Adipositas und ihre Bewertung im Rahmen des

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Adipositas und ihre Bewertung im Rahmen des
Originalbeiträge
M. Lorenz
Adipositas und ihre Bewertung im
Rahmen des Schwerbehindertenrechts
Einleitung
Im Rahmen versorgungsmedizinischer
Begutachtungsverfahren führen Antragsteller immer wieder Adipositas bzw.
einen erhöhten Body-mass-Index (BMI)
als Behinderung an. Diese Auffassung
steht auch hinter der Forderung der
Behindertenverbände, die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) [1]
entsprechend anzupassen und eine Adipositas als Behinderung einzustufen.
Dies wird oft begründet mit der bereits
vorliegenden Bezeichnung der Adipositas als „schwere“ Gesundheitsstörung in
der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems” von 2012 (ICD-10) [2]. Außerdem
hat das Bundessozialgericht (BSG) in
einem Urteil vom 19.02.2003 im Zusammenhang mit einer Magenverkleinerung
Adipositas als „Vorliegen einer Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen
Sinne“ bezeichnet (BSG B1KR 1/02R).
Vor diesem Hintergrund ist die Geltendmachung einer Adipositas bzw. eines
erhöhten BMI an sich im Antragsverfahren als Behinderung zunächst verständlich.
Adipositasdiagnose, Einteilung
und prognostische Bedeutung
Der BMI hat in den letzten Jahren auch
in der breiten Öffentlichkeit zur Identifikation eines gesunden Körpergewichts
bei Erwachsenen an Bedeutung gewonnen. Er ist definiert als der Quotient von
Körpergewicht (in Kilogramm) und Kör-
Anschrift der Verfasserin
Dr. med. Margarethe Lorenz
Zentrum Bayern Familie und Soziales
Regionalstelle Oberbayern
Bayerstr. 32
80335 München
pergrösse (in Metern) zum Quadrat. Im
nichtadipösen Bereich unterscheidet man
folgende Gewichtskategorien:
Gewichtskategorie
BMI [kg/m²]
Untergewicht
< 18,5
Normalgewicht
18,5 – 24,9
Übergewicht
25,0 – 29,9
Wie bereits erwähnt, listet die ICD-10 die
Adipositas unter Punkt E 66 als schwere
Gesundheitsstörung auf, mit Aufteilung
in die Schweregrade I-III:
◾◾ E 66.00 BMI von 30 bis unter 35
(Adipositas Grad I)
◾◾ E 66.01 BMI von 35 bis unter 40
(Adipositas Grad II)
◾◾ E 66.02 BMI von 40 und mehr (Adipositas Grad III)
Die Einstufung der Adipositas als schwere Gesundheitsstörung in der ICD-10 hat
sicher ihre Berechtigung, ist sie doch
ein ausgeprägter Risikofaktor nicht nur
für Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf­
erkankungen sowie für Wirbelsäulenund Gelenkbeschwerden (siehe Tabelle 1
nach [3]), sondern auch assoziiert mit
einem deutlich gehäuften Auftreten von
Tumorerkrankungen, insbesondere für
Gallenblasen-, Leber-, Gebärmutter- und
Nierenkarzinom [4].
Definitionen von Behinderung,
Grad der Behinderung und
Merkzeichen „G“ im Sinne
des Schwerbehindertenrechts
Zunächst ist festzuhalten, dass im Rahmen des Schwerbehindertenrechts generell keine Gesundheitsstörungen bzw.
Diagnosen zu berücksichtigen sind, son-
Zusammenfassung
Adipositas wird von Antragstellern
immer wieder als Behinderungsleiden
geltend gemacht. Auch von Seiten der
Behindertenverbände wird mitunter
die Forderung erhoben, die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ entsprechend zu ändern. Zwar wird in der
„International Statistical Classification
of Diseases and Health Problems” von
2012 (ICD-10) Adipositas als „schwere“ Gesundheitsstörung aufgeführt. Im
Rahmen der Versorgungsmedizin kann
jedoch nicht das Vorliegen einer Adipositas an sich, sondern nur die damit
im Einzelfall individuell verbundene
Teilhabebeeinträchigung berücksichtigt
werden. Insbesondere kann aus dem
BMI-Wert eines Antragsstellers nicht
direkt der Grad der Behinderung (GdB)
abgeleitet werden und es ergibt sich auch
keine direkte Korrelation zwischem
BMI und den Voraussetzungen für das
Merkzeichen „G“ (erhebliche Gehbehinderung).
