Eichhörnchen im Herbst
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Eichhörnchen im Herbst
1 Literatura Brasileira de Expressão Alemã www.martiusstaden.org.br PROJETO DE PESQUISA COLETIVA Coordenação geral: Celeste Ribeiro de Sousa JUANITA SCHMALENBERG BEZNER 1908-1988 (Celeste Ribeiro de Sousa) 2014 Eichhörnchen im Herbst Érico Veríssimo I Als der silberfarbene Omnibus voll von Touristen, an einer Ecke der Strasse F, im Geschäftszentrum von Washington D.C. anhielt, hob der Führer das Megaphon an den Mund und gab Auskunft: „Zu unserer Rechten sehen wir jetzt das Monumental Building, eines der schönsten und modernsten Gebäude, das die Hauptstadt des Landes aufzuweisen hat. Es besteht in seiner Ganzheit aus Stahl, Glas und Aluminium. Seine Korridore sind aus grünem Marmor. Beachten Sie bitte das grosse Portal – seine Kosten beliefen sich auf ungefähr dreissigtausend Dollars.“ Ein Ah! des Staunens entrang sich den Touristen ob der genannten Summe. „In diesem grossartigen Bau sind die Monumental-Versicherungs-Gesellschaft Geschäftsräume der untergebracht, eine der bedeutendsten dieses Landes!“ Das rote Licht an der Verkehrsampel erlosch – es wechselte auf grün. Der Omnibus fuhr weiter und der Führer lieferte noch einige 2 weitere Angaben über die Gebäulichkeit: die Anzahl der Fenster, Säle, Aufzüge, Toiletten usw. Aber wahrscheinlich unterliess er es, das Wichtigste zu erzählen, das sich in jenem Augenblick in dem Monumental Building zutrug. In einem Saal des 7. Stockwerks litt ein Mensch. II Es handelte sich um das Schreibzimmer von einem der Direktoren: mit Holz verkleidete Wände, auf dem Boden ein moosgrüner Teppich, Lederpolster, sandfarbene Gardinen; an den Wänden ein Original-Gemälde von Dufy und ein weiteres von Braque; in der Nähe des Fensters, auf einem kleinen, runden Tischchen stand eine Thermoflasche aus Chrom-Metall. An seinem Arbeitstisch sitzend, rang Geral K. Ames mit einer Zwangsvorstellung. Lizzy betrügt mich. Lizzy betrügt mich. Jetzt, in diesem Augenblick. Im Vorführungsraum irgendeines Kinos. Im Hintergrund einer Bar. Lizzy betrügt mich. Warum nicht gar in einem Hotelzimmer? Vielleicht sogar in irgendeiner Spelunke von Baltimore. Oder in einem Motel von Virginia. Lizzy betrügt mich. Gepeinigt schaute er um sich und für ein paar Sekunden war ihm, als sei er sich selbst abhanden gekommen, als wisse er nicht mehr, wo er sich befände. In panischem Schrecken sprang er auf und bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, auf der Suche nach irgendwelchen Anhaltspunkten... Dann fing er an, automatisch im Saal auf und ab zu gehen, wie auf der Suche nach einem Ausgang, keuchenden Atems, die Augen fast aus den Höhlen tretend. Die Dinge schienen sich um ihn zu drehen, die Gegestände, die Möbel verloren ihre Form und ihre gewöhnliche Farbe, dehnten sich, weiteten sich, verschmolzen eines ins andere, quolen auf wie Ballons, als wollten sie explodieren, in Atome zerfallen. Er griff nach dem Halt eines Sessels und lehnte sich an ihn. Die Augen kniff er fest zu und drückte die 3 Fingerspitzen hinein, als wolle er die verrückten Bilder in ihnen auslöschen. Aber gegen den dunklen Hintergrund der Lider brodelte weiter das unerbittliche Kaleidoskop – Kreise, Striche, Schlangenlinien, galliges Grün, Feuergelb, Purpurrot, Eletrisch-Blau, alles wie in einem Wirbel inmitten von jähen Blitzen. Ich heisse Gerald K. Ames. K. ist der Anfangsbuchstabe von Kirkland. Ich befinde mich in meinem Schreibzimmer der Monumental-Versicherungs-Gesellschaft. Meine Frau heisst Lizzy. Meine Sekretärin heisst Patsy. Heute ist Freitag. Ich fühle mich vollkommen wohl. Ich erinnere mich an alles. Ruhe, mein Alter, viel Ruhe. Ruhe oder bist du verloren. Er setzte sich in den Sessel und verharrte einige Zeit, den Kopf nach rückwärts gebogen, ohne die Augen zu öffnen. Sein Ohr nahm jetzt die Geräusche wahr, die aus dem Nebenraum zu ihm drangen: das Klingeln eines Telefons, das Rattern einer Schreibmaschine. Von draussen klang das dumpfe Rollen des Verkehrs herauf. Jäh überkam ihn ein schmerzvolles, stechendes Gefühl im Bewusstsein seiner Einsamkeit. Und eine unbestimmte Furcht vor etwas, das ihm selber unbekannt war. Er öffnete die Augen. Habe ich nicht behauptet, dass alles in Ordnung sei? Die Möbel stehen an ihrem Platz, wie früher, wie immer. Durch das Fenster sah er in der Ferne die Kuppel des Kapitols, die sich gegen den sanften Oktoberhimmel abhob. Er