Soziolinguistik im suburbanen Milieu: Kreol, Pidgin, Sondersprache?
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Soziolinguistik im suburbanen Milieu: Kreol, Pidgin, Sondersprache?
A paraître dans / Erscheint in : Bierbach, Christine; Rita Franceschini (éds.), Diversité linguistique en contexte urbain : banlieues plurilingues, variétés du français et plurilinguisme. Tübingen, Paris : Stauffenburg / L’Harmattan. [Date de rédaction / Verfasst in 02/2001] Frank Jablonka Soziolinguistik im suburbanen Milieu: Kreol, Pidgin, Sondersprache? 0. Die suburbanen Agglomerationen, wie sie seit Beginn der 70er Jahre in Frankreich entstanden sind, ziehen erst seit kürzerer Zeit die Aufmerksamkeit der Stadtsprachenforschung und der Soziolinguistik auf sich. Die sozialen Strukturen und die sie vermittelnden kommunikativen Dynamiken in diesen Milieus sind in hohem Maße frankreichspezifisch und mit den Verhältnissen in anderen Ländern, etwa in Deutschland, nicht oder nur bedingt zu vergleichen, obwohl sich in völlig verschiedenen Kontexten überraschende Parallelentwicklungen feststellen lassen. Insbesondere geht mit der Entwicklung dieser seit etwa drei Jahrzehnten angelegten Siedlungen die Herausbildung einer spezifischen Varietät des Französischen einher, die einer beschleunigten Dynamik unterliegt. Diese Varietät steht im Mittelpunkt der folgenden Erörterungen. Diese soziale und soziolinguistische Situation, die von äußerst komplexen sprachlichen, ethnischen und kulturellen Kontakten sowie von starken sozialen Spannungen geprägt ist, ist eindeutig eine Spätfolge der kolonialen Vergangenheit Frankreichs, was einen nicht zu vernachlässigenden Aspekt der genannten Frankreichspezifik ausmacht. Eins der Hauptmerkmale der suburbanen Agglomerationen in Frankreich ist der hohe Anteil von Immigranten insbesondere aus den ehemaligen Kolonien (bzw. Protektoraten, wie im Falle Marokkos), wobei in den meisten Fällen das maghrebinische Element quantitativ eindeutig dominiert, aber auch aus Schwarzafrika, teils auch aus den DOM/TOM, aus Asien (Indochina, aber auch China, Korea) sowie auch aus dem europäischen Ausland (Portugal, Türkei, Spanien u.a.); in der Franche-Comté ist in den letzten Jahren ein steigender Anteil aus Osteuropa zu verzeichnen, insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion und (Ex-)Jugoslawien. Es liegt eine multiethnische, multikulturelle und multilinguale – teils explosive – Bevölkerungsmischung vor. Denn diese überaus komplexe Kultur und Sprachkontaktsituation ist von starken sozioökonomischen Spannungen begleitet, die sich gelegentlich entladen. 1. Von besonderem Interesse ist im vorliegenden Zusammenhang die emergente, äußerst cha- rakteristische Sprachvarietät, die als Ausdruck und Medium dieser spezifischen suburbanen Lebensform zu betrachten ist. Ich möchte meine linguistischen Ausführungen mit der Analyse einer im Sommer 1999 in L’Argentine (Z.U.P. in Beauvais / Oise) aus dem Munde einer jungen Sprecherin vernommenen Äußerung beginnen, die ein ansehnliches Maß an Ingredienzen der suburbanen französischen Sprachvarietät enthält: ‘tain, c’te keum i me fait kiffer. Dieser Satz läßt sich wie folgt analysieren: – ‘tain Aphärese von putain (Interjektion, eventuell Tabuform) – c’te generisches Demonstrativadjektiv (maskulin und feminin) – keum verlan-Form von mec mit Apokope (mec → keumé → keum) –i reduziertes anaphorisches Subjektpronomen – kiffer Verbalderivation von dial. arab. kif (cannabishaltige Droge), ‘avoir envie’1 Über die Klassifikation dieser Varietät besteht derzeit ein Höchstmaß an Uneinigkeit. So spricht Goudailler in seinem von Claude Hagège eingeleiteten Buch Comment tu tchatches von einer französisch basierten “interlangue” (Goudailler: 1997, 6-7), woraus sich entnehmen läßt, daß es sich um eine Kontaktvarietät handle, die durch das Vorliegen unvollständiger Sprachkompetenz gekennzeichnet sei.2 Zugleich spricht derselbe Autor (ebd., 7) aber auch von “langue reubeu”,3 was auf eine subkulturell konnotierte ethnospezifische Kontaktvarietät hinausliefe, sowie von der “langue commune des cités, sorte de Koïné” (ebd., 15); hier liegt offenbar ein geolinguistisches