Adipositas und ihre Bewertung im Rahmen des
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Adipositas und ihre Bewertung im Rahmen des
Originalbeiträge M. Lorenz Adipositas und ihre Bewertung im Rahmen des Schwerbehindertenrechts Einleitung Im Rahmen versorgungsmedizinischer Begutachtungsverfahren führen Antragsteller immer wieder Adipositas bzw. einen erhöhten Body-mass-Index (BMI) als Behinderung an. Diese Auffassung steht auch hinter der Forderung der Behindertenverbände, die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) [1] entsprechend anzupassen und eine Adipositas als Behinderung einzustufen. Dies wird oft begründet mit der bereits vorliegenden Bezeichnung der Adipositas als „schwere“ Gesundheitsstörung in der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems” von 2012 (ICD-10) [2]. Außerdem hat das Bundessozialgericht (BSG) in einem Urteil vom 19.02.2003 im Zusammenhang mit einer Magenverkleinerung Adipositas als „Vorliegen einer Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne“ bezeichnet (BSG B1KR 1/02R). Vor diesem Hintergrund ist die Geltendmachung einer Adipositas bzw. eines erhöhten BMI an sich im Antragsverfahren als Behinderung zunächst verständlich. Adipositasdiagnose, Einteilung und prognostische Bedeutung Der BMI hat in den letzten Jahren auch in der breiten Öffentlichkeit zur Identifikation eines gesunden Körpergewichts bei Erwachsenen an Bedeutung gewonnen. Er ist definiert als der Quotient von Körpergewicht (in Kilogramm) und Kör- Anschrift der Verfasserin Dr. med. Margarethe Lorenz Zentrum Bayern Familie und Soziales Regionalstelle Oberbayern Bayerstr. 32 80335 München pergrösse (in Metern) zum Quadrat. Im nichtadipösen Bereich unterscheidet man folgende Gewichtskategorien: Gewichtskategorie BMI [kg/m²] Untergewicht < 18,5 Normalgewicht 18,5 – 24,9 Übergewicht 25,0 – 29,9 Wie bereits erwähnt, listet die ICD-10 die Adipositas unter Punkt E 66 als schwere Gesundheitsstörung auf, mit Aufteilung in die Schweregrade I-III: ◾◾ E 66.00 BMI von 30 bis unter 35 (Adipositas Grad I) ◾◾ E 66.01 BMI von 35 bis unter 40 (Adipositas Grad II) ◾◾ E 66.02 BMI von 40 und mehr (Adipositas Grad III) Die Einstufung der Adipositas als schwere Gesundheitsstörung in der ICD-10 hat sicher ihre Berechtigung, ist sie doch ein ausgeprägter Risikofaktor nicht nur für Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf erkankungen sowie für Wirbelsäulenund Gelenkbeschwerden (siehe Tabelle 1 nach [3]), sondern auch assoziiert mit einem deutlich gehäuften Auftreten von Tumorerkrankungen, insbesondere für Gallenblasen-, Leber-, Gebärmutter- und Nierenkarzinom [4]. Definitionen von Behinderung, Grad der Behinderung und Merkzeichen „G“ im Sinne des Schwerbehindertenrechts Zunächst ist festzuhalten, dass im Rahmen des Schwerbehindertenrechts generell keine Gesundheitsstörungen bzw. Diagnosen zu berücksichtigen sind, son- Zusammenfassung Adipositas wird von Antragstellern immer wieder als Behinderungsleiden geltend gemacht. Auch von Seiten der Behindertenverbände wird mitunter die Forderung erhoben, die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ entsprechend zu ändern. Zwar wird in der „International Statistical Classification of Diseases and Health Problems” von 2012 (ICD-10) Adipositas als „schwere“ Gesundheitsstörung aufgeführt. Im Rahmen der Versorgungsmedizin kann jedoch nicht das Vorliegen einer Adipositas an sich, sondern nur die damit im Einzelfall individuell verbundene Teilhabebeeinträchigung berücksichtigt werden. Insbesondere kann aus dem BMI-Wert eines Antragsstellers nicht direkt der Grad der Behinderung (GdB) abgeleitet werden und es ergibt sich auch keine direkte Korrelation zwischem BMI und den Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ (erhebliche Gehbehinderung). Schlüsselwörter Schwerbehindertenrecht – Versorgungsmedizinische Grundsätze – Adipositas – Begutachtung dern die hierdurch bedingte Teilhabebeeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft. Zur Definition einer Behinderung im