griff nach der Thermosflasche, schüttete Wasser in ein Glaus und trank es in einem Zug leer. Dann zündete er sich eine neue Zigarette an. Er wusste, dass er sich auf diese Weise masslos vergiftete. Seit Monaten schon überliess er sich einer Lebensform, die nahezu Selbstmord bedeutete. Abends nahm er Barbitur-Präparate, um schlafen zu können, morgens griff er zu Dexedrina, um die Augen offen halten zu können und die Gedanken während des Tages beieinander zu haben. Er trieb jedoch so grossen Missbrauch mit den Aufputschmitteln, dass sich ihm die Bilder der Aussenwelt oft völlig abschalteten, wenigstens für 4 Bruchteile von Sekunden, wenn sie sich nicht verzerrten oder zerplatzten. Aber zum Teufel nochmal – jene Drogen öffneten ihm die Tore zur Flucht vor sich selbst. Welche anderen Möglichkeiten blieben ihm denn? Monatelang hatte er sich einer psycho-analystischen Behandlung unterzogen, zweimal in der Woche legte er sich auf einen Diwan und redete, redete ohne Aufhören, wie eine Gevatterin, indem er alle Blödheiten von sich gab, die ihm in den Sinn kamen, während sich der Psychiater Notizen machte und sich in ein Schweigen hüllte, das ihn bedrängte und nicht selten irritierte. Schliesslich hatter er als Patient die Behandlung auf die stupideste Weise unterbrochen. Gerald blickte jetzt stur auf das eigene Bild, das von dem Metall der Flasche verzerrt zurückgeworfen wurde. Und er, der unter der Groteske seiner bürgerlichen Situation so litt, fühlte sich momentan verletzt durch die Karikatur seiner Gesichtszüge. Aber es wäre doch die Höhe, wenn er sich durch das falsche Bild, das ein konvexer Spiegel hervorruft, beeindrucken liess. Er wusste doch genau, was für eine gute Erscheinung er war! Es waren ihrer nicht viele, die sich mit 56 Jahren noch eines so jugendlichen Aussehens rühmen konnten, wie er. Noch vor Kurzem war sein Name auf der Geschäftsseite eines Magazins, der Time, in einem Artikel über den Stand des Versicherungswesens in Amerika genannt worden. „Gerald K. Ames, (56), ein ansprechender, jugendlicher Versicherungs-Beamter.“ Die Time war unparteiisch und nüchtern, die nannte alles beim richtigen Namen. Ansprechend, jugendlich! Dummheit! Dummheit! Dummheit! Nichts von Allem konnte die absurde harte Situation verbergen oder lindern. Lizzy konnte ihrem Alter nach seine Tochter sein. Seine Heirat mit ihr war eine Unsinnigkeit gewesen. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich augenblicklich eine neue an, die er nervös zu rauchen anfing. Allmählich ergriff ihn ein laues Verlangen, die Frau an seiner Seite zu haben, es überschwemmte und erweichte ihn endlich so, dass ihm die 5 Tränen kamen, sie lösten sich und rannen ihm über die sorgfältig rasierten Wangen. Vielleicht täte er gut daran, einen anderen Psychiater aufzusuchen. Aber dann musste es jemand sein, der nicht so sehr seinem Vater gliche, wie dieser Dr. James King. Mit einem schwachen Empfinden von Lächerlichkeit dachte er an dem Tag zurück, an dem er zum Arzt ging, kurz vor der Ausführung seines grossen Entschlusses. III - Dr. King, ich muss Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen! - Legen Sie sich hin. - Ich bleibe lieber stehen. Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit. Der Psychiater lächelte. Es war das überlegene Lächeln des alten Ames; so lächelt Einer, der alles weiss, alles kann und alles erreicht. - Aber waren denn nicht alle unsere Unterhaltungen, seit wir mit der Behandlung begannen, immer persönlicher Art? - Ich will damit sagen, dass diese Angelegenheit nichts mit der Behandlung zu tun hat. - So denken Sie. Aber warum legen Sie sich nicht hin? Ausgestreckt auf dem Diwan würde er sich schutzlos fühlen, dem Anderen ausgeliefert. Als Junge hatte er immer versucht, sich mit dem Vater aus einer gewissen Entfernung zu unterhalten, was ihn ausserhalb der Reichweite der Ohrfeigen setzte, die sein Vater gelegentlich als entscheidendes Argument anzubringen pflegte. - Kommen wir also zur Sache. - Ich trage mich mit dem Gedanken zu heiraten, Doktor. - Liebe auf den ersten Blick? 