Klassifikationsmerkmal vor, bezogen auf ein diskontinuierliches Sprachgebiet. Schließlich rechnet Goudailler (ebd., 14-15) diese Varietät auch noch zu den “argots sociologiques”,4 womit sie als eine Art Jargon bzw. Sondersprache aufzufassen wäre. Fabienne Melliani (2000; 2001) konzentriert sich auf die Interaktion von Jugendlichen der zweiten Immigrantengeneration aus dem arabischen Sprachraum in der banlieue von Rouen; sie nimmt damit also den spezifischen reubeu-Aspekt dieser Varietät unter die Lupe. Die Autorin spricht von “langue métisse” und “discours métissé”. Der Begriff des métissage hat im gegenwärtigen Diskurs in Frankreich Konjunktur (cf. Bonniol: 1997; Mufwene: 1997b; auch Leconte: 1997); er bezeichnet aber von Haus aus ein rein biologisches Phänomen, nämlich das der 1Wobei die semantische Motivierung klar sein dürfte: In der suburbanen Lebensform gehört Cannabis eben zu den Dingen, auf die man in besonderem Maße Lust hat. – Ins Deutsche übertragen, würde der Satz mit einer vergleichbaren kommunikativen Funktion in etwa folgendermaßen lauten: “Der Typ törnt mich voll an, äy.” 2Dabei ist zu bemerken, daß der sozial definierte Begriff “Interlekt” sicherlich passender wäre als der der “interlangue”, der eine dynamische lernerspezifische Individualkompetenz bezeichnet. 3Reubeu: Reverlanisierungsprodukt von arabe über beur; gemeint ist die zweite aus den arabischsprachigen Ländern stammende Immigrantengeneration. 4Worin er mit L.-J. Calvet (1994b) einer Meinung ist. Rassenmischung.5 Insbesondere liegt für Melliani aber eine “interstitielle” Varietät vor. Der Begriff des interstice, auf den im Folgenden noch einzugehen sein wird (cf. Abschnitt 3.2.), entstammt der Stadtsoziologen-Schule von Chicago. Es handelt sich im Ursprung um einen geographischen, nicht linguistischen Terminus im Sinne einer Übergangszone. Der Begriff wird bei Calvet (1994b) kulturell uminterpretiert. Insofern wäre unter einer “interstitiellen Varietät” ein Interlekt zu verstehen, dessen Entstehung und Funktion mit einem Bruch und der Neugenese der Identität(en) der Sprechergruppen zusammenhängen. Gabriel Manessy versucht ebenfalls, den von ihm so bezeichneten “Jargon” von Immigranten begrifflich zu erfassen und vertritt folgende Ansicht: “il semble qu’il y aurait avantage à placer l’étude des variétés urbaines dans la perspective générale sur la pidginisation6 et la créolisation” (Manessy: 1993, 23). Damit verträglich ist auch die Auffassung von Jacqueline Billiez (1993), die von “parler véhiculaire interethnique” spricht. Das Attribut “véhiculaire” anstatt “vernaculaire” erscheint überraschend, da hierdurch der Schluß nahegelegt wird, im Vordergrund stehe die rein instrumentelle (referentielle) Funktion des Informationsaustauschs. Dies ist aber nach Billiez hier gerade nicht der Fall. Ferner ist fraglich, ob es sich um eine rein interthnische, also von Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen verwendete Varietät, handelt. Dies ist sicherlich nicht (jedenfalls nicht nur) der Fall. L.-J. Calvet (1994b, 70) geht in seiner Kritik noch einen Schritt weiter, indem er eine entgegengesetzte Argumentation vertritt: In seinen Augen ist die Varietät nicht inter-, sondern intraethnisch, da sich in ihr eine neue, emergente – eben interstitielle – Kultur artikuliert und konstituiert. Nach dieser Skizzierung der gegenwärtigen Debatte in Frankreich wird kaum zu bestreiten sein, daß bei der Klassifikation dieser neuen Kontaktvarietät ein beträchtliches Maß an Konfusion herrscht. Das Ziel der folgenden Ausführungen ist zu versuchen, die herrschende terminologische Verwirrung zu entwirren und die Varietät der französischen cités in bezug auf ihre Klassifizierbarkeit in den Griff zu bekommen und auf den Begriff zu bringen. 2. Diese Aufgabe erweist sich als nicht unproblematisch, weil auch in Kreolistik und Kontaktlinguistik keineswegs überall Klarheit herrscht. Die Lage ist so unübersichtlich und komplex, daß Mufwene (1997a) die Klassifizierung von Pidgin- und Kreolsprachen als Sprachtypen rundweg ablehnt und nur ihre unter bestimmten sozialhstorischen Bedingungen erfolgte Benennung (“baptesimal protocol”, ibid., 55) akzeptieren mag. “Thus, pidgins and creoles are special kinds of restructured varieties which are typically developed between the 17th and the 19th centuries out of 5Ist diese überraschende Vermischung von biologischen und kulturellen Kategorien am Ende ein Echo der kolonialen Vergangenheit? 