E r z IE h E N H E U T E
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57. Jahrgang 3. Quartal 2007 in diesem Heft Erziehung – heute. Nutzen und Grenzen der Wissenschaft für die Erziehung Zum Tod von Michelangelo Antonioni und IngMar Bergmann Wüstenzeitung über Abraham, Sara und die Nomanden G 5667 / ISSN 0340-6288 IntervieW mit Klaus Eberl e r z ie h en h e u t e 4/07 Mitteilungen der Gemeinschaft Evangelischer Erzieher e.V. 4/07 57. Jahrgang ISSN 0340-6288 Herausgeber Verlag Gemeinschaft Evangelischer Erzieher e.V. (Rheinland/Saar/Westfalen) Medienverband der EKiR gGmbH Postf. 30 02 55 40402 Düsseldorf Internet www.medienverband.de Redaktion mit Dr. Ulrike Baumann (Bonn), Bernd Giese (Neukirchen-Vluyn), verantwortlich, Gunnar Gödecke (Duisburg), Prof. Dr. Helmut Heiland (Grevenbroich), Horst L. Herget (Voerde) Redaktionsanschrift Franzstraße 9, 47166 Duisburg Telefon 02 03/54 72 44 Telefax 02 03/54 87 26 E-mail [email protected] Internet www.gee-online.de Jahresabonnement 10,50 a inkl. Porto Einzelpreis 3,- a zzgl. 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INHALT BERND GIESE Guten Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 BEITRÄGE Clemens Albrecht Erziehung – heute. Nutzen und Grenzen der Wissenschaft für die Erziehung . . . . . . . . . 3 Helmut Heiland Zum Tod von Michelangelo Antonioni und Ingmar Bergmann . . . 15 Gedanken – Anregungen – Hinweise Volker Linhard Wüstenzeitung über Abraham, Sara und die Nomanden . . . . . . . 22 Kalus Dieter Müller Weihnachtstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Interview mit Klaus Eberl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Nachrichten Tagungsbericht Berliner Bibelwoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Aus der Feder unserer Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Anschriften der MitarbeiterInnen des Heftes . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 dem Titel unserer Zeitschrift als ‚Heimspiel‘ bezeichnet werden könnte. Wir dokumentieren damit einen Vortrag, den Albrecht vor Vertreterinnen und Vertretern Evangelischer Schulen gehalten hat. Da der Beitrag viele Erfahrungen – auch persönliche – beschreibt, haben wir den Vortragsstil so beibehalten, da sonst die Lebendigkeit verloren gegangen wäre. Vielleicht finden Sie sich auch in den ‚biografisch-cineologischen‘ Studien von Helmut Heiland wieder, der an die Todestage von Michelangelo Antonioni und Ingmar Bergmann erinnert. Bernd Giese Ein Praxisbericht aus einer Förderschule in unserer Rubrik ‚Gedanken – Anregungen – Hinweise‘ beschreibt ermutigend die Entstehung einer ‚Wüstenzeitung‘, in der es um Abraham und Sara und ihre Erfahrungen in der Wüste geht. Wir freuen uns, dass der neue Leiter der Bildungsabteilung der Evangelischen Kirche im Rheinland uns im Interview an seinen bisherigen Erfahrungen im Landeskirchenamt teilhaben lässt. Guten Tag, es vergeht kaum ein Tag, an dem in Zeitungen oder anderen Medien nicht über Fragen von Erziehung und Bildung berichtet wird. Das Thema erlebt eine konjunkturelle Hochzeit. Häufig werden Experten, zumeist Erziehungswissenschaftler, Bildungspolitiker oder Praktiker zu den Fragen, die meist Probleme sind, gehört. Mit dem Beitrag von Clemens Albrecht schauen wir aus der Sicht eines Soziologen auf das Thema ‚Erziehung Heute‘, das bei GUTEN TAG Alles was zum Jahresende zu sagen ist, finden Sie in einem gemeinsamen Brief des Vorsitzenden und des Schriftleiters von Erziehen Heute auf der vorletzten Seite. B. Giese Erziehung – heute. Nutzen und Grenzen der Wissenschaft für die Erziehung1 Clemens Albrecht Als ich in der Vorbereitung überlegte, wie das Thema „Erziehung – heute“ zu behandeln sei, geriet ich in Verlegenheit. Ist das nicht eines der Dauerthemen, die seit Jahrzehnten ZEIT aufwärts, Sabine Christiansen abwärts diskutiert werden, immer aufregend und immer aufgeregt, politisch polarisierend und doch alle einbeziehend? Jede Woche ein neues Buch, eine neue Ini tiative, wird eine neue bildungspolitische Sau durchs Dorf getrieben – und ich soll die Lage definitiv zusammenfassen? Immer dann, wenn wir Soziologen nicht weiterwissen, verlegen wir uns auf die einfache Beobachtung unserer sozialen Umgebung. Ich habe mich deshalb eine Woche lang selbst beobachtet, und zwar immer dann, wenn ich mit Fragen der Erziehung konfrontiert worden bin. Hier das Ergebnis. Ein erziehungssoziologisches Tagebuch Ich beginne mein Tagebuch sonntags in der Kirche. Am Rande der Predigt war von der neuen Bibelübersetzung, der sogenannten „Bibel in gerechter Sprache“ die Rede. Ihr Hauptanliegen sei, bestimmten sozialen Gruppen ihre Bedeutung im biblischen Kontext zurückzugeben, wobei vor allem an die Frauen gedacht werde. Der Impuls zu dieser Übersetzung komme aus den USA, wo die Bibel, ständig aktualisiert, in eine „inclusive language“ übertragen werde. Ich saß in meiner Kirchenbank und begann zu überlegen. Es beschäftigte mich nicht nur die Frage, was denn wohl eine „gerechte“ Sprache sein könne, sondern mir wurde gleich klar, dass diese neue Bibelübersetzung in erzieherischer Absicht steht. Meine Gedanken wanderten zu den amerikanischen Kollegen, die an ihren Universitäten schon seit langem mit einem merkwürdigen sprachlichen Forderungskatalog konfrontiert sind, den sie unter dem Namen „political correctness“ diskutieren. Hintergrund ist die Tatsache, dass sich die amerikanische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zunehmend als Konglomerat verschiedener sozialer Gruppen versteht (Frauen/Männer; Hispanics/ Schwarze; Schwule/Anhänger der traditionellen Familie), die sich dann nicht mehr als Individuen, sondern über Sprachregelungen wechselseitig anerkennen. Deshalb „inclusive language“, eine Sprache, die alle soziale Gruppen einschließt. Montag Die Unterschicht-Debatte tobt. In einem Online-Magazin lese ich. Das eigentliche Skandalon sei nicht die Existenz von Unterschichten, sondern dass diese jede Hoffnung auf Besserung ihrer Lebensumstände verloren hätten, weil ihnen die Schule die Chance auf sozialen Aufstieg verbaue (PISA). Man müsse deshalb den benachteiligten Familien die Last der Erziehung abnehmen und die Kinder möglichst früh in Institutionen überführen, in denen sie chancengerecht nach ihren Fähigkeiten gefördert werden könnten. Am Nachmittag lese ich über das neue, von unserer Familienministerin und den beiden Kirchen maßgeblich getragene „Bündnis für Erziehung“. „Herkömmlicherweise allein der Familie zugerechnete Aufgaben der wertebezogenen und der religiösen Erziehung müssen stärker mit den institutionellen Angeboten verknüpft und in diese integriert werden, ohne dass daBeitrAG durch die Elternrechte eingeschränkt werden.“2 Zentrales Mittel, so das Bündnis, sei eine neue Form von Werteerziehung. Dienstag Ich lese in der Zeitung: „Vier Schüler im Alter von zwölf bis 15 Jahren haben in Schorndorf in der Pause im Schulhof einen Elfjährigen verprügelt und die Szene mit dem Handy gefilmt. Das AngreiferQuartett ließ erst von seinem Opfer ab, als eine Schulsozialarbeiterin und ein Lehrer eingriffen. Der Junge erlitt leichte Verletzungen. Umstehende Schüler, die die Prügelszene beobachtet hatten, schritten nicht ein. Ihre Begründung: ‚Die Pausen sind immer so langweilig.’ Auf einem Handy wurden weitere Prügel-Szenen entdeckt.“ Auf derselben Zeitungsseite unten wird für den Kurs einer Sozialpädagogin über „Gewalt in Computerspielen“ geworben. „Eltern, Erzieherinnen und Lehrer“, heißt es weiter, „können hier in Computer shootergames eintauchen und durch ein Science-Fiction-Rollenspiel möglicherweise dem näher kommen, was Jugendliche im Spiel suchen. Danach besteht Gelegenheit zur Diskussion.“ Zuckerbrot und Peitsche; Phasen mit heftigem Druck auf die Kinder werden abgelöst durch nette kleine Schönwetter-Projekte. Eigentlich müssten wir Eltern uns auch freuen, es wird vermutlich an den Wochenenden und Abenden vor Klassenarbeiten leichter. Aber – dürfen wir das? Und vor allem: Dürfen wir unser Kind das merken lassen? Denn einerseits sollen wir mit den Lehrern zusammenarbeiten, zum Wohle unserer Kinder. Andererseits aber erfahren wir nur zu häufig, dass wir als Familie zusammenstehen und dem Kind den Rücken stärken müssen, leider auch gegen die Schule. Unsere Tochter jedenfalls erahnt die Abgründe der Ambivalenz, die sich in uns auftun, mit sicherem Instinkt: „Aber sie ist doch eine schlechte Lehrerin, habt ihr selbst mal gesagt.“ – Ich weiche aus und frage zurück: „Und was ist eine gute Lehrerin?“ – „Eine gute Lehrerin“, kommt prompt die Antwort, „ist wie Frau Y: Sie ist nie schlecht gelaunt, hat immer Geduld und erklärt es auch noch zum fünften Mal, wenn wir es nicht kapiert haben.“ – So einfach kann manchmal das Geheimnis guten Unterrichts sein. Mittwoch Unsere Tochter, 6. Klasse, kommt fröhlich aus der Schule zurück und trällert am Mittagstisch: „Juhuu, unsere Lehrerin Frau X ist krank geworden, und sie fehlt vermutlich für längere Zeit, es ist was Ernsteres!“ – Betretenes Schweigen der Eltern, dann ermahnende Worte: „Also Kind, die Krankheit eines Mitmenschen sollte wahrlich nicht Anlass zum Jubeln sein.“ Aber irgendwie klingen diese Worte halbherzig, denn genau diese Lehrerin hatte uns schon lange geplagt: unstrukturierter Unterricht, einschüchternde Ironie auf Nachfragen, Chaos in den Aufschrieben und Anweisungen, immer eine Mischung aus Donnerstag Ich finde auf meinem Computer eine Nachricht der Vorsitzenden des Elternbeirats unserer Grundschule. Sie lädt zu einer gesonderten Besprechung mit dem Kollegium ein, in der es um die anstehende Evaluation geht. Zahlreiche Bundesländer haben ja beschlossen, die Schulen des Landes in regelmäßigen Abständen evaluieren zu lassen. Die Verfahren und Ziele unterscheiden sich, aber insgesamt scheint doch ein Konsens zu bestehen, dass Erziehungsinstitutionen heute eines Verfahrens bedürfen, für das man die Qualitätskontrolle produzierender Betriebe zum Vorbild nimmt. BeitrAG Diese Nachricht weckte auf der einen Seite sofort mein professionelles Interesse, auf der anderen Seite stieg in mir die Befürchtung auf, dass all die Arbeitsstunden, die die Lehrer unserer Grundschule in den nächsten Monaten in die Evaluation stecken, von der Unterrichtsvorbereitung abgezogen werden. Kurz: Der Unterricht wird schlechter, damit man besser messen kann, wie er besser werden könnte. Ich selbst muss im nächsten Monat mindestens zwei Arbeitstage in eine Gesamtevaluation aller soziologischen Forschungseinheiten in Deutschland investieren, die der Wissenschaftsrat in einer Pilotstudie erprobt. Dabei beschäftigt mich hauptsächlich die Frage, wie sich unsere Wissenschaft verändert, wenn sich die Forscher nicht mehr an ihren Forschungsinteressen, sondern an den Evaluationskriterien ausrichten. Ich betreibe also Forschung über die Veränderung von Forschung durch Forschungsmessung. Ein merkwürdige Selbstreferenz, ich komme darauf zurück. Freitag Unser Sohn, 4. Klasse Grundschule, beklagt sich darüber, im Gegensatz zu seinen Freunden kein Taschengeld zu bekommen. Ich vermute ein konkretes Anliegen und frage nach, wozu er denn das Taschengeld benötige. Nach einigem Lavieren kommt heraus, dass er von einem Klassenkameraden ein Yu-Gi-Oh!