Schlüsselwörter
Schwerbehindertenrecht – Versorgungsmedizinische
Grundsätze – Adipositas – Begutachtung
dern die hierdurch bedingte Teilhabebeeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft. Zur Definition einer Behinderung
im Sinne des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches [5] heißt es in Paragraf 2,
Absatz 1 (SGB IX § 2 Abs. 1):
„Menschen sind behindert, wenn ihre
körperliche Funktion und geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs
Monate von einem für das Lebensalter
typischen Zustand abweichen und daher
ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“
Der GdB als Gradmesser einer Behinderung ist weiterhin definiert wie folgt:
18,5 –
19,0
20,0 –
22,4
22,5 –
24,9
25,0 –
29,9
30,0 –
34,9
35,0 –
39,9
40,0 –
49,9
Krebserkrankung
0,96
0,95
1,0
1,09
1,34
1,47
1,70
Herz-Kreislaufkrankheiten
1,15
0,96
1,0
1,31
1,80
2,63
3,56
BMI [kg/m2]
Tabelle 1: „Hazard-Ratios“ für Sterblichkeitsraten durch Krebs- oder Herz-Kreislauferkrankungen in Abhängigkeit vom BMI, bezogen auf den BMI-Referenzbereich 22,5 – 24,9 (nach [3]).
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Originalbeiträge
„Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens“.
Eine erhebliche Beeinträchtigung der
Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr
bzw. die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens „G“ liegen bei
einem schwerbehinderten Menschen vor,
„[...] der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch
innere Leiden oder infolge von Anfällen
oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich
oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr
zurückzulegen vermag, die üblicherweise
noch zu Fuß zurückgelegt werden.“
Adipositas bzw. BMI und Grad
der Behinderung
In den „Versorgungsmedizinischen
Grundsätzen“ [1], die den Rechtscharakter einer Verordnung haben, ist zur
Bewertung der Adipositas vorgegeben
(VMG B15.3):
a) Die Adipositas allein bedingt keinen
GdB (Grad der Behinderung).
b) Nur Folge- und Begleitschäden (insbesondere am kardiopulmonalen System oder am Stütz- und Bewegungsapparat) können die Annahme eines
GdB begründen.
c) Gleiches gilt für die besonderen funktionellen Auswirkungen einer Adipositas permagna.
Diese Vorgaben, insbesondere auch
Punkt a, haben sehr wohl ihre Berechtigung: Mit einer Adipositas (insbesondere
bei Grad I und Grad II, zum Teil auch bei
Grad III) ist keineswegs zwingend eine
stärkere Teilhabebeeinträchtigung im
Alltag verbunden. Gerade eine langsam
progrediente Gewichtszunahme verläuft
– selbst wenn sie ausgeprägt ist – häufig
sehr blande. Die folgenden Fallbeispiele
aus der Begutachtungspraxis mögen dies
verdeutlichen.
Beispiel 1:
■ m
ännlich, Alter 45 Jahre, Körpergröße
173 cm, Körpergewicht 130 kg
– Hieraus errechnet sich ein BMI von
43,5 kg/m2, entsprechend einer Adipositas Grad III.
■ D er Antragsteller spielte aktiv Fußball
und war Schiedsrichter in der B-Klasse.
Herz-Kreislaufbeschwerden bestanden
nicht. Zu einer Teilhabebeeinträchtigung
bis hin zu einer Schwerbehinderung kam
es erst, als sich infolge von Erysipelen
nach Mückenstichen an den Beinen ein
ausgeprägtes sekundäres Lymphödem
entwickelte.
