Donald Polkinghorne (1998: 23) spricht deshalb von narrativem Wissen, welches sich als „eine reflexive Explikation der pränarrativen Qualität unreflektierter Erfahrung“ darstellt. Durch die kognitive Integration vergangener Ereignisse in eine Narrationsstruktur konstruiert sich die Bedeutung der individuellen Lebensgeschichte in der Erinnerung. Insofern Erzählungen zugleich als Fundament und Träger von Bedeutung fungieren, stellt sich die Frage, weshalb gerade Narrationen für die Sinnstiftung prädestiniert sind. Polkinghorne (vgl. ebd.: 16) definiert die Erzählung als eine Art der kognitiven Strukturierung, die das narrative Gestaltungsvermögen nutzt, um Handlungen und Geschehnisse zu temporalen Ganzheiten zu formen. Die narrative Strukturierung von Erfahrung be62 dient sich sozial konstruierter, kultureller Plots, durch welche Erlebnisse in ein einheitliches Gefüge aus benennbaren Objekten und aufeinanderfolgenden Ereignissen integriert werden (vgl. ebd.: 17). Sowohl das Moment der zeitlichen Verknüpfung als auch die Interdependenz der narrativen Elemente innerhalb eines fest umrissenen Rahmens verleihen Handlungen und Ereignissen Bedeutung. In solcher Weise narrativ strukturierte Erfahrungen79 erscheinen sinnhaft organisiert und kohärent, wodurch sie für das handelnde Individuum erklär- und verstehbar werden. Erzählungen erweisen sich somit als ein Medium der Erkenntnis. Ihre Relevanz erschöpft sich jedoch nicht in der individuellen Sinnstiftung. Kulturelle Erzählmuster schaffen auch die Grundlage dafür, dass individuelle Erfahrungen innerhalb einer Gemeinschaft kommunizierbar sind. Albrecht Lehmann (vgl. 2007: 9) zufolge, der sich dem Erzählen im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Bewusstseinsanalyse nähert, lassen sich Erfahrungen nicht anders als erzählend vermitteln. Dem kognitionspsychologischen Konzept des Skripts vergleichbar, das die standardisierte zeitliche Abfolge von Ereignissen und Handlungen bezeichnet (vgl. Schenk 2007: 281), bestimmen kulturell geprägte narrative Muster die sinnhafte Abfolge von Ereignisschilderungen. Durch sie lassen sich Erfahrungen in kulturell anschlussfähiger Weise vermitteln (vgl. Nünning, A. 2013: 37). Erzählen folgt somit einer sinnstiftenden Struktur, die an der Konstruktion von sozialem Wissen mitwirkt. Die im Vorhergehenden beleuchteten Effekte der Narration (vgl. Kapitel 2) erklären die funktionale Bedeutung dieses „universelle[n] Modus der Strukturierung […] von Kommunikation und Handeln“ (Neumann 2005: 34) für die Fundierung und Vermittlung des sozialen Gedächtnisses mittels variierender Trägermedien. Umgekehrt indizieren die Universalität und Allgegenwart von Geschichten, ob durch Worte oder Bilderfolgen geschaffen, deren fundamentale Notwendigkeit für den Einzelnen und die Gesellschaft. „Geschichten sind nie Ursache einer Erfahrung, sondern deren Abbildung. Es gibt keine wahren Geschichten, dennoch ein Verlangen nach Geschichten, weil Erfahrung, die sich nicht abbildet, kaum auszuhalten ist.“ Diese Worte Max Frischs (1975: 126), von Uwe Johnson neben anderen Frisch-Zitaten unter dem Titel Stichworte zusammengetragen, verweisen auf ein vielfach betrachtetes Phänomen (vgl. Nünning, A. 2013: 32; Straub 2013, 77; Lehmann 2007: 43), wonach das Erzählen von Geschichten ein anthro79 Der Kognitionspsychologe Jerome Bruner (vgl. 1998: 52-74) identifiziert weitere Universalien der narrativ konstruierten Erfahrung, um zu erklären, was daraus für die menschliche Auffassung der Wirklichkeit folgt. Gestalt verleihen die narrativen Konstruktionen den Wirklichkeiten, die sie schaffen, auch durch ein Wechselspiel aus Kanon und Abweichung, durch das Prinzip der allgemeinen Besonderheit sowie der inhärenten Aushandelbarkeit. 63 pologisches Grundbedürfnis des Menschen ist. Sowohl Erfahrungen machen als auch Geschichten erzählen sind Universalien menschlichen Handelns.80 Die enge Beziehung zwischen dem Entwurf einer historischen Zeitperspektive und dem Erzählen von Geschichten hervorhebend, bestimmt Jürgen Straub (2013: 89) die Erzählung als eine „überaus bedeutende Artikulationsform [Herv. i. Orig.] des Menschen“, die auch dessen Lebensform charakterisiert. Für die Gattung Mensch, die sich in Geschichten artikuliert und im Erzählen ihre Interpretation der Welt formuliert, prägt der Erzählforscher Kurt Ranke in den sechziger Jahren den Begriff homo narrans (vgl. Lehmann 2007: 9). Auf die anthropologische Qualität von Geschichten beruft sich auch Hans Blumenberg in seiner Studie Arbeit am Mythos (1979). In Blumenbergs Konzeption formieren sich Geschichten gegen eine Wirklichkeit, die vom Menschen nicht mehr als eine ganzheitliche, in ihrer Bedeutung unmittelbar wahrnehmbare erfahren wird. Der von Blumenberg (51990: 9) als „Absolutismus der Wirklichkeit“ bezeichnete urgeschichtliche Zustand korrespondiert mit einer Phase im Prozess der Bewusstseinsevolution, in der die Existenz des Menschen vollständig in der Welt aufgeht: Noch sind Mensch und Natur undifferenziert; das Bewusstsein, welches sich erst entwickelt, dämmert in einem traum- und erkenntnislosen Zustand (vgl. Heuermann 1994: 62). Mit der Bewusstwerdung seiner eigenen Existenz beginnt der Mensch schließlich, sich als von der Welt getrennt wahrzunehmen. Die nunmehr notwendig gewordene Beherrschung der Wirklichkeit birgt für die menschliche Psyche, die mit dem Verlust strikter Bedeutungen konfrontiert ist und sich gegen die Welt als Natur und deren Unmenschlichkeit wappnen muss (vgl. ebd: 63), ein ungekanntes Unbehagen. Um für den Menschen ertragbar zu sein, muss diese Angst fortwährend zu Furcht rationalisiert werden (vgl. Blumenberg 5 1990: 11). Dies leisten nach Blumenberg (vgl. ebd.: 11) nicht Erfahrung und Erkennt- nis, sondern Geschichten. Sie setzen dem Absolutismus der Wirklichkeit Namen für das Unbekannte und Bedeutsamkeit entgegen. Bedeutsamkeit schafft Distanz zur Unheimlichkeit der Wirklichkeit (vgl. ebd.: 132), indem sie der als fremd, willkürlich und indifferent empfundenen Welt Selbstverständlichkeit und Vertrautheit entgegensetzt (vgl. ebd.: 78). 80 Die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, entwickelt sich bereits bei Kleinkindern in der Interaktion mit Eltern und anderen Spielgefährten. Brian Sutton-Smith (vgl. 1986: 70-89) erläutert die Entwicklung der narrativen Kompetenz bei Kindern wie folgt: Während sich das Geschichtenerzählen in der Kleinkindphase noch ausschließlich als eine Variation prosodischer Muster gestaltet, erwerben Kinder bis zum zehnten Lebensjahr die Kompetenz, Geschichten in Form konventionalisierter Handlungsmuster (Held trifft während der Verfolgung eines Ziels auf ein Hindernis, das er zu überwinden sucht) zu erzählen. Ist die hierfür grundlegende Aneignung der mentalen Konzepte von Zeit und Kausalität abgeschlossen, wird jede Art von kognitivem Input narrativ strukturiert (vgl. Manuscom 1986: 100-106). 