-Deck kaufen möchte. Ich weiß nicht, ob Sie das kennen, es handelt sich um ein Kartenspiel, das die japanische Firma Konami vertreibt. Das Kartenspiel ist verknüpft mit einer Fernsehsendung, in der die Helden des Spiels in animierten Mangas ihre Duelle ausfechten. Nun finde ich Yu-Gi-Oh!, genau wie Pokémon und verwandte Dinge, schlicht und einfach grauenhaft und ziemlich idiotisch. Die Kinder entwickeln sich mit wachsen- der Leidenschaft zu wahren Experten ihrer virtuellen Helden, können genau erklären, wann sie das Kuriboh-Monster mit wieviel Angriffspunkten und wann die SakuretsuRüstung einsetzen, kurz: sie stopfen sich ihre Hirne mit allerlei Zeugs voll, das keinen Realitätsbezug hat, im Gegensatz zum guten alten Autoquartett etwa. Nach einer kurzen, aber intensiven Mode verschwinden die Kärtchen wieder in den Schubladen der Kinderzimmer und binden dort immense Summen toten TaschengeldKapitals. Nun, abgesehen von der Tatsache, dass auch das Erlernen von sinnlosem Zeug hirnphysiologisch sinnvoll sein kann (ich verzichte hier bewußt auf curriculare Beispiele) ist Yu-Gi-Oh! nicht Ausdruck einer authentischen, zeitgemäßen Kindheit, der ich mich als Vater mit meinen antiquierten Vorstellungen nicht entgegenstellen sollte? Kann und darf ich also erzieherisch gegen etwas vorgehen, wenn ich wenig mehr als meine ästhetischen Urteile und meine eigenen Erfahrungen dagegenstellen kann? Phänomene der Erziehung Das ist eine knappe Woche erziehungssoziologisches Tagebuch. Sie alle können so etwas führen, sie alle haben in der vergangenen Woche diese, ähnliche oder auch ganz andere Erfahrungen über Fragen der Erziehung und ihre sozialen Bedingungen gemacht: Am Sonntag ging es um Sprachpolitik, am Montag um Chancengleichheit, soziale Differenz und Werteerziehung, am Dienstag um medial verstärkte Jugendgewalt, am Mittwoch um die Frage, ob Familie und Schule verschiedenen Regeln folgen, am Donnerstag um Evaluation, am Freitag um die Begründbarkeit der erzieherischen Intervention. Wie lässt sich das zusammenbinden? Wo ist der Schlüssel, der uns diese PhänoBeitrAG mene in ihrer Bedeutung für Erziehung heute aufschließt? Was können wir aus der Durchforstung sozialer Realität für die Forderung nach erzieherischem Handeln lernen, das immer dringender an Schulen gerichtet wird? Ich möchte nun versuchen, diese phänomenologische Zufallsauswahl Stück für Stück zu systematisieren und einige Grundgedanken herauszupräparieren, die uns der Beantwortung dieser Fragen näher bringen. Sonntag: Sprachpolitik Das Phänomen der political correctness ist typisch für alle Gesellschaften, die entweder traditionell oder über Einwanderung in verschiedene soziale Gruppen aufgeteilt sind. Immer dann, wenn in einer Gesellschaft der Satz an gemeinsamen Normen, Bräuchen, Sitten und Wertvorstellungen ein gewisses Maß unterschreitet, gleichwohl aber ein gewisser Zwang zur Interaktion besteht, werden Regeln gesucht, nach denen die Gruppen, die sonst wenig miteinander zu tun haben, doch verlässlich miteinander umgehen können. Moderne Staaten verlegen sich auf eine Anerkennungspolitik, die durch Regelungen jeder Gruppe ein bestimmtes Maß an Recht und Macht zusprechen. Moderne Einwanderungsdemokratien aber stehen vor einer zusätzlichen Schwierigkeit. Zum einen wandeln sich die sozialen und ethnischen Zusammensetzungen binnen weniger Jahrzehnte, zum anderen sind die politischen Rechte in Verfassungen festgezurrt, die sich an den Einzelnen richten, nicht an die Gruppe, der er sich zugehörig fühlt. Deshalb individualisieren Demokratien ihre interne Anerkennungspolitik pädagogisch: Wenn sich nur alle gegenseitig tolerieren und respektieren, sind die Probleme gelöst, aber eben diese wechselseitige Akzeptanz muss mit erzieherischen Mitteln erst hergestellt und BeitrAG dann symbolisch eingelöst werden: Vorurteile aufklären, Kenntnis und Verständnis füreinander entwickeln, kurz: das ganze Programm der interkulturellen Pädagogik. Spannend zu beobachten ist dabei ein Paradigmenwechsel in der Form der Integration, in der Ethnogenese. Während ältere Assimilationskonzepte in den USA wie in Deutschland davon ausgingen, dass Integration in der allmählichen Angleichung der Migranten an die aufnehmende Gesellschaft bestehe (A+B R A), meint man heute, dass sich die aufnehmende Gesellschaft ebenfalls ändern müsse, erst, nach dem Konzept des ‚melting pot’, indem eine neue gemeinsame Gesellschaft entstehe (A+B+C R D), dann jedoch nach dem Konzept ‚salad bowl’, indem die sozialen Gruppen bestehen bleiben können (A+B+C R A‘/B‘/C‘), denn man will ihnen ja nicht ihre Identität rauben. Nur müssen alle lernen, sich gemeinsamen Regeln und Werten zu unterwerfen (Euro-Islam). Die älteren Assimilationstheorien waren deshalb in beiden Gruppen, der Aufnahmegesellschaft wie bei den Migranten, anerkannt, weil sie von einem Fortschrittskonzept ausgingen: die eine Gesellschaft (A) ist die modernere, deshalb sollen sich die Migranten (B) möglichst schnell ihr anpassen. Dieser Fortschrittsglaube ist heute als Eurozentrismus entlarvt, nur die wenigsten Deutschen glauben an die Überlegenheit ihrer eigenen Kultur, wenn sie sie auch nicht missen möchten. Kurz: Erziehung ist neben Arbeitswelt und Armee das entscheidende Mittel, durch das eine in heterogene Gruppen und Milieus zerfallende Gesellschaft sich wieder reintegriert. Montag und Dienstag: Chancengleichheit und Jugendgewalt Die Frage, ob und inwiefern unsere Gesellschaft in unterschiedliche Schichten aufgeteilt ist, die qua Herkunft auch unterschiedliche Chancen an der ökonomischen, kulturellen und politischen Partizipation haben, begleitet die pädagogische und bildungspolitische Debatte seit Lasalle und den Arbeiterbildungsvereinen. Das Skandalon der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich ist die Tatsache, dass die Kinder der Leute „von unten“ auch mit großer Wahrscheinlichkeit unten bleiben, während die Kinder der Leute „von oben“ gute Chancen haben, ihren Status zu halten. Auch das brauchte uns nicht weiter aufzuregen, wenn wir nicht von der Idee ausgingen, dass in jeder Generation die Begabungen wiederum quer zu allen Schichten gleich verteilt sind, dass es also eine ungefähr gleich große Gruppe begabter Kinder aus den unteren wie aus den oberen Schichten gibt, wodurch die Chancen zum Auf- oder Abstieg in jeder Generation neu verteilt werden müssen. Das ist die Gerechtigkeitsvorstellung, die wir an unsere Bildungsinstitutionen richten. Gerade weil diese Vorstellung seit je hart mit der Realität kollidiert, entdecken wir immer neue unterprivilegierte Gruppen: in den 60er Jahren das katholische Arbeitermädchen vom Lande, heute den türkischen Großstadtjungen. Verschärft wird die Entdeckung der Unterschichten allerdings noch durch ein zusätzliches Phänomen: Unterschichtskinder haben signifikant größere Probleme mit sozialen Normen. Hier kommt nicht nur das Thema Jugendgewalt und Delinquenz, sondern auch die Frage nach der Strukturierung des Alltags auf. Wenn ein Kind nach Hause kommt und dort vom betrunkenen Vater und der depressiven Mutter erwartet wird, die beide selbst nicht in einen Arbeitskontext eingebunden und durch ihn strukturiert sind, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass es einem strukturierten Nachmittag entgegensieht: Erst Hausaufgaben, dann Spiel mit den Freunden, Übung am Musikinstrument und schließlich in den Sportverein. Leistung läßt sich eben erst im gebündelten, konzentrierten Arbeitseinsatz erzielen, und sei die Begabung noch so hoch. Als Zeitvernichtungsmaschinen treten dann die Medien auf. Jungs verblöden hauptsächlich durch Computerspiele, Mädchen durch Fernsehen und Chatten. Deshalb ist das große kommende Thema der sozial engagierten Pädagogik: Disziplin.3 Denn sozialer Aufstieg im letzten Jahrhundert kam aus festgefügten Milieus, die die Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung familiär oder im Verein vermittelten, im Gegensatz zur amorphen Schicht der Exkludierten heute.4 Das neue Bündnis für Erziehung wendet sich deshalb nicht primär an die Kinder oder das professionelle Erziehungspersonal, sondern an die Eltern. Bei ihnen werden die Hauptdefizite im frühkindlichen Erziehungsprozeß gesehen, und so gehört die Forderung nach Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz und Erziehungsverantwortung zu den zentralen Elementen gegenwärtiger Bildungspolitik. „Viele Eltern“, heißt es etwa, „sind überfordert und ratlos, da es in der schulischen Sozialisation, aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu wenig Möglichkeiten gibt, eigene Erziehungskompetenzen zu reflektieren und auszubauen.“5 Ein Zauberwort steht über dieser ganzen Debatte, in dem sich die Hoffnungen auf soziale Integration bündeln: Werteerziehung. Mittwoch und Donnerstag: Familie vs. Schule, Evaluation Was hat der Jubel über die Krankheit einer Lehrerin mit Evaluation zu tun? Ich möchte diesen Zusammenhang an Leserbriefen BeitrAG skizzieren, die zur PISA-Studie erschienen sind. Ich habe sie verglichen mit den Reaktionen auf die erste Bildungskatastrophe unserer Republik, die aus Georg Pichts Weckruf von 19646 entstanden ist. Dabei zeigen sich charakteristische Muster, die deutlich machen, dass Familie und Schule offenbar zwei unterschiedliche Subsys teme des Erziehungssystems sind, mit je eigenen Kommunikationsformen, eigenen Strategien, die Ursachen für die Bildungskatastrophe dem je anderen System zuzuweisen. Ein paar Beispiele: Während Politiker bei der Diskussion von Schulproblemen auf ihre alten Forderungen verweisen („Schon vor zwei Jahren wollten wir dies und jenes erreichen, aber die Regierung hat das mit ihrer Mehrheit verhindert“), sehen Lehrer die Verantwortung für die Bildungsmisere gerne in den Defiziten familiärer Erziehung (ob zurecht, möchte ich hier gar nicht entscheiden, es geht mir nur um die Analyse von Kommunikationsmustern): „Ich selbst unterrichte Latein an einem Braunschweiger Gymnasium …“. Von den Lehrern „… wird regelmäßig erwartet, dass sie die Erziehungsarbeit leisten, die das Elternhaus verpaßt hat – eine von vornherein erfolglose Mission. Ein relativ großer Teil der Unterrichtszeit muß also für nichtfachliche Inhalte geopfert werden – wen wundern da die Ergebnisse der PISA-Studie?“7 Der Schwarze Peter wird munter weitergeschoben, von der Familie und der Politik in die Schule, von der Schule in die Wissenschaft, von der Wissenschaft zurück in die Schule oder in die Politik. Der Bundeselternrat etwa schlug vor, eine generelle Anwesenheitspflicht für Lehrer an den Schulen einzuführen. Es sei nicht einzusehen, so die Vorsitzende, dass die Lehrer sich als größte Heimarbeitergruppe in der Bundesrepublik verstehen. In manchen BeitrAG Leserbriefen wird die Politik der knappen Kassen für die Misere verantwortlich gemacht, oder, wie Enja Riegel, Leiterin der Helene-Lange-Gesamtschule in Wiesbaden dem Stern anvertraute, die Universität: „Dort geht es nicht um die beste Lehrerausbildung, sondern um Fachwissenschaft. Egoismen und Statusinteressen der Professoren kommen hinzu. Sie mögen auf ihrem Spezialgebiet hervorragend sein, aber sie wissen nichts von den heutigen Problemen der Schule und verstehen nichts vom Unterricht für Kinder und Jugendliche.