Beispiel 2:
■ weiblich, Alter 45 Jahre, Körpergröße
160 cm, Körpergewicht 114 kg
– Der BMI beträgt 44,5 kg/m2, entsprechend einer Adipositas Grad III.
■ Die Antragstellerin geht in ihrer F­ reizeit
gerne bergwandern, entsprechend ist
sie kardiopulmonal sehr gut bis 200 Watt
belastbar. Die Lungenfunktions-, Echo­
kardiographie- und EKG-Befunde sind
unauf­fällig.
■ Es wurde ein GdB 50 zuerkannt wegen eines Korpus-Ca pT1a für zwei Jahre, ein zusätzlicher GdB wegen Adipositas dagegen
nicht.
Beispiel 3:
■ weiblich, Alter 54 Jahre, Körpergröße
159 cm, Körpergewicht 137 kg
– Daraus ergibt sich ein BMI von
54,2 kg/m2.
■ weitere Untersuchungsbefunde:
– Lungenfunktion: normal bis auf brochiale Hyperreagibilität
– geringe Partialinsuffizienz
(pO2 69 mmHg) in Ruhe, bei B
­ elastung
mit 100 Watt Normalisierung des
­Sauerstoffpartialdrucks
– Blutdruck u. Th. 130–140/80,
Echokardiographie:
Hypertrophie 14 mm
■ Aufgrund ihres Bluthochdrucks wurde der
Patientin ein GdB 20 zuerkannt, aber kein
GdB für die Adipositas an sich.
Diese Beispiele zeigen, dass aus dem
Vorliegen einer Adipositas bzw. einem
erhöhten BMI nicht direkt auf eine relevante Teilhabebeeinträchtigung hierdurch
und damit das Vorliegen einer Behinderung im Sinne des Schwerbehindertenrechts, insbesondere nicht auf das Vorliegen einer Schwerbehinderung bzw. einer
damit verbundenen erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im
Straßenverkehr, geschlossen werden kann,
auch nicht bei einer Adipositas Grad III.
Es darf hierzu auch auf die Rechtsprechung des Landessozialgerichts
Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) in
einem Urteil vom Mai 2004 (LSG NRW
L6 SB 137/03) hingewiesen werden.
Hierin wurden im Wesentlichen die folgenden drei Aussagen getroffen:
1. „Die Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung gemäß §§
145 ff. SGB IX liegen nicht vor, wenn
die Beeinträchtigung der Gehfähigkeit im Wesentlichen auf erheblicher Übergewichtigkeit sowie einem
dadurch bedingten mangelhaften
Trainingszustand beruht” (vgl. hierzu das vorangegangene Urteil des
BSG vom 13.08.1997, BSG B9 RVS
1/96).
2. „Eine Adipositas allein bedingt keinen GdB und ist damit in der Regel
nicht als Behinderung i.S. des
Schwerbehindertenrechts anzusehen
(Anhaltspunkte (AHP) Nr. 26.15).
Vielmehr handelt es sich bei der
Übergewichtigkeit und dem mangelnden Trainingszustand gerade um
solche Faktoren, die für die Beurteilung einer behinderungsbedingten
Einschränkung der Gehfähigkeit i.S.
der AHP außer Betracht zu bleiben
haben.”
3. „Eine durch Übergewicht bedingte
Luftnot hat auch bei der Gesamtschau
der Behinderungen, die eine erhebliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit i.S. des Schwerbehindertenrechts
bedingen können, außer Betracht zu
bleiben.”