6Die suburbane Varietät in Frankreich wird m.W. bisher nicht explizit mit Pidgins in Verbindung gebracht. Auch ist festzuhalten, daß diese Varietät nicht, wie das sogenannte “Pidgin-Deutsch”, von erwachsenen Migranten verwendet wird, sondern typischerweise von Jugendlichen gesprochen wird. the contact of European and non-European langages and outside Europe.” (ebd.) Er schlägt vor, den unangemessenen Gebrauch der Begriffe Pidgin und Kreol als Sprachbezeichnungen aufzugeben und etwa durch “contact varieties” zu ersetzen (ebd., 57). Dieser Punkt ist von zentraler Bedeutung: Wenn es also zutrifft, daß sich die Kreolistik in der Kontaktlinguistik auflösen läßt – eine Ansicht, auf die auch die Ausführungen von Chaudenson (1978; 1989; 1992) hinauslaufen – dann stellt sich das aufgeworfene Klassifikationsproblem überhaupt nicht. Allerdings wäre damit das Problem nur verschoben, da sich unmittelbar die Frage nach alternativen Klassifikationskriterien auftäte. 2.1. Sarah Thomason (1997) versucht, den Fallstricken der Begriffsverwirrung zu entgehen, indem sie von Grenzfällen und Zwischenstufen absieht und die Kriterien von prototypischen Pidgins und Kreols zu inventarisieren sucht. Wir werden überprüfen, ob die Kriterien auch bei der suburbanen Varietät in Frankreich erfüllt sind. Prototypische Pidgins prototypische Kreols a) Kontakt von drei oder mehr Sprachgruppen; idem auch bei der suburbanen Sprachvarietät in Frankreich b) Handel oder sonstige beschränkte Kommunikationszwecke nicht der Fall cités: nicht der Fall c) nur beschränkter Kontakt; keine Notwendigkeit für die Grup- idem pen, die Sprache(n) des/der anderen zu lernen cités: nicht der Fall; die Migrantenkinder sind früh durch Medien und Schulsystem dem französischen Standard ausgesetzt; sie müssen ihn erwerben, um in der Schule zu bestehen; aber: erste Kontakte mit dem Französischen erfolgen in einer Non-StandardVarietät, die erlernt werden muß, um von den peers anerkannt und integriert zu werden d) Wenn eine dominante Sprachgruppe vorliegt, wird ihr Lexikon idem zugrunde gelegt. Lexikalisiert werden nur die praktisch relevanten Reiches Lexikon, für alle Bereiche (Handel etc.), da nur beschränkte Kommunikationsziele Kommunikationsbereiche bestehen. der Sprachgemeinschaft tauglich. Die cité-Varietät tendiert eher zu den Kreols. Ferner sind Pidgins, im Gegensatz zu Kreolsprachen, keine Erstsprachen. Hinzu kommt nach Thomason (1997), daß Pidgins über eine reduzierte Morphosyntax verfügen (schwer erlernbare Elemente werden eliminiert, insbesondere im Bereich der Flexionsmorphologie), während für Kreols eine “Kompromiß-Grammatik” charakteristisch ist, die aus den Kontaktsprachen hervorgeht. Zwar besteht häufig eine reduzierte Morphologie, jedoch ist sie für alle Kommunikationsbedürfnisse der Gemeinschaft hinreichend. Allerdings sind diese beiden distinktiven Merkmale: reiche Morphosyntax / Lexik und das Kriterium der Erstsprache, nicht notwendig gekoppelt. Eine reiche Morphosyntax schließt die Abwesenheit von Muttersprachlern nicht aus; hier bestehen unscharfe Grenzen (“fuzzy boundaries”, ebd., 79). Vor diesem Hintergrund kann auch die Klassifizierung der suburbanen Varietät in Frankreich das Kriterium der Erstsprachigkeit nicht mehr ausschlaggebend sein. In der Tat wird die cité-Varietät von Sprechern zahlreicher Erstsprachen verwendet, sei es einer dieser Varietät nahestehenden Sub-/Nonstandardvarietät des Französischen und/oder einer Migrantensprache (z.B. dialektales Arabisch). Es ist entscheidend, daß die von jugendlichen peer-groups gesprochene cité-Varietät zwar im Kontakt von Sprechern verschiedener Erstsprachen entstanden ist, daß aber der Spracherwerb von (autochthonen oder Immigranten-)Kindern im Kontakt mit den Sprechern dieser Varietät in entscheidender Weise beeinflußt werden kann. M.a.W., es ist die Varietät des Französischen, mit der die Kinder in den peer-groups