Sinne des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches [5] heißt es in Paragraf 2, Absatz 1 (SGB IX § 2 Abs. 1): „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion und geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von einem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ Der GdB als Gradmesser einer Behinderung ist weiterhin definiert wie folgt: 18,5 – 19,0 20,0 – 22,4 22,5 – 24,9 25,0 – 29,9 30,0 – 34,9 35,0 – 39,9 40,0 – 49,9 Krebserkrankung 0,96 0,95 1,0 1,09 1,34 1,47 1,70 Herz-Kreislaufkrankheiten 1,15 0,96 1,0 1,31 1,80 2,63 3,56 BMI [kg/m2] Tabelle 1: „Hazard-Ratios“ für Sterblichkeitsraten durch Krebs- oder Herz-Kreislauferkrankungen in Abhängigkeit vom BMI, bezogen auf den BMI-Referenzbereich 22,5 – 24,9 (nach [3]). 214 MED SACH 111 5/2015 Originalbeiträge „Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens“. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr bzw. die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens „G“ liegen bei einem schwerbehinderten Menschen vor, „[...] der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.“ Adipositas bzw. BMI und Grad der Behinderung In den „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ [1], die den Rechtscharakter einer Verordnung haben, ist zur Bewertung der Adipositas vorgegeben (VMG B15.3): a) Die Adipositas allein bedingt keinen GdB (Grad der Behinderung). b) Nur Folge- und Begleitschäden (insbesondere am kardiopulmonalen System oder am Stütz- und Bewegungsapparat) können die Annahme eines GdB begründen. c) Gleiches gilt für die besonderen funktionellen Auswirkungen einer Adipositas permagna. Diese Vorgaben, insbesondere auch Punkt a, haben sehr wohl ihre Berechtigung: Mit einer Adipositas (insbesondere bei Grad I und Grad II, zum Teil auch bei Grad III) ist keineswegs zwingend eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung im Alltag verbunden. Gerade eine langsam progrediente Gewichtszunahme verläuft – selbst wenn sie ausgeprägt ist – häufig sehr blande. Die folgenden Fallbeispiele aus der Begutachtungspraxis mögen dies verdeutlichen. Beispiel 1: ■ m ännlich, Alter 45 Jahre, Körpergröße 173 cm, Körpergewicht 130 kg – Hieraus errechnet sich ein BMI von 43,5 kg/m2, entsprechend einer Adipositas Grad III. ■ D er Antragsteller spielte aktiv Fußball und war Schiedsrichter in der B-Klasse. Herz-Kreislaufbeschwerden bestanden nicht. Zu einer Teilhabebeeinträchtigung bis hin zu einer Schwerbehinderung kam es erst, als sich infolge von Erysipelen nach Mückenstichen an den Beinen ein ausgeprägtes sekundäres Lymphödem entwickelte. Beispiel 2: ■ weiblich, Alter 45 Jahre, Körpergröße 160 cm, Körpergewicht 114 kg – Der BMI beträgt 44,5 kg/m2, entsprechend einer Adipositas Grad III. ■ Die Antragstellerin geht in ihrer F reizeit gerne bergwandern, entsprechend ist sie kardiopulmonal sehr gut bis 200 Watt belastbar. Die Lungenfunktions-, Echo kardiographie- und EKG-Befunde sind unauffällig. ■ Es wurde ein GdB 50 zuerkannt wegen eines Korpus-Ca pT1a für zwei Jahre, ein zusätzlicher GdB wegen Adipositas dagegen nicht. Beispiel 3: ■ weiblich, Alter 54 Jahre, Körpergröße 159 cm, Körpergewicht 137 kg – Daraus ergibt sich ein BMI von 54,2 kg/m2. ■ weitere Untersuchungsbefunde: – Lungenfunktion: normal bis auf brochiale Hyperreagibilität – geringe Partialinsuffizienz (pO2 69 mmHg) in Ruhe, bei B elastung mit 100 Watt Normalisierung des Sauerstoffpartialdrucks – Blutdruck u. Th. 130–140/80, Echokardiographie: Hypertrophie 14 mm ■ Aufgrund ihres Bluthochdrucks wurde der Patientin ein GdB 20 zuerkannt, aber kein GdB für die Adipositas an sich. Diese Beispiele zeigen, dass aus dem Vorliegen einer Adipositas bzw. einem erhöhten BMI nicht direkt auf eine relevante Teilhabebeeinträchtigung hierdurch und damit das Vorliegen einer Behinderung im Sinne des Schwerbehindertenrechts, insbesondere nicht auf das Vorliegen einer Schwerbehinderung bzw. einer damit verbundenen erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr, geschlossen werden kann, auch nicht