Interessant ist hier vor allem der bestätigte Bezug zwischen dem mangelnden
Trainingszustand (ein in der Schwerbehindertenbegutachtung eindeutig geregelter Fall) und der durch Übergewicht
verursachten unzureichenden Gehfähigkeit, die analog zu beurteilen sei. Im
Einzelnen lag dem oben zitierten Urteil
des Landessozialgerichts NRW vom Mai
2004 folgender Sachverhalt zugrunde:
Beispiel 4 :
■ weiblich, Alter 52 Jahre, BMI > 40 kg/m2,
entsprechend Adipositas Grad III
■ Der Patientin waren wegen entsprechender anderweitiger Funtionsbehinderungen die folgenden GdB-Werte (und ein
Gesamt-GdB von 50) zuerkannt worden:
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Originalbeiträge
Bauchdeckenplastik nach
passagerem Anus praeter
GdB 20
Schlafapnoe
GdB 20
Funktionsbehinderung
der Wirbelsäule
GdB 30
Funktionsbehinderung
der Kniegelenke
GdB 20
Gesamt-GdB 50
Strittig waren die Voraussetzungen für das
Merkzeichen „G”. In erster Instanz war von einer
erheblichen Gehbehinderung ausgegangen
worden aufgrund von „Dyspnoe bei eigener in
Augenscheinnahme”. Das LSG NRW folgte dieser Auffassung jedoch nicht und vertrat die Ansicht, dass die GdB-Werte auf orthopädischem
Gebiet nicht ausgefüllt und auch die internistischen Leiden nicht annähernd so ausgeprägt
seien, als dass sie sich auf die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigend auswirken könnten.
Adipositasassoziierte
Erkrankungen
Anders als aus dem Vorliegen einer Adipositas an sich kann laut VMG aus den
mit ihr assoziierten Folge- und Begleitschäden bzw. -einschränkungen durchaus ein GdB folgen, insbesondere wenn
diese Schäden das kardiopulmonale System oder den Stütz- und Bewegungsapparat betreffen. Als häufigste mit einer
Adipositas assoziierte Folge- und Spätschäden sind aufzuführen:
1. Erkrankungen des kardiovaskulären
Systems
– Hypertonie mit hypertensiver
Herzerkrankung
– Koronare Herzkrankheit
– Schlaganfall
2. Störungen der metabolische Funktion
– Diabetes mellitus Typ II mit Spätkomplikationen
– ggf.Hyperurikämie mit Gicht/Nierensteinleiden
3. Beeinträchtigungen des respiratorischen Systems
– pseudorestriktive Einschränkung
durch Zwerchfellhochstand,
– Schlafapnoesyndrom
– Pickwick-Syndrom
4. Störungen des gastrointestinalen Systems
– Cholezystolithiasis
– Fettleber mit nichtalkoholischer
Fettleberhepatitis
– Refluxösophagitis
5. Tumorerkrankungen
6. Krankheiten des Bewegungsapparats
– Cox- und Gonarthrose
– Wirbelsäulensyndrome
7. Hautkrankheiten
– Intertrigo, Hirsutismus
Dass die durch diese Folge- und Begleiterkrankungen bedingte Teilhabebeeinträchtigung bei Anträgen nach dem Schwerbehindertenrecht zu bewerten ist, ist unstrittig, wie folgendes Beispiel zeigt:
Beispiel 5:
■ weiblich, Alter 55 Jahre, Körpergrösse
168 cm, Körpergewicht 99 kg, entsprechend einem BMI 35,11 kg/m2
■ F olgende Funktionseinschränkungen
(überwiegend Begleiterscheinungen der
Adipositas) wurden in der Begutachtung
berücksichtigt und mit einem jeweiligen
GdB bewertet:
Diabetes mell. Typ 2b, seit 5J ICI
GdB 30
Visusminderung 0,1 – 0,8
GdB 20
Niereninsuff. Krea 1,6 mg/dl
GdB 20
Hypertonie mit leichter HHK
GdB 20
Schlafapnoe mit CPAP
GdB 20
Gesamt-GdB 50
■ Das Merkzeichen „G“ wurde nicht zuerkannt.