als erste in Berührung kommen (können) und die sie als (Quasi-)Erstsprache erwerben (können), die aber aus dem komplexen Sprach- und Kulturkontakt als emergente, nichterstsprachliche Varietät hervorgegangen ist.7 Allerdings gewährleistet das Schulsystem (die école élémentaire beginnt in Frankreich bekanntlich bereits ab dem dritten Lebensjahr) einen hinreichenden Input in einer standardnahen Varietät des Französischen, so daß ein divergenter Sprachwandel (zumindest partiell) abgefangen wird; somit wird verhindert, daß diese Varietät in eine andere Richtung abdriftet.8 2.2. Es ist natürlich nicht zu leugnen, daß gegenüber ‘klassischen’ Kreolisierungs- bzw. Pidginisierungsprozessen, wie sie in den Kolonien anzutreffen waren, erhebliche Unterschiede bestehen. Insbesondere fungiert das Französische nicht als Lexifier der sich herausbildenden Varietät; eher wird hier das Französische (bzw. werden seine Substandard-Varietäten) relexikalisiert, und zwar durch Argotismen (‘tain), verlan (keum), Arabismen (kiffer) etc. Das hängt natürlich damit zusammen, daß die dominante Sprache hier nicht in die Kolonien exportiert wird, sondern daß im Gegenteil die Sprachen, die in den ehemals (oder noch immer) von Frankreich dominierten Gebieten beheimatet sind, ins Mutterland, in die Metropole importiert werden.9 Diese umgekehrte Bewegung ist die Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln; sie ist seine Konsequenz im 20/21. Jahrhundert, die der Post-/Neokolonialismus und das damit zusammenhängende Nord-SüdGefälle im Zeichen der Globalisierung mit sich bringen. Überspitzt formuliert: Die Plantagen auf den Antillen sind die cités von heute; der heutige maghrebinische Industriearbeiter (oder RMIste) ist der schwarze Plantagenarbeiter von gestern. Von daher ist eine sozialhistorische Kontinuität des multiplen Sprach- und Kulturkontakts festzustellen, insofern man die Genesebedingungen der ‘klassischen’ Pidgins und Kreols (die Mufwene als einzige als solche anerkennt) auf die heutigen Verhältnisse transponiert. Und insofern ist es nur konsequent, daß, wie Winford (1997, 4) ausführt, 7Auch ‘klassische’ Kreolsprachen können zugleich als Erst- und als Zweitsprache fungieren; ein bekannter Fall ist das Tok Pisin. 8Daß sie etwa auf das Arabische hin konvergiert. 9Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch die Kontakttypologie von Stehl (1989). der Terminus Kreol “is now used to refer to a much wider range of contact languages than to which it originally referred”. Außerdem, so Winford, besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß sich die Termini Pidginisierung und Kreolisierung nicht nur auf die Genese von Pidgins und Kreols beziehen, sondern “to processes they share wich varieties of other contact outcomes” (ebd., 12). Dabei ist zu bedenken, daß es sich bei der Kreolisierung nach Mufwene um eine schrittweise Umstrukturierung und Differenzierung der dominanten (europäischen) Sprache handelt, also um einen divergenden Sprachwandel, der durch eine Verschiebung des demographischen Gefüges sowie durch prekäre Interaktionsmuster ausgelöst wird. Beides ist in den suburbanen cités gegeben: massive Verschiebung der Bevölkerungsstruktur durch Konzentration heterogener Migrantengruppen, und prekäre Kommunikationsmuster. 2.3. Ein weiteres Problem betrifft die morphosyntaktische Strukturdifferenzierung. Winford weist darauf hin, daß diese auch in anderen als Pidgin- und Kreolsprachen zu finden ist. Ferner ist bekannt, daß auch Kreolsprachen über Flexionsmorphologie verfügen können.10 Nun lassen sich in der suburbanen cité-Varietät Ansätze von morphosyntaktischer Strukturreduzierung feststellen, und zwar aufgrund eines weiteren Merkmals von Kreolisierung: Nach Winford (1997, 12), “creolization is that complex of sociolinguistic change comprising expansion in inner form”, einhergehend mit der Erweiterung der Anwendungsbereiche und sozialen Kommunikationsfunktionen. Beides ist in der hier interessierenden französischen Varietät gegeben: Der Anwendungsbereich von Argot-Techniken erweitert sich, etwa durch die Verlanisierung von Argotismen (choper → pécho, mit Resemantisierung ‘acheter de la drogue’),11 