bei einer Adipositas Grad III. Es darf hierzu auch auf die Rechtsprechung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) in einem Urteil vom Mai 2004 (LSG NRW L6 SB 137/03) hingewiesen werden. Hierin wurden im Wesentlichen die folgenden drei Aussagen getroffen: 1. „Die Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung gemäß §§ 145 ff. SGB IX liegen nicht vor, wenn die Beeinträchtigung der Gehfähigkeit im Wesentlichen auf erheblicher Übergewichtigkeit sowie einem dadurch bedingten mangelhaften Trainingszustand beruht” (vgl. hierzu das vorangegangene Urteil des BSG vom 13.08.1997, BSG B9 RVS 1/96). 2. „Eine Adipositas allein bedingt keinen GdB und ist damit in der Regel nicht als Behinderung i.S. des Schwerbehindertenrechts anzusehen (Anhaltspunkte (AHP) Nr. 26.15). Vielmehr handelt es sich bei der Übergewichtigkeit und dem mangelnden Trainingszustand gerade um solche Faktoren, die für die Beurteilung einer behinderungsbedingten Einschränkung der Gehfähigkeit i.S. der AHP außer Betracht zu bleiben haben.” 3. „Eine durch Übergewicht bedingte Luftnot hat auch bei der Gesamtschau der Behinderungen, die eine erhebliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit i.S. des Schwerbehindertenrechts bedingen können, außer Betracht zu bleiben.” Interessant ist hier vor allem der bestätigte Bezug zwischen dem mangelnden Trainingszustand (ein in der Schwerbehindertenbegutachtung eindeutig geregelter Fall) und der durch Übergewicht verursachten unzureichenden Gehfähigkeit, die analog zu beurteilen sei. Im Einzelnen lag dem oben zitierten Urteil des Landessozialgerichts NRW vom Mai 2004 folgender Sachverhalt zugrunde: Beispiel 4 : ■ weiblich, Alter 52 Jahre, BMI > 40 kg/m2, entsprechend Adipositas Grad III ■ Der Patientin waren wegen entsprechender anderweitiger Funtionsbehinderungen die folgenden GdB-Werte (und ein Gesamt-GdB von 50) zuerkannt worden: MED SACH 111 5/2015 215 Originalbeiträge Bauchdeckenplastik nach passagerem Anus praeter GdB 20 Schlafapnoe GdB 20 Funktionsbehinderung der Wirbelsäule GdB 30 Funktionsbehinderung der Kniegelenke GdB 20 Gesamt-GdB 50 Strittig waren die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G”. In erster Instanz war von einer erheblichen Gehbehinderung ausgegangen worden aufgrund von „Dyspnoe bei eigener in Augenscheinnahme”. Das LSG NRW folgte dieser Auffassung jedoch nicht und vertrat die Ansicht, dass die GdB-Werte auf orthopädischem Gebiet nicht ausgefüllt und auch die internistischen Leiden nicht annähernd so ausgeprägt seien, als dass sie sich auf die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigend auswirken könnten. Adipositasassoziierte Erkrankungen Anders als aus dem Vorliegen einer Adipositas an sich kann laut VMG aus den mit ihr assoziierten Folge- und Begleitschäden bzw. -einschränkungen durchaus ein GdB folgen, insbesondere wenn diese Schäden das kardiopulmonale System oder den Stütz- und Bewegungsapparat betreffen. Als häufigste mit einer Adipositas assoziierte Folge- und Spätschäden sind aufzuführen: 1. Erkrankungen des kardiovaskulären Systems – Hypertonie mit hypertensiver Herzerkrankung – Koronare Herzkrankheit – Schlaganfall 2. Störungen der metabolische Funktion – Diabetes mellitus Typ II mit Spätkomplikationen – ggf.Hyperurikämie mit Gicht/Nierensteinleiden 3. Beeinträchtigungen des respiratorischen Systems – pseudorestriktive Einschränkung durch Zwerchfellhochstand, – Schlafapnoesyndrom – Pickwick-Syndrom 4. Störungen des gastrointestinalen Systems – Cholezystolithiasis – Fettleber mit nichtalkoholischer Fettleberhepatitis – Refluxösophagitis 5. Tumorerkrankungen 6. Krankheiten des Bewegungsapparats – Cox- und Gonarthrose – Wirbelsäulensyndrome 7. Hautkrankheiten – Intertrigo, Hirsutismus Dass die durch diese Folge- und Begleiterkrankungen bedingte Teilhabebeeinträchtigung bei Anträgen nach dem Schwerbehindertenrecht zu bewerten ist, ist unstrittig, wie folgendes Beispiel zeigt: Beispiel 5: ■ weiblich, Alter 55 Jahre, Körpergrösse 168 cm, Körpergewicht 99 kg, entsprechend