6 - So ähnlich... - Wollen Sie mich um einen Rat bitten? - Nun, es gibt da kein Problem. Das Alter des Mädchens. - 25? - Genau. Woher wissen Sie... - Diese Dinge liegen zutage. - Nun? - Nun was? - Soll ich oder soll ich nicht heiraten? - Das Ihr Problem. - Na, sind Sie nicht mein Psychiater? - Gewesen. - Warum gewesen? Ich wusste nicht, dass die Behandlung abgeschlossen war. - In Wirklichkeit haben wir damit nicht einmal begonnen und ich weigere mich, meine Zeit weiter zu verlieren an einen Patienten, der mir Gedanken und Gefühle verheimlicht. - Aber ich habe das Mädchen ja erst vor zwei Wochen kennen gelernt. Innerhalb dieser zwei Wochen hatten wir mindestens vier Sitzungen. - Damals wusste ich noch nicht genau, ob ich sie... liebte. Seit wann soll ein Patient nur von den Dingen sprechen, über die er genau Bescheid weiss? Haben Sie mich nicht gerade darum aufgesucht, weil Sie kein Vertrauen mehr zu sich selber hatten und sich von Zweifeln, Minderwertigkeitsgefühlen und Argwohn eingeengt fanden? Gerald spürte Lust, den Arzt körperlich anzugreifen. - Um Gottes willen, sagen Sie mir, ob ich, wenn ich das Mädchen heiratete, einen Fehler begehe oder nicht. Der Psychiater steckte die Hände in die Taschen und sah stumm herunter auf den Teppich. 7 Gerald betrachte ihn voller Wut. Dieses überlange Subjekt mit seinem spärlichen Haarwuchs und rosigen Gesicht war nichts weiter als eine städtische Übertragung vom alten Ames, dem Weichenwärter von Baltimore & Ohio. - Los, Doktor, nehmen Sie mir die Zweifel! - Ohne das Mädchen zu sehen, kann ich Ihnen nichts sagen. - Ist das unbedingt notwendig? - Ich fürchte, ja. Das Beste wäre es sogar, sie einer Analyse zu unterziehen. In Gerald meldete sich die Eifersucht. Lizzy hier auf dem Diwan von Dr. King? Niemals. Er wusste, dass sich die Patientinnen fast immer in ihren Psychiater verliebten und zum Schluss von ihm hingerissen waren. - Aber es wäre doch von tödlicher Lächerlichkeit, wenn ich das Mädchen bäte, hierher zu kommen, damit mir mein Arzt raten kann, ob ich sie heiraten soll oder nicht. Das ist doch... Dr. Kling unterbrach ihn mit einer schroffen, befehlenden Geste. - Wenn Sie sie nicht herbringen wollen, lassen Sie es bleiben. Es ist ja augenfällig, dass Sie garnicht hierher gekommen sind, um meinen Rat zu erbitten, sondern Sie sind hier, um mir eine Einwilligung zu entreissen oder besser gesagt, um meine Kumplizität zu erlangen. - Aber warum ist es Ihnen denn so wichtig, das Mädchen persönlich kennen zu lernen? - Weil ich prüfen will, ob sie nur ein ehrgeiziges Luder ist, die in Ihnen einen reichen Ehemann, von gehobener sozialer Stellung sucht. Unter solchen Umständen wäre die Heirat ein Unglück, oder aber ob sie infolge eines Vater-Komplexes in dem Mann von mittleren Jahren und mit grauen Schläfen den idealen Ehemann sieht. In diesem letzteren Fall wäre eine glückliche Bindung durchaus möglich, sowohl in physischer wie in psychischer Hinsicht. 8 Gerald hätte beinahe herausgeschrien: „Dankeschön, Vater!“ aber er beherrschte sich und frug: - Dann kommt Ihnen die Sache also garnicht so unsinnig vor? Wenn sich die zweite Hypothese als richtig erweisen sollte, nein. - Haben Sie auch schon daran gedacht, dass, wenn ich 65 Jahre erreicht habe, das Geschöpfchen eben erst 34 alt sein wird? - Wenn es soweit ist, wird sie aufhören, als Geliebte mit Ihnen zu leben, um fernerhin nur noch Ihre Tochter zu sein. Gerald runzelte verdutzt die Stirne, perplex. Die Psychoanalyse war ihm immer als eine dunkle Angelegenheit erschienen, unanständig und mehr oder weniger blutschänderisch. - Gut.... murmelte er. – Wo blieben wir stehen? Der Arzt zuckte die Schultern. - Der nächste Wurf ist Ihrer. - Aber ich bin doch hier, um einen Rat von Ihnen zu erbitten! Der Andere setzte sich, zündete sich eine Zigarette an und schien in Gedanken verloren. - Sehen Sie – begann er nach einiger Zeit, - das Problem liegt mehr bei Ihnen, als bei ihr oder etwa in jener chronologischen Einzelheit. Wenn es Ihnen nicht gelingt, das Minderwertigkeitsgefühl zu besiegen, das Sie beherrscht, werden Sie allzeit ein misstrauischer und unglücklicher Mensch bleiben, der seiner selbst nie sicher ist. Und Sie werden unter der Tortur der Eifersucht stehen, selbst wenn Sie eine Matrone von 80 Jahren heiraten. Gerald fühlte, wie ihm das Blut zu Gesicht stieg. Er erinnerte sich an jenen Tag in Columbus, Ohio, an dem er, all seinen Mut zusammenraffend, dem Vater gegenübergetreten war. - Ich fahre morgen nach Chicago! Ihm fiel das Gesicht des Alten ein, das plötzlich rot geworden war wie eine Erdbeere. Unabhängigkeitstag! Der 8. Dezember 1927. Sein 9 Er sah den Psychiater an und sagte: - Also, Dr. King, nehmen Sie davon Kenntnis, dass ich entschlossen bin, das Mädchen zu heiraten, einerlei, was Ihre Meinung über