insbesondere solcher, die ihrerseits auf arabischen Einfluß zurückgehen (deublé ← argot bled ← dial. arab. bled; klass. arab. balad ‘pays’). Diese Erhebung des Argot in die zweite (und dritte) Potenz findet man auch in der Reverlanisierung (Arabe → beur → reubeu). Zudem erweitert sich der Bereich der sozialen Kommunikationsfunktionen (z.B. der poetischen Funktion, etwa im Rap). Nun ist der verlan zwar zunächst ein rein lexikalisches Phänomen, hat aber morphologische Konsequenzen, nämlich gerade im Hinblick auf die Strukturreduzierung. Ein Beispiel ist die Genusmarkierung: die Opposition maskulin vs. feminin wird eliminiert. Elle est auch ([oS]) la téci. (Schüleräußerung, Collège Diderot, Planoise) Hier wird das französische Adjektiv chaud im Maskulinum zugrunde gelegt und der Verlanisierung unterzogen; ansonsten müßte es *deucho oder *deuche (← chaude, letztere Form mit Apokope) lauten. Diese Struktur ist außerhalb des verlan rekurrent, so im Bereich des französischen Demon10Ein Beispiel ist die Numerusmarkierung im haïtianischen Kreol (cf. Mufwene: 1997a, 51). 11Schüler des Collège Diderot in Planoise (Besançon): “Y a même les surveillants qui viennent pécho.” strativums ce, dessen Substandard-Form in der suburbanen cité-Varietät durchweg c’te lautet. c’te mytho (Seguin/Teillard: 1996, 209)12 Il a tué son voisin et il est resté là, c’te débile. (ebd., 105) Gleiches gilt für die Numerusmarkierung: Die Markierung -al → -aux entfällt, analog zur in den meisten Fällen auftretenden Struktur mit 0-Suffix: Les profs i sont pas normals. (Schüleräußerung Collège Diderot, Planoise) Durch Generalisierung erfolgt eine Vereinfachung der Regeln der Flexionsmorphologie. Auch ist eine Reduzierung der Allomorphie des bestimmten Artikels festzustellen: Vor verlanAusdrücken wird der bestimmt Artikel nicht elidiert: Passe, passe le oinj (Verlanisationsprodukt von joint). (NTM)13 Elle joue le auch. (Verlanisationsprodukt von chaud) (Seguin/Teillard: 1996, 180; jouer le auch ‘se vanter’) Auch führt die Verlanisierung von Verben keineswegs zur Bildung neuer Konjugationsklassen, sondern die Verbflexion ist ebenso wie die Markierung des participe passé 0. Diese Vereinfachung hat aber ganz andere Gründe als eine etwaige schwere Erlernbarkeit: Es gibt nichts zu konjugieren, weil entweder die Ausgangsform eine bereits flektierte Form des französischen Standards bildet oder das Verlanisationsprodukt keiner (bekannten) Verbklasse angehört, ergo auch keine Flexionsregeln vorhanden sind. Wozu auch? Die Flexion ist ja (in den meisten Fällen) redundant. Gleiches gilt für Verben, die aus der Zigeunersprache übernommen sind und mit der Endung -ave versehen sind: j’vais te marave (‘frapper’), je l’ai marave, j’te marave (cf. Seguin/Teillard: 1996, 220). Verbale verlan-Formen vom Infinitiv (oder participe passé) abgeleitet Bien ouèj! (← joué; Seguin/Teillard: 1996, 176) J’ai bébar mon cousin. (← barber ‘mentir’; ebd., 182) Hier j’ai cramé [repérer, surprendre] le keum qui m’a péta [← taper ‘voler’] mon scooter. (ebd., 189) Les petits, dans ma cité, ils prennent des tickets et ils font comme s’ils pédo. [← doper ‘fumer’] von flektierter Verbalform abgeleitet Et les gendarmes comme ils l’ont tège. [← jète] (ebd., 87) Rachide, je l’ai oide dans le couloir. (verlan mit Wortartwechsel: ← doigt ‘mettre la main aux fesses; ebd., 204) 12Seguin und Teillard haben sich um die Erfassung der suburbanen cité-Varietät in besonderer Weise verdient gemacht, indem sie ein mit Collège-Schülern in der banlieue parisienne erarbeitetes Substandard-Wörterbuch (Seguin/Teillard 1996) veröffentlichten. Sämtliche Wörterbucheinträge sind durch von Schülern vorgeschlagene und als besonders charakteristisch angesehene Beispielsätze erläutert. Ich gestatte mir, einige dieser Beispielsätze zu Explikationszwecken heranzuziehen. 