“8 Umgekehrt aber beklagt Jürgen Baumert, seine PISA-Studie habe belegt, dass Lehrer zu wenig Fachliteratur lesen.9 Wenn man die Aufregung nach solchen Bildungskatastrophen mit distanziertem, kühlem Blick betrachtet, fallen bestimmte Muster ins Auge, die den Diskurs über Erziehung strukturieren und damit auch den Blick auf gesellschaftliche Tatsachen freimachen.10 Schule und Familie scheinen zwei Bereiche des Erziehungssystems zu sein, die nach je eigenen Gesetzen funktionieren, ihre eigenen Regeln, Interessen und Kommunikationsstrategien gegen über ihrer Umwelt haben. Familie zum Beispiel – ich erinnere an das Tischgespräch mit meiner Tochter – hat ein primäres Interesse am eigenen Kind. Für mich tritt, wenn auch mit schlechtem Gewissen, die Krankheit der Lehrerin gegenüber dem Wohlergehen der eigenen Tochter zurück, sobald ich als Vater denke. Ich kann natürlich auch aus anderen Positionen denken: als Arzt, als Wissenschaftler, als verantwortlicher Schulleiter – aber als Vater habe ich den Vorteil der eigenen Kinder im Blick. Familie arbeitet also mit der Leitunterscheidung ‚eigene Kinder/ fremde Kinder’, während die Schule mit der Unterscheidung ‚gute Kinder / schlechte Kinder’ (Noten, Verhalten) operiert. Familie hat eine Reproduktionsfunktion und tendiert zur egoistischen Vorteilsgewährung, Schule hat die Funktion, die Kinder unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nach Leistungsunterschieden in soziale Positionen einzuweisen. Gerade weil die Schule sich als weitgehend autonom gegenüber den politischen Reformbemühungen erwiesen hat, borgt sich die Politik heute Formen der ökonomischen Qualitätskontrolle und verselbständigt diese in gewaltigen Bürokratien, die stets die eigentlichen Profiteure von Bildungsreformen waren (1964: Sekretariat der KMK, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 2001 Akkreditierungs- und Evaluationsagenturen, Vergleichstests etc.). Lehrer aber können sich diesen Anmaßungen verweigern. In einem Gespräch mit Redakteuren der ZEIT ist das exemplarisch festgehalten, wenn die ehemalige nordrhein-westfälische Kultusministerin Gabriele Behler resignierend feststellt: „Schulen sind resistent gegenüber verordneten Veränderungen. Das mußte auch die Politik erst lernen. Wir können Schule und Unterricht mit Richtlinien und Anweisungen nicht von oben verändern. Da kann ich noch so viel Erlasse verkünden, den Alltag in der Schule berührt das nur marginal.“ Prompt kam die Replik aus der Schule, formuliert von Peter Heesen, damals Vorsitzender des Philologenverbandes: „Was auch seine guten Seiten hat. Die permanenten Veränderungen in jedem Bundesland haben viel Unruhe in die Schulen getragen. Wenn die Ausbildungsordnung jedes Jahr verändert wird, haben Lehrer, Eltern und Schüler das Gefühl, so ganz genau weiß die Politik nicht, was sie will. Das hat einen Lehrertypus hervorgebracht, der sagt: ‘Fünf Reformen erlebt, keine mitgemacht, und für die Schüler war es das Beste’.“11 Familie, Schule, Politik driften als Funktionssysteme einerseits auseinander, andererseits verstärken sie gleichzeitig die gegenseitigen Kontrollen. Was wir gegenwärtig beobachten können ist die Übergabe von immer mehr Erziehungsverantwortung an Institutionen: Ganztagsschule, Ausbau der Kinderbetreuung, Bildungsauftrag der Kindergärten, zunehmender Verpflichtungscharakter bei gleichzeitiger Kostenübernahme – alles deutet auf ein expandierendes Bildungwesen. Die Familie gibt diese Verantwortung mehr oder weniger freiwillig ab, bedrängt von Politik und Wirtschaft, wenn sie die Erziehung nicht ohnehin schon aufgegeben hat. Ziel ist die Entmachtung der in der familiären Erziehung liegenden Ungleichheitstendenzen, sozusagen die Bestätigung, Durchsetzung und Vereinheitlichung des dominierenden Normensystems, der Neuverteilung sozialer Chancen. Ob und inwieweit das funktioniert, ist offen, denn gelingende Erziehung basierte bislang immer auf einer Versorgungsgemeinschaft, die dem Kind Anerkennung gerade unabhängig von seiner Leistung ermöglichte. Ob sich hier die (gelungene) Familie durch eine (gelungene) Institution ersetzen läßt, ist zumindest fraglich.12 BeitrAG Differenzierung und Integration Soweit eine erste Bündelung gesellschaftlicher Wandlungstendenzen, die heute den Rahmen für Erziehung festlegen. Ich möchte diese Bündelung allerdings noch einen Schritt weitertreiben und schauen, ob nicht hinter allen drei Phänomengruppen, die ich aus meinem Tagebuch abgeleitet habe, ein allgemeiner Prozeß steht. Denn schaut man genau hin, dann erweisen sich alle drei Phänomengruppen als Differenzierungsprozesse, allerdings auf unterschiedlichen Ebenen: 1. beim Phänomen der Gruppendemokratie, der Migrationsfolgen und der Ethnizität eine horizontale Differenzierung, die gleichsam die Anzahl der nebeneinander bestehenden Gruppen erhöht, 2. beim Phänomen der Chancengleichheit und der Jugendgewalt eine vertikale Differenzierung, die den hierarchischen Abstand zwischen den Schichten erhöht, 3. beim Phänomen der unterschiedlichen Argumentations- und Interessenstrukturen eine funktionale Differenzierung, die die Autonomie und Selbstreferenz der einzelnen Funktionssysteme erhöht. Jede dieser drei Differenzierungsarten begegnet den wachsenden Differenzen, dem Sich-Auseinanderleben der Gesellschaft mit unterschiedlichen Inklusionsstrategien: 1. der Integration über Anerkennung, 2. der Integration über Werteerziehung und Verhaltenssteuerung, 3. der Integration über Kontrolle. Je stärker die zentrifugalen Kräfte der Differenzierung sind, desto stärker muß mit zentripedalen Kräften der Integration dagegengehalten werden, je größer der Grad der sozialen Differenzierung, desto größer die Anomie, die Regellosigkeit, die sich in allen Teilbereichen breitmacht und mit einer dann wiederum neuen Hypermoral bekämpft werden muß. Ich sage der Religion, in welcher Gestalt auch immer, eine große Zukunft in der modernen Gesellschaft voraus. Differenzierung und Integration sind die elementaren sozialen Kräfte, die heute das Bedingungsgefüge für Erziehung bilden. Erziehung wird durch wachsende Differenzierung immer wichtiger und zugleich durch wachsende Anomie immer schwieriger. Zur Begründung erzieherischer Entscheidungen Nun fehlt aber noch der Freitag, die Begründung erzieherischer Entscheidungen. Denn dass der Schule in Zukunft immer mehr Erziehungsverantwortung aufgebürdet werden wird, dass die Schule aber gleichzeitig unter immer stärkeren Druck von großen Evaluierungs- und Qualitätssicherungsbürokratien gerät, die zunehmend ihr Eigenleben entwickeln werden, dass Sie sich mit der Erziehungsverantwortung gleichzeitig auch ein größeres Mitspracherecht von Eltern einkaufen, Tagebuch Phänomen Differenzierung Integration Sonntag Sprachpolitik Ethnogenese horizontal Anerkennung Montag Dienstag Chancen- gleichheit Jugengewalt Leistungs- gerechtigkeit Disziplin vertikal Werteerziehung Verhaltens- steuerung Mittwoch Donnerstag Familie/Schule Evaluation Leitunter- scheidung Autonomie funktional Kontrolle 10 BeitrAG dass Bildungspolitiker gar nicht daran interessiert sind, ob eine Reformidee auch funktioniert, solange sie den Aktivitätsnachweis in Machtsicherung umsetzen können – all das können Sie jetzt vielleicht besser verstehen. Aber: Hilft Ihnen das bei der Erziehung? Hilft Ihnen eine bessere Durchleuchtung sozialer Realität bei der Frage, wie Sie denn jetzt die Kinder erziehen sollen? Die Antwort kann mit Radio Eriwan nur lauten: im Prinzip nein. Und damit bin ich beim Freitag. Sie erinnern sich: Mein Sohn will Yu-Gi-Yoh! Dieser Kampf ist für mich nicht neu, ich habe es schon im Kindergarten mit Pokémons durchgefochten als mein damals vierjähriger Sohn ein paar Kärtchen mit nach Hause brachte. Er hatte sie von seinem damals besten Freund Max geschenkt bekommen. Mein Sohn war durch diese erste Gabe seines Freundes voll auf die Welle aufgesprungen und belegte mich über Tage mit dem Wunsch, ebenfalls Pokémon-Kärtchen kaufen zu dürfen. Zunächst versuchte ich, das Problem auszusitzen. Als mein Sohn diese HinhalteTaktik realisierte, begann er klüger zu argumentieren. Nun führte er nicht nur seine Wünsche ins Feld, sondern packte uns Eltern bei einer weitaus empfindlicheren Stelle: Er könne inzwischen im Kindergarten bei den Pokémon-Fachgesprächen seiner Freunde gar nicht mehr mitreden, ja drohe, ausgeschlossen zu werden, wenn er nicht mit dem einen oder anderen Tauschobjekt erscheine. Nun – in meiner soziologischen Vorlesung lehre ich immer mit Marcel Mauss, dass Gabe und Gegengabe Gesellschaft konstituieren. Mir wurde sofort klar, dass ich hier nicht nur mit einer psychischen Präferenz, die ich als Soziologie ja gut ignorieren kann, sondern mit einem sozialen Problem konfrontiert bin. Theorien der Massenkultur können mir gut erklären, warum dieses Unheil plötzlich in die bildungsbürgerliche Welt meiner Familie eingebrochen ist. Denn ich finde Pokémon wie Yuh-Gi-Oh! narrativ simpel gestrickt, ästhetisch grauenhaft und kognitiv gesehen schlichtweg idiotisch. Das ist natürlich nur ein ganz persönliches Werturteil, das ich wissenschaftlich nicht im geringsten begründen kann. Viele meiner Kollegen argumentieren ganz anders: All diese massenkulturellen Spielwelten, so meinen sie, sind für Kinder deshalb wichtig, weil sie in ihnen ihre Identität konstruieren. Konkret formuliert: Stelle deine Bedenken als Vater doch einfach zurück, Kindheit im massenmedialen Zeitalter ist nun einmal anders, als du sie dir vorstellen magst, kauf dem Jungen die Pokémons, verhilf ihm dadurch zur Konstitution seiner Identität und integriere ihn sozial. Du kannst dir als Vater keinen Standort außerhalb der Massenkultur zurechnen, von dem aus du sie dann ablehnen könntest, du bist selbst ein Teil der Moderne.13 Nun bin ich sicher nicht gegen die moderne Kultur, als deren integraler Bestandteil Pokémon erwiesen ist. Kann, sollte ich mich also dagegen stellen? Eine soziologische Theorie half mir in dieser Frage weiter, die Rollentheorie. Denn was ich als Wissenschaftler einsehe, muß ich als Erzieher nicht unbedingt befürworten. Dies war nun der zentrale Gedanke, der mir damals zur Entscheidung im Angesicht meines Pokémon-begeisterten Sohnes verhalf: Ich beschloß, den Machtkampf mit Nintendo um das Herz und Hirn meines Sohnes aufzunehmen. Zuerst erklärte ich meinem Sohn, dass Pokémons nicht nur häßlich, blöde und frei erfunden sind, sondern, dass eigentlich nur geistig zurückgebliebene Kinder (in seiner Sprache: Babys) darauf ansprängen. BeitrAG 11 Mir war aber völlig klar, dass all diese Argumente nur greifen, wenn ich mit einem funktionalen Äquivalent aufwarten kann. Ein kurzer Blick in meinen eigenen Kinderbücherschrank half weiter. Ich zog mit meinem Sohn los und wir kauften – Ritter. Ritter in allen Varianten: als Figuren, als Sachbücher, als Lesebücher, wir besuchten Mittelaltermärkte und beobachteten Turniere. Die Pokémon-Kärtchen waren dadurch schnell erledigt, mein Sohn hielt sie für häßlich, blöde, frei erfunden, kurz: für Babykram. Das kommunizierte er kräftig unter seinen Freunden und brachte seine Ritterfiguren in den Kindergarten mit. Er beschäftigte sich nun nicht mit dem Monster Haspinasu, sondern mit Burgenbau, Belagerungsmaschinen und den Vor- und Nachteilen von Morgenstern oder Schwert im Zweikampf. Er identifizierte sich auch nicht mit Entei, sondern mit Lancelot. Wenige Wochen später traf ich im Kindergarten Maxs Mutter. Sie stöhnte, weil ihr Sohn sie seit neuestem damit nerve, irgendwelche Rittersachen zu kaufen. Pokémon dagegen sei abgeschrieben. Babykram. Ich klärte sie darüber auf, dass ich hier ein klein wenig erzieherischen Einfluß genommen hätte. Nach anfänglichem Erstaunen hielt sie das für eine großartige Idee, denn eigentlich finde sie Pokémon häßlich und ziemlich idiotisch. Aber, so dachte sie immer: Wenn die Kinder das so wollen, wird es schon seine Berechtigung haben. Jedenfalls war sie froh darüber, weil die beiden Freunde seit neuestem nicht mehr Max’ kleine Schwester durch PokémonUrschreie ängstigten, sondern sie als Burgfräulein verkleidet auf einen Sessel setzten, damit sie ihre Kämpfe beobachten konnte. Ein kleiner Unterschied, so meine ich, aber vielleicht doch einer ums Ganze. Überlegen Sie doch bitte einmal, ob Sie solche erzieherischen Entscheidungen bei Ihren Schulkindern künftig treffen und durchsetzen 12 BeitrAG wollen – und ob Sie bei 30 Kindern dazu in der Lage sind. Ich jedenfalls wäre mit 30 Söhnen und Töchtern und ihren je eigenen geistigen und charakterlichen Physiognomien, Entwicklungen und Bedürfnissen hoffnungslos überfordert. Kann ich meine