mich oder sie ist. Leben Sie wohl. Er griff nach seinem Hut und ging hinaus. IV Gerald kehrte zu seinem Arbeitstisch zurück und kramte mit unsicheren Händen in den dort aufgehäuften Papieren. Er setzte seine Brille auf – was er niemals tat, wenn Frauen in der Nähe waren – und versuchte, die Policen und Briefe zu sichten, die seiner Unterschrift harrten. Zwecklos. Die Buchstaben tanzten wirr durcheinander. Er fand nicht einmal die Stelle, wo er seinen Namen hinsetzen sollte. Wo mochte Lizzy jetzt sein? Und Tommy, die Kanaille? Seine Not nahm immer zu, wenn er dieser junge Mann aus Washington anrückte. Er dachte an den Neffen mit einem Gefühl kalten Hasses. Um die Wahrheit zu sagen, er war ihm nie sympatisch gewesen. Nie. Der Halunke hatte ihm nur immer geschmeichelt in Erwartung der späteren Erbschaft. Aber er würde ihm keinen einzigen Cent hinterlassen, das war sicher. Alles würde Lizzy bekommen: die Besitztümmer, die Titel der Gesellschaft, das Geld, das auf den Banken lag. Alles für Lizzy. Aber kam es nicht letzten Endes auf das Gleiche heraus? Einmal Witwe geworden, würde Lizzy mit aller Sicherheit den Tommy heiraten. Und all sein Hab und Gut würden in die Hände dieses Spitzbuben übergehen. So ein Parasit! Dieser Playboy von Manhattan, mit einem Appartement in der Park Avenue, der häufig genug in den Spalten von Cholly Knickerbocker Erwähnung fand... „Im Copa wurde am Sonnabend Abend, Tommy Ames Saunders zusammen mit einer Platinblonden gesehen, der er Champagner mit einem silbernen Löffelchen einflösste...“ Dieser Wüstling! Aber das ging alles noch an, wenn dieser Tommy nur in 10 seinem Manhattan blieb! Nachdem der Onkel geheiratet hatte, erschien er oft, als hätte er sich in das Haus verliebt. Und welch aufreizende Kameradschaft hatte er mit Lizzy geschlossen. Tantchen hier, Tantchen dort, dazu unnötige Rechte beanspruchend und unanständige Vertraulichkeiten sich herausnehmend, alles mit einer Miene falscher Unschuld. „Wenn Onkel Jerry es erlaubt, nehme ich Lizzy heute mit in die Constitution Hall, damit sie dort den Bernstein sieht, der die Symphonie dirigiert. Der Junge ist ein Genie. Und merkt´s euch – ein persönlicher Freund von mir!“ Seit wann interessierte sich der Halunke für Musik? Er war doch ein halber Analphabet, hatte nicht einmal die Mittelschule hinter sich gebracht. Alles war nur ein Vorwand, um mit Lizzy allein zu sein. - Opfere dich nicht auf, Tommy, ich weiss, dass du Musik nicht liebst. Ich werde Lizzy selber in´s Konzert bringen. Tommy befand sich gerade in der Stadt. Wahrscheinlich sass er um diese Zeit in inniger Umschlingung mit Lizzy in irgendeinem Kino. Gerald blickte starr auf das Telefon. Soll ich anrufen oder nicht? Ich muss wissen, ob Lizzy zu Hause ist oder nicht. Nein. Ich rufe lieber nicht an. Ist ja lächerlich. Ein Mann muss den Respekt wahren. Aber warum bleibt der Tommy nicht in New York bei seinen Prostituierten? Das Bild des jungen Mannes zeichnete sich in seinem Gedächtnis mit schmerzlicher Deutlichkeit ab. Haare, die nach Art der Kadetten von Westpoint geschnitten waren, hochgewachsen, breitschultrig, mit einer beleidigenden Art, nach den Frauen auszuschauen, ein schamloses Lächeln auf den Lippen, wie von einem, der sich unwiderstehlich glaubt und der weiss, dass es kein Weibchen gibt, das nicht seinen Preis hätte. Er drückte auf den Klingelknopf. Die Sekretärin erschien. - Rufen Sie bei mir zu Haus an, Patsy. Nachdem die Verbindung hergestellt war, griff Gerald zum Hörer. Er vernahm die Stimme des Dienstmädchens und frug: - Ist Madame zu Hause? 11 - Nein, Mrs. Ames ist ausgegangen. - Um wieviel Uhr? - Um zwei Uhr, ungefähr. - Mit wem? - Alleine. Er wollte noch fragen, ob Tommy dort gewesen sei, aber er beherrschte sich und legte das Telefon zurück an seinen Platz. Jetzt begann sein Kopf zu schmerzen, es war ein langsam sich steigernder, unterschwelliger Schmerz, der seinen Sitz im Innern des Schädels zu haben schien, von wo er in feinen Wellen ausstrahlte und wie ein fliegender Brand nach allen Richtungen sein Gehirn durchzuckte. Das Blut pochte ihm dumpf in den Schläfen. Er wollte Lizzy vergessen und konnte es doch nicht. Er stellte sich ein Hotelzimmer vor und hatte ein krankhaftes Vergnügen daran, sich zu quälen, indem er die Szene vor sich sah. Da war der Neffe mit nacktem Oberkörper. Bei jeder Bewegung, die er machte, sprangen seine Muskeln, elastisch und glänzend wie eine Aalhaut. Gerald