13Auf dem Album Paris sous les bombes. (ebd., 205/6) Putain, me chauffe pas, j’suis déjà vénère. (← énerve; hier wird ein participe passé von einer konjugierten Verbalform abgeleitet; ebd., 217) 2.4. Es erhebt sich die Frage, ob sich aus diesen Befunden Rückschlüsse auf die Kompetenz im französischen Standard ableiten lassen. Dies scheint nur recht bedingt der Fall zu sein. Auf der einen Seite ist den Sprechern die französische Standardform, von der die verlan-Form abgeleitet wird, offensichtlich bekannt. Andererseits stimmt auffälligerweise die syntaktische Funktion der verlan-Form mit der der zugrundeliegenden Standardform nicht immer überein. Es wäre allerdings voreilig, hieraus Rückschlüsse auf etwaige Kompetenzdefizite im Verbalsystem des französischen Standards zu ziehen. Die Kompetenzproblematik ist aber auch in bezug auf das Arabische relevant. Die Integration von Xenismen zieht auch Strukturreduzierungen im Bereich der arabischen Phonologie nach sich: Das arabische Phonem /ð/, welches im französischen Konsonantismus keine Entsprechung findet, wird eliminiert und durch ein Allophon des Phonems /r/, ein aspiriertes [{h] ersetzt, wie etwa in folgender Äußerung, die von einem jungen Sprecher in Planoise an seinen Pitbull gerichtet wurde: Allez mange ton [È{haluf]; c’est bon ça. (dial. arab. [ÈðaLuf], ‘Schwein’, ‘Wildschwein’, ‘Schweinefleisch’) Hinzuzufügen ist, daß komplementär zur Komplexitätsreduktion morphologischer Strukturen auch die gegenläufige Tendenz vorliegt: eine Erweiterung der Formenvielfalt durch neue Derivationsregeln: – verbale verlan-Formen + Suffix -ment → Substantiv: tèjement (‘rejet’) – Verbstamm + Suffix -os → Adjektiv: craignos (‘dangereux’) – auch Adjektiv + Suffix -os → Adjektiv (gravos, rapidos, gratos) 3. Aus den bisherigen Erörterungen lassen sich m.E. keine überzeugenden Argumente ableiten, die gegen das Vorliegen einer Kreolisierung sprächen. Dem hier vorgeschlagenen erweiterten Sinn des Terminus kommt eine im französischen Diskurs vertretene Auffassung entgegen, wonach der Begriff der Kreolisierung nicht nur auf sprachliche Phänomene anzuwenden ist, sondern auch auf die Dynamik von Kultursystemen (cf. Bonniol: 1997; Chaudenson: 1992). Dies ist auf die Kontaktprozesse in den französischen banlieues gut anwendbar, was mit dem Problem der Transition und Transformation von Identität(en) in Zusammenhang steht. 3.1. Frei nach dem von Bickerton zurückgewiesenen “Cafeteria-Prinzip” (cf. Calvet: 1997, 233) schöpfen die Sprecher aus dem vielfältigen Vorrat an sprachlich-kommunikativen Techniken, die sich ihnen im suburbanen Diskurs-Universum darbieten (dazu Leconte: 1997, 145). Daß von den Kontaktsprachen das Arabische stärker als alle anderen zum Zuge kommt – und zwar bei Sprechergruppen gleich welcher ethnisch-kulturellen Herkunft –, hängt, abgesehen von der rein zahlenmäßigen Dominanz arabophoner Migranten, zweifellos auch damit zusammen, daß die arabische Sprache und Kultur tendenziell gewissermaßen als Inbegriff der Alterität angesehen werden. Die sprachlich vermittelte Individuation ist insbesondere eine “Individuation gegen” (Stierlin: 1994, 41 ff.): gegen eine als feindlich empfundene Welt – identifiziert mit der Welt der Autoritäten, von der sich die hier interessierenden jugendlichen Sprechergruppen abgelehnt, ausgegrenzt, stigmatisiert fühlen; gegen die Institutionen dieser ‘feindlichen’ Welt, insbesondere ihre Bildungseinrichtungen, wo die cité-Sprecher aufgrund des Drucks der präskriptiven Norm des französischen Standards vielfach als Erste der schulischen Selektion zum Opfer fallen. Insofern die hegemoniale Ordnung als Gegner angesehen wird, erklärt sich das Einhergehen von kryptischen und identitätsstiftenden Funktionen völlig zwanglos: Natürlich dürfen die Vertreter der hegemonialen Ordnung (v.a. Lehrer und Polizei) nicht mitbekommen, wie die Mitglieder der suburbanen ingroup sich gegen sie und durch sie hindurch zu behaupten versuchen: Quand y s’passe un truc et y a les keufs on parle verlan. (Schüleräußerung, Collège Diderot, Planoise) 3.2. Was in Frankreich zu beobachten ist, ist die Genese einer spezifischen suburbanen cité-Kultur und -Identität sui generis aus dem multiplen Kontakt heraus. Es handelt sich hierbei, wie es die Rap-Gruppe NTM14 formuliert, um eine Art ‘Paralleluniversum’, das der ‘legitimen’ und hegemonialen Ordnung entgegengesetzt ist; eine Kontakt-Kultur und -Identität, die durch die suburbane cité-Varietät artikuliert, interpretiert und reproduziert wird. In diesem Zusammenhang mag der Verweis auf die Etymologie von kreol (< lat. creare) erhellend sein (cf. d’Ans: 1997, 233): Kreol ist, was vor Ort entsteht, d.h. weder autochthon, bereits vorhanden ist noch importiert wird.15 Für Calvet (1994b, 30) ist diese Kultur (und damit auch diese Sprachvarietät) “interstitiell”, da sie im Sinne der Chicagoer Schule eine Etappe auf dem Weg “compétition – conflit – adaptation – assimilation” ist, auf dem sich aber auch die assimilierende Kultur (und Sprache) verändert. 