einem BMI 35,11 kg/m2 ■ F olgende Funktionseinschränkungen (überwiegend Begleiterscheinungen der Adipositas) wurden in der Begutachtung berücksichtigt und mit einem jeweiligen GdB bewertet: Diabetes mell. Typ 2b, seit 5J ICI GdB 30 Visusminderung 0,1 – 0,8 GdB 20 Niereninsuff. Krea 1,6 mg/dl GdB 20 Hypertonie mit leichter HHK GdB 20 Schlafapnoe mit CPAP GdB 20 Gesamt-GdB 50 ■ Das Merkzeichen „G“ wurde nicht zuerkannt. Auch bei nachfolgendem Sachverhalt im Beispiel 6 war die Feststellung einer Schwerbehinderteneigenschaft infolge der Adipositas assoziierten Folge- und Begleiterscheinungen unstrittig: Beispiel 6 (in der Rechtssprechung verhandelt vom LSG Berlin-Brandenburg L11 SB 1021/05 vom 08.06.06, sowie BSG B9/9a SB 07/06 R vom 24.04.08): – Es lagen vor: Insulinpflichtiger Diabetes GdB 50 Bluthochdruck, Herzinsuffizienz GdB 30 Bauchdeckenbruch GdB 20 deg. WS- und Gelenkveränderungen GdB 30 und drei weitere Behinderungen GdB 20 bzw.10 Gesamt-GdB 90 Strittig war, ob auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ vorlagen. Der Gerichtsgutachter führte in diesem Fall trotz des zunächst relativ niedrig angesetzten GdB von 30 für die Funktionsbeeinträchtigung von Seiten der Wirbelsäule und Gelenke im weiteren etwas diskrepant hierzu aus (LSG Berlin-Brandenburg L11 SB 1021/05), 216 „dass unter Berücksichtigung der Adipositas und der Veränderungen an den großen Gelen ken beider unteren Extremitäten ein GdB von 40 anzunehmen und unter Einwirkung der Adi positas und der funktionellen Störungen der Lendenwirbelsäule und Brustwirbelsäule ein GdB von wenigstens 30 zu berücksichtigen sei, sowie die Behinderungen an den großen Ge lenken und der Lendenwirbelsäule und Brust wirbelsäule sich verstärken, so dass ein GdB von 60 gerechtfertigt erscheine”. Daraufhin wurde vom 11. Senat des LSG Berlin-Brandenburg das Merkzeichen „G“ mit Urteil (L 11 SB 1021/05) zuerkannt: „Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “G” liegen vor, wenn das Gehver mögen durch eine Kombination von inneren und orthopädischen Leiden, die von einer Adi positas permagna verstärkt werden, erheblich beeinträchtigt wird.” Dieses Urteil wurde vom 9. Senat des Bundessozialgerichts (B 9/9a SB 7/06 R) wie folgt bestätigt: „Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “G” liegen auch dann vor, wenn die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erst durch ein Zusammenwirken von Gesundheits störungen und großem Übergewicht erheblich beeinträchtigt wird.“ „Die statisch-dynamische Insuffizienz der Wir belsäule als Achsenorgan des Rumpfes in Verbin dung mit funktionellen Störungen beider Hüftund Kniegelenke mag zwar für sich genommen noch keinen GdB von 50 oder jedenfalls 40 bedin gen, bei dem die gesundheitlichen Merkmale für das Merkzeichen regelhaft anzunehmen wären. Die aus den Gesundheitsstörungen des Stützund Bewegungsapparats folgenden Einschrän kung der Bewegungsfähigkeit im Straßenver kehr werden aber jedenfalls durch funktionelle Auswirkungen der Adipositas permagna soweit verstärkt, dass die der Klägerin zumutbare Weg strecke auf – weit – unter 2 km abgesunken ist.” In einem späteren Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (L 13 SB 82/08) wurde zu einer ähnlichen Fragestellung dargelegt: „Der Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens “G” – erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr – setzt u.a. voraus, dass der Schwerbehinderte eine Strecke von etwa zwei Kilometern nicht in etwa einer halben Stunde zurücklegen kann.“ „Erforderlich ist darüber hinaus, dass sich auf die Gehfähigkeit auswir- MED SACH 111 5/2015 Originalbeiträge kende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen.“ „Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze beschreiben Regelfälle, die bei den nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können. Deshalb gehört auch ein erhebliches Übergewicht zu den Faktoren, die einen Bezug zu einer Behinderung aufweisen und infolgedessen bei der Beurteilung des Gehvermögens Berücksichtigung finden müssen.