unterhielt sich in Gedanken damit, diese rosige Haut mit einer Rasierklinge zu ritzen. Auf Brust und Rücken des Neffen schrieb er Namen. Halunke. Kaum hatte er die Buchstaben geschrieben, sprangen auch schon Bluttropfen aus der Haut hervor, sie rannen am Körper des Jungen langsam herunter. In wilder Wut begann Gerald mit der Klinge das verhasste Fleisch zu bearbeiten, Tommy, indessen, lächelte nur. Auf dem Bett liegend, fand auch Lizzy sein Tun ulkig und zum Lachen. Jetzt lachten sie beide lauthals heraus! Es war die Jugend, die sie unverwundbar machte. Gerald warf die Klinge von sich. (Er hörte sogar den Laut, den es gab, als sie auf die Glasplatte des Tisches fiel.) Ihm war, als hätte er Blut an den Händen. Wenn er nicht acht gab, würde er noch die Geschäftspapiere beschmutzen, die Policen beschmieren, die Hunderttausende von Dollars wert waren. Er stand auf und ging auf die Privattoilette, die Hände weit von sich gestreckt. Dort zündete er das Licht an, öffnete den Hahn über dem Waschbecken und hielt die 12 Finger unter den kalten Strahl. Aber er sah nirgends eine Blutspur. Wie konnte er denn blutbeschmierte Hände haben, wenn alles nur Einbildung war! Ruhe, Mann, Ruhe! So wirst du noch verrückt. Los! Ist doch alles in Ordnung! Nein. Es steht schlecht um alles. Mein Kopf wird zerspringen. Ich kann weder sehen noch klar denken. Aber ich weiss, warum ich in diesem Zustand bin. Aus Mangel an Schlaf. Er hatte die Nacht schlaflos verbracht, eine Zigarette nach der anderen geraucht und dabei auf Lizzy heruntergeschaut, die wie ein zufriedenes, gesättigtes Tier an seiner Seite lag und schlief. Er zog aus der Westentasche ein Gläschen hervor, öffnete es, hob es an den Mund und schluckte die letzten zwei Tabletten Dexedrina, die es enthielt. Dann trank er einen Schluck Wasser aus der hohlen Hand. Jetzt würde ihm besser werden. - Jerry! Bestürzt kehrte erin sein Bureau zurück, wo er Parks vorfand, seinen Kollegen in der Direktion. - Mensch, du bist ja so weiss, wie ein Blatt Papier! Was hast - Nichts. Du? Gerald zündete sich eine Zigarette an. - Ich hab´ dir schon mal gesagt, dass du in letzter Zeit zuviel rauchst. Ohne zu antworten, kehrte Gerald an seinen Platz zurück. Der Andere setzte sich in einen der Sessel, holte aus der Tasche ein Stück Kaugummi hervor und stopfte es in den Mund. - Es ist erwiesen – sagte er – dass der Raucher alle Möglichkeiten auf seiner Seite hat, Lungenkrebs zu bekommen oder sich einen Herzinfarkt zuzuziehen. Die Statistik.... Gerald konnte dem Kollegen nicht ins Gesicht sehen. Parks irritierte ihn mit Menschenverstand, seinen Statistiken, seinem glücklichen seinem praktischen Aussehen, seiner Sorglosigkeit. Er schien zu denken, dass die Menschheit gerettet 13 wäre, wenn Alle dem Klub der Kiwanis beiträten und jeder den Reader´s Digest läse. - Gute Nachrichten! – rief Parks – indem er sich einen Klaps auf die eigene Hüfte gab. - So? - Den Fall vom Eispalast haben wir gewonnen! Es handelte sich um ein Auditorium in Cleveland, das vor wenig mehr als einem Jahr von den Flammen zerstört worden war. Die Monumental hatte der Eigentümer-Firma des Gebäudes eine Police gegen Feuergefahr verkauft, die einen recht stattlichen Wert darstellte. Schon am Anfang hatte man Verdacht geschöpft und vorsätzliche Brandstiftung vermutet, aber der Fall hatte sich durch Monate hindurch in Gerichtsverhandlungen hingezogen. Parks erzählte Einzelheiten dieses Sieges. Seine süssliche Stimme, mit dem Neger-Akzent der Menschen aus dem Süden, hüllte Gerald ein wie ein widriger Duft von Magnolien. Aber die Gedanken des Ehemannes von Lizzy waren weit weg, sie eilten zu einem gewissen Morgen in einem anderen Herbst. Er sah sich die Stufen der National-Galerie hinaufsteigen. V Nachdem er Witwer geworden war, pflegte er jeden Sonnabendmorgen die Nationalgalerie zu besuchen. Er war ein begeisterter Freund der Malerei und rühmte sich, besonders in den Schöpfungen des XIX. Jahrhunderts zu Hause zu sein. Seinen Rundgang begann er meist bei der üppigen Diana von Renoir. Dann wendete er sich einem seiner Lieblingsbilder zu, dem „Porträt der Sônia“ von Fantin-Latour. Die Gestalt des Mädchens, nach der Mode um die Jahrhundertwende gekleidet, mit seinem unschuldigen Hütchen, die Boa um die Schulter geschlungen, die Hände ruhend im Schosse – erschien ihm von einem geheimnissvollen Reiz. Vielleicht suchte er in dem Bild die Tochter, die er sich immer gewünscht und 