erzieherische Entscheidung gegen Pokémon und Yu-Gi-Oh! wissenschaftlich begründen? Nein, natürlich nicht. Erst neulich geriet ich mit einem sehr geschätzten Kollegen aus der Pädagogik darüber fast in Streit, denn er war der Überzeugung, dass man aus der sozialen Lebenswelt der Kinder Dinge aufgreifen und positiv wenden müsse, dass man sich aber nicht dagegen stellen dürfe. Das dokumentiert aber ein weiteres Phänomen, mit dem Sie rechnen müssen: In ihren erzieherischen Entscheidungen dürfen Sie keine Hilfe von den Erziehungswissenschaften erwarten, von der Pädagogik nach ihrer soziologischen Wende also. Denn diese nun restlos empirische Wissenschaft nimmt den Maßstab ihres Handelns nur aus der sozialen Realität. Erziehungswissenschaft kann damit Effizienzkriterien liefern, sie kann sozusagen die technische Rationalität im Erziehungsprozeß vergrößern, sie kann nach ihrem Abschied aus den normativen Wissenschaften Jura und Theologie aber keine Maßstäbe für eine erzieherische Entscheidung gegen die soziale Realität mehr begründen. Empirische Erziehungswissenschaft ist Verdoppelung der sozialen Realität. In ihrem Versprechen, durch Wissenschaft Erziehung verbessern zu können, verunsichert sie, ohne gültigen Ersatz an die Stelle der alten Sicherheiten setzen zu können. Es ist eben kein Zufall, dass erst in der modernen Gesellschaft Erziehung zum Problem, zur schwierigen Aufgabe, zu einer Dauerreflexion geworden ist, der sich viele Menschen trotz oder besser: gerade wegen ausufernder Ratgeberliteratur nicht mehr gewachsen fühlen – sofern sie sich nicht auf ihr Gefühl, und das heißt: auf ihre eigene Erfahrung, also auf Traditionen verlassen. Der Rezensent eines Erziehungsratgebers hat diese Einsicht einmal ziemlich ungeschminkt formuliert: „Erziehung ist, wie Chesterton einmal angemerkt hat, kein Gegenstand wie Geologie oder Oxydation. Ihre Erkenntnis macht nicht ständig Fortschritte, über die man sich auf dem laufenden halten müßte. Erziehungswissenschaftler sehen das zwar anders, aber so sehen ihre Fortschritte auch aus. Erziehung kennt auch, anders als der Maschinenbau oder die Kosmetik, keine Techniken, die ständig verbessert würden. Didaktiker sehen das zwar anders, aber die meisten von ihnen bedürften eines scharfen Haftungsrechtes für ihre Versprechungen.”14 Folgerungen Ich möchte mit ein paar einfachen praktischen Ratschlägen enden. Konfessionelle Schulen haben den Vorteil, der wachsende Erziehungsverantwortung und damit dem wachsenden Begründungsbedarf nicht durch die weltanschauliche Neutralitätspflicht ausweichen zu müssen, sie können aus ihrem institutionellen und vor allem ideellen Hintergrund – man könnte auch sagen: aus ihrem Glauben – Grundsätze einer eigenen Pädagogik formulieren, die den Menschen befähigen, in und oft eben auch gegen eine unheile Welt nach Vermögen heil zu bleiben; denn genau das ist das Ziel gelungener Erziehung. Sie verhilft dem Menschen über bloße Sozialisation, d.h. möglichst konfliktfreie Bewältigung seiner sozialen Beziehungen und über seine Möglichkeit zur Steigerung des Bruttosozialprodukts hinaus zu einer geistigen und geistlichen Lebensform. Dies geschieht aber nicht durch kognitive Vermittlung von Werten, durch bloße Werteerziehung, sondern durch deren glaubwürdige Um- setzung in die verarbeitete Lebensform des erzieherischen Vorbildes, das sich auf sein Gegenüber einläßt. Soziale Ordnung, Disziplin sind hier nur die Vorstufen, die Mittel, weil sie im Übergang zur Selbstdisziplin den Menschen durch Internalisierung von Ordnung befähigen, sich von seinen eigenen Leidenschaften und aktuellen Bedürfnislagen zu distanzieren und sich dadurch erst auf eine Sache oder eine andere Person einlassen zu können.15 „Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht; wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer ein Knecht.“ Wenn verarbeitete Lebensform durch Reflexion zur Klarheit über sich selbst kommen kann, so speist sie sich nicht aus der Reflexion, sondern aus Erfahrung und Überzeugung. Erzieherisches Handeln ist zu einem überwiegenden Teil traditionales Handeln. Erwarten Sie nichts von Bildungspolitik und Strukturreformen, die bestimmen nur den Rahmen gelingender Erziehung, nicht den Prozeß und schon gar nicht den Erfolg; denn Erziehung vollzieht sich in der Beziehung zwischen Menschen, nicht in sozialen Strukturen. Hier müssen sie „reformbereit“ bleiben, also immer wach und offen für die Lage und die Entwicklung des Anderen. Trauen Sie Ihren Erfahrungen, verlassen Sie sich auf Bewährtes, das pädagogische Rad muß nicht jedes Jahr neu erfunden werden. Auch hier gilt: Kenntnis der Literatur schützt vor Entdeckungen. Lassen Sie sich von irgendwelchen Innovationsversprechungen nicht so leicht ins Boxhorn jagen, die müssen sich erst erweisen, nicht Ihre Praxis. Und ertragen Sie den Qualitätsmanagements- und Evaluationswahn wie eine Regenfront. Das geht vorüber. Aber: Schirm nicht vergessen. „Wer mit der Zeit mitläuft, wird von ihr überrannt. Aber wer stillsteht, auf den kommen die Dinge zu.“ (Gottfried Benn) BeitrAG 13 1V ortrag auf der Jahrestagung 2006 des Evangelischen Schulbundes in Südwestdeutschland am 26. Oktober 2006 in Weierhof / Pfalz 2 Biesinger, Albert / Schweitzer, Friedrich (Hg.), Bündnis für Erziehung. Unsere Verantwortung für gemeinsame Werte, Freiburg 2006, S. 20. 3 Bueb, Bernhard, Lob des Disziplin. Eine Streitschrift, Berlin 2006. 4 Bude, Heinz / Willisch, Andreas (Hg.), Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg 2006 5 Biesinger, Albert / Schweitzer, Friedrich (Hg.), Bündnis für Erziehung. Unsere Verantwortung für gemeinsame Werte, Freiburg 2006, S. 22f 6 Picht, Georg, Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten/ Freiburg 1964 7 Leserbrief von Almut Vaelske, Braunschweig, in: FAZ vom 19.12.2001, Nr. 295, S. 11 8 Warum sind unsere Schüler so doof?, in: Stern 51/2001, S. 252 9 Schilder, Peter, Die Lehrer mißtrauen der Kultusbürokratie. Vorbehalte gegen das Modellvorhaben “Selbstständige Schule” in Nord rhein-Westfalen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 285 vom 7.12.2001, S. 5 10 Ausführlich dazu: Albrecht, Clemens, Bildungskatastrophen als Krisen staatlicher Steuerung. Systemtheoretische Beobachtungen zur Rezeption der PISA-Studie, in: J. Allmendinger (Hg.), Entstaatlichung und Soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002, Opladen 2003, S. 928-937 11 Organisierte Verantwortungslosigkeit. Was folgt nach dem Pisa-Schock?, in: Die Zeit v. 12.12.2001 12 Dazu ausführlich: Albrecht, Clemens, Vermarktlichung der Familie? Formen der Auslagerung von Erziehung, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 18: “Alles käuflich”, 2002, S. 239-256 13 Denby, David, Lebendig begraben. Unsere Kinder und die Kulturschlammlawine, in: Neue Sammlung, 39, 1999, S. 63-79; den Hinweis auf diesen schönen Artikel verdanke ich Hartmut von Hentig. 14 Kaube, Jürgen, Erziehung, wie geht das? Hier werden Sie geholfen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 76 vom 31.3.2003, S. 41 14 BeitrAG 15 Tenbruck, Friedrich H., Mut zur Erziehung, in: Beiträge zu einem Forum am 9./10. Januar 1978 im Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg, Stuttgart 1979, S. 58-79 Prof. Dr. Clemens Albrecht ist Kulturwissenschaftler und Soziologe an der Universität Koblenz/ Landau. Zum Tod von Michelangelo Antonioni und Ingmar Bergman (30. Juli 2007) Helmut Heiland Erste Filmerlebnisse Während meiner Schulzeit im Gymnasium der schwäbischen Kleinstadt Backnang in den 50er Jahren bin ich nur wenig ins Kino gekommen. Ich erinnere mich an zwei Filme, deren Besuch die Schule empfohlen hatte: „Hoffmanns Erzählungen“ von Powell/Pressburger (1951/GB) und „Julius Cäsar“ von Mankiewicz (1953/ USA) – eine Opernverfilmung also und eine filmische Adaption des Stücks von Shakespeare. Mit der Empfehlung dieser Streifen tat die Schule durchaus einen guten Griff. Denn das waren anerkannte Repräsentanten der klassischen Tradition, der moralischen Schaubühne, des bürgerlichen Geschmacks. „Hoffmanns Erzählungen“ führte ein in die musikalische Eleganz der französischen Oper und in die romantische Literatur. Grundlage des Films war ja bekanntlich Jacques Offenbachs Opernbearbeitung von Novellen E. T. A. Hoffmanns. „Julius Cäsar“ war eine prachtvolle Produktion Hollywoods mit glänzenden Schauspielern wie etwa dem jungen Marlon Brando als Marc Antonius und bot einen perfekten Einblick in die Bühnenwelt Shakespeares, eine Einführung in Theater und Drama also. Beiden Filmen lagen Bühnenstücke zugrunde und sie blieben im Grunde verfilmtes SprechTheater bzw. Musiktheater. Aber in der Erinnerung wirkten beide durch die Hollywood-Tradition geprägten Filme auf mich wie Ausschnitte aus einer anderen Welt zwar, aber voll realem Leben, die mich aufsaugten und mitrissen in den Strudel um die Ermordung des Imperators Cäsar und dem dreifachen Liebesleiden des von bösen Mächten gesteuerten Hoffmann. Ich glaubte, im antiken Rom oder in Venedig zu sein und habe in diesen Stunden in der Dunkelheit des „Lichtspieltheaters“ alle schulischen Probleme eines 15jährigen ganz und gar vergessen. Während meiner Studienzeit (1960-1965) stieß ich in München auf Filme Antonionis und in Tübingen auf Bergmans „Schweigen“. Ich erinnere mich an das Programmkino hinter der Münchner Universität, in dem ich „La notte“ (Die Nacht) und „L’eclisse“ (Liebe 62) während meiner drei Münchner Semester 1961/63 erlebte. Und nach meiner Rückkehr nach Tübingen im Sommer 1963 sah ich dort „Das Schweigen“, wohl Ingmar Bergmans meistdiskutierten Film. Dieser vermittelte mir wie die beiden Filme Antonionis eine radikale Erfahrung. Es war eine Begegnung mit dem modernen europäischen Film, repräsentiert durch zwei führende Regisseure dieses „neuen“ Films. (Die Nouvelle vague der Franzosen, vertreten durch Truffaut, Godard und Resnais, lernte ich erst anfangs der 70er Jahre kennen, wie dann auch Fellinis frühe neorealistische Filme). Diese Begegnung war, etwas überspitzt formuliert, zugleich Schock und Befreiung. Schockiert war ich vom Umfang, der Wucht des Neuen, das da auf mich zukam. Überwältigt war ich vom Lebensgefühl, das sich hier ausdrückte, mich vereinnahmte, mit dem ich mich identifizieren konnte, ja, ganz und gar identifizieren wollte. In diesen Filmen war nichts Vergangenes, Historisches oder Künstliches mehr. Es gab keine Bühne, keine gepflegte Sprache, keinen kunstvollen Dialog mehr. Dafür war da ein BeitrAG 15 weiter Horizont der Grautöne – alle drei genannten Filme waren keine Farbfilme – und in dieser weiten Welt entfaltete sich ein Leben junger Menschen als trial and error, als rätselhafte Suchbewegungen, als häufiges Scheitern, als eruptive Triebentladungen, als Selbstinszenierungen voll Langeweile, aber auch als stilisierte Schönheit. Und da war dann auch Sexualität, Liebe. Aber: Es gab keine Konventionen mehr. Nichts mehr war sicher und eindeutig. Alles war möglich. Ganz unvorbereitet auf diese neue Realitätsdarstellung durch das Medium Film war ich allerdings nicht. Voraus ging das noch immer nachhallende Grunderlebnis der Lektüre des „Ulysses“ (1922) von James Joyce Ende der 50er Jahre und weitere Eindrücke neuer literarischer Erfahrungen durch die Produkte des französischen „Nouveau roman“ wie etwa Robbe-Grillets „Augenzeuge“ (1955) und Butors „Paris-Rom oder Die Modifikation“ (1957), die ich 1962 in München las. Der traditionelle Roman des 19. Jahrhunderts (Dickens, Balzac, Zola, Dostojewski, Fontane) beschreibt linear-chronologisch eine Handlung, eine Entwicklungsgeschichte handelnder Personen in wechselnden Milieus. Der moderne Roman seit Joyce ist zweidimensional. Er setzt parallel