64 Bedeutsamkeit entsteht durch verschiedene Mittel, unter denen die Kreisschlüssigkeit und Wiederkehr des Gleichen, von Blumenberg (vgl. ebd. 86f.) exemplifiziert an der Odyssee, die für das Weltvertrauen grundlegenden sind: Sie verweisen auf die Zuverlässigkeit aller Lebenswege (vgl. ebd.: 97). Der Mythos stellt für Blumenberg die Verarbeitungsform von Wirklichkeit schlechthin dar, weshalb die Antithese von Mythos und Logos für sein Denken hinfällig ist: „Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos“ (ebd.: 18). Als ein Mittel der Strukturierung von Raum und Zeit – in ihrer Indifferenz für das menschliche Bewusstsein unerträglich – repräsentiert der Mythos „eine Welt von Geschichten, die den Standpunkt des Hörers in der Zeit derart lokalisiert, daß auf ihn zu der Fundus des Ungeheuerlichen und Unerträglichen abnimmt“ (ebd.: 131). Dem Absolutismus der Wirklichkeit setzt der Mythos die Prägnanz und anschauliche Ganzheit von Wörtern und Geschichten entgegen. Sich auf seine anthropologischen Qualitäten der Selbsterhaltung und Weltfestigkeit berufend, begreift Blumenberg (ebd.: 186) den Mythos als die „‚Form überhaupt’ der Bestimmung des Unbestimmten“. Der menschliche Bedarf an Geschichten ist in der Gegenwart ungebrochen. Angesichts der Komplexität und Dynamik der sozialen Wirklichkeit konstatieren Forscher mehrheitlich eine „Mythenrenaissance“ (Bartel 2004: 15; Simonis 2004: 9; Krüger/Stillmark 2013: 10) in der Moderne. Es bleibt jedoch quantitativ zu belegen, dass Phasen gesellschaftlicher Umbrüche mit einer signifikant stärkeren Präsenz mythischer Wiederholungen einhergehen. Im Sinne Blumenbergs erwiese sich ein entsprechender Befund bereits deshalb als unerheblich, weil der Mythos ohnehin ein Phänomen kontinuierlicher Rezeption ist. Voraussetzung für die von Blumenberg beispielhaft nachvollzogene fortwährende Rezeption antiker Mythen ist sowohl die Beständigkeit ihres narrativen Kerns als auch die ausgeprägte Variationsfähigkeit von Mythen: „ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung“ (51990: 40). In den formalen Kennzeichen, die Blumenberg dem Mythos attestiert – eine variable, nur in der Handlungsstruktur festgelegte Erzählung, die dem Schema der zyklischen Wiederkehr folgt (vgl. Blumenberg 1971: 48-51) – spiegelt sich insofern der aristotelische Mythosbegriff wider, als dieser ebenfalls eine bestimmte, in sich geschlossene Abfolge von Ereignissen bezeichnet. Seine formale Konstanz garantiert die uneingeschränkte Ausbreitung des Mythos in Raum und Zeit; sie lässt ihn „als erratischen Einschluß noch in Traditionszusammenhängen heterogener Art auftreten“ (51990: 165): 65 Gerade wegen seiner Elastizität, ja Porosität, der Umstellbarkeit seiner Elemente, ihrer bloßen ‚Kontiguität’ konnte die Konstanz des Grundmythos zum Phänomen seiner Rezeption werden. Der Mythos ist kein Kontext, sondern ein Rahmen, innerhalb dessen interpoliert werden kann; darauf beruht seine Integrationsfähigkeit, seine Funktion als ‚Muster’ und Grundriß, die er noch als bloß durchscheinender Vertrautheitsrest besitzt (Blumenberg 1971: 51). Für die formale Konstanz des Mythos gibt Blumenberg unter der Prämisse der Unerfindbarkeit des Mythos (vgl. 51990: 165) zwei Erklärungen: Die Stabilität der mythischen Form kann ihren Ursprung in der Integration archetypischer Erfahrungen und Vorstellungen haben (vgl. ebd.: 166f.), aus der die unmittelbare und überindividuelle Vertrautheit von Mythen hervorgeht81. Eine andere Begründung fokussiert die mündliche Überlieferung von Geschichten vor Homer und Hesiod, die gemeinhin als Urheber mythischer Grundmuster gelten. Entgegen dieser Annahme begreift Blumenberg (1971: 28) den Mythos als „immer schon in Rezeption übergegangen“. Bereits die erstmals schriftlich fixierte, als Bezugsgröße geltende Form des Mythos ist das Resultat eines langen Selektionsprozesses, in dessen Verlauf die rezipierten Inhalte aoidischer Gesänge kontinuierlich optimiert wurden. Ergebnis dieses „Darwinismus der Verbalität“ (Blumenberg 51990: 176) ist ein tradierter Bestand mythischer Muster, die Blumenberg (ebd.: 165) als „Mythologeme“ bezeichnet. Mythologeme als Formen früher Sinnfindung lassen sich nicht durch die Mittel der Phantasie nachahmen. Ihre Variabilität macht dies auch nicht erforderlich. Insofern Bedeutsamkeit ein Resultat und kein angelegter Vorrat ist, bewährt sich der Mythos unter wechselnden Belangen: „Mythen bedeuten nicht ‚immer schon’, als was sie ausgelegt und wozu sie verarbeitet werden“, schreibt Blumenberg (1971: 66), „sondern reichern dies an aus den Konfigurationen, in die sie eingehen oder in die sie einbezogen werden.“ Das sinnstiftende Potenzial von Erzählungen variiert demnach hinsichtlich der kontextuellen Bedingungen ihrer Rezeption: Für die antiken Griechen ist die Ilias nicht nur ein unverzichtbarer Fundus an Werten und Normen – der zentrale Streit zwischen Achill und Agamemnon kreist um die Themen Ehre, Macht und den Gegensatz von Eigennutz und Gemeinwohl –, sie ermöglicht es ihnen auch, sich als Einheit zu begreifen. Hingegen ist der Trojamythos in der Gegenwart vorrangig eine historische Darstellung. Bedeutung kann er in der individuellen Rezeption erlangen, etwa wenn der Zorn des Achill mit persönlichen Erfahrungen, wie der Auseinandersetzung mit Mitmenschen, konfrontiert wird. Der Mythos begründet hierdurch ein spezifisches Verständnis von 81 Diese Erklärung deckt sich mit der Theorie Campbells (vgl. Kapitel 1.2). 