Kämpferisch, aber nicht radikal - lu

Transcription

Kämpferisch, aber nicht radikal - lu
23
Tages-Anzeiger – Donnerstag, 20. Juni 2013
Sevilla Andalusiens Metropole
lockt mit imposanten Bauwerken,
kultureller Vielfalt und ihrer
bewegten Geschichte. 27
Kultur & Gesellschaft
Kämpferisch, aber nicht radikal
Die heute vor 100 Jahren geborene Laure Wyss war Mitgründerin des «Tages-Anzeiger Magazins».
Eine neue Biografie zeigt ihren Werdegang als Autorin und die Schwierigkeiten als alleinerziehende Mutter.
Von Thomas Feitknecht
Bücher, Feiern, eine Internetseite und
sogar eine Parkanlage in ihrer Geburtsstadt Biel: Zu ihrem 100. Geburtstag erfährt Laure Wyss eine Anerkennung, die
ihr zu Lebzeiten in diesem Ausmass
nicht zuteil geworden ist.
Laure Wyss hatte einen langen Weg
der Selbstsuche und Selbstwerdung zurückzulegen, den Barbara Kopp in ihrer
Biografie bis zu den Anfängen zurückverfolgt. Gestützt auf minutiöse Recherchen in öffentlichen und privaten Archiven und auf Äusserungen von Zeitzeugen (vor allem auch des Sohnes) lässt
Kopp die Geschichte einer Frau lebendig
werden, die journalistisch und literarisch die Schweiz in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Eine
Serie eindrücklicher Porträtfotos aus
den verschiedenen Lebensabschnitten
steht dem Text adäquat zur Seite.
Die Bieler Notarstochter zeigte früh
einen starken Willen zur Unabhängigkeit. Nach ihrem Studienabschluss als Sekundarlehrerin heiratete sie einen Architekten, mit dem sie in Stockholm einen
Teil der Kriegsjahre verbrachte. Dort begann sie, Texte aus dem Widerstand der
dänischen und norwegischen Kirche zu
übersetzen. Als die Ehe nach der Rückkehr in die Schweiz scheiterte, war Laure
Wyss auf sich allein gestellt, erst recht,
als sie ein paar Jahre später einen (wie es
in der Amtssprache hiess) «ausserehelichen» Sohn zur Welt brachte.
Sie verdiente ihr Brot zunächst als Redaktorin einer wöchentlichen Frauenbeilage für das «Luzerner Tagblatt» und
weitere Tageszeitungen, dann als Programmgestalterin und Präsentatorin
beim Schweizer Fernsehen, schliesslich
als Redaktorin des «Tages-Anzeigers»,
wo sie zur Gründungsequipe des «TagesAnzeiger Magazins» gehörte (wie der Titel damals lautete). Erst nach ihrer Pensionierung wurde sie auch literarisch tätig und als Grand Old Lady der Schweizer Literatur bekannt und anerkannt.
Eine schwierige Liaison
Es ist wohl kein Zufall, dass gerade in
dieser Zeit ihre Beziehung zum sechs
Jahre älteren ETH-Literaturprofessor
Karl Schmid nach zwei Jahrzehnten an
Bedeutung verlor. Laure Wyss hatte den
Höhepunkt ihres journalistischen Wirkens erreicht, sie setzte sich mit Feministinnen auseinander und liess im «Tages-Anzeiger Magazin» junge Autoren
wie Hugo Loetscher, Peter Bichsel, Jürg
Federspiel und Niklaus Meienberg zu
Wort kommen. Schmid hingegen stand
am Ende seiner militärischen und akademischen Karriere und haderte mit
vielen Schriftstellern, denen er sich
nahe gefühlt hatte und die er jetzt nicht
mehr verstand. Ausführlich schildert
Barbara Kopp die Schwierigkeiten dieser Liaison, die nur dann gelebt werden
konnte, wenn «Madame», Karl Schmids
Ehefrau Elsie Attenhofer, als Kabarettistin auf Tournee war.
Wunder
der Liebe
Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Sinn gefangen hält,
Wundervolle Märchenwelt,
Steig auf in der alten Pracht!
Liebe lässt sich suchen, finden,
Niemals lernen, oder lehren,
Wer da will die Flamm’ entzünden
Ohne selbst sich zu verzehren,
Muss sich reinigen der Sünden.
Alles schläft, weil er noch wacht,
Wenn der Stern der Liebe lacht,
Goldne Augen auf ihn blicken,
Schaut er trunken von Entzücken
Mondbeglänzte Zaubernacht.
