Massage gegen Französischunterricht

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Massage gegen Französischunterricht
Tauschringe
Massage gegen
­Französischunterricht
«Zeit ist Geld», sagt der Volksmund. «Zeit statt Geld», kontern die
Tauschringe. Seit 20 Jahren werden in der Schweiz Dienstleistungen
getauscht. Auch Bundespräsident Pascal Couchepin ist darauf auf­
merksam geworden.
Text Georg Trombelli Fotos Simone Gloor
Obwohl es Tauschringe mittlerweile in jeder
grösseren Stadt der Schweiz gibt, umgibt sie
meist noch eine geheimnisvolle Aura. Die
einen heben sie in den Himmel als Allheil­
mittel für wirtschaftliche und soziale Pro­
bleme, andere sehen sie im Bereich der
Schattenwirtschaft. Dabei haben alle Tausch­
systeme oder Tauschringe eines gemeinsam:
Sie bieten den Austausch von Leistungen an,
Geld fliesst dabei keines. Wer ein Velo repa­
rieren kann, aber keinen Kuchen backen,
kann seine Spezialfähigkeiten anbieten und
dafür Leistungen anderer eintauschen.
­Dabei entstehen vielfältige neue Kontakte.
Es ist gewaltig, was gegenwärtig an Tausch­
börsen in der Schweiz entsteht. Im Internet
findet man bereits 27 Schweizer Tauschbör­
sen. Alleine in den letzten drei Jahren sind
sieben neue hinzugekommen. Warum? Fra­
gen wir jene, die dort mitmachen. Etwa bei
«Tauschen am Fluss» in Zürich.
«Das Angebot wird immer interessanter.
Es werden ganz tolle Sachen angeboten. Es
ist schon lange über Lismen und Kuchenba­
cken hinausgewachsen», sagt Maggi Albiez,
während sie entspannt auf einer Massage­
Was ist ein Tauschring?
Ein Tauschring unterstützt den geldlosen
Austausch von Fähigkeiten und will dabei
nicht in Konkurrenz zum regulären Arbeits­
markt stehen. Es handelt sich um ein
­bargeldloses, lokal begrenztes Austausch­
system. Dabei können die Teilnehmer ihre
Fähigkeiten anbieten, erbrachte Leistungen
auf einem Zeitkonto gutschreiben lassen
und dafür Leistungen anderer für sich
selbst in Anspruch nehmen. Das System
bietet eine Alternative zum betont leis­
tungs- und geldorientierten Arbeiten und
die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und
sich mit seinen Fähigkeiten in die Gemein­
schaft einzubringen, ohne dass dafür Geld
fliesst.
liege liegt und eine Bindegewebemassage
geniesst. Die Massagezeit wird ihr von ihrem
Zeitguthaben abgezogen, dafür wird sie
einem anderen Tauschringmitglied bei Ge­
legenheit eine ihrer eigenen Fähigkeiten zur
Verfügung stellen. Die Zeit dafür geht wie­
derum von dessen Konto ab. Ein dauerhaftes
Geben und Nehmen. Ihre Masseuse Yvonne
Moser holt sich als Ausgleich für die Massage
von anderen Tauschringmitgliedern Hilfe
für ihren Computer.
Einige Ringe tauschen eins zu
eins, andere leistungsgerecht
«Es geht hier auch um Begegnung, Kennen­
lernen und Austausch», erklärt Ivana Miah.
Sie leistet sich diesmal dank Tauschring
­einen Sehtest und ein Bewerbungscoaching.
Dafür bietet sie in der Marktzeitung, der
hauseigenen Zeitung des Treffs, Französisch
und Deutsch, Texte schreiben und Kinder
hüten an. «Ich könnte mir schon vorstellen,
auch andere Sachen anzubieten, Dienstleis­
tungen zu erbringen und zu erhalten, die
man sonst mit Geld nicht bekommt», er­
gänzt sie.