Auch bei nachfolgendem Sachverhalt
im Beispiel 6 war die Feststellung einer
Schwerbehinderteneigenschaft infolge
der Adipositas assoziierten Folge- und
Begleiterscheinungen unstrittig:
Beispiel 6 (in der Rechtssprechung verhandelt vom LSG Berlin-Brandenburg L11 SB
1021/05 vom 08.06.06, sowie BSG B9/9a SB
07/06 R vom 24.04.08):
– Es lagen vor:
Insulinpflichtiger Diabetes
GdB 50
Bluthochdruck, Herzinsuffizienz
GdB 30
Bauchdeckenbruch
GdB 20
deg. WS- und Gelenkveränderungen
GdB 30
und drei weitere Behinderungen
GdB 20
bzw.10
Gesamt-GdB 90
Strittig war, ob auch die Voraussetzungen
für das Merkzeichen „G“ vorlagen. Der Gerichtsgutachter führte in diesem Fall trotz
des zunächst relativ niedrig angesetzten
GdB von 30 für die Funktionsbeeinträchtigung von Seiten der Wirbelsäule und Gelenke im weiteren etwas diskrepant hierzu aus
(LSG Berlin-Brandenburg L11 SB 1021/05),
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„dass unter Berücksichtigung der Adipositas
und der Veränderungen an den großen Gelen­
ken beider unteren Extremitäten ein GdB von
40 anzunehmen und unter Einwirkung der Adi­
positas und der funktionellen Störungen der
Lendenwirbelsäule und Brustwirbelsäule ein
GdB von wenigstens 30 zu berücksichtigen sei,
sowie die Behinderungen an den großen Ge­
lenken und der Lendenwirbelsäule und Brust­
wirbelsäule sich verstärken, so dass ein GdB
von 60 gerechtfertigt erscheine”.
Daraufhin wurde vom 11. Senat des LSG Berlin-Brandenburg das Merkzeichen „G“ mit Urteil (L 11 SB 1021/05) zuerkannt:
„Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des
Merkzeichens “G” liegen vor, wenn das Gehver­
mögen durch eine Kombination von inneren
und orthopädischen Leiden, die von einer Adi­
positas permagna verstärkt werden, erheblich
beeinträchtigt wird.”
Dieses Urteil wurde vom 9. Senat des Bundessozialgerichts (B 9/9a SB 7/06 R) wie folgt bestätigt:
„Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das
Merkzeichen “G” liegen auch dann vor, wenn
die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erst
durch ein Zusammenwirken von Gesundheits­
störungen und großem Übergewicht erheblich
beeinträchtigt wird.“
„Die statisch-dynamische Insuffizienz der Wir­
belsäule als Achsenorgan des Rumpfes in Verbin­
dung mit funktionellen Störungen beider Hüftund Kniegelenke mag zwar für sich genommen
noch keinen GdB von 50 oder jedenfalls 40 bedin­
gen, bei dem die gesundheitlichen Merkmale für
das Merkzeichen regelhaft anzunehmen wären.
Die aus den Gesundheitsstörungen des Stützund Bewegungsapparats folgenden Einschrän­
kung der Bewegungsfähigkeit im Straßenver­
kehr werden aber jedenfalls durch funktionelle
Auswirkungen der Adipositas permagna soweit
verstärkt, dass die der Klägerin zumutbare Weg­
strecke auf – weit – unter 2 km abgesunken ist.”
In einem späteren Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (L 13
SB 82/08) wurde zu einer ähnlichen Fragestellung dargelegt:
„Der Anspruch auf Zuerkennung des
Merkzeichens “G” – erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im
Straßenverkehr – setzt u.a. voraus, dass
der Schwerbehinderte eine Strecke von
etwa zwei Kilometern nicht in etwa einer
halben Stunde zurücklegen kann.“
„Erforderlich ist darüber hinaus,
dass sich auf die Gehfähigkeit auswir-
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kende Funktionsstörungen der unteren
Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB
von wenigstens 50 bedingen.“
„Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze beschreiben Regelfälle, die bei den
nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können. Deshalb
gehört auch ein erhebliches Übergewicht
zu den Faktoren, die einen Bezug zu einer
Behinderung aufweisen und infolgedessen bei der Beurteilung des Gehvermögens
Berücksichtigung finden müssen.“
Festzuhalten bleibt, dass nicht nur
die Folgeerkrankungen an sich, sondern
auch die sich funktionell ungünstig verstärkende Auswirkung einer Adipositas auf bestehende Gesundheitsstörungen bei der Prüfung des Vorliegens einer
erheblichen oder gar außergewöhnlichen
Gehbehinderung, aber auch bei der GdBHöhe zu berücksichtigen ist.