3.3. Gleichwohl bleibt für Calvet die cité-Varietät im wesentlichen ein Argot (cf. Calvet 1997b, 280), also eine gruppenspezifische Sondersprache. Hierbei sollte aber nicht vergessen werden, daß auch Sondersprachen, Jargons, in vielen Fällen Kontaktsprachen sind. Das französische Argot hat, ebenso wie das Rotwelsch in Deutschland, zahlreiche Ausdrücke aus der Zigeunersprache 14Cf. Das Stück “Tout n’est pas si facile” (auf dem Album Paris sous les bombes): “D’évoluer dans un système parallèle / où les valeurs de base étaient pêle-mêle”. Und weiter: “On venait tous du même quartier / On avait tous la même culture de cité”. 15Aus eben diesem Grunde lehnt Calvet für diese Varietät das Attribut “interethnique” ab; cf. Abschnitt 1. aufgenommen, die, wie gesehen (cf. Abschnitt 2.3.), teils in der cité-Varietät weiterleben (z.B. marave, frz. ‘frapper’), und während das Rotwelsch mit Elementen des Hebräischen / Jiddischen angereichert wurde (cf. Kluge: 1901), hat auch die Aufnahme von Arabismen im französischen Argot Tradition (cf. Christ: 1991), so z.B. bled (cf. Abschnitt 2.3.), klebs ‘chien’ < dial. arab. kelb, klass. arab. kelb.16 Zwischen diesen beiden Arten von Kontaktsprachen, d.h. Kreols einerseits und Sondersprachen / Jargons auf der anderen Seite, besteht quasi eine ‘Wahlverwandtschaft’. Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Halliday zu “antilanguages” (Halliday: 1978, 164-182). Darunter sind Sprachen zu verstehen, die Ausdruck und Medium von “antisocieties” und “countercultures” (ebd., 164) sind, welche sich als bewußte Alternativen zur herrschenden Lebensform verstehen (“the acting out of a distinct social structure”,ebd., 167), einhergehend mit alternativen sozialen (Gegen-)Identitäten und gesellschaftlichen Wirklichkeitsentwürfen. Charakteristisch für antilanguages sind die partielle Relexikalisierung bestehender Sprachen und u.U. Sprachenspaltung, d.h. “a process of fission, the splitting off from an established language” (ebd., 165), wobei allerdings eine Kontinuität zwischen (etablierter) Sprache und antilanguage besteht, als Korrelat zur Kontinuität zwischen herrschender Gesellschaftsordnung und Gegengesellschaft (ebd., 171). Beide Seiten sind komplementär.17 Weiterhin erwähnt Halliday die kryptische und die poetische (bzw. ludische) Sprachfunktion (ebd., 166). Allerdings kann eine antilanguage im Sinne Hallidays (ebd., 171) nicht Erstsprache sein. Sie hat eindeutig die Charakteristika einer gruppenspezifischen Sondersprache, ist aber zugleich auch Resultat einer Dynamik von (vielfach komplexen) Sprachkontakten. Von besonderem Interesse ist hier der von Halliday (ebd., 172) Fall der “Calcutta underworld language”; diese Bengali-basierte Varietät weist nicht nur Strukturen auf, die zum verlan analog sind, sondern (neben Anglizismen und Einflüssen des Hindi) auch Arabismen. An einem völlig entlegenen Fleck der Erde finden sich demnach sprachliche Erscheinungen, die zu den Prozessen in den suburbanen Agglomerationen Frankreichs ebenso deutliche wie überraschende Analogien aufweisen. Ferner ist mit Winford festzuhalten, daß Sondersprachen / Jargons, sofern sie sich stabilisieren, die Entstehung von Kreols auslösen können. “The starting point of creolization need not be a pidgin, but may be a pre-pidgin, or a subordinate language variety of some sort.” (Winford: 1997, 12) Diese “subordinate language variety” ist in den suburbanen Agglomerationen Frankreichs zweifellos gegeben. Und Sarah Thomason (1997, 83) betont, daß auf dem Wege der Stabilisierung 16Erstaunlicherweise liegt die arabische Pluralform kleb der Singularform im Argot zugrunde. Auch wird die Pluralform kleb von magrebinischen Immigranten der zweiten Generationen in arabischen Diskursen verwendet. Solcherart gelagerte Fälle werden von Séfiani (2000) im Rahmen ihrer Analyse einer emergenten Außenvarietät des Dialektarabischen in französischen suburbanen Agglomerationen (im vorliegenden Fall in der banlieue von Besançon) diskutiert. 