zur Handlungsstruktur eine Dimension des „inneren Monologs“, des Binnenraums (Bewusstseins) der handelnden Figuren und arbeitet mit Schnitten und „Rückblenden“. Erschwert wird zwar das Einfühlen in den narrativen Haupterzählstrang. Aber die Handlung wird breiter durch das Netzwerk ihrer Bezüge. So schildert der „Augenzeuge“ einen Mord ohne eindeutige Handlungsstruktur, aber mit einer Überfülle an Details, die präzise beschrieben werden und die dingliche Wirklichkeit um die Hauptpersonen eindeutig 16 BeitrAG kennzeichnen, aber deren Handlungen undeutlich, vage lassen – und dies alles in einer chronikartigen, nüchternen Sprache. – Aber auch die formalisierenden Hörspiele der 50er Jahre in der noch weithin fernsehlosen Zeit meiner Jugend – wie etwa Günter Eichs „Die Andere und ich“ bereiteten diese literarische Modernität vor, weil sie elementar-existenziell waren und es nicht auf eine bestimmte Bildung und Kultiviertheit ankam, es also nicht um geschichtliche Personen in einer bestimmten Zeit ging, sondern um das menschliche Leben in seinen Grundbezügen, das im Hörspiel in den „Stimmen aus dem off“ ein unwiederholbar gültiges akustisches Medium fand, das später durch das TV weitgehend ins Vergessen gedrängt wurde. – Schließlich ist der Existenzialismus zu nennen, die philosophische Lebensform eines Großteils der westeuropäischen Elite der 50er bis Mitte der 60er Jahre: ausgedrückt in den Bühnenstücken, Romanen und Abhandlungen Sartres: Der Mensch, der einzelne Mensch ist frei. Diese Freiheit wird sichtbar durch und in seiner selbst entworfenen geschichtlichen Gestalt, in seiner Entwicklung. – Sartres Romane, Stücke und philosophische Texte habe ich in den 60er Jahren gelesen, seine Autobiographie „Die Wörter“ 1965. Aber die existenzialistische Grunderfahrung der Filme Antonionis war als Erlebnis früher da als die Lektüre der Werke von Sartre. Europäischer versus amerikanischer Film Antonioni und Bergman sind am gleichen Tag, am 30. Juni 2007 gestorben. Das ist ein Zufall, unterstreicht aber ihre Gemeinsamkeit als Vertreter des europäischen Films. Natürlich gibt es auch innerhalb des reichen Spektrums des US-amerikanischen Kinos Regisseure, die sich der europäischen Filmtradition verpflichtet fühlen wie etwa John Cassavetes oder Woody Allen. Trotzdem war und ist der Hauptteil der amerikanischen Film-Produktion durch bestimmte Muster und strukturelle Vorgaben bestimmt. Zu denken wäre etwa an Flemings „Gone with the wind“ (1939) oder einen Großteil der Western mit John Wayne als ihrem Hauptstar (Hawks „Red River“ 1948 und „Rio Bravo“ 1959) oder Gary Cooper in Zinnemanns „High noon“ von 1952, die bildkräftig und linear eine bestimmte Entwicklungsgeschichte in Aktionsketten erzählen, wobei das Gute über das Böse siegt. – Im Gegensatz dazu ist der Italiener Antonioni (geb. 1912 in Ferrara) wie der Schwede Bergman (1918 in Uppsala geboren) Vertreter einer „von des Gedankens Blässe angekränkelten“ Filmkunst. Es gibt unbestreitbare gelegentliche Anleihen beim amerikanischen Film, so Antonionis „Zapriskie Point“ (1969) und „Professione: reporter“ (Beruf: Reporter) (1973) wie auch Bergmans „Schlangenei“ von 1976. Aber insgesamt zeigen beide doch im thematischen Spektrum ihrer Produktion wie auch in der tendenziell-strukturellen Fundierung ihrer Filme überraschende Übereinstimmungen: Beide haben eine klare Tendenz zur Gegenwartsbezogenheit des Films. Beide betonen ein breites Spektrum der Vielfalt menschlicher Kräfte, Strebungen und Interessen, des Humanen. Eine klare Tendenz, aktuelle Realität im Film darzustellen, bedeutet sowohl die Ausklammerung von Science Fiction wie auch die Vernachlässigung des Geschichtlichen. Es gibt weder von Antonioni noch von Bergman einen Science Fiction-Film oder einen Film mit utopischen Tendenzen. Und es gibt auch von beiden Regisseuren keinen überzeugenden, rein his torischen Film wie etwa vergleichsweise „Gone with the Wind“. Das gilt vor allem für Antonioni. Bergmans Filme enthalten zwar teilweise Rückgriffe auf historisch frühere Mentalitäten und Lebenslagen – so etwa „Fanny und Alexander“. Aber diese Dimension dominiert nicht, weil Bergman nicht zurückgehen will in eine frühere Zeit, sondern grundsätzliche Probleme der menschlichen Existenz darzustellen beabsichtigt. Daher wirken auch Filme wie „Das siebente Siegel“ (1956) oder „Jungfrauenquelle“ (1959) bei allem mittelalterlichen Design bzw. Ausstattung keineswegs antiquiert, sondern aktuell gültig durch ihre Frage nach der menschlichen Existenz. Und daher wird auch sein Film „The Serpent’s Egg“ (Das Schlangenei) von 1976 zum Problemfall. Dieser Film über die Nazizeit, in Deutschland gedreht, ist Bergman missglückt, weil hier sein Schwanken zwischen Gegenwart und Historizität sichtbar wird, damit aber das Geschichtliche abgewertet wird, das als Zeitgeschichte bei dieser Thematik aber dominieren muss. Die ganze Breite menschlichen Lebens zeigt Bergman sicherlich deutlicher als Antonioni. Und doch gibt auch das Werkverzeichnis Antonionis hierzu einen aufschlussreichen Einblick. Vielgestaltig ist das filmische Schaffen Bergmans. Bergman beginnt mit sozialkritischen Filmen („Einen Sommer lang“, „Die Zeit mit Monika“), greift rasch das Problem der Sexualität, der Liebe (z.B. „Lektion in Liebe“, „Das Lächeln einer Sommernacht“) der Ehe, des Ehebruchs („Abend der Gaukler“, „The touch“, „Szenen einer Ehe“) auf, bezieht das Alter voll mit ein ( „Wilde Erdbeeren“) und geht in die Bereiche von Glaube und Tod („Das siebente Siegel“, „Licht im Winter“) sowie der Krankheit („Das Schweigen“, „Schreie und Flüstern“), berührt auch das Problem der Psychoanalyse und Therapie („Persona“) und fasst in wunderbarer Weise alle diese Themen, nun BeitrAG 17 aus der Optik des Kindes, zusammen in der Familiengeschichte „Fanny und Alexander“ mit gewissen Fortsetzungen im Spätwerk („Nach der Probe“, „Dabei: Ein Clown“ und „Sarabande“). Filmografie (Auswahl) Einen Überblick zur Schaffensgeschichte beider Regisseure bietet das jeweilige Werksverzeichnis: Antonioni: I vinti/Les vaincus [Die Besiegten Kinder unserer Zeit] (1952) (I sw); La signora senza camelie [Die Dame ohne Kamelien] (1953) (I sw); Le amiche [Die Freundinnen] (1955) (I sw); Il grido [Der Schrei ] (1957) (I sw); L’avventura [Die mit der Liebe spielen] (1959) (I sw); La notte [Die Nacht] (I sw); L‘eclisse [Liebe 1962] (1961) (I sw); Blow-up (1966) (GB F); Zabriskie Point (1969) (USA F); Professione: reporter [Beruf: Reporter] (1973) (I F); Il misterio di Oberwald [Das Geheimnis von Oberwald] (1980) (I F); Identificazione di una donna [Identifikation einer Frau] (1982) (I F); Antonioni / Wenders: Par dela le nuages [Hinter den Wolken / Jenseits der Wolken] (1994) (I/F F). Bergman: Hamnstad [Hafenstadt] (1948) (S sw); Sommarlek [Einen Sommer lang] (1950) (S sw); Sommaren med Monika [Die Zeit mit Monika] (1952) (S sw); Kvinnors väntan [Sehnsucht der Frauen] (1952) (S sw); Gycklarnas afton [Abend der Gaukler] (1953) (S sw); En lektion i kärlek [Lektion in Liebe] (1954) (S sw); Kvinnodröm [Frauenträume] (1955) (S sw); Sommarnattens leende [Das Lächeln einer Sommernacht] (1955) (S sw); Det sjunde inseglet [Das siebente Siegel] (1956) (S sw); Smultronstället [Wilde Erdbeeren] (1957) (S sw); Ansiktet [Das Gesicht] (1958) (S sw), Jungfrukällan [Die Jungfrauenquelle] (1959) (S sw); Djävulens öga [Das Teufelsauge] (1960) (S sw); Sasom i en spegel [Wie in einem Spiegel] 18 BeitrAG (1960) (S sw); Nattvardsgästerna [Licht im Winter] (1961) (S sw); Tystnaden [Das Schweigen] (1962) (S sw); För att inte tala om alla dessa kvinnor [Ach, diese Frauen] (1963) (S sw); Persona (1965) (S sw); Vargtimmen [Stunde des Wolfes] (1966) (S sw); Skammen [Schande] 102 M (S sw); Riten [Der Ritus] (1968) (S sw); En Passion [Passion] (1969) (S sw); The touch [Berührungen] (1970) (S F); Viskningar och rop [Schreie und Flüstern] (1972) (S F); Scener ur ett aektenskap [Szenen einer Ehe] (1973) (S F); Trollflötjen [Die Zauberflöte] (1974) (S F); Ansikte mot ansikte [Von Angesicht zu Angesicht] (1975) (S F); The Serpent‘s Egg [Das Schlangenei] (1976) (D/S F); Herbstsonate (1978) (D F); Fanny och Alexander [Fanny und Alexander] (1982) (S F); Nach der Probe (1983) (S F); Larmar och gör sig till [Dabei: Ein Clown] (1997) (S F); Saraband [Sarabande] (2003) (S F); Bergman/Ullmann: Trolösa [Die Treulosen] (1999) (S F); Bergman, Daniel: Söndagsbarn [Sonntagskinder] (1992) (S F); [Drehbuch: Ingmar Bergman]. „Die Nacht“ / „Liebe 62“ Nun komme ich nochmals zu meinen ersten Eindrücken der Filme Antonionis und Bergmans zurück. „La notte“ (Die Nacht) und „L’eclisse“ (Liebe 62) könnte man als „Liebesfilme“ bezeichnen und die weiblichen Stars dieser Filme, Monica Vitti und Jeanne Moreau, faszinierten sehr durch ihre Ausstrahlung, vor allem die mädchenhaft-grazile Vitti in ihrer geheimnisvollen Rolle in „Die Nacht“. (Sie wirkte auf mich wie die Verkörperung der „Peregrina“ Mörikes: „Da bin ich wieder hergekommen aus weiter Welt“). Der männliche Partner der Vitti war in „La notte“ Mastroianni, im anderen Film Alain Delon. Beide Filme in Schwarz-Weiß spielen in der Großstadt Mailand. In „Liebe 62“ trennt sich die weibliche Hauptperson von ihrem Freund und lernt dann einen jungen Börsenspekulanten kennen, den sie nicht liebt und dessen Werbung sie sich zunächst aus Furcht neuer Enttäuschung entzieht, ihm aber dann doch nachgibt. Die Hektik im Börsensaal, wo sie ihren Geliebten aufsucht, kontrastiert mit ihrer Einsamkeit, die auch durch die Liebesbegegnung nicht gemindert wird. Eindrucksvoll sind die Szenen, wo sich die Liebenden wortlos gegenübersitzen und sich anschweigen. Sie trennen sich mit dem Versprechen des baldigen Wiedersehens. Aber sie weiß um die Endgültigkeit dieses Abschieds und er stürzt sich wieder in die besinnungslos machende Hektik des Börsenalltags. Der Film endet mit der Sonnenfinsternis – deshalb der Titel. Mich beeindruckte die Ausstrahlung der Vitti, ihr Streben nach der eindeutigen Liebe, die Bilder der Großstadt, der Kontrast von Börse und häuslichem Ambiente, das Milieu junger erwachsener Menschen, das Wissen um das Geworfensein in eine Beziehung (Man muss lieben) und in die Brüchigkeit jeder Beziehung. Dies ist die existenzielle Konstante dieses Films. In „La notte“ steht Giovanni Fontano, ein junger, erfolgreicher Schriftsteller (Mastroianni) zwischen zwei Frauen, seiner Ehefrau Lidia (Moreau) und der 18jährigen Valentina (Vitti), die Giovanni auf einer Party kennen lernt und zu lieben beginnt. Der Film beginnt mit einem Krankenbesuch des Ehepaars: Ihr Freund Tommaso, ebenfalls Autor, aber erfolglos, liegt unheilbar in der Klinik und stirbt noch in dieser Nacht. Lidia erfährt auf einer Party in der Nacht vom Tod des Freundes. Zwischen Klinikbesuch und Party schiebt sich ein Empfang beim Verlag Giovannis: Sein neues Buch ist soeben erschienen. Die Gespräche kreisen um Belanglosigkeiten und zeigen viel Langeweile. Lidia geht durch die hektischen Straßen der Großstadt. Der Klinikbesuch wirkt nach. Bilder eines ruinösen Hauses, eines weinenden Kindes, von Hochhäusern, von balgenden jungen Burschen. Dann besuchen beide am Abend ein Nachtlokal, dessen Programm langweilt, um anschließend die Party eines reichen Industriellen aufzusuchen. Dieser macht Giovanni ein Angebot, für ihn zu arbeiten. Auch die Partygäste zeigen trotz vielfachen Amüsements Langeweile, ja Müdigkeit. Giovanni sieht Valentina, die Brochs „Schlafwandler“ liest, kommt mit ihr ins Gespräch, spielt mit ihr ein Spiel, küsst sie. Valentina: „Ich bin nicht talentiert, nur wach.