“ Festzuhalten bleibt, dass nicht nur die Folgeerkrankungen an sich, sondern auch die sich funktionell ungünstig verstärkende Auswirkung einer Adipositas auf bestehende Gesundheitsstörungen bei der Prüfung des Vorliegens einer erheblichen oder gar außergewöhnlichen Gehbehinderung, aber auch bei der GdBHöhe zu berücksichtigen ist. Dabei kommt es auf das Zusammenwirken von Gesundheitsstörungen und Adipositas an. Bei bereits fortgeschrittener Gonarthrose kann sich schon die zusätzliche Belastung durch eine Adipositas Grad (I-)II sehr ungünstig auswirken, sodass wegen der erhöhten Teilhabebeeinträchtigung der GdB zu erhöhen ist. Bei geringeren degenerativen Veränderungen ist hiervon erst bei einer schwer ausgeprägten Adipositas auszugehen. Extremfälle funktioneller Beeinträchtigung durch Adipositas Den besonderen funktionellen Auswirkungen einer besonders hochgradigen Adipositas (BMI > 40 und deutlich darüber) ist gemäß der VMG wie den Folgeund Begleitschäden individuell Rechnung zu tragen. Dies zeigt folgender Sachverhalt: Beispiel 7: ■ Frau 68 Jahre, 155 cm, 141 kg, BMI 58kg/m2 ■ Gehen ohne Gehwagen war laut Gutachter wegen der enormen Adipositas mit gigantischer Fettschürze nicht mehr möglich. ■ Beurteilung: Beeinträchtigung der Gehund Stehfähigkeit bei Adipositas GdB 70, Merkzeichen „G“ und auch “B“ Es sei jedoch an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Adipositas und dem Merkzeichen „G“ nicht per se besteht. Fazit Die Rolle eines krankhaft erhöhten Körpergewichts im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilungspraxis hat in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen. Vor dem Hintergrund des allgemeinen Trends zu höherem Körpergewicht und weniger Bewegung in der Bevölkerung ist für die Zukunft noch von einer Zunahme derjenigen Anträge auszugehen, bei denen Adipositas als Behinderungsgrund geltend gemacht wird. Wie anhand von Beispielen illustriert wurde, lässt jedoch der BMI eines Patienten, selbst wenn er krankhaft bzw. deutlich erhöht ist, keinen direkten Rückschluss auf die Teilhabebeeinträchtigung bzw. GdB-Bewertung zu. Gleiches gilt auch das Merkzeichen „G“, das nicht direkt an den BMI gekoppelt werden kann. Weiterhin ist festzuhalten, dass die Adipositas allein ebenso wie ein Trainingsmangel kein Leiden im Sinne des Schwerbehindertenrechts ist, auch wenn hier seitens der Antragssteller und Behindertenverbände mitunter andere Ansichten vertreten werden. Es sind vielmehr individuell das Vorliegen von Folgeund Begleiterkrankungen, das ungünstige Zusammenwirken der Adipositas mit bestehenden Gesundheitsstörungen gerade des Herz-Kreislaufsystems, der Lungen und des Bewegungsapparats sowie die besonderen funktionellen Auswirkungen einer besonders hochgradigen Adipositas permagna (BMI > 40 und deutlich höher) bei der GdB-Bewertung und der Prüfung der Voraussetzungen für Merkzeichen zu bewerten. Auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entschied kürzlich (EuGH, Urteil in der Rechtssache C-354/13 vom 18.12.14), dass eine krankhafte Fettleibigkeit als Behinderung anzusehen ist, wenn sie zu deutlichen Einschränkungen der Teil habe am Arbeitsleben führt – aber auch nur dann. Literatur 1 Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Referat Information, Publikation, Redaktion (2008). „Versorgungsmedizinische Grundsätze. Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008“ 2 World Health Organization: „International Classification of Diseases (ICD), Tenth Revision“, 2012 3 Berrington de Gonzalez A, Hartge P, Cerhan JR, et al. Body-mass index and mortality among 1.46 million white adults. N Engl J Med (2010), 363: 2211–9 4 Renehan AG, Tyson M, Egger M, Heller RF, Zwahlen M. Body-mass index and incidence of cancer: a systematic review and meta-analysis of prospective observational studies. Lancet (2008), 371 (9612): 569–78 5 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: „Das Neunte Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“, 2001 MED SACH 111 5/2015 217