Ihre Tauschkollegin Ursula Marx, die
­Ivana Miah soeben das Bewerbungscoaching
erteilt hat, lässt sich gerne auf Neues ein:
«Ich finde, dass es eine spannende Form von
Handel ist. Eine innovative Form des Auspro­
bierens, was ohne Geld noch möglich ist. Es
ist auch spannend, mit Leuten in Kontakt zu
kommen, mit denen ich sonst im Leben nie
zu tun hätte.» Und Tauschringmitglied
­Dominik Graf, bei dem Ivana Miah ihren
Sehtest absolviert, lernt dank des so erarbei­
teten Zeitguthabens Sprachen: «Im Moment
brauche ich Französisch. Ich habe nicht so
viel Geld, um 40 bis 60 Stunden Privatunter­
richt zu nehmen.»
Schon seit zwei Jahrzehnten wird in der
Schweiz getauscht. Ein Tauschtreff oder
Tauschring, das ist ein komplementäres, lo­
kal begrenztes und bargeldloses Austausch­
system. Es bietet Gemeinschaft und Unter­
stützung. Einiges hat sich bewährt, anderes
nicht.
Heute unterscheidet man Tauschplatt­
formen, auf denen Waren und Dienstleis­
tungen getauscht werden, von reinen Zeit­
tauschtreffs. In beiden Fällen fliesst beim
Tauschen kein Geld, obwohl dort auch ge­
handelt wird.
Ein Tauschtreff läuft bei den meisten Or­
ganisationen nach einem ähnlichen Muster
ab. Meist geht der erste Schritt über die
Homepage oder die Marktzeitung des Treffs.
Vielleicht kennt man auch jemanden, der
einen zu einem Tauschtreff einlädt. Gleich
loslegen mit Tauschen geht nicht. Erst nach
der Anmeldung und einem ersten Kennen­
lernen in der Runde erhalten Tauschinte­
ressierte Zugang zu den persönlichen Daten
der Tauschpartner, deren Namen, Angebote
und Nachfragen bis dahin nur chiffriert er­
sichtlich sind. Getauscht wird nur «Zeit».
Eine Stunde geben ist gleich eine Stunde
nehmen. In manchen Tauschbörsen kommt
eine interne Verrechnungswährung zum
Einsatz. Das sind nicht Schweizer Franken,
sondern die hauseigene Währung des
Tauschtreffs. Der Lets Zürich führt zum
­Beispiel eine solche Währung. Ein Lets, das
ist die Abkürzung für «local exchange ­trading
system», ist ein zu einem bestehenden Wirt­
schafts- und Währungssystem komplemen­
täres Verrechnungssystem. Ein Lets ent­
spricht hier 15 Minuten.
Manche Zeittauschtreffs, wie zum Bei­
spiel die «Zeitbörse St. Gallen», verrechnen
eine Stunde mit einer Stunde, ohne auf die
Leistung zu schauen. Hier kann es sein, dass
eine Stunde Rechtsberatung mit einer Stun­
de Putzen verrechnet wird. Andere Tausch­
börsen verrechnen leistungsgerecht. So kos­
tet im Luzerner Tauschnetz eine Stunde
Rechtsanwalt 240 Verrechnungseinheiten,
eine Stunde Putzen lediglich 24. Die Tausch­
partner schreiben jeweils ihre Tauschak­
tionen auf. Die kleinste Verrechnungsein­
4_2008 der arbeitsmarkt
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Ivana Miah beim
Sehtest bei Dominik
Graf. Dieser möchte
das damit gewon­
nene Zeitguthaben
in Französischlek­
tionen investieren.
heit ist 15 Minuten. Der Tauschgeber erhält
Plusstunden, der Tauschempfänger Minus­
stunden. In den meisten Tauschtreffs darf
ein bestimmtes Limit nach oben oder unten
nicht überschritten beziehungsweise unter­
schritten werden, damit ein regelmässiger
Austausch entsteht.