Aber nie darf er erschrecken,
Wenn sich Wolken dunkel jagen,
Finsternis die Sterne decken,
Kaum der Mond es noch will wagen,
Einen Schimmer auf zu wecken.
Ewig steht der Liebe Zelt,
Von dem eignen Licht erhellt,
Aber Mut nur kann zerbrechen,
Was die Furcht will ewig schwächen,
Die den Sinn gefangen hält.
Keiner Liebe hat gefunden,
Dem ein trüber Ernst beschieden,
Flüchtig sind die goldnen Stunden,
Welche immer den vermieden,
Den die bleiche Sorg’ umwunden;
Wer die Schlange an sich hält,
Dem ist Schatten vorgestellt,
Alles, was die Dichter sangen,
Nennt der Arme, eingefangen,
Wundervolle Märchenwelt.
Herz im Glauben auferblühend
Fühlt alsbald die güldnen Scheine,
Die es lieblich in sich ziehend
Macht zu eigen sich und seine,
In der schönsten Flamme glühend.
Ist das Opfer angefacht,
Wird’s dem Himmel dargebracht,
Hat dich Liebe angenommen,
Auf dem Altar hell entglommen
Steig auf in der alten Pracht!
Ludwig Tieck (1773–1853)
Selbstmord als
glamouröse Idylle
Am Gängelband des Verlegers
Überzeugend zeigt Barbara Kopp, wie
Laure Wyss die soziale und politische
Entwicklung der Schweiz nach dem
Zweiten Weltkrieg erlebte und erlitt,
aber auch mitgestaltete. Beim «Luzerner
Tagblatt» verdiente sie weniger als ihre
männlichen Kollegen, und sie durfte auf
Weisung des Verlegers (und dessen Gattin) bei der Abstimmung 1959 in ihrer
Frauenbeilage nicht offen für die Einführung des Frauenstimmrechts eintreten.
Doch stets fand sie Wege und Worte,
sich verklausuliert für die Emanzipation
der Frauen einzusetzen. Nicht zuletzt
schrieb sie auch Betrachtungen und Geschichten aus der Sicht einer Geschiedenen und alleinerziehenden Mutter. Radikal war sie indes nicht. So begrüsste sie
zwar 1958 Iris von Rotens Buch «Frauen
im Laufgitter», doch befand sie als
Pragmatikerin, die Thesen dieser Kampfschrift gingen wohl den meisten Frauen
zu weit. Couragierter und selbstbewusster trat Laure Wyss dann beim «TagesAnzeiger» in Erscheinung, wo das «TagiMagi» den gesellschaftlichen Wandel der
70er-Jahre markierte.
Das Gedicht
Eine Frau, welche die Schweiz journalistisch und literarisch geprägt hat: Laure Wyss, 1958. Foto: RDB
1972 zog Wyss in ihrem Tagebuch eine
recht bittere Bilanz: «Er sah mich als ehrgeizig, projizierte seinen eigenen Ehrgeiz
in mich. Ich vernütigete immer meine
Arbeit vor ihm, es zählte nur meine
Gemütlichkeit, mein Kochen, alles sog.
Weibliche. War grundfalsch. Arbeitete
immer, um von ihm gelobt zu werden.»
Barbara Kopp weist auf charakterliche
Gemeinsamkeiten von Laure Wyss und
Karl Schmid hin: Beide litten unter selbst
auferlegten Pflichten und immer wieder
unter depressiven Stimmungen.
Wenig über die Schriftstellerin
Wenn Barbara Kopp sich eingehend mit
dem Privatleben von Laure Wyss befasst,
geschieht dies stets im Blick auf das
öffentliche Wirken der Journalistin, das
eng mit den persönlichen Erfahrungen
einer Frau dieser Zeit verbunden war. Bezeichnend für diese Situation ist ein Beitrag, den Wyss unter dem Pseudonym
Verena X. zum Muttertag 1954 im «Brückenbauer» veröffentlichte. Es war ihre
eigene Geschichte, angereichert mit fiktiven erzählerischen Elementen. Laure
Wyss «zeigte ihr Alter Ego als Opfer einer
Gesellschaft, die jeder unverheirateten
Mutter grundsätzlich Selbständigkeit und
Verantwortungsbewusstsein absprach
und sie für unehrenhaft hielt», schreibt
ihre Biografin dazu.