“ „Es passiert nie etwas“. Und zu Giovanni: „Du brauchst ein Mädchen zum Neuanfang“. Giovanni: „Du bist das Mädchen“. Lidia lässt sich bei einsetzendem Regen von einem fremden Partygast zu einer Autofahrt mitnehmen. Im Morgengrauen treffen sich Lidia und Giovanni im Haus der Party wieder. Abschied von Valentina, die sagt: „Ihr habt mich schön zugerichtet, ihr beiden“. Das Paar geht durch den Park nach Hause. Lidia teilt ihm mit, dass Tommaso gestorben sei, dass er sich uneigennützig um sie bemüht habe, sie ihn zwar nicht geliebt habe, sondern Giovanni, aber dies nun bedauere: “Ich bin verzweifelt, weil ich nicht mehr lieben kann“. Sie empfinde nur noch Mitleid für Giovanni. Giovanni: „Ich habe Dir nichts zu sagen gehabt. Aber ich liebe Dich“. Lidia liest einen früheren Liebesbrief Giovannis an sie vor, den sie als wahr empfindet, an den aber Giovanni sich nicht mehr erinnert. Giovannis darauf erfolgende Liebesbeteuerung, der sie küssen und umarmen, ja körperlich lieben will, lehnt sie ab. Die Kamera schweift über die weite Parklandschaft. Wenig Musik, keine aggressiv-brutalen Szenen zwischen den Liebenden. – Auch hier faszinierte das BeitrAG 19 Milieu: Großstadt, Hochhäuser, moderne Einrichtung, kultivierte, schöne, meist junge Menschen in Verbindung mit der weiten Landschaft des Parks, der Kontrast von Beziehungslosigkeit und Bemühen um gegenseitiges Verstehen. Das menschliche Geworfensein in die Einsamkeit des Subjekts und das Sich-Verlieren an den Anderen, in der Liebe, und dessen Möglichkeit des Scheiterns, – dieses existenzielle Grundelement des Menschen veranschaulicht dieser Film und macht ihn zu einem stets aktuellen Dokument moderner gesellschaftlicher Realität. „Das Schweigen“ Bergmans Film „Das Schweigen“, ebenfalls ein Film in Schwarz-Weiß, kontrastiert zunächst deutlich zum Großstadtmilieu der beiden Antonioni-Filme. Er erzählt die Geschichte zweier Schwestern, der lungenkranken Übersetzerin Ester und der jüngeren Anna mit ihrem neunjährigen Sohn Johan auf der Reise, zunächst im Zug, dann in einer fremden kleinen Stadt im Hotel. Es dominiert die Pseudohäuslichkeit des Hotelzimmers, die aber stets bedrohlich bleibt durch die grundsätzliche Verständnislosigkeit des Milieus: Es fahren Panzer des Nachts durch die Straßen. Die Menschen sprechen eine fremde, unverständliche Sprache. Es fehlt die Grunderfahrung elementarer sprachlicher Verständigung. Diese äußere Kommunikationslosigkeit spiegelt der Film in den Erfahrungen Annas, die auf die Straße geht, in einer Kirche mit einem fremden Mann kopuliert und dies im Hotel wiederholt. Ähnliche Erfahrungen einer schwierigen Verständigung erlebt der kleine Johan im Hotel mit dem alten Kellner und mit den einzigen Hotelgästen, einer Gruppe von Liliputaner-Zirkusartisten. Aber es gibt vor allem auch die internen Verständnisschwierigkeiten, der Streit zwischen den 20 BeitrAG Schwestern: Ester erwartet von Anna mehr als nur schwesterliche Zuwendung und demonstriert diese Sehnsucht in der sexuellen Selbstbefriedigung. Anna in der Blüte ihrer vitalen Weiblichkeit will körperliche Liebeserfüllung, die der Film mehrmals visuell demonstriert, die ihr aber von ihrer körperlich geschwächten und traumatisch belasteten Schwester nicht zugestanden bzw. geneidet wird. Ester wird ernstlich krank und wird mühsam, aber durchaus liebevoll von einem alten Kellner betreut, der sich auch Johan zuwendet. Am Schluss des Films bricht Ester zusammen. Anna reist mit Johan ab und überlässt Ester ihrem Schicksal. Anna beim Koitus mit dem fremden Mann: „Wie schön ist es, dass wir nicht miteinander reden können. Ich wünschte mir, Ester wäre tot.“ Beim Abschied schreibt Ester Johan auf einen Zettel ein paar Wörter in der fremden Sprache und meint: „Du wirst verstehen“. – Wenig Musik, etwas Bach, bei den Phasen der Krankheitsanfälle Esters ein dumpfer Dauerton, teilweise dröhnend. – Man hat den Film als eine Welt ohne Gott interpretiert (Diese Interpretation hat Bergman in Interviews abgelehnt). Der Zettel könnte Zeichen der Hoffnung sein. Beim ersten Sehen faszinierte mich „Das Schweigen“ durch seine Geschlossenheit des Düsteren, Fremden. Wie bei Kafka baut hier ein berichtender Erzählstil detailgenau eine fremde, unverständliche Wirklichkeit auf. (Kürzlich hat Cormac McCarthy in „The Road“ 2006 ein ähnlich geschlossenes Bild einer fremden Welt im Berichtstil vorgelegt.) Beim wiederholten Erleben des Films wird mir die Figur des Johan immer wichtiger. Die Schwestern sind durch ihre Lebensgeschichte, ihren Habitus, in ihre wechselseitige Ablehnung verstrickt. Johan aber ist neugierig, offen. Er erkundet die Welt des Hotels, er macht Erfahrungen. Er ist Projektion Bergmans, also autobiographisch gemeint. Johan, der Beobachter, der aus Erfahrungen schöpferisches, kreatives Potenzial gewinnt, – das ist der Entwurf für die Figur des Knaben Alexander zwanzig Jahre später, in „Fanny und Alexander“, dem Beobachter, dem Lebenslustigen und Selbstbestimmten, der sich dem Stiefvater, dem Bischof, widersetzt und mit dem toten Vater redet. – Johan, der Beobachter und Alexander, der Rebell, das sind kindliche Rollen und frühe Erfahrungen Bergmans, die er dann später als Regisseur in Lebensqualität seiner Filme umsetzt. Denn bei aller Sehnsucht, Leiden und Enttäuschung siegen in Bergmans Filmen doch Liebe und Lebensfreude. Man beachte den Schluß-Teil von „Fanny und Alexander“ (1982) und „Wilde Erdbeeren“ (1957). So führt „Das Schweigen“ zwar etwas einseitig aber doch außerordentlich eindrucksvoll in die Filmwelt Bergmans ein. Prof. Dr. Helmut Heiland war bis zu seiner Emeritierung Professor für all gemeine Didaktik und Schulpädagogik an der Universität Duisburg Literatur Jansen, Peter W./Schütte, Wolfram (Hrsg.): Michelangelo Antonioni. München 1984 McCarthy, Cormac: Die Straße. Reinbek 2007 (engl. New York 2006) Weise, Eckhard: Ingmar Bergman. Reinbek 1987 (Rowohlts Monographien 366) Die GEE hat eine neue Homepage! Unter der Adresse www.gee-online.de finden Sie Informationen • über die GEE, • über Bildungs- und Fortbildungsveranstaltungen der PÄDAGOGISCHEN AKADEMIE • und haben die Möglichkeit, sich direkt anzumelden. •H ier können Sie auch die Zeitschrift ERZIEHEN HEUTE als pdf-Datei ansehen oder auf Ihren Computer speichern. BeitrAG 21 Wüstenzeitung über Abraham, Sara und die Nomaden Projektorientiertes Arbeiten im Religionsunterricht des Förderzentrums – ein Erfahrungsbericht Volker Linhard Im Lehrplan zur individuellen Lernföderung heißt es unter dem Stichwort Ganzheitlichkeit: „Charakteristisch für den Unterricht dieser Schulen ist die Erschließung der Lerngegenstände über die Wahrnehmung, die Bewegung, die Handlung und die Reflexion.1 Neben individuell angemessenen Lernangeboten wird großer Wert auf gemeinsames Lernen gelegt. „Gemeinsames Lernen soll den einzelnen Schülern ermöglichen, soziale Erfahrungen zu sammeln, sich in der Gemeinschaft zu entfalten, Selbstwertgefühl aufzubauen und Identität zu gewinnen.2 Dies gilt insbesondere auch für den Religionsunterricht. Im projektorientierten Arbeiten werden diese Aspekte und Ziele in besonderer Weise aufgegriffen und umgesetzt. Dieses Arbeiten ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Im Religionsunterricht an Förderschulen, wie an allen anderen Schulen auch, haben wir als kirchliche Lehrkräfte in der Regel erschwerte Bedingungen: Nur zwei Stunden pro Woche, kein eigener Raum, zusammengewürfelte Klassen, große Schülerzahlen. Hier lässt sich solches Arbeiten nur in Ansätzen verwirklichen. Aber hin und wieder sind die äußeren Möglichkeiten günstig, da nützt dann al22 les Jammern nichts, sondern ich kann die Gelegenheit ergreifen und einmal anders arbeiten. In einer Religionsgruppe im sonderpädagogischen Förderzentrum Hersbruck, wo ich mit einem Teil meiner Stunden unterrichte, ergab sich solch eine Möglichkeit. Die Gruppe war überschaubar, ein eigener Raum vorhanden, ein günstiger Stundenplan, dazu ein Praktikant der Fachhochschule. Woher nun die Idee für ein Projekt, die nötige Motivation hernehmen? Für mich sind es oft Wettbewerbe für Schulklassen oder Gemeindegruppen, die zu einem bestimmten Thema ausgeschrieben werden. So zum Beispiel zum „Bibeljahr“ 2003 oder der jährliche „Junior-Oscar“ der Unicef seit 2004. 2006 war es „Expedition Planet B.“ von Stifung Lesen und Deutscher Bibelgesellschaft. Irgendwie und irgendwann (jedoch rechtzeitig!) bekam ich ein Faltblatt dazu in die Hand und besorgte mir weitere Informationen. Unter den Stichworten „Meer“, „Stadt“, „Wüste“ und „Berg“ sollten Schülerinnen und Schüler der 3. bis 6. Klassen ihre Lieblingsbibelgeschichte präsentieren. „Die Kinder und Jugendlichen können sich kreativ und spielerisch mit der Bibel auseinandersetzen und lernen die Bibel als wichtiges Kulturgut kennen.“, hieß es in der Ausschreibung.3 In meiner kombinierten 3./4. Klasse im Förderzentrum hatte ich gerade mit den Abraham- und Saraerzählungen begonnen. Mich beschäftigte das Stichwort „Wüste“. Abraham und Sara, die sich auf den Weg durch die große Wüste machten. Die das sichere Haran auf Gottes Wort hin verließen und in ein fremdes Land zogen. Ich nahm mir vor, diese Einheit einmal stärker unter dem Aspekt „Wüste“ zu unterrichten. Gedanken – Anregungen – Hinweise Die Hirten sind aufgeregt. Die Hirten haben die Arbeit aufgehört und haben Mittagspause. Der Anführer weiß wo die Brunnen sind. Die Wüste ist gefährlich, der Sandsturm, die Räuber, die Tiere sind gefährlich. Wenn ihr kein Wasser findet, werdet ihr verdursten.Abraham hat ein Lagerfeuer gemacht und redet mit den Hirten. Sie fragen: „Warum gehst du?“ Abraham sagt: „Gott hat mich gerufen.“ Sabrina Joschi, Nomadenjunge und Stoffpuppe über meiner Hand, erzählte die Geschichten von Abraham und Sara. Sehr anschaulich berichtete er von Abraham, dem Anführer der Sippe, der die Wasserstellen kennt, der alles gerecht verteilt, der Handel in der Stadt treibt und Streit schlichtet, wo es nötig ist. Abraham, der einfach unersetzlich für die Sippe ist. Und Joschi beschreibt, wie Abraham die Hirten zusammenruft und ihnen verkündet, dass sie durch die Wüste in ein fremdes Land ziehen werden. Wir sitzen alle am imaginären Lagerfeuer und meine Schülerinnen und Schüler sind mittendrin in der Geschichte. Sie spielen die Hirten und regen sich auf, wie Abraham so etwas Unvernünftiges tun kann. Sie suchen und finden viele Argumente, die ihn zum Hierbleiben bewegen sollen. Hier entstehen die ersten Schülertexte, mühsam bringen sie ihre Gedanken auf das Papier, manchmal muss ich einen Schüler gleich vorlesen lassen und den Text nochmals aufschreiben, damit er ihn auch später noch weiß. Manchmal lasse ich mir die Texte gleich diktieren. Längere, eigene Gedankengänge aufzuschreiben, fällt den Schüler zur individuellen Lernförderung noch sehr schwer. Wie stolz sind sie aber, als ich am nächsten Tag die abgetippten Texte mitbringe und wir sie lesen. Doch zurück ans Lagerfeuer. Ich antworte als Abraham auf alle ihre Einwände, will sie nicht unbedingt entkräften, sie aber doch beruhigen. Immer wieder kommt die Frage: Warum? Und am Ende erzähle ich von einem Erlebnis des Abraham, das ich nur tastend, zögernd beschreibe. Als er die Stimme Gottes hört, von der Verheißung der Nachkommen und dem Wagnis, in ein neues Land zu ziehen. Verlasse deine Heimat, deine Sippe und deine Verwandten und ziehe in ein Land, das ich dir zeigen werde. Du sollst Kinder bekommen, diese werden wieder Kinder haben, bis sie ein großes Volk sind. Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein. Dein Name soll in der ganzen Welt bekannt werden. Durch dich sollen die Menschen erfahren, dass ich es gut mit ihnen meine.4 In der nächsten Stunde erzählt Joschi ausführlich von der Wüstenwanderung und all den Gefahren, die da lauerten: Angst vor dem Verdursten, vor gefährlichen Räubern, Sandstürme und Treibsand, wilde Tiere und die Ungeduld der Hirten. Bilder und Dias von der Wüste unterstützen diese Eindrücke. Gedanken – Anregungen – Hinweise 23 Am Ende kommt die Sippe wohlbehalten in Kanaan an, alle sind dankbar und glücklich. Abraham baut einen Steinaltar, dort betet er zu Gott.5 Wieder entstehen einfache Texte: Meine Schülerinnen und Schüler formulieren Dankgebete und denken noch einmal an die vielen überstandenen Gefahren auf dem Weg durch die Wüste. Lieber Gott, danke, dass du mir versprochen hast, dass uns nichts passieren wird. Wir haben viel mitgemacht und ich hatte gedacht, dass du mich betrügst. Und was ist rausgekommen? Du hast mich nicht betrogen. Danke, dass du mir dieses gute Land geschenkt hast. Danke für das Wasser und alles. Amen. Markus Gott, danke für die Wasserstelle. Danke, dass die Räuber uns nicht gesehen haben. Gott, danke für die Deckung im Sandsturm. Gott, danke, dass die wilden Tiere keine Menschen gefressen haben. Gott, danke für die Karawane, die mit uns Wasser getauscht hat. Gott, danke. Amen. Antonia Diesmal steht kein „Lagerfeuer“ in der Mitte, sondern wir bauen aus Steinen einen Altar, feiern ein Fest, singen, beten, tanzen, essen und trinken. Auf diese Weise haben wir ein klein wenig Anteil an der Freude von Abraham, Sara und den Hirten. Aus den verschiedenen Schülertexten werden Hefteinträge, hinzu kommen 24 Sachinformationen über das Nomadenleben, Bilder von Oasen, zentrale biblische Texte der Abraham- und Saraerzählungen. Aber lediglich Hefteinträge, das erscheint uns noch zu unoriginell. Wir wollen unsere Erlebnisse und Erfahrungen in eine andere Form bringen, um sie den anderen Kindern aus der Schule mitzuteilen. So entsteht die Idee einer eigenen Zeitung. Aber wir wollen so einfach wie möglich arbeiten. Kein Computer, kein Drucker, kein Kopierer. Da kommt uns ein alter Spiritus-Umdrucker ganz recht. Die Schülerinnen und Schüler schreiben ihre Texte auf Matrizen. Immer wieder habe ich in der letzten Zeit mit dieser „steinzeitlichen“ Technologie gearbeitet und bemerkt, mit welch einer Begeisterung die Kinder bei der Sache sind. Ich erkläre mir das vor allem mit der Durchschaubarkeit und Nachvollziehbarkeit dieser alten Technik. Ich sehe, wie die Matrize beschriftet wird, wie sie auf Gedanken – Anregungen – Hinweise die Walze gezogen und durch das Kurbeln Blatt für Blatt gedruckt wird. Ich rieche den Spiritus. Hier sind praktisch alle Sinne angesprochen. Dies lässt sich in keiner Weise damit vergleichen, dass ich vor einem Kopierer stehe, lediglich zuschaue, wie etwas vervielfältigt wird und es letztlich nicht „begreifen“ kann. Der Vorteil der Matrizen ist außerdem, dass die gute alte Handschrift wieder zum Zuge kommt. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich anstrengen, sie müssen sich bemühen, möglichst keinen Fehler zu machen, denn die Matrizen können nur schwer korrigiert werden. Aber der Gedanke, dass mein „Werk“ fünfzig mal gedruckt wird, erhöht die Motivation und das Bemühen ungemein. Natürlich war in unserer Zeitung nicht alles perfekt, darum ging es ja auch gar nicht. Wichtig war uns, dass alles lesbar ist. Es kamen auch Bilder hinzu, selbst gemalte oder von einer Vorlage abgemalte. Durch bunte Matrizen konnten wir sogar farbige Bilder drucken. So entstand die „Wüstenzeitung“ in einer Auflage von 50 Exemplaren. Am Ende fügten wir ein Rätsel an, wo wir interessante Preise in Aussicht stellten. Wir wollten ja, dass unsere Zeitung auch gelesen wird. So haben wir mit den Texten und Bildern die Kinder unserer Schule auf den Weg Abrahams und Saras durch die Wüste mitgenommen. Im Verlauf dieser Unterrichtsstunden sind uns diese Geschichten sehr an Herz gewachsen und wir haben von diesem Vertrauen auch ein wenig für unser Leben gelernt. Schließlich haben wir die Zeitungen in den Pausen verkauft. Den Erlös von 23.50 E haben wir für ein Projekt in Afrika gespendet, damit Straßenkinder die Möglichkeit bekommen, eine Schule zu besuchen. Der Zeitbedarf für diese Unterrichtseinheit lässt sich folgendermaßen grob gliedern: • Kennenlernen des Nomadenlebens: 2-3 Stunden • Abraham und Sara verlassen die Sippe, eigene Schülertexte: 2-3 Stunden • Abraham und Sara durchqueren die Wüste, Gott-sei-Dank-Fest, eigene Schülertexte: 2-3 Stunden • Schreiben der Matrizen, Drucken, Sortieren, Heften und Verkaufen: 3-4 Stunden. Rückblickend muss ich sagen, dass dies wohl kein Projekt im klassischen Sinne war, wo ich mit der Klasse ein Ziel festlege und wir dann die einzelnen Schritte dahin überlegen und verwirklichen. Es war eher so, dass wir uns auf den Weg gemacht haben, ohne schon genau zu wissen, wohin er führt. Wir sind die ersten Schritte gegangen, haben die Geschichten von Abraham und Sara kennengelernt und dann überlegt, wie wir weitermachen. Vieles Nachrichten aus der gee 25 war dann auch ein logischer Schritt, der auf den vorhergegangenen folgte. (z.B. eine Zeitung wird dann natürlich auch verkauft.) Es wäre für die Schülerinnen und Schüler dieser Jahrgangsstufe und Schulart wohl auch eine Überforderung gewesen, hätten sie den ganzen Projektweg bereits von Anfang an überblicken sollen. So sind wir diesen Weg in einfachen, elementaren und überschaubaren Abschnitten von der Idee bis zur Realisation der einzelnen Schritte gegangen. Und dabei mussten wir wieder an Abraham und Sara denken, die sich auch aufmachten und dabei noch lange nicht den ganzen Weg überblicken konnten. Leider haben wir bei dem Wettbewerb, an dem 10 000 Schülerinnen und Schüler aus ganz Deutschland beteiligt waren, nur einen Trostpreis bekommen. Dennoch hat uns diese Aktion sehr motiviert und wird den Kinder sicherlich in guter Erinnerung bleiben. Volker Linhard, Dipl. Religionspädagoge am Förderzentrum Hersbruck Anmerkungen: 1 So heißt es auf S. 12 im Lehrplan zur individuellen Lernförderung an Bayern Förderschulen. 2 Ebd. S. 13 3 aus: www.expedition-planet-b.de. 4 Eigene Übertragung nach Gen 12, 1-3 5 Siehe Gen 12,7 Noch mehr Bilder zu dem Projekt finden sich unter www.grabkammer-des-pharao.de unter dem Link Schule/Aktuelle Projekte. 26 I I I Der Liebe Gottes roter Faden I Gott kam auf ihn zu. Ganz unvermutet es begann, als Gott einst sprach zu Abraham: Ich will dich segnen insgemein, und du sollst selbst ein Segen sein. Gott ging immer mit. In alle menschlichen Verirrungen und die daraus entstandnen Wirrungen legt Gott den roten Faden der Liebe, damit der Menschheit die Zukunft bliebe. Gott kommt auf uns zu. Deshalb uns geboren ward Jesus Christ, der so unser Heiland geworden ist: Durch Worte und Taten lädt er uns ein, am roten Faden der Liebe zu sein. Gott geht weiter mit. Selbst in schwersten Lebenskrisen hat sich Gott als der erwiesen, der fest zum Liebesfaden steht und der in Jesus mit uns geht. I I Gedanken – Anregungen – Hinweise Klaus Dieter Müller I I Interview Mit OKR Klaus Eberl Herr Eberl, Sie wurden von der Landessynode im Januar diesen Jahres als Leiter der Bildungsabteilung im Landes kirchenamt der Rheinischen Kirche und Mitglied der Kirchenleitung gewählt. Nun sind Sie schon einige Monate im Amt. Welche Handlungsfelder haben sich in diesen Monaten für Sie als besonders dringlich erwiesen? Im Vordergrund stand zunächst die Ausein andersetzung um das NRW-Kinderbildungsgesetz (KiBiz). Die Elementarbildung ist ein zentrales Arbeitsfeld unserer Kirche, in das die Gemeinden erhebliche Finanzmittel investieren, zumal hier die Weichen für den Gemeindeaufbau gestellt werden. Darüber hinaus mussten die konzeptionellen Entscheidungen des künftigen Schulwerkes voran gebracht werden. In diesem Zusammenhang mussten wir leider feststellen, dass die Schulstiftung noch nicht so reibungslos funktioniert, wie wir uns das wünschen. Diese Situation wird sich bald verbessern. In vielen Veröffentlichungen der Evangelischen Kirche zum Thema Bildung wird von der Evangelischen Bildungsverantwortung gesprochen. Wie würden Sie diesen Begriff inhaltlich füllen, damit er kein leeres Schlagwort wird? Bildung ist das(!) Thema der Zukunft. Das deutsche Wort hat seinen Ursprung in der alttestamentlichen Rede vom Menschen als Gottes Ebenbild (Gen 1,26f). Paulus verwendet die Bild-Metapher christologisch, wenn er davon spricht, dass sich die Freiheit eines Christenmenschen entfaltet, indem wir in das Bild Christi verwandelt werden (2. Kor 3,18). Es geht also zentral um die Frage: Was ist der Mensch in evangelischer Perspektive? Die Artikel 81-85 der Kirchenordnung beschreiben, dass die Kirche dafür verantwortlich ist, dass Kinder das Wort Gottes hören, im Verständnis des christlichen Glaubens wachsen und lernen, in Verantwortung vor Gott zu leben. Dies geschieht in Elternhaus, Gemeinde und Schule. Hinzu kommen Angebote lebenslangen Lernens. Daraus ergibt sich die Verantwortung, nach innen das Evangelium zu leben und erlebbar zu machen und nach außen deutlich zu machen, dass Bildung eine Sprachschule der Freiheit ist. Nicht ohne Grund spricht die EKD-Kundgebung zu Armut und Reichtum in Deutschland davon, dass Bildungsgerechtigkeit ein Schlüssel ist, um der Spaltung der Gesellschaft entgegenzutreten. Die GEE ist ja ein Verein der sich als Teil der Kirche versteht und an vielen Stellen mit ihr zusammen arbeitet. Die rheinische Landessynode hat der GEE den Auftrag zur Allgemeinen Lehrerfortbildung erteilt. Wie ist Ihre Einstellung zu kirchlichen Werken und Vereinen? Ausgangspunkt der GEE sind Beratungen der Bekennenden Kirche zur Schulfrage, die auf der ersten Rheinischen Landessynode in den Auftrag mündeten, Gemeindeglieder in pädagogischen Berufen zu sammeln und zu unterstützen sowie ihre fachliche Kompetenz zu verbessern. Bei den meisten Aufbrüchen in der Kirche steht am Anfang das ehrenamtliche Engagement. Viele kirchliche Werke und Vereine sind so entstanden, auch die GEE. Die Kirche lebt von der Kreativität und dem Einsatz ihrer Glieder, von der Bereitschaft zum Experiment, von der Phantasie der Pädago- Gedanken – Anregungen – Hinweise 27 ginnen und Pädagogen. Wichtig ist, dass die engen Verbindungen zwischen Werken und Vereinen auf der einen Seite und der Kirche auf der anderen erhalten bleiben. Dann können alle voneinander in einem tragfähigen Netzwerk profitieren. Aufgabe der Landeskirche ist es auch, sich in die bildungspolitische Diskussion einzubringen und die kirchlichen Anliegen gegenüber der Bildungspolitik zu vertreten. Wie gestaltet sich aus Ihrer Sicht die Zusammenarbeit mit den politischen Parteien und der Landesregierung? Kirchengemeinden, die Einrichtungen betreiben, tatsächlich finanziell entlastet werden, ist noch ungewiss. Es verwundert auch, dass Fragen der Bildungsqualität politisch eine untergeordnete Rolle spielen. Wir danken Ihnen sehr für die Beantwortung der Fragen, wünschen Ihnen für Ihre Arbeit Kraft, Gelassenheit und Gottes Segen und bieten als GEE unsere kooperative Zusammenarbeit an. Bei allen politischen Begegnungen der letzten Monate stand die Bildungspolitik oben auf der Agenda: Kindertagestätten, Familienbildung, Kleinkindbetreuung, Qualitätsentwicklung der Schulen, Gemeinschaftsschule, OGS, Familienzentren etc. Leider wird in der Diskussion mit der Politik oft der Eindruck erweckt, die Öffentliche Hand subventioniere die kirchlichen Träger von Bildungseinrichtungen mit ihren Zuschüssen. Dadurch wird das Subsidiaritätsprinzip auf den Kopf gestellt. Unsere Rechtsordnung sieht den Vorrang freier Träger gegenüber dem Staat vor. Vielfalt und hohe Qualität werden damit sichergestellt. Finanziell bleibt aber der Staat in der Pflicht, indem er angemessene Kostenerstattung bereitstellen muss. Mit ihren Eigenmitteln für Kitas, Jugendarbeit, Erwachsenenbildung u.s.w. „subventioniert“ die Kirche faktisch aus Kirchensteuermitteln öffentliche Aufgaben. Familien stärken - das war ein lobenswertes Ziel der Landesregierung Rüttgers. In der Praxis ist diese Absicht nur eingeschränkt umgesetzt worden. Mit dem neuen Kinderbildungsgesetz stehen die Träger vor erheblichen Planungsrisiken. Im Gesetzgebungsverfahren ist unnötig Vertrauen verspielt worden. Ob 28 Gedanken – Anregungen – Hinweise Klaus Eberl Ohne Grenzen wäre alles endlos Unsicherheit: Wo ist der Ostteil? Aber hier muss doch Westen sein! Die Gruppe macht einen Gang durch Berlin. Nicht irgendein Weg. Es geht da entlang, wo vor 1989 die Mauer stand und die Stadt trennte. – von anderen gezogen „Fremdbestimmte Grenzen eiten, zum Verletzen. chr – reizen immer zum Übers gen der Idealfall -, wenn Am besten ist es – sozusa stbewusst und verantder erwachsene Mensch selb eigenen Grenzen setzen wortungsvoll sich seine it seines kurzen Lebens kann, bevor die Endlichke lns wieder entreißt.