Belohnungssystem für
freiwillig Arbeitende
Maggie Albiez lässt
sich von Yvonne
­Moser massieren.
Ivana Miah belastet
ihr Zeitkonto mit
einem Bewerbungs­
coaching durch
­Ursula Marx.
Was macht Tauschbörsen denn so attraktiv?
Ein Blick auf die Entstehung der Tausch­
treffs kann weiterhelfen. So ist das «Gib und
Nimm» in Zürich ein Produkt der Gemein­
wesenarbeit. In diesem Zirkel entwickeln
Mitarbeiter zukünftige Themen. Sie nahmen
sich das Thema Ressourcen von Klientinnen
und Klienten vor. Man ging davon aus, dass
Leute, die Sozialhilfegelder erhalten, viele
Fähigkeiten haben, diese aber nicht in den
regulären Arbeitsmarkt einbringen können.
So entstand vor einem Jahr im Haus Solino
der Tauschtreff «Gib und Nimm».
«Wir wollen mit ihm einen Raum schaf­
fen, den Leuten ein Gefäss geben mit mög­
lichst wenig Regeln, so dass Fähigkeiten un­
tereinander ­ausgetauscht werden, die auch
zu einer Gemeinschaftsbildung beitragen
können», erläutert Ursula Rütimann, Ge­
meinwesenarbeiterin im Zürcher Soziazent­
rum Selnau.
Aus einem anderen Anlass ist seit Jahres­
beginn die «Zeitbörse St. Gallen» im Entste­
hen. «Den Anstoss gab uns Elisabeth Cavegn,
die sich seit vielen Jahren durch Benevol
in der Freiwilligenarbeit engagiert», sagt
­Peter Künzle, Geschäftsführer des Benevol
4_2008 der arbeitsmarkt
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Foto: Micha Hemmi
Ursula Rütimann,
Gemeinwesen­
arbeiterin beim
Sozial­departement
Zürich, und Peter
Künzle von Benevol
St. Gallen.
St. Gallen und Projektverantwortlicher der
Zeitbörse St. Gallen. «Dabei ist ihr immer
wieder aufgefallen, dass freiwillig Arbeiten­
de mit der Zeit an Motivation verlieren und
gerne auch selber ab und zu Leistungen
­entgegen nehmen möchten. Im Mai 2007
wurde sie durch die Zeitbörse Chur auf
Tauschsys­teme aufmerksam. Ihr war sofort
klar: Eine Zeitbörse fehlt in St. Gallen.»
In Tauschringen herrscht
­knallharte Marktwirtschaft
Auch Bundespräsident und Sozialminis­ter
Pascal Couchepin wurde auf die Tausch­
börsenentwicklung aufmerksam. In seiner
Petersrede im August 2007 schlug er vor,
Pflegeleistungen nach dem Muster von
­Zeittauschbörsen mitzufinanzieren. Er gab
auch eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. In
ihr sollen die Zeitressourcen von Pensio­
nären aufgezeichnet werden. Der Auftrag
liegt heute beim Bundesamt für Sozialver­
sicherung (BSV).
Ein Schlaraffenland ist ein Tauschtreff
nicht. Man kann nicht nur nehmen, sondern
muss auch geben. Und dies ist manchmal
nicht so einfach. Man muss herausfinden,
welche Leistungen überhaupt gefragt sind.
Gernot Jochum-Müller, einer der Pioniere
der Tauschringbewegung, der beim Talente
Tauschring Vorarlberg aktiv ist, weist immer
wieder darauf hin, dass im Tauschring knall­
harte Marktwirtschaft herrsche. Wenn die
Leistung nicht stimme oder wenn zu viele
Angebote desselben da seien, bleibe die
Nachfrage aus. Am Ende laufe daher vieles
wie im regulären Arbeitsmarkt, aber grund­
sätzlich bewege es sich auf einer anderen
Ebene.