Wenn im letzten Kapitel das Leben
von Laure Wyss als Schriftstellerin nach
der Pensionierung (sie starb 2002) in weniger als drei Dutzend Seiten abgehandelt wird, liegt das in der Logik dieser
Biografie, die eine politische und keine literarische sein will. Immerhin: Es war ein
überaus produktives Vierteljahrhundert,
in dem ein literarisches Œuvre entstand,
das sich folgerichtig aus dem vorangegangenen journalistischen Schaffen entwickelte. Als Wyss’ Erstling «Mutters Geburtstag» 1981 in die renommierte, von
Otto F. Walter begründete Sammlung
Luchterhand aufgenommen wurde, war
das eine Anerkennung und Würdigung
als «richtige» Schriftstellerin.
Barbara Kopp: Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten. Limmat,
Zürich 2013. 352 S., ca. 43 Fr.
Buchvernissage: Fr, 21. 6., im Zunfthaus
zur Schmiden (ausverkauft).
Am Samstag widmet sich «Das Magazin»
der Frage «Was ist emanzipiert?». Das
Heft enthält auch einen Auszug aus Laure
Wyss’ Umfrage bei Leserinnen von 1972.
«Pflicht zur Sachlichkeit»
Laure Wyss und die Justiz
Nachdem Margrit Sprecher zur «Weltwoche»
gewechselt hatte, wurde Laure Wyss für die
verwaiste Gerichtskolumne in der «Züri
Woche» engagiert. Chefredaktor Karl Lüönd,
der sich «ein menschlich anrührendes Stück
Journalismus» wünschte, hatte auch schon
den passenden Titel parat: «Lämpe». Ärger
gab es tatsächlich: Wyss’ kritische Bemer­
kung über einen oft betrunkenen Oberrichter
veranlasste die Verwaltungskommission im
November 1986, ihr die Akkreditierung als
Gerichtsberichterstatterin zu verweigern.
Der hoheitliche Ärger hielt an. Im Mai
1998 wollte die renommierte Autorin für die
«Wochenzeitung» über den Prozess gegen
den als Babyquäler bekannt gewordenen
René Osterwalder berichten. Doch das
Obergericht verlangte, es sei zuerst das
«ernste Interesse (von Laure Wyss) für die
Gerichtsberichterstattung glaubhaft zu
machen» und darüber hinaus «darzulegen,
dass sich heute die Annahme rechtfertigt,
Frau Wyss werde der Pflicht zu wahrheits­
getreuer und sachlicher Gerichtsbericht­
erstattung nachkommen». Die Verhandlung
fand ohne Laure Wyss statt. (thas.)
Eine hübsche junge Frau im apart gemusterten Kleid kniet in der Küche, den
Blick starr auf den offenen Gasofen gerichtet. Eine andere hübsche Frau watet
im blütenweissen Kleid durch ein schattiges Flüsslein. Eine dritte hat sich am
Waschbecken gerade die Pulsadern aufgeschnitten. Jede dieser Szenen, nachgestellt von Models in Haute Couture, ist
unverkennbar nach einem realen Vorbild modelliert: Es sind die Schriftstellerinnen Sylvia Plath, Virginia Woolf und
Dorothy Parker, festgehalten kurz vor
ihrem selbst gewählten Tod (oder beim
Versuch dazu).
Suizid als glamouröse Idylle: So stellt
man sich beim auf Kontroversen abonnierten US-Trendmagazin «Vice» offenbar eine provokante Modestrecke vor.
Über die Werke der insgesamt sieben berühmten Selbstmörderinnen aus der Literaturgeschichte erfährt man selbstredend nichts. Dafür wird die gezeigte Garderobe, wie sichs gehört für eine Modestrecke, peinlich genau ausgewiesen. Damit sich die geneigte Leserin genau den
Strumpf kaufen kann, mit dem sich die
taiwanische Autorin Sanmao gerade erhängt – oder zumindest das Model, das
im Heft deren Freitod nachstellt.
«Fast atemberaubend geschmacklos», schrieb daraufhin eine entgeisterte
Journalistin im Onlinemagazin «Jezebel», und bald folgten ihr besorgte Stimmen von Fachleuten aus der Suizidprävention. Nicht dass die Macher von
«Vice» ungeübt wären im Umgang mit
kalkulierten Skandalen: Zuletzt sorgte
das Heft vor rund drei Monaten für Aufsehen, als man den US-Basketballstar
Dennis Rodman auf seinem offiziellen
Besuch in Nordkorea begleitete. Doch
die morbide Modestrecke der Fotografin
Annabel Mehran war der «Vice»-Redaktion nun doch nicht mehr geheuer: Inzwischen wurden die Bilder von der
Website genommen, an ihrer Stelle steht
eine dürre Entschuldigung. ( flo)