“ ihm das Gesetz des Hande wegs ist, orientiert sich auf dem Weg zur Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße an einem Teil des Mauerweges. Eine zum Tagungsthema passende Übung. Die Frage von Gästen in Berlin, wo denn nun früher Osten und wo Wes ten war, ist in Berlin Mitte nicht immer leicht zu beantworten. Die alte Grenze ist nur noch zu entdecken, wenn man genau hinsieht. „Schaut auf die Ampeln“, sagt jemand, „wenn ihr auf den Fußgängerampeln die Ampelmännchen seht, seid ihr im alten Ostteil!“ Widerspruch: „Das gilt heute nicht mehr. Ampelmännchen gibt es auch im Westen!“ Die Gruppe, die hier im wahren Wortsinn als Grenzgänger unter- Die Berliner Bibelwoche für Lehrerinnen und Lehrer ging nicht nur den Mauerweg entlang sondern auch der Frage nach, was es mit den Grenzen oder der Grenzenlosigkeit in unserem Leben und in unserer Gesellschaft auf sich hat. Ohne Grenzen wäre alles endlos – Endlosigkeit, Grenzenlosigkeit – ein Gedanke, der gleichzeitig faszinieren und ängstigen kann. Je nach Einstellung und persönlicher Disposition verbinden sich damit Phantasien, wie schön es sein würde ohne gesellschaftliche Konventionen leben zu können oder Albträume, alles machen zu können, ohne dass äußere Regeln uns Grenzen setzen. Oder vielleicht noch schlimmer: der Grenzenlosigkeit der Anderen ausgesetzt zu sein. s für eine Bereicherung „Was für eine Wohltat, wa vorher mir unbekannt, ist me ist es, mit Menschen, Dankeslieder singen aus vollem Herzen Lob- und h der Besuch der Gezu können. Oder da ist auc aße. Zutiefst war ich Str denkstätte an der Bernauer Menschen, was vers wa t, wieder einmal erschütter utun imstande sind.“ irrte Gedanken anderen anz Nachrichten aus der gee 29 liner Bibelwoche mit dem „Heute Abend geht die Ber alles endlos – NotwendigThema „Ohne Grenzen wäre nzziehungen“ zu Ende. Ich keit und Gefahren von Gre in Bezug auf dieses Thema. war zuerst etwas skeptisch ein wichtiges und umfangEs zeigte sich aber, dass es für die Schule ist. Mich inreiches Thema, auch gerade giösen Impulse und gerade teressierten besonders die reli nd und bedenkenswert.“ ege die waren für mich sehr anr Die theologischen Impulse orientierten sich an drei Personen: Luther und seiner reformatorischen Botschaft „Allein aus Glauben“, Jesus, von dem Pilatus sagte „Seht, welch ein Mensch“ und Paulus, der im 1. Korintherbrief der Gemeinde schreibt „Alles ist erlaubt“. Bei Paulus folgt, wie in den Gesprächen der Bibelwoche auch, ein Aber, mit dem er auch auf die Gefahren der Grenzenlosigkeit hinweist. Für Pädagoginnen und Pädagogen ganz klar: „Kinder Brauchen Grenzen“ und „Es kann nicht alles richtig sein“, auch wenn „Menschen, die in kein Raster passen“ oft die interessanteren Menschen sind. So die Schwerpunkte der pädagogischen Impulse. Wird der thematische Bogen weiter gezogen und werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit bedacht, denen der Rahmen häufig fehlt, ergibt sich eine fast grenzenlose Themenvielfalt, an der die Fragen entfaltet werden können. 30 Nachrichten aus der gee So war es hilfreich, sich darüber Gedanken zu machen, welche Grenzen auch der Rechtsstaat setzen muss, damit sich nicht eine „Liberalität bis zur Unkenntlichkeit“ ergibt. Am Beispiel des Kopftuchverbotes für muslimische Lehrerinnen wurde diese Frage lebendig und durchaus auch kontrovers diskutiert. iedenen Veranstaltungen und „Mir ist als Ergebnis der versch wie wichtig es ist, die BerechtiÜbungen deutlich geworden, n echtigung von Grenzsetzunge gung und den Grad der Ber ht leic viel und hr me t l nich zu erkennen. Es geht heute woh t gegangen - Grenzen als nich ten Zei en her frü in h ist es auc bedingtheitsanspruch anzuabsolute Einteilungen mit Un tsituationen, die innere Situasehen. Vielmehr sind die Zei sichtigen, denen die Grenzen tion der Menschen zu berück erlegen wollten.“ Strukturen ihres Verhaltens auf Eine besondere Form der Grenzenlosigkeit ermöglichen uns die neuen Medien: Mit dem Internet einer nicht mehr zu überschaubaren Informationsflut ausgesetzt sein oder durch das Handy zu jeder Zeit erreichbar sein und andere Menschen erreichen können. Die Entfaltung dieser Frage durch den Germanisten, Psychologen und Religionswissenschaftler Johannes Dirschauer begeisterte in seiner inhaltlich dichten und sprachlich virtuosen Art die ganze Gruppe. In „Abschiedsgedanken“ an Freunde haben die Teilnehmenden ihr Resümee der Tagung formuliert. Aus der Feder unserer Mitglieder Baldermann, Ingo, Die Bibel – Buch meiner Sehnsucht, Wegbegleitung in dunklen und hellen Tagen, München 2007 Besser-Scholz, Birgit, Burnout – Gefahr im Lehrerberuf?, Göttingen 2007 Goebel, Klaus, Nur einmal war er sprachlos. Erinnerungen an Johannes Rau. Neukirchen-Vluyn (Neukirchener Verlagshaus) 2007, 97 S. mit 22 Abb. Goebel, Klaus, Der junge Wilhelm Dörpfeld. In: Romerike Berge. Zeitschrift für das Bergische Land, 57. Jg. 2007, Heft 3, S. 2 – 12 Rüdiger Gollnick, Der Gender-Aspekt im Mobbingprozess. Zwei schulische Mobbing-Fälle vor dem Hintergrund Schule im Gender Mainstream. Schriften des Essener Kollegs für Geschlechterforschung hrsg. von D. Janshen. Universität DuisburgEssen 2006. Als kostenloses Download: www.uni-duisburg-essen.de/ekfg/ forschung/ekfg_06314.shtml Rüdiger Gollnick, Die schulische Mobbing-Fall Eva vor dem Hintergrund des Falles Sophie Amor. In: Pädagogik UNTERRICHT. (27. Jg.) 1/2007. S. 30-37. Rüdiger Gollnick, Fallbeispiel: türkischmuslimische Männer. In: Pädagogik UNTERRICHT. (27. Jg.) 1/2007. S. 49-53. Rüdiger Gollnick, Geschlechter-Aspekte in konkreter schulpädagogischer Bedeutung. In: PÄD Forum: unterrichten und erziehen. (35./26. Jg.) 3, 2007. S. 172-179. Steinwede, Dietrich (Hg), Advent und Weihnachten, Die schönsten Geschichten für Kinder, Düsseldorf 2007 Steinwede, Dietrich, Engel der Bibel, Bilder und Betrachtungen, Düsseldorf 2007 Rüdiger Gollnick, Schulische MobbingFälle. Analysen und Strategien. Unter Mitarbeit von Tina Böcker, Karl-Heinz Dehn, Sabrina Schroeder. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage Berlin 2006. [Schulpädagogische Interventionen Bd. 2] Rüdiger Gollnick, Berufsnotstand: Lehrer - Lehrerin. Analyse von alltäglichen Fall beispielen psycho-physischer Verletzungen und System-Belastungen. Unter Mitarbeit von Tina Böcker, Karl-Heinz Dehn, Sabrina Schroeder und Katja Schwarz. Berlin 2007. [Schulpädagogische Interventionen Bd. 3] Nachrichten aus der gee 31 Anschriften der Mitarbeiter/innen Prof. Dr. Clemens Albrecht Fr.-Danneman-Straße 35, 72070 Tübingen [email protected] Ltd. Dozentin Pfrin Dr. Ulrike Baumann Mandelbaumweg 2, 53177 Bonn [email protected] OKR Klaus Eberl Ev. Kirche im Rheinland Hans-Böckler-Straße 7, 40476 Düsseldorf Akademiedirektor Bernd Giese Schillerstraße 20, 47506 Neukirchen-Vluyn [email protected] Konrektor i.R. Gunnar Gödecke Königstraße 78, 47198 Duisburg Prof. Dr. Helmut Heiland Insterburger Straße 4, 41516 Grevenbroich [email protected] Akademiedirektor i.R. Horst L. Herget Am Tannenbusch 14, 46562 Voerde [email protected] Volker Linhard Am Kindergarten 4, 91238 Offenhausen [email protected] Akad.Dir.i.R. Klaus Dieter Müller Heinrich-Heine Straße 51, 30173 Hannover 32 Nachrichten aus der gee Vorankündigung 2008 12. bis 16. Februar 2008, Berlin (Berliner Bibelwoche) „Was hülfe es dem Menschen ...“ Zur theologischen Rede von der Seele Mit Horst L. Herget, Voerde, Wolfgang Haugk, Dresden 25. bis 28. März 2008, Berlin (Katechetische Studientagung) Schule und Kirche – Begegnung zweier Welten Gelingt die Zusammenarbeit mit der Ganztagsschule? Mit Klaus Kehlbreier, Soest, Gotthilf Danicke, Hohen-Neuendorf 25. bis 29. März 2008, Bonn Kooperative Gesprächsführung im Schulalltag Mit Heike Wegener, Pastorin, Bremen, Dr. Ulrike Baumann, Ltd. Dozentin, Pfarrerin, Bonn Berlin-Tagung Jüdisches Leben in Berlin Begegnungen und Besichtigungen 30. Juli bis 3. August 2008 Mit: Dr. Hermann Simon, Direktor des Centrum Judaicum, Berlin, Vertreter/innen der jüdischen Gemeinden und Einrichtungen, Berlin, Bernd Giese, Akademiedirektor GEE, Duisburg, Gerda E.H. Koch, General sekretärin Nes Ammim, Düsseldorf Liebe Mitglieder der GEE, liebe Freunde und Förderer, sehr geehrte Damen und Herren, es ist gute Tradition, zum Ende eines Jahres das Vergangene zu resümieren, denen, die einen auf dem Weg begleitet haben zu danken und einen Blick darauf zu werfen, was für die Zukunft geplant wird. Die GEE hat in den letzten Jahren turbulente Zeiten erlebt. Nicht immer hat sich das allen Mitgliedern gezeigt, auch wenn wir in ERZIEHEN HEUTE über den Veränderungsprozess immer wieder berichtet haben. Den Vorstand und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Geschäftsstelle haben die vielfältigen durch Veränderung der Rahmenbedingungen hervorgerufenen Herausforderungen doch sehr beschäftigt. Nach ausführlichen, sehr grundsätzlich geführten Überlegungen auch mit der Landeskirche im Rheinland, haben wir mit einem veränderten Konzept Anfang diesen Jahres auf die Herausforderungen reagiert. Seit dem hat sich das Angebot zur Lehrerfortbildung in der Pädagogischen Akademie der GEE verändert. Neben angebotenen Fortbildungen in Tagungsstätten zu denen sich einzelne Lehrerinnen und Lehrer anmelden, bieten wir zunehmend solche Fortbildungen an, die in der Schule stattfinden und sich an das Kollegium wenden. Auch unsere Veröffentlichungen und Programme haben ein anderes Gesicht bekommen. Insgesamt waren die Rückmeldungen darauf positiv, einzelne kritische Anmerkungen werden wir bedenken. Die Zeitschrift ERZIEHEN HEUTE wird ab der nächsten Ausgabe auch dem neuen Bild angepasst werden. Einige haben bedauert, dass die Möglichkeiten für Mitglieder der GEE, die nicht mehr im Dienst sind, an Tagungen teilzunehmen reduziert wurde. Das ist so, hat aber überhaupt nichts mit mangelnder Wertschätzung oder Undankbarkeit gegenüber langjährigen Mitgliedern zu tun. Vielmehr erhalten wir die Mittel vom Land NRW und der Kirche, um Lehrerfortbildungen anzubieten, die für den Beruf weiter qualifizieren. Darüber hinaus enthält unser Angebot eine Reihe von Veranstaltungen, die offen für alle sind. Viele Mitglieder schreiben uns, dass ihnen die Fortbildungen in ihrer aktiven beruflichen Phase persönlich und fachlich wichtige Impulse gegeben haben. Für viele ist das Grund genug, die GEE auch in ihrem Ruhestand weiter zu unterstützen. Dafür danken wir besonders. So danken wir allen, die der GEE die Treue halten, uns solidarisch und kritisch unterstützen. Den Mitgliedern der GEE und den Leserinnen und Lesern von ERZIEHEN HEUTE wünschen wir gesegnete Weihnachtstage und ein behütetes neues Jahr. Friedhelm Polaschegg Bernd Giese Vorsitzender Geschäftsführer Nachrichten aus der gee