Dabei kommt es auf das Zusammenwirken von Gesundheitsstörungen und
Adipositas an. Bei bereits fortgeschrittener Gonarthrose kann sich schon die
zusätzliche Belastung durch eine Adipositas Grad (I-)II sehr ungünstig auswirken, sodass wegen der erhöhten Teilhabebeeinträchtigung der GdB zu erhöhen
ist. Bei geringeren degenerativen Veränderungen ist hiervon erst bei einer schwer
ausgeprägten Adipositas auszugehen.
Extremfälle funktioneller Beeinträchtigung durch Adipositas
Den besonderen funktionellen Auswirkungen einer besonders hochgradigen
Adipositas (BMI > 40 und deutlich darüber) ist gemäß der VMG wie den Folgeund Begleitschäden individuell Rechnung zu tragen. Dies zeigt folgender
Sachverhalt:
Beispiel 7:
■ Frau 68 Jahre, 155 cm, 141 kg, BMI 58kg/m2
■ Gehen ohne Gehwagen war laut Gutachter wegen der enormen Adipositas mit gigantischer Fettschürze nicht mehr möglich.
■ Beurteilung: Beeinträchtigung der Gehund Stehfähigkeit bei Adipositas GdB 70,
Merkzeichen „G“ und auch “B“
Es sei jedoch an dieser Stelle noch
einmal darauf hingewiesen, dass ein
direkter Zusammenhang zwischen Adipositas und dem Merkzeichen „G“ nicht
per se besteht.
Fazit
Die Rolle eines krankhaft erhöhten Körpergewichts im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilungspraxis hat in den
letzten Jahren deutlich an Bedeutung
gewonnen. Vor dem Hintergrund des allgemeinen Trends zu höherem Körpergewicht und weniger Bewegung in der
Bevölkerung ist für die Zukunft noch
von einer Zunahme derjenigen Anträge auszugehen, bei denen Adipositas
als ­Behinderungsgrund geltend gemacht
wird. Wie anhand von Beispielen illustriert wurde, lässt jedoch der BMI eines
Patienten, selbst wenn er krankhaft
bzw. deutlich erhöht ist, keinen direkten
Rückschluss auf die Teilhabebeeinträchtigung bzw. GdB-Bewertung zu. Gleiches gilt auch das Merkzeichen „G“, das
nicht direkt an den BMI gekoppelt werden kann.
Weiterhin ist festzuhalten, dass die
Adipositas allein ebenso wie ein Trainingsmangel kein Leiden im Sinne des
Schwerbehindertenrechts ist, auch wenn
hier seitens der Antragssteller und Behindertenverbände mitunter andere Ansichten vertreten werden. Es sind vielmehr
individuell das Vorliegen von Folgeund Begleiterkrankungen, das ungünstige Zusammenwirken der Adipositas mit
bestehenden Gesundheitsstörungen gerade des Herz-Kreislaufsystems, der Lungen und des Bewegungsapparats sowie
die besonderen funktionellen Auswirkungen einer besonders hochgradigen
Adipositas permagna (BMI > 40 und
deutlich höher) bei der GdB-Bewertung
und der Prüfung der Voraussetzungen
für Merkzeichen zu bewerten. Auch der
Europäische Gerichtshof in Luxemburg
entschied kürzlich (EuGH, Urteil in der
Rechtssache C-354/13 vom 18.12.14),
dass eine krankhafte Fettleibigkeit als
Behinderung anzusehen ist, wenn sie zu
deutlichen Einschränkungen der Teil­
habe am Arbeitsleben führt – aber auch
nur dann.
Literatur
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Redaktion (2008). „Versorgungsmedizinische Grundsätze. Anlage zu § 2 der
Versorgungsmedizin-Verordnung vom
10. Dezember 2008“
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Revision“, 2012
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4 Renehan AG, Tyson M, Egger M, Heller RF,
Zwahlen M. Body-mass index and incidence of cancer: a systematic review and
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569–78
5 Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz: „Das Neunte Buch
Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und
Teilhabe behinderter Menschen“, 2001
MED SACH 111 5/2015
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