66 Welt. Er verkörpert ein sich kontinuierlich wandelndes Bild der sozialen Wirklichkeit, das den Einzelnen orientiert und integriert. Mythen lassen sich mit Hülk (2006: 7) folglich konzipieren als „Matrix eines subjektiven wie kollektiven, sich stets erweiternden, komplexer werdenden Gedächtnisses aus Bildern und Narrationen“. Die Bedeutung der narrativ abgelagerten Erinnerungsfiguren kann unter wechselnden historischen Vorzeichen abgerufen werden, wodurch sie jeweils neu konstruiert werden und dabei „ihre Gültigkeit wie Sprengkraft aus der Spannung von Tradition und Innovation, Kontext und Präsenz“ (ebd.) beziehen. Handelt es sich in urgeschichtlicher und archaischer Zeit um ein der Mnemotechnik dienendes Gestaltungsprinzip, welches aus einer anthropologischen und sozialen Notwendigkeit hervorgeht, ist der Mythos nunmehr eingebettet in ästhetische Zusammenhänge. Letztere scheinen seine ursprüngliche Funktion zwar weitestgehend zu verstellen und dem Bewusstsein zu entziehen. Das im Selektionsprozess des mündlichen Vortrags „gehärtete Grundmuster“ (51990: 166) des Mythos fungiert jedoch nach wie vor als universale Codierungs- und Organisationsform der Inhalte des kollektiven Gedächtnisses. Insofern das kollektive Gedächtnis von verschiedenen Medien getragen und vermittelt wird, findet auch die Form des Mythos in ihnen ihren jeweils spezifischen Ausdruck. Die zu Beginn nachgewiesene formale Homologie zwischen antiken Mythen und Spielfilmen (vgl. Kapitel 1.2) wird hierdurch erklärbar: Der Mythos ist als ältestes, jahrhundertelang optimiertes und bewährtes Erzählmuster die sinnstiftende Organisationsform schlechthin des kollektiven Gedächtnisses. Er variiert lediglich in Bezug auf seine inhaltliche Ausgestaltung sowie seinen medialen Ausdruck. Entsprechendes konstatiert Havelock (1982: 279) ausgehend vom antiken Theater – ebenfalls unter Berufung auf die Metapher der Matrix: „Greek drama is a disguised corpus of oral wisdom contained within a narrative matrix, the mythos which preserves it”. In der Gegenwart entfaltet der Mythos als Form seine Wirkung mittels neuer technischer Möglichkeiten. Die audiovisuellen Darstellungen von Film und Fernsehen sind die mächtigsten Vermittler mythischer Formen: Indem die elektronischen Medien Wirklichkeit in Bild und Ton narrativ strukturieren, reduzieren sie sie zugleich in ihrer Komplexität und geben ihr insofern einen Sinn, als in der Struktur des Mythos ein entsprechendes Sinnpotenzial bereits angelegt ist. Die narrative Handlungsstruktur verknüpft zusammenhangslose Ereignisse zu Kausalitäten, die Ordnung stiften und Welt dadurch strukturieren und vereinfachen, dass sie gewichten und bewerten (vgl. Hickethier 1999: 348). Die Rezeption des vertrauten mythischen Grundmusters, das sich zur Strukturie67 rung und Kommunikation von Erfahrung im Leben des Einzelnen bewährt hat, bereitet Sicherheit und Lust, zwei Empfindungen, denen sich der Mensch nicht entziehen kann. 68 5. Schlussbetrachtung und Ausblick Ziel der vorliegenden Arbeit war es, eine Begründung für die andauernde Präsenz des Mythos in der Gegenwart zu erbringen. Hierzu wurde der Mythos ausgehend von seiner Definition in der aristotelischen Poetik als Struktur begriffen. Als Form der Organisation und Darstellung vermag es der Mythos, die zu vermittelnden Inhalte in einen folgerichtigen und dramatischen Zusammenhang zu bringen und dem Handlungsgeschehen hierdurch Sinn zu verleihen. Sein Sinnpotential entfaltet der Mythos in der Rezeption. Um die Effekte und Funktionen dieser narrativen Vermittlungsform zu ergründen, wurde das Zusammenspiel von Individuum, Gesellschaft und Medium untersucht. Der theoretische Rahmen des Sozialkonstruktivismus, wie ihn Peter Berger und Thomas Luckmann in geistiger Kontinuität zu George Mead und dem Symbolischen Interaktionismus entwickelten, erwies sich hierfür als zielführend. Indem sie soziale Interaktionen beobachtbar machen, Verhaltensmuster narrativ exemplifizieren, imprägnieren und reimprägnieren die rhapsodischen sowie die audiovisuellen Darstellungen der Massenmedien kontinuierlich soziales Wissen. Sie leisten damit einen wesentlichen Beitrag zur Integration des Individuums in die Gesellschaft, deren Kontinuität sie in ihrer Funktion als kollektives Gedächtnis zugleich sichern. Aus seiner poetologischen und funktionalen Leistung ergibt sich der Wert des Mythos für die Gegenwart. Angesichts der Komplexität der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der hieraus resultierenden Vielzahl potenzieller Erlebnisse sowie Identitätsentwürfe speist sich die Allgegenwart der mythischen Form in verschiedenen, auch den audiovisuellen, Medien aus ihrer anthropologischen Qualität: Narrationen ordnen Erlebtes in vertraute Kategorien ein, verleihen ihm Bedeutung und wirken hierdurch handlungsweisend. Die Konstanz des Mythos hat folglich zwei wechselseitig aufeinander bezogene Ursachen: Sie erklärt sich zum einen aus dem Vermögen der mythischen Form, Sinn zu geben, zum anderen ist das Sinnpotenzial des Mythos selbst eine Folge des menschlichen Bedürfnisses nach Bedeutsamkeit. Obgleich die Bedeutung von Narrationen für das menschliche Leben hinlänglich bekannt ist und längst interdisziplinär erforscht wird, wurde mit der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, mittels der Verengung des mehrdimensionalen Mythosbegriffs auf seine formalen Charakteristika neben den Effekten und Funktionen auch die formale Konstanz zweier Vermittlungsarten des Mythos, der mündlichen sowie der audiovisuellen, herauszuarbeiten. Hierdurch konnte gezeigt werden, dass die audiovisuel69 len Medien das gesprochene Wort wiederbeleben und der Dualismus von Mündlichkeit und Schriftlichkeit das bestimmende Paradigma der medientechnischen Entwicklung ist. In Zukunft wird die Frage interessant sein, ob audiovisuelle Narrationen als Ersatzreligion im digitalen Medienzeitalter Bestand haben. Zwar sind Film und Fernsehen seit nunmehr einem Jahrhundert weltweit von größter Relevanz, doch zeigt sich am Beispiel von Computerspielen, dass sich der Mythos längst andere Wege und Vermittlungsformen gesucht hat. Virtuelle Realitäten eröffnen zudem die Möglichkeit, Narrationen nicht nur zu rezipieren, sondern sie aktiv mitzugestalten. In der virtuellen Welt wird jeder Mensch zum Geschichtenerzähler. Ob er Neues zu berichten weiß, bleibt fraglich. 