Tauschbörsen in der Schweiz
Organisation
Gründungsjahr Ort
Anzahl Mitglieder
Verein Talent Schweiz
1993
Aarau
Tauschnetz Länggasse
1995
Bern
250
Vazyt Verein alternativer Zeittausch
1996
Winterthur
102
Troc-Activ
1997
Sitten
139
Luzerner Tauschtreff
1998
Luzern
330
Tauschkreis Wädenswil
1998
Wädenswil
Verein Zeittausch Solotothurn
1999
Solothurn
Zytbörse
1999
Thun
270
Lets Zürich
2000
Zürich
80
Talentbörse Bern
2000
Bern
80
Tauschnetz Uri
2003
Uri
62
Ämtler Tauschnetz
2005
Hedingen
65
Ziitbörsa 2006
Chur und Umgebung
65
Tauschtreff Zürich
2006
Zürich
Tauschkreis Sarnen
2006
Sarnen
55
Tauschen am Fluss
2006
Zürich
110
keine Angabe
70
30
keine Angabe
Tauschnetz Soorci
2007
Sursee
52
Zeitbörse Benevol St. Gallen 2008
St. Gallen
90
Damit haben Steuerfahnder und Kontrollor­
gane gegen Schwarzarbeit schlech­te Karten.
Die Gefahr für Schwarz­arbeit sieht Ursula
Rütimann, Sozialarbeiterin bei der Stadt
­Zürich, nicht. Sie engagiert sich derzeit auch
am Aufbau des Tauschtreffs «Gib und Nimm»:
«Was wir ­machen, passiert an einem kleinen
Ort. Es ist eine Möglichkeit zum Austauschen
und Freundschaftenschliessen. Wir haben
keine Grösse, die den normalen Arbeits­
markt konkurrenzieren könnte.» Hier hat
sie wohl Recht. Gesamtschweizerisch liessen
sich bis dato etwas über zweitausend Tausch­
mit­glieder registrieren.
Auch Peter Künzle von der «Zeitbörse
St. Gallen» nimmt das Problem der Schwarz­
arbeit ernst und grenzt sich ab: «Unser Kern­
geschäft ist Freiwilligenarbeit. Das Ziel der
Zeitbörse St. Gallen ist, dass Menschen ein­
ander helfen und unterstützen.» Zwar sei es
möglich, zwanzig Stunden auf einmal anzu­
bieten und einem anderen Tauschmitglied
die Wohnung zu tapezieren, aber «es wäre
erst dann ein Problem, wenn einer sagt, er
sei Tapezierer, und von Haus zu Haus ginge».
Eine Barriere gegen Missbrauch sieht Künzle
in der folgenden Regelung: «Hat jemand
zwanzig Stunden geleistet, dann muss er sie
auch wieder ausgleichen, das heisst, er muss
sie wieder loswerden. Leute müssen die Leis­
tungen anderer in Anspruch nehmen. Das
braucht auch Zeit.»
❚
Bernard A. Lietaer
Das Geld der Zukunft
Riemann, München, 2002
480 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-570-50035-4
Eva-Maria Hubert
Tauschringe und Marktwirtschaft
Duncker & Humboldt, Berlin, 2004
252 Seiten, Euro 64,80, ISBN 978-3-428-11501-3
Liste sämtlicher Tauschtreffs in der Schweiz:
www.tauschnetz.ch/orgliste.htm
Schweizer Regionalgruppen des Tauschrings TALENT:
www.talent.ch/regionalgruppen.html
Zeitbörse Benevol St. Gallen: www.zeitboerse.ch
Tauschtreff in Zürich: www.tauschenamfluss.ch
Linksammlung zu Geldtheorien und Tauschbörsen aus
der ganzen Welt:
www.talent.ch/links_tauschring_schweiz_suchen.html
4_2008 der arbeitsmarkt
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