17Unter Bezugnahme auf Levi-Strauss führt Halliday (ebd., 175-6) aus, daß die Gegengesellschaft zugleich in einem “metaphorischen” und einem “metonymischen” Verhältnis zur herrschenden Gesellschaftsordnung stehe, jedoch innerhalb desselben umfassenden Gesellschaftssystems. eine Kontaktvarietät für einige Zeit unvermeidlich das Stadium einer “semi-language” durchläuft, d.h. “a speech form that is not completely ad hoc but also not completely language-like in its systemic properties. The most common are jargon [meine Hervorhebung; F.J.] and pre-pidgin.” 4. Damit dürfte feststehen, daß die Kontaktvarietät in französischen banlieues eine distinkte Technik darstellt, die zwar auf systemischer Ebene Stabilitätsdefizite aufweist, aber hinsichtlich der Verwendungsmodalitäten durchaus habitualisiert ist. Sie ist syntopisch (sie wird in den suburbanen cités gesprochen); sie ist synstratisch (sie wird in erster Linie von sozial Benachteiligten gesprochen) und symphasisch (streng informell); sie ist (sit venia verbo) syngenerationell (sie wird vorzugsweise von Jugendlichen, aber auch Kindern verwendet) und im wesentlichen auf ein Medium (Oralität) beschränkt. Wir können feststellen, daß es sich bei jener im komplexen Sprachund Kulturkontakt emergenten Varietät um eine Züge von Kreolisierung aufweisende Sondersprache handelt, die nicht nur einer antilanguage im Sinne Hallidays (1978) recht nahe kommt, sondern die auch im wesentlichen alles mitbringt, was eine funktionelle Sprache im Sinne Coserius (1988, 285) braucht. 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Etant donné que jusqu’à présent aucun consensus sur la classification de cette variété de contact n’a pu être trouvé, le présent article a pour but de faire face à la confusion terminologique dans la discussion actuelle. Il est évident que cette situation sociale et sociolinguistique, marquée par des contacts plurilinguistiques et pluriethniques extrêmement complexes et par de fortes tensions sociales, est un effet retardé du passé colonial de la France. L’une des stratégies de recherche les plus prometteuses dans les quartiers en question semble être l’application d’un modèle créoliste. Il convient toutefois de souligner que le problème qui est à l’origine de la variété suburbaine en question n’est pas essentiellement un déficit de compétence, et elle n’est pas non plus principalement une réaction aux besoins de communication interethnique, comme c’était le cas dans les colonies à l’époque de la créolisation proprement dite. Il apparaît, par exemple, que la verlanisation est un procédé purement lexical, mis en œuvre ad hoc à partir de lexèmes appartenant au standard (ou au sous-standard) français, maîtrisés par les locuteurs. Mais la fonction cryptique de ces stratégies de communication entraîne à son tour des réductions structurelles sur le plan morphologique (par ex. marquage du genre), caractéristiques des pidgins et créoles. De plus, le terme de “communication intraethnique” paraît plus approprié à ce phénomène de contact que l’affirmation d’une quelconque caractéristique interethnique, puisque nous sommes en présence d’une culture suburbaine émergente, de transition, à ce titre dite “interstitielle”, dont le vecteur symbolique et identitaire les plus important est la variété linguistique en question. Eu égard aux affinités entre langues créoles et jargons, nous recourrons au terme d’“antilangue”, proposé par Halliday (1978), pour caractériser la variété suburbaine du français comme un type d’argot atteint de certains traits de créolisation. Cette variété qui s’inscrit dans un projet de forme de vie alternative et contestataire – mais qui coexiste néanmoins avec l’ordre dit ‘légitime’, hégémonique dans la même société – mérite sans aucun doute la dénomination de “langue fonctionnelle” (au sens de Coseriu: 1988) à part entière.