70 Literaturverzeichnis ABELS, Heinz/KÖNIG, Alexandra (2010): Sozialisation. Soziologische Antworten auf die Frage, wie wir werden, was wir sind, wie gesellschaftliche Ordnung möglich ist und wie Theorien der Gesellschaft und der Identität ineinanderspielen. Wiesbaden: VS. ANDRONIKASHVILI, Zaal (2009): Die Erzeugung des dramatischen Textes. Ein Beitrag zur Theorie des Sujets. Berlin: Erich Schmidt. ARISTOTELES: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann (1982). Stuttgart: Reclam (= Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 7828). ASSMANN, Aleida (2001): Wie wahr sind Erinnerungen? In: Welzer 2001, 103-122. ASSMANN, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck. ASSMANN, Aleida/ASSMANN, Jan (1994): Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Merten/Schmidt/Weischenberg 1994, 114-140. ASSMANN, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck. BALL, Samuel/PALMER, Patricia/MILLWARD, Emelia (1986): Television and its Educational Impact: A Reconsideration. In: Bryant, Jennings/Zillmann, Dolf (Hgg.): Perspectives on Media Effects. Hillsdale: Erlbaum, 129-142. BANDURA, Albert (32009): Social Cognitive Theory of Mass Communication. In: Bryant, Jennings/Oliver, Mary B. (Hgg.): Media Effects. Advances in Theory and Research. New York: Routledge, 94-124. BANDURA, Albert (1986): Social Foundations of Thought and Action. Englewood Cliffs: Prentice Hall. BANDURA, Albert (1971): Social Learning Theory. Morristown: General Learning Press. BARTEL, Heike (2004): Mythos in der Literatur. Münster: Aschendorff Verlag. BENJAMIN, Walter (1939): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Dritte Fassung. Online verfügbar unter: http://www.arteclab.unibremen.de/~robben/KunstwerkBenjamin.pdf [Letzter Zugriff: 16.01.15]. BERGER, Peter/LUCKMANN, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. Main: Fischer. BLEICHER, Joan K. (1999): Fernsehen als Mythos. Annäherung an eine Poetik des Narrativen. Opladen: Westdeutscher Verlag. BLUMENBERG, Hans (51990): Arbeit am Mythos. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. 71 BLUMENBERG, Hans (1971): Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos. In: Fuhrmann, Manfred (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München: Fink, 11-66. BONFADELLI, Heinz (32004): Medienwirkungsforschung I: Grundlagen und theoretische Perspektiven. Konstanz: UVK. BORDWELL, David (1985): Narration in the Fiction Film. Madison: The University of Wisconsin Press. BÖHN, Andreas/SEIDLER, Andreas (22014): Mediengeschichte. Eine Einführung. Tübingen: Narr. BRUNER, Jerome S. (1998): Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen. In: Straub 1998, 46-80. CAMPBELL, Joseph (32004): The Hero with a Thousand Faces. Princeton/Oxford: University Press. CAMPBELL, Joseph (1994): Die Kraft der Mythen. Bilder der Seele im Leben des Menschen. In Zusammenarbeit mit Bill Moyers. Zürich/München: Artemis Verlag. CHATMAN, Seymour (1978): Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca/London: Cornell University Press. DIERSE, Ulrich (1977): Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn: Bouvier. DÖRR, Volker (2009): Tragödienpoetiken Vorlesungsskript, Universität Bonn. des 18. bis 20. Jahrhunderts. ERLL, Astrid/WODIANKA, Stephanie (2008): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Berlin: de Gruyter. ERLL, Asrid (2005): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: Metzler. ESTÉS, Clarissa P. (32004): Introduction to the 2004 Commemorative Edition. In: Campbell, Joseph: The Hero with a Thousand Faces. Princeton/Oxford: University Press, Xxiii-lxvi. FAULSTICH, Werner (2006): Mediengeschichte von den Anfängen bis 1700. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. FRIEDRICHS, Jürgen (42007): Wert. In: Fuchs-Heinritz, Werner/Klimke, Daniela/Lautmann, Rüdiger/Rammstedt, Otthein/Stäheli, Urs/Weischer, Christoph/Wienold, Hanns (Hgg.): Lexikon zur Soziologie. Wiesbaden: VS, 725. FRISCH, Max (1975): Stichworte. Hg. v. Uwe Johnson. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. 72 FRITZ, Karsten/STING, Stephan/VOLLBRECHT, Ralf (Hgg.) (2003): Mediensozialisation. Pädagogische Perspektiven des Aufwachsens in Medienwelten. Opladen: Leske u. Budrich. FRYE, Northrop (1964): Analyse der Literaturkritik. Stuttgart: Kohlhammer. FUHRMANN, Manfred (1982): Nachwort. In: Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam (= Reclams UniversalBibliothek, Bd. 7828), 144-178. GENETTES, Gérard (1998): Erzählung und Diskurs. In: Mentzer, Alf/Sonnenschein, Ulrich (Hgg.) (2007): Die Welt der Geschichten. Kunst und Technik des Erzählens. Frankfurt a. Main: Fischer, 117-124. GERBNER, George/GROSS, Larry/MORGAN, Michael/SIGNORIELLI, Nancy (1986): Living with Television: The Dynamics of the Cultivation Process. In: Bryant, Jennings/ Zillmann, Dolf (Hgg.): Perspectives on Media Effects. Hillsdale: Erlbaum, 17-40. GOFFMAN, Erving (1980): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. GÖRDEN, Michael/MEISER, Hans C. (1994): Madonna trifft Herkules. Die alltägliche Macht der Mythen. Frankfurt a. Main: Krüger. HABERER, Johanna (1993): Die verborgene Botschaft. Fernseh-Mythen – Fernseh-Religion. In: Kortzfleisch, Siegfried/Cornehl, Peter (Hgg.): Medienkult – Medienkultur. Berlin [u.a.]: Reimer, 104-128. HALBWACHS, Maurice (1994) : Les cadres sociaux de la mémoire. Paris: Albin Michel. HALBWACHS, Maurice (1950): La mémoire collective. Paris: Presses Universitaires de France. Online verfügbar unter: http://classiques.uqac.ca/classiques/Halbwachs_ maurice/memoire_collective/memoire_collective.pdf [Letzter Zugriff: 14.01.15]. HARTLEY, John (1999): Uses of Television. London/New York: Routledge. Online verfügbar unter: www.qiu.ir/files/110/document/general/1391/7/30/ef95c80f00a 749fd860263d3179fc5b3.pdf [Letzter Zugriff: 14.01.15]. HARTMANN, Tilo/SCHRAMM, Holger (2007): Identität durch Mediennutzung? Die Rolle von parasozialen Interaktionen und Beziehungen mit Medienfiguren. In: Hoffmann, Dagmar/Mikos, Lothar (Hgg.): Mediensozialisationstheorien. Neue Modelle und Ansätze in der Diskussion. Wiesbaden: VS, 201-219. HARTMANN, Tilo/SCHRAMM, Holger/KLIMMT, Christoph (2004): Personenorientierte Medienrezeption: Ein Zwei-Ebenen-Modell parasozialer Interaktionen. In: Publizistik, 49. Jg., Nr. 1, 25-47. HAVELOCK, Eric A. (1990): Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution. Weinheim: VCH Acta Humaniora. 73 HAVELOCK, Eric A. (1986): The Muse Learns to Write: Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present. New Haven/London: Yale University Press. HAVELOCK, Eric A. (1982): The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences. Princeton: Princeton University Press. HAVELOCK, Eric A. (1980): The Oral Composition of Greek Drama. In: Gentili, Bruno/ Paioni, Giuseppe (Hgg.): Oralità: Cultura, Letteratura, Discorso. Rom: Edizioni dell’Ateneo, 713-765. HAVELOCK, Eric A. (1963): Preface to Plato. A History of the Greek Mind. Cambridge/London: The Belknap Press of Harvard University Press. HEJL, Peter M. (1994): Soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Merten/Schmidt/ Weischenberg 1994, 43-59. HENTSCHEL, Ulrike (2005): Das Theater als moralisch-pädagogische Anstalt? Zum Wandel der Legitimationen von der Pädagogik des Theaters zur Theaterpädagogik. In: Liebau, Eckart/Klepacki, Leopold/Linck, Dieter/ Schröer, Andreas/ Zirfas, Jörg (Hgg.): Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule. Weinheim/München: Juventa, 31-52. Online verfügbar unter: http://www.udk-berlin.de/sites/ theaterpaedagogik/content/e348/e111003/e111004/infoboxContent111009/DasT heateralsmoralisch-pdagogischeAnstalt_ger.pdf [Letzter Zugriff: 14.01.15]. HEUERMANN, Hartman (1994): Medien und Mythen. Die Bedeutung regressiver Tendenzen in der westlichen Medienkultur. München: Fink. HICKETHIER, Knut (32001): Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart/Weimar: Metzler. HICKETHIER, Knut (2000a): Transformation. Sinnstiftung, Wertevermittlung und Ritualisierung des Alltags durch das Fernsehen. In: Thomas, Günter (Hg.): Religiöse Funktionen des Fernsehens? Opladen: Westdeutscher Verlag, 29-44. HICKETHIER, Knut (2000b): Kino in der Erlebnisgesellschaft. Zwischen Videomarkt, Multiplex und Imax. In: Schenk, Irmbert (Hg.): Erlebnisort Kino. Marburg: Schüren, 150-165. HICKETHIER, Knut (1999): Orientierungsvermittlung, Verhaltensmodellierung, Sinnstiftung – Zu den gesellschaftlichen Funktionen der Medien. In: Medien + Erziehung, 43. Jg., Nr. 6, 348-351. HICKETHIER, Knut (1994): Das Fernsehspiel oder Der Kunstanspruch der Erzählmaschine Fernsehen. In: Schanze, Helmut/Zimmermann, Bernhard (Hgg.): Das Fernsehen und die Künste. München: Fink, 303-348 (= Geschichte des Fernsehens der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2). HICKETHIER, Knut (1992): Bildschirmwelten, virtuelle Realitäten und individuelle Lebensperspektiven. In: Angebote. Organ für Ästhetik, H. 4, 67-87. 74 HICKETHIER, Knut (1988): Unterhaltung ist Lebensmittel. Zu den Dramaturgien der Fernsehunterhaltung – und ihrer Kritik. In: TZS, Nr. 26, 5-16. HOCHSCHULE DER MEDIEN STUTTGART (o.J.): Definition des Begriffes Edutainment. Online verfügbar unter: http://www.ifak-kindermedien.de/ifak/medientipps/ edutainment/definition/ [Letzter Zugriff: 16.01.15]. HOFMANN, Michael (2013): Drama. Grundlagen, Gattungsgeschichte, Perspektiven. München: Fink. HOGGART, Richard (1960): The Uses of Television. In: Encounter, 14. Jg., Nr. 1, 38–45. HOLL, Mirjam-Kerstin (2003): Semantik und soziales Gedächtnis. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die Gedächtnistheorie Aleida und Jan Assmanns. Würzburg: Königshausen & Neumann. HURRELMANN, Bettina (1994): Kinder und Medien. In: Merten/Schmidt/Weischenberg 1994, 377-407. HÜLK, Walburga (2006): Alte Mythen – Neue Medien. In: Hoffmann, Yasmin/Hülk, Walburga/Roloff, Volker (Hgg.): Alte Mythen – Neue Medien. Heidelberg: Winter. 7-10. INSIDEKINO (2012): Top 100 Deutschland 2008. Online verfügbar http://insidekino.de/DJahr/D2008.htm [Letzter Zugriff: 16.02.15]. unter: JAEGER, Werner (21936): Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Bd. 1, Berlin/Leipzig: de Gruyter. JUNG, Carl G. (1995): Die Archetypen und das kollektive Unbewußte. In: Jung-Merker, Lilly/Rüf, Elisabeth (Hgg.): Gesammelte Werke. Bd. 9,1, Düsseldorf: Walter. KEPPLER, Angela (2005): Medien und soziale Wirklichkeit. In: Jäckel, Michael (Hg.): Mediensoziologie. Grundfragen und Forschungsfelder. Wiesbaden: VS, 91-106. KEPPLER, Angela (2001): Soziale Formen individuellen Erinnerns. Die kommunikative Tradierung von (Familien-)Geschichte. In: Welzer 2001, 137-159. KETTNER, Matthias (2004): Werte und Normen – Praktische Geltungsansprüche von Kulturen. In: Jaeger, Friedrich/Liebsch, Burkhard (Hgg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Bd. 1, Stuttgart: Metzler, 219-231. KIRK, Geoffrey S. (1973): Myth: Its Meaning and Functions in Ancient and Other Cultures. Berkeley/Los Angeles: University of California Press. KLIPPEL, Heike (1997): Gedächtnis und Kino. Basel/Frankfurt a. Main: Stroemfeld. KLOEPFER, Rolf (42008): Histoire vs. discours. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler, 287-288. 75 KNOBLAUCH, Hubert (2005): Wissenssoziologie. Konstanz: UVK. KOCH, Peter/OESTERREICHER, Wulf (1994): Schriftlichkeit und Sprache. In: Günther, Helmut/Ludwig, Otto (Hgg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Halbband, Berlin/New York: de Gruyter, 587-604. KRÜGER, Brigitte/STILLMARK, Hans-Christian (2013): Vorwort. In: Krüger, Brigitte/ Stillmark, Hans-Christian (Hgg.): Mythos und Kulturtransfer. Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien. Bielefeld: Transcript, 9-16. KUNCZIK, Michael/ZIPFEL, Astrid (52006): Gewalt und Medien. Ein Studienhandbuch. Köln [u.a.]: Böhlau. KÜBLER, Hans-Dieter (2010): Medienwirkung versus Mediensozialisation. In: Vollbrecht, Ralf/Wegener, Claudia (Hgg.): Handbuch Mediensozialisation. Wiesbaden: VS, 17-31. LEHMANN, Albrecht (2007): Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des Erzählens. Berlin: Reimer. LESSING, Gotthold E. (31978): Hamburgische Dramaturgie. Kritisch durchges. Gesamtausgabe mit Einleitung u. Kommentar v. Otto Mann. Stuttgart: Alfred Kröner (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 267). LORD, Albert B. (1965): Der Sänger erzählt. Wie ein Epos entsteht. München: Hanser. LOTHAR Mikos (2000): „It’s a Family Affair“. Fernsehserien und ihre Bedeutung im Alltagsleben. In: Thomas, Günter (Hg.): Religiöse Funktionen des Fernsehens? Opladen: Westdeutscher Verlag, 231-245. LUCKMANN, Thomas (2006): Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. In: Tänzler, Dirk/Knoblauch, Hubert/Soeffner, Hans-Georg (Hgg.): Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. Konstanz: UVK, 15-26. LUHMANN, Niklas (42009): Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS. LUHMANN, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. LUKESCH, Helmut (1996): Medien und ihre Wirkungen. Eine Einführung aus Sicht der Wissenschaft. Donauwörth [u.a.]: Auer. MANUSCOM, James C. (1986): The Acquisition and Use of Narrative Grammar Structure. In: Sarbin 1986, 91-110. MCLUHAN, Marshall (22011): Understanding Media. The Extensions of Man. Kritische Ausgabe hg. v. W. Terrence Gordon. Berkeley: Gingko Press. MCLUHAN, Marshall/FIORE, Quentin (2008): The Medium is the Massage. An Inventory of Effects. London: Penguin. 