14 die ihm Gott versagt hatte. Oder lag es an dem gewissen air, der das Bild zu umhüllen schien und dem Besucher den Eindruck vermittelte, dass diese Sônia eine Geschichte haben müsse. Wer mochte diese kleine Französin gewesen sein, mit dem japanischen Haarschnitt und dem runden, brünetten Gesicht? Warum blickte sie mit solch einem Ausdruck von sanfter Betroffenheit in die Welt? Gerald betrachtete das Bild und lächelte. Er brauchte eine geraume Zeit, um die Gegenwart der Person zu bemerken, die an seine Seite getreten war. Er warf ihr einen raschen und zufälligen Blick zu und beschäftigte sich wieder mit der Malerei. Aber aus irgendeinem Anlass sah er auf´s Neue seine Nachbarin an. Sie war ein sehr junges Mädchen mit ihm irgendwie vertrauten Zügen. Ach so, ja, sie glich der Sônia! Er fühlte eine prickelnde Freude, als habe er soeben das Rätsel des Bildes gelöst und widerstand der Versuchung nicht, sich in ein Gespräch mit der Unbekannten einzulassen. - Ist das Ihr Porträt? – frug er, indem er mit dem Kopf in die Richtung des Bildes deutete. - Das könnte mir passen! Mit solch einem Gesichtchen wäre ich jetzt nicht hier! - Wo denn? - Vielleicht auf diesem Bild! Gerald fand die Antwort grossartig. Die Unbekannte hatte genau die Stimme, die man von Sônia erwarten mochte: hell, ruhig und flüssig. - Hat Ihnen nie jemand gesagt, dass Sie ihr gleich sehen? - Doch. Deshalb bin ich ja hier. Ich war neugierig auf sie. - Und was meinen Sie? - Ich sehe überhaupt keine Ähnlichkeit. Wahrhaftig nicht. Sie neigte den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen. Ein grüner Sweater umhüllte sie und betonte ihre herausfordernden Brüste. Wie grüne Zitronen – dachte Gerald und erinnerte sich an seine Jugendzeit, in der er sich als Maler versucht hatte und als 15 armer Mensch, der er damals war, meistens die Stilleben aufass, nachdem er sie auf die Leinwand gebracht hatte. Beide blieben einige Augenblicke lang stumm. - Sagen Sie mir nur nicht, dass Sie auch Sônia heissen... - Nein, ich heisse Elisabeth. Elisabeth Clay. - Ein hübscher Name. - Es gibt schönere. Und hässlichere. Gerald war ein wenig enttäuscht, weil dem Mädchen anscheinend nichts daran lag, seinen Namen in Erfahrung zu bringen. Er fühlte ein unbezwingbares Verlangen, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und packte Gelehrsamkeit vor ihr aus. Fantin-Latour, erklärte er, auf die Signatur des Bildes deutend, war ein Freund von Degas gewesen, von Monet und Manet, ohne jedoch den impressionistischen Kreisen anzugehören. Er war mehr eine Art von romantischem Spätling, ein Träumer – wissen Sie – Einer, der weit mehr mit der eigenen Innenwelt beschäftigt ist, als mit der äusseren Wirklichkeit. Elisabeth hörte ihm zu, blickte auf die Sônia und gab sich einer Versunkenheit hin, die Barrieren der Zeit und des Raumes besiegte. - Ich glaube, ich langweile Sie. Ach nein, nicht im Geringsten. Ich finde das Alles sehr interessant und lehrreich. Ich habe einen Onkel, der mal in Paris war. Gerald lächelte. - Kommen Sie öfter in diese Galerie? Sie werden es kaum glauben – aber dieses ist das erste Mal. Eine Schande, nicht wahr? - Eine grosse Schande. Diese hier ist nämlich eine der fünf berühmtesten Kunstgalerien, die es in der Welt gibt. - Junge! Sie gingen weiter, Seite an Seite, von Saal zu Saal. Gerald machte seine Begleiterin auf das eine oder andere Bild aufmerksam „Sehen Sie, Lizzy, ... ich bin alt genug, um Ihr Vater sein zu können, 16 deshalb darf ich wohl Lizzy zu Ihnen sagen... beachten Sie die Vollkommenheit jener Perspektive dort. Canaletto war von einer fast fotographischen Genauigkeit... Als sie beim Abendmahl von Salvador Dali angelangt waren, erklärte Lizzy, dass ihr dieses Bild wie ein cinemascope der MetroGoldwyn-Mayer vorkäme. Gerald lachte laut heraus. Sehr gut gesagt! Grossartig! Er lud sie ein, in der cafeteria des Museums mit ihm zu frühstücken. Sie nahm seine Einladung mit einer Natürlichkeit an, die ihn rührte. Während des Essens sprach er ununterbrochen, erzählte Lizzy sein ganzes Leben, von seiner Kindheit und Jugend in Ohio, wo sein Vater Bahnangestellter war, dann weiter von seinem Entschluss, mit der väterlichen Autorität zu brechen und sein Glück in Chicago zu versuchen, wo er Zeitungsverkäufer wurde, Platzanweiser im Kino, Kellner in Restaurants. Er übertrieb seine Not und seine Entbehrung ein wenig und kam schliesslich in melancholischem Tonfall auf seinen