76 MCQUAIL, Denis (62010): Mass Communication Theory. London: Sage. MEAD, George H. (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Aus Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. MEHLIG, Gabriele (2007): Fernsehen mit Leib und Seele. Eine phänomenologische Interpretation des Fernsehens als Handeln. Konstanz: UVK (= Kommunikation au-diovisuell, Bd. 37). MEIER, Christel (32007): Enzyklopädie. In: Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/ Moenninghoff, Burkhard (Hgg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/Weimar: Metzler, 192-193. MERTEN, Klaus/SCHMIDT, Siegried J./WEISCHENBERG, Siegfried (Hgg.) (1994): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag MERTEN, Klaus (1994): Wirkungen von Kommunikation. In: Merten/Schmidt/Weischenberg 1994, 291-329. MOENNINGHOFF, Burkhard (32007): Literatur. In: Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/ Moenninghoff, Burkhard (Hgg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/Weimar: Metzler, 445. MURRAY, Penelope/WILSON, Peter (2004): Introduction: Mousike, not Music. In: Murray, Penelope/Wilson, Peter (Hgg.): Music and the Muses. The Culture of Mousike in the Classical Athenian City. Oxford: Oxford University Press, 1-8. MÜLLER, Corinna (2003): Vom Stummfilm zum Tonfilm. München: Fink. MÜLLER, Klaus (1996a): Erkenntnistheorie und Lerntheorie. Geschichte ihrer Wechselwirkung vom Repräsentationalismus über den Pragmatismus zum Konstruktivismus. In: Müller, Klaus (Hg.): Konstruktivismus. Lehren – Lernen – Ästhetische Prozesse. Neuwied: Luchterhand, 24-70. MÜLLER, Klaus (1996b): Wege konstruktivistischer Lernkultur. In: Müller, Klaus (Hg.): Konstruktivismus. Lehren – Lernen – Ästhetische Prozesse. Neuwied: Luchterhand, 71-115. NEUMANN, Birgit (2005): Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin/New York: de Gruyter. NÜNNING, Ansgar (2013): Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie. In: Strohmaier 2013, 15-53. NÜNNING, Vera: (2013) Erzählen und Identität: Die Bedeutung des Erzählens im Schnittfeld zwischen kulturwissenschaftlicher Narratologie und Psychologie. In: Strohmaier 2013, 145-169. 77 ONG, Walter J. (32012): Orality and Literacy. London: Routledge. ONG, Walter J. (1967): The Presence of the Word. New Haven: Yale University Press. PAPA, Michael J./SINGHAL, Arvind/LAW, Sweety/PANT, Saumya/SOOD, Suruchi/ ROGERS, Everett M./SHEFNER-ROGERS, Corinne (2000): Edutainment-Education and Social Change: An Analysis of Parasocial Interaction, Social Learning, Collective Efficacy, and Paradoxical Communication. In: Journal of Communication, 50. Jg., Nr. 4, 31-55. PERSE, Elizabeth M. (2001): Media Effects and Society. Mahwah/London: Erlbaum. PETERS, Helge (2008): Norm/Devianz. In: Farzin, Sina/Jordan, Stefan (Hgg.): Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: Reclam, 206209. PLATON: Menon. In: Schleiermacher, Friedrich D. E. (Hg.) (31856): Platons Werke. Bd. 1,2, Berlin: Reimer. Online verfügbar unter: http://www.opera-platonis.de/ Menon.html [Letzter Zugriff: 16.01.15]. POLKINGHORNE, Donald E. (1998): Narrative Psychologie und Geschichtsbewusstsein. Beziehungen und Perspektiven. In: Straub 1998, 12-45. POWELL, Barry B. (2002): Writing and the Origins of Greek Literature. Cambridge: Cambridge University Press. POWELL, Barry B. (1991): Homer and the Origin of the Greek Alphabet. Cambridge: Cambridge University Press. RACHET, Guy (2002): Lexikon der griechischen Welt. Düsseldorf/Zürich: Patmos. RAMMSTEDT, Otthein (42007): Moral. In: Fuchs-Heinritz, Werner/Klimke, Daniela/ Lautmann, Rüdiger/Rammstedt, Otthein/Stäheli, Urs/Weischer, Christoph/ Wienold, Hanns (Hgg.): Lexikon zur Soziologie. Wiesbaden: VS, 443-444. REICHERTZ, Jo (2007): Nach den Kirchen hetzt das Fernsehen? Kann das Fernsehen Werte vermitteln? In: Hoffmann, Dagmar/Mikos, Lothar (Hgg.): Mediensozialisationstheorien. Neue Modell und Ansätze in der Diskussion. Wiesbaden: VS, 147-166. RIEGLER, Alexander (2008): Wirklichkeit. In: Farzin, Sina/Jordan, Stefan (Hgg.): Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: Reclam, 322–324. ROBB, Kevin (1994): Literacy and Paideia in Ancient Greece. Oxford: Oxford University Press. ROBINSON, John A./HAWPE, Linda (1986): Narrative Thinking as a Heuristic Process. In: Sarbin 1986, 111-125. 78 RÖLL, Franz J. (1998): Mythen und Symbole in populären Medien. Der wahrnehmungsorientierte Ansatz in der Medienpädagogik. Frankfurt a. Main: GEP. RYSSEL, Dirk (2012): Dreiakter/Dreiaktstruktur. In: Lexikon der Filmbegriffe. Online verfügbar unter: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag= det&id=2401 [Letzter Zugriff: 28.10.2014]. SARBIN, Theodore R. (Hg.) (1986): Narrative Psychology. The Storied Nature of Human Conduct. New York: Praeger. SARBIN, Theodore R. (1986): Introduction and Overview. In: Sarbin 1986, ix-xviii. SCHENK, Michael (32007): Medienwirkungsforschung. Tübingen: Mohr Siebeck. SCHIEWER, Gesine L. (32007): Affektenlehre. In: Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/ Moenninghoff, Burkhard (Hgg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/Weimar: Metzler, 7. SCHILLER, Friedrich (1906): Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet. In: Köster, Albert (Hg.): Schillers sämtliche Werke. Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe, Bd. 4: Philosophische Schriften, Leipzig: Insel. SCHMIDT/Siegfried J. (1994): Die Wirklichkeit des Beobachters. In: Merten/Schmidt/ Weischenberg 1994, 3-19. SCHMIDT, Siegfried J. (1993): Gedächtnis – Erzählen – Identität. In: Assmann, Aleida/ Harth, Dietrich (Hgg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a. Main: Fischer, 378-397. SCHNEIDER, Michael (2007): Erzählen im Kino. In: Mentzer, Alf/Sonnenschein, Ulrich (Hgg.): Die Welt der Geschichten. Kunst und Technik des Erzählens. Frankfurt a. Main: Fischer, 332-346. SCHWAB, Frank (2008): Unterhaltung. In: Krämer, Nicole C./Schwan, Stephan/Suckfüll, Monika/Unz, Dagmar (Hgg.): Medienpsychologie. Schlüsselbegriffe und Konzepte. Stuttgart: Kohlhammer, 242-248. SCHWENDER, Klaus (2001): Medien und Emotion. Evolutionspsychologische Bausteine einer Medientheorie. Wiesbaden: DUV. SIMONIS, Anette (2004): Einleitung: Mythen als kulturelle Repräsentationen in den verschiedenen Künsten und Medien. In: Simonis, Anette/Simonis, Linda (Hgg.): Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Köln/ Weimar: Böhlau, 1-26. SOMMER, Roy (2009): Kollektiverzählungen. Definitionen, Fallbeispiele und Erklärungsansätze. In: Klein, Christian/Martinez, Matias (Hgg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 229-244. 79 STRAUB, Jürgen (2013): Kann ich mich selbst erzählen – und dabei erkennen? Prinzipien und Perspektiven einer Psychologie des Homo narrator. In: Strohmaier 2013, 75-144. STRAUB, Jürgen (Hg.) (1998): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität I. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. STRAUB, Jürgen (1998): Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Straub 1998, 81-169. STROHMAIER, Alexandra (Hg.) (2013): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven trans-disziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld: Trans-cript SUTTON-SMITH, Brian (1986): Children’s Fiction Making. In: Sarbin 1986, 67-90. TREPTE, Sabine/REINECKE, Leonard (2013): Medienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer (= Grundriss der Psychologie, Bd. 27). VOGLER, Christopher (21998): Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt a. Main: Zweitausendeins. WEGENER, Claudia (2007): Medienpersonen als Sozialisationsagenten – Zum Umgang Jugendlicher mit medialen Bezugspersonen. In: Hoffmann, Dagmar/Mikos, Lothar (Hgg.): Mediensozialisationstheorien. Neue Modell und Ansätze in der Diskussion. Wiesbaden: VS, 185-199. WELCH, Kathleen E. (1993): Reconfiguring Writing and Delivery in Secondary Orality. In: Reynolds, John F. (Hg.): Rhetorical Memory and Delivery. Classical Concepts for Contemporary Composition and Communication. Hillsdale: Erlbaum, 17-30. WELZER, Harald (Hg.) (2001): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition. WELZER, Harald (2001): Das soziale Gedächtnis. In: Welzer 2001, 9-21. WINEBURG, Sam (2001): Sinn machen: Wie Erinnerung zwischen den Generationen gebildet wird. In: Welzer 2001, 179-204. WITTROCK, Manfred (2005): Entwicklung und Förderung von „Literacy & Behavioral Literacy“. Vortrag auf dem internationalen Symposium „Children, Young People and Families at Risk”, Universität Oldenburg. ZDF (2014): Sendungsinformation Sesamstraße. Online verfügbar unter: http://www.zdf.de/ZDF/zdfportal/programdata/3dbbe367-9e5a-4136-92a1f5d923fc5c17/20351856?generateCanonicalUrl=true [Letzter Zugriff: 16.01.15]. 80 ZDF (2009): Richtlinien für die Sendungen und Telemedienangebote des „Zweiten Deutschen Fernsehens“ vom 11. Juli 1963 in der Fassung vom 11. Dezember 2009. Online verfügbar unter: http://www.zdf.de/ZDF/zdfportal/blob/ 26076694/1/data.pdf [Letzter Zugriff: 16.01.15]. 81 Anhang A Die Reise des Helden in der Odyssee von Homer nach Joseph Campbell (32004): The Hero with a Thousand Faces. Princeton/Oxford: University Press, 227. Aufbruch 1. Ruf des Abenteuers Odysseus, König von Ithaka, wird von Menelaos und Agamemnon aufgefordert, mit ihnen in den Kampf um Troja zu ziehen und die von Paris entführte Helena zu ihrem rechtmäßigen Ehemann, Menelaos, zurückzubringen. 2. Weigerung Odysseus möchte seine Familie, vor allem seinen neugeborenen Sohn, nicht verlassen. Auch hat er erfahren, erst nach langer Zeit sowie allein zurückzukehren. Er täuscht deswegen einen Wahnsinnigen vor, wird aber von Palamedes durchschaut. Dieser bedroht Odysseus’ Sohn Telemach, woraufhin Odysseus einwilligt, zu gehen. 3. Übernatürliche Hilfe Athene unterstützt Odysseus auf seiner Reise, indem sie ihm hilft und ihn anleitet. 4. Überschreiten der ersten Schwelle Der Trojanische Krieg. Odysseus erweist sich als Führer, Ratgeber, Vermittler und als Helfer des Agamemnon. 5. Im Bauch des Wals Auf der Rückfahrt nach Ithaka gelangen Odysseus und seine Männer zu den thrakischen Kikonen. Hier zeigt sich Odysseus als beutegieriger Eroberer, der die Stadt plündert und die erbeuteten Schätze und Frauen mit seinen Männern teilt. Die mangelnde Disziplin der wein- und siegestrunkenen Truppe gibt den Kikonen Gelegenheit, sich auf einen Gegenangriff vorzubereiten. Viele Männer büßen diesen mit ihrem Leben, mit den übrigen flieht Odysseus. Dieses Erlebnis führt Odysseus seine Verfehlung vor Augen und bereitet den Weg für seine innere Reise. 82 Initiation 6. Weg der Prüfungen Die Irrfahrt des Odysseus mit ihren vielen Proben: die Begegnung mit den Kyklonen, den Laistrygonen, der Zauberin Kirke, den Sirenen, der Skylla. 7. Begegnung mit der Göttin Odyssee begegnet unter anderem der Zauberin Kirke, die ihn bezirzt. 8. Frau als Verführerin Trotz Kirkes Liebeswerben beschließt Odysseus nach einem Jahr, die Heimreise fortzusetzen. Kirke rät ihm, im Hades den Geist des Sehers Theiresias nach dem weiteren Schicksal seiner Reise zu befragen. 9. Versöhnung mit dem Vater Im Hades trifft Odysseus auf seine während seiner Abwesenheit verstorbene Mutter. Diese berichtet von den Ereignissen in der Heimat. Auch seine verstorbenen Mitkämpfer aus dem Trojanischen Krieg und seinen verunglückten Gefährten Elpenor trifft Odysseus im Hades. Theiresias gibt ihm Ratschläge für die Weiterfahrt. 10. Apotheose Sieben Jahre lang hält die Nymphe Kalypso Odysseus fest. Eine Zeit in der sie ihn liebevoll umsorgt, sogar unsterblich wollte sie Odysseus machen. Für Odysseus ist es eine Zeit der Ruhe, aber auch des Wartens. 11. Der endgültige Segen Athene setzt durch, dass Odysseus heimkehren kann. Im Auftrag des Zeus kann Hermes Kalypso dazu bringen, Odysseus loszulassen und ihm die Rückkehr zu ermöglichen. Rückkehr 12. Weigerung zur Rückkehr Zwar ist Odysseus unglücklich über seine Gefangenschaft, jedoch ist er auch Kalypsos Liebhaber. Er verweigert seine Rückkehr, indem er trotz seiner Stärke und List nicht versucht zu fliehen und stattdessen ein williger Gefangener bleibt. 13. Die magische Flucht Athene erinnert Odysseus an die Welt, die er zurückgelassen hat und weckt erneut seinen Wunsch zur Rückkehr. Mit Hilfe der Göttin Kalypso gelingt es ihm, die Insel zu verlassen: Sie 83 stattet ihn mit den Materialien für den Bau eines Floßes aus, versorgt ihn mit Speisen für die Fahrt sowie mit Wind. 14. Rettung von Außen Poseidons Zorn lässt Odysseus in einen Sturm geraten, der sein Floß zerstört. Die Meeresgöttin Ino-Leukothea leiht Odysseus ihren Schleier und rettet ihn so vor dem Ertrinken. 15. Überschreiten der Schwelle zur Rückkehr Odysseus erreicht nach zwei Tagen schwimmend das Land der Phaiaken. Ihnen erzählt er die Geschichte seiner Irrfahrt, woraufhin sie ihm voller Bewunderung die Heimkehr nach Ithaka mit einem ihrer Zauberschiffe ermöglichen. 16. Herr der zwei Welten Nach zwanzig Jahren kehrt Odysseus als charakterlich gestärkter König nach Ithaka zurück. Damit Odysseus zunächst unerkannt bleibt, gibt Athene ihm das Aussehen eines Bettlers. Abschließend muss sich Odysseus gegenüber der ihm vertrauten Welt beweisen und das Vertrauen seines Sohnes und seiner Frau erlangen. Es gelingt ihm, sich ebenso als Herr seiner gewohnten Welt zu erweisen, wie auch das während der Reise Erlernte klug einzusetzen und die Freier seiner Frau zu töten. 17. Freiheit zu Leben Odysseus Heimkehr ist vollendet, seine Reise abgeschlossen, als Penelope in ihm ihren Ehemann wiedererkennt. Quellen: ROSE, Herbert J. (32012): Griechische Mythologie. Ein Handbuch. München: C.H. Beck, 220-242. LÜCKE, Hans/LÜCKE, Susanne (2006): Helden und Gottheiten der Antike. Ein Handbuch. Der Mythos und seine Überlieferung in Literatur und Bildender Kunst. Wiesbaden: Marix Verlag, 400-436. 84 Anhang B Die Reise des Helden in MATCH POINT (GB/USA/L 2005, Woody Allen) nach Christopher Vogler (21998): Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt a. Main: Zweitausendeins, 54-75. I. Akt 1. Gewohnte Welt Der ehemalige Tennisprofi Chris Wilton, aus einfachen Verhältnissen stammend, verlässt seine Heimat Irland, um in London als Tennislehrer zu arbeiten. 2. Ruf des Abenteuers Chris schließt Bekanntschaft mit Tom Hewett, der aus einer vermögenden Unternehmerfamilie stammt. 3. Weigerung Chris bleibt zunächst den Prinzipien seiner Herkunft treu, will für Opernkarten und Essen selbst bezahlen. In einem teuren Restaurant bestellt er Grillhähnchen statt Kaviar. 4. Begegnung mit dem Mentor Toms Schwester Chloe fühlt sich zu Chris hingezogen. Auf ihre Initiative hin beginnt Chloe, sich alleine mit Chris zu treffen. 5. Überschreiten der ersten Schwelle Chris geht eine Beziehung mit Chloe ein; Chloes Vater verhilft Chris zu einem Job in seinem Unternehmen. Chris’ sozialer Aufstieg beginnt. II. Akt 6. Bewährungsproben, Verbündete, Feinde Chris lernt Toms Verlobte, die erfolglose und attraktive Schauspielerin Nola Rice, kennen. Seit ihrer ersten Begegnung fühlt Chris sich zu ihr hingezogen und sucht ihre Nähe. 7. Vordringen zur tiefsten Hölle Chris und Nola schlafen miteinander. Nachdem Tom sich wegen einer anderen Frau von Nola trennt, entwickelt sich aus diesem Vorfall eine Affäre. 85 8. Entscheidende Prüfung Nola wird unerwartet schwanger, während Chris und Chloe seit langem erfolglos versuchen, ein Kind zu bekommen. Chris muss sich entscheiden zwischen seiner Frau, die ihn langweilt, aber der Garant für ein Leben in Wohlstand ist, und der Frau, zu der er sich hingezogen fühlt. 9. Belohnung Nola setzt Chris unter Druck und droht, Chloe von ihrem Verhältnis zu berichten. Schließlich fasst Chris den Entschluss, seine soziale Position nicht aufs Spiel zu setzen und statt in seine gewohnte, in die neue Welt zurückzukehren. Er schmiedet deshalb einen Plan. III. Akt 10. Rückweg Chris bringt Nola um und tarnt ihren Tod durch einen zweiten Mord an Nolas Nachbarin als Raubmord. 11. Auferstehung Die endgültige Rückkehr in das Leben mit seiner inzwischen schwangeren Frau Chloe ermöglicht Chris ein glücklicher Zufall: Die ermittelnden Polizisten verdächtigen Chris bereits, die Tat begangen zu haben. Doch dann wird der Ehering von Nolas Nachbarin in der Tasche eines bei einem Raubmord getöteten Drogenabhängigen gefunden. Der Ring, den Chris bei Nolas Nachbarin zur Verschleierung seiner Tat entwendet und danach in der Themse entsorgt hatte, ist nie in den Fluss gefallen, sondern so am Ufergeländer abgeprallt, dass er wieder auf den Gehweg fiel und von einem Unschuldigen gefunden werden konnte. 12. Rückkehr mit dem Elixier Chris muss fortan mit seiner Schuld leben. Er erkennt, dass seine Tat der Welt, in der er nun lebt, entspricht. In ihr gibt es keine Gerechtigkeit; alleine das Glück entscheidet über Erfolg und Misserfolg. Durch die Tatsache, dass er nicht des Mordes überführt wurde, sieht sich Chris in seiner Weltsicht bestätigt. 86 Anhang C Die Reise des Helden in VINCENT WILL MEER (D 2010, Ralf Huettner) nach Christopher Vogler (21998): Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt a. Main: Zweitausendeins, 54-75. I. Akt 1. Gewohnte Welt Der am Tourette-Syndrom erkrankte Vincent lebt bei seiner Mutter. 2. Ruf des Abenteuers Als seine Mutter plötzlich stirbt, beabsichtigt sein Vater, Politiker und mit Vincents Krankheit überfordert, ihn in einer Fachklinik unterzubringen. 3. Weigerung Vincent möchte nicht ins „Heim“, lässt es aber mit sich geschehen. 4. Begegnung mit dem Mentor In der Klinik begegnet Vincent der magersüchtigen Marie, die ihn mit den Räumlichkeiten vertraut macht und ihn zu seiner Krankheit befragt. 5. Überschreiten der ersten Schwelle Marie entwendet den Autoschlüssel der Klinikleiterin und schlägt Vincent vor, gemeinsam aus der Klinik zu flüchten. Vincent, der den letzten Wunsch seiner Mutter, noch einmal das Meer zu sehen, erfüllen möchte, willigt ein. Die Asche seiner Mutter bewahrt er in einer Bonbondose auf. Gemeinsam mit Vincents Zimmergenossen Alex, Zwangsneurotiker, machen sie sich auf die Reise in Richtung Italien. II. Akt 6. Bewährungsproben, Auf ihrer Reise müssen Vincent, Marie und Alex ohne Geld Verbündete, Feinde und mit defekten Scheibenwischern auskommen. Zudem werden sie von der Klinikleiterin und Vincents Vater verfolgt und schließlich gestellt. In einem günstigen Moment gelingt es den dreien, erneut zu flüchten, diesmal mit dem Auto von Vincents Vater. 87 7. Vordringen zur tiefsten Höhle Vincent und Marie nähern sich einander an, küssen sich und werden intim. Alex beobachtet sie dabei. Marie bemerkt dies und provoziert Alex. 8. Entscheidende Prüfung Daraufhin fährt Alex mit dem Auto davon. Als Vincent und Marie ihn schließlich aufspüren, kommt es zur Krise: Alex wirft Marie vor, nicht fähig zu sein, zu lieben und Vincent zu benutzten, um sich dabei zusehen zu lassen, wie sie sich zu Tode hungert. Vincent bezeichnet er als Spast, der feige vor seinem Vater davon läuft. Daraufhin prügelt Vincent auf Alex ein. 9. Belohnung Nachdem sie sich ihrem Ärger Luft gemacht haben, sind die Spannungen zwischen den dreien gelöst und die Verbindung zwischen ihnen ist gestärkt. Gemeinsam setzen sie ihren Weg fort und erreichen schließlich das Meer. III. Akt 10. Rückweg Kurz nach Erreichen des Zieles bricht Marie aufgrund ihrer Herzschwäche zusammen und wird von einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. 11. Auferstehung Vincent erkennt, dass er Marie nicht retten kann und verweigert ihr trotz seiner Gefühle zu ihr den Wunsch, sie von ihrem Krankenbett losmachen. Vincent übergibt seinem Vater die Asche seiner toten Mutter. Dieser erkennt Vincents Selbstständigkeit an. 12. Rückkehr mit dem Elixier Vincent beschließt, nicht mit seinem Vater zurück nach Deutschland zu reisen. Mit seiner erlangten Freiheit und seinen gewonnenen Freunden Alex und Marie bleibt er in Italien zurück. Vincents physischer Reise entspricht die innere Reise seines Vaters. 88 Eidesstattliche Erklärung Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und eigenhändig sowie ohne unerlaubte fremde Hilfe und ausschließlich unter Verwendung der aufgeführten Quellen und Hilfsmittel angefertigt habe. Ort, Datum Unterschrift 89