fehlgeschlagenen Versuch, Maler zu werden, zu sprechen. Als Letztes erzählte er ihr von seinen Erfolgen in der Welt der Geschäfte. - Heute bin ich einer der Direktoren der Monumental Versicherungsgesellschaft – gestand er mit bedauernder Miene, als gälte es, einen Fehlschlag zu beichten. – Ein reicher Mann, Witwer, ohne Kinder, der allein in einem grossen, öden Kasten haust. Täuschen Sie sich nicht, mein Kind, das Geld hat noch niemandem Glückseligkeit beschert. Die Lippen mit Milch befeuchtet, Augen weit geöffnet, sah Lizzy ihn an, als sähe sie ihn in diesem Augenblick zum ersten Mal. Grosser Gott! – rief sie aus und die grünen Zitronen wogten heftig auf und nieder – Dann sitze ich also hier und esse mit einem richtigen „big-shot“? Als er dieses Wort hörte, erinnerte er sich, dass er es schon viele Male in der Gesellschaftsspalte der „Washington Post“ gelesen hatte. 17 Vor dem Museum verabschiedeten sie sich mit einem langen Händedruck. Gerald ging, zufrieden vor sich hinpfeifend, weiter, joviale Fusstritte an die welken Blätter austeilend, die den Bürgersteig bedeckten. Am nächsten Sonnabend ging er wieder zur Kunstgalerie, in der leisen Erregung eines Verliebten, die ihm zugleich lächerlich und köstlich vorkam. Er folgerte: „Ich werde keinen einzigen Schritt tun, der abseits von meinem gewöhnlichen Wegen liegt, um sie wiederzusehen. Wie sie mir sagte, war sie vorher nie in dieser Galerie gewesen. Gut. Finde ich sie heute hier, so kam sie in der Erwartung, mich zu treffen. Also...“ Dann schloss er sich selbst Wetten ab. Zehn Dollar, wenn ich sie niemals wiedersehe. Dreissig Dollar, wenn Lizzy jetzt unter dem Porträt der Sônia steht. Aber sie war nicht dort. Vor dem Gemälde traf er nur ein blasses, männliches Wesen an, das wie ein Seminarist aussah und die Malerei eifrig zu studieren schien. Enttäuscht, setzte er seinen Weg in betrübter Stimmung fort. Vor einem Watteau verhielt er den Schritt, etwas, was er noch nie getan hatte, denn für die Maler des XVIII. Jahrhunderts konnte er sich nicht begeistern. Ohne Interesse blickte er auf die Malerei, schliesslich fesselte ihn das eigene Bild, das vom Glas zurückgeworfen wurde. Er war noch dabei, seine Krawatte zu richten, als er im gleichen Glas Lizzy kommen sah, die geräuschlos hinter ihn trat. Er tat so, als habe er niemanden bemerkt. Das Mädchen pflanzte sich an seiner Seite auf, ohne ihn zu begrüssen und äusserte, als handele es sich um die Weiterführung eines alten Gesprächs: - Nun sagen Sie mir bloss nicht, dass ich auch mit diesem Kavalier Ähnlichkeit habe. Sie griff nach der Hand von Gerald, den ein wohliges Erzittern von Freude und Überraschung durchrann. Was bedeutete diese Geste? Drückte sie nur die biedere Hand eines „Onkels“ oder die des Mannes, der eines Tages ihr Gatte sein könnte? 18 Die Hände ineinander verschlungen, schlenderten sie weiter. So kamen sie zu dem Rembrandt-Saal, der um diese Zeit völlig leer von Besuchern war. Unter dem Selbstbildnis des Künstlers umfasste Gerald schweigend Lizzy´ Taille, drückte sie an seine Brust und küsste sie lange auf den Mund. Viele Male traf er sie in den folgenden Wochen. Einen Monat nach der Szene des ersten Kusses, nach einer schlaflos verbrachten Nacht voller Zweifel, suchte er den Dr. James King auf. Eine Woche später heiratete er Elisabeth Clay. Den Honigmond verbrachten sie unter der Sonne von Acapulco. Als sie nach Hause zurückkehrten, fanden sie Washington in Schnee gehüllt. Nun begann für Gerald K. Ames ein ganzes neues Leben voller Überraschungen, voller Erregungen und immer neuer Wonnen. Aber noch bevor das Paar den ersten Jahrestag seiner Hochzeit feiern konnte, begann schon die Eifersucht das Glück von Gerald zu verdunkeln. VI - Jerry! Gerald fuhr hoch. Parks rüttelte ihn an den Schultern. - Was hast du bloss, Mann? Sitzt da, mit einem Gesicht wie ein Schlafwandelnder! - Nichts. In der letzten Zeit nur ein paar Schwindelanfälle. - Du musst dir klar machen, dass du keine dreissig mehr bist... Gerald hüllte sich in verbissenes Schweigen. Parks hatte sich seiner Heirat widersetzt und er wollte dem Kollegen keinen Anlass geben, sein klassisches „Hab´ ich dir´s nicht gesagt?“ anzubringen. - Warum gehst du nicht nach Hause? - Das gerade werde ich tun. - Mein Chauffeuer kann dich hinfahren. Du scheinst nicht in der Lage zu sein, um deinen Wagen selber zu steuern. 19 - Blödsinn. Mir ist vollkommen wohl. Der Andere drang weiter auf ihn ein, aber Gerald vereiste ihn mit einem „Guten Abend, Parks!“ Wenige Minuten später sass er am Steuer seines Autos, auf dem Weg nach Hause. Ungeduldig hielt den Wagen vor den roten Lichtsignalen an. Dann entschloss er sich, den Weg durch den Park zu nehmen, er war der kürzere und weniger belebte. Als er an der Ecke der Virginia Avenue und der Strasse 21 anhielt, sah er zwei junge Soldaten, die sich mit lauter Stimme angeregt unterhielten. Er hörte, dass sie von Frauen sprachen. Von was Anderem konnten diese Schweine auch sprechen? Er warf ihnen einen wütenden Blick zu. Soviel Jugend irritierte ihn. Bernard Shaw hatte recht; die Jugend war eine wunderbare Sache, die die Natur an junge Menschen verschwendete. Idioten! Das grüne Licht leuchtete auf. Er drückte den Fuss mit einer solchen Kraft auf das Pedal, dass der Wagen fast mit einem vor ihm fahrenden Auto zusammengestossen wäre. Ruhe, mein Alter, Ruhe. Aber wie kann ich Ruhe bewahren, wenn Lizzy diesen Nachmittag in den Armen vom Tommy zugebracht hat. Und wenn es nicht Tommy war? Dann irgendein Anderer. Vielleicht heute nicht? Nein, gestern war´s. Morgen wird es ganz gewiss sein. Das ist unvermeidlich. Ich jedenfalls bin erledigt. Ein trauriger, lächerlicher Greis. Er bog in den Park ein und wählte eine um diese Zeit nahezu leere Fahrstrasse, denn der rush vom späten Nachmittag hatte noch nicht eingesetzt. Die B6aume trugen schon ihr Herbstkleid, keine Spur von Grün war mehr an ihnen zu entdecken. Ihre Blätter waren aus altem Gold und von einem Scharlachrot, das sich an einzelnen Zweigen in ein rostiges Rotbraun verlor. Die Ahorn-Bäume sahen aus, als hätten sie Feuer gefangen. Plötzlich angesprochen und betroffen von der Schönheit des Bildes (der Herbst war immer seine bevorzugte Jahreszeit gewesen), 20 verminderte Gerald die Geschwindigkeit des Wagens und lenkte ihn schliesslich an den Strassenrand, wo er unter den Bäumen anhielt. Die stille Luft war von der leuchtenden Durchsichtigkeit des Glases. Nach Virginia zu stieg eine lange, weisse Wolke, die das Ansehen eines Flügels hatte, am Himmel auf, der sich langsam rosa färbte. Gerald wünschte sich Lizzy mit einer zitternden und zärtlichen Heftigkeit herbei. Heiliger Vater, hab´ich sie wirklich für immer verloren? Er fühlte sich als das Opfer einer ungeheuren, unbenennbaren Ungerechtigkeit. Schliesslich öffnete er die Wagentür und trat hinaus. Den Hut nahm er ab. Die frische Nachmittagsluft belebte ihn und klärte seinen Blick. Auf einmal sah er die Eichhörnchen. In grossen Scharen liefen sie über den Rasen, übersprangen den Weg, rannten hintereinander her, als ob sie Fangen spielten, kletterten die Bäume hoch, flink, braunrot, lebendig wie ein unbesiegbares Symbol der Jugend. Schön und dumm waren sie. Wie Lizzy. Wie Tommy. Er kauerte sich nieder und streckte die Hand nach dem Eichhörnchen aus, das nur wenige Schritte von ihm entfernt war und wohl glaubte, Gerald wolle ihm etwas zu fressen geben. Das Tierchen streckte in ungeschickter Gier die Pfoten nach ihm aus. Au! – stöhnte Gerald und fühlte einen plötzlichen, heftigen Schmerz an der Spitze seines Zeigefingers. Er durchrann ihn wie ein elektrischer Schock. In einem Anfall von Wut wollte er das Eichhörnchen mit einem Fusstritt treffen, aber das Tier schlug einen Haken und entfloh. Gerald führte den blutenden Finger an den Mund. Verdammtes Eichhörnchen! Hinter sich hörte er ein Frauenlachen. Wo? Von wem? Sie lachten über ihn. Er kam sich selbst lächerlich vor, wie ein Narr, ein trauriger Narr. Im Park kannten sicher schon Alle seine Geschichte. Mehr als je, war er sich in diesem Augenblick des Elends seines Körpers bewusst. Er dachte an die eigenen Arterien, die immer sklerotischer wurden, an die Gelenke, die ihn schmerzten, sobald die kalte Jahreszeit einsetzte. Warum? 21 Wozu? Gab es Gerechtigkeit in der Welt? Wer hatte von seinem Altern Gewinn? Wer? Vieleicht das Eichhörnchen, das ihm die Fingerspitze aufgerissen hatte. Da sass das Tier am Strassenrand, auf seinen Hinterfüssen. Gerald trat ins Auto, setzte es in Bewegung und blind vor Hass, mit zusammengebissenen Zähnen, lenkte er es mit höchster Geschwindigkeit auf das Tier zu. Er hörte ein Quietschen und fühlte den Anprall des Körpers gegen den Kotflügel. Ohne rückwärts zu schauen, fuhr er weiter. Ich habe ein Eichhörnchen getötet – sagte er zu sich selbst, jetzt schon voller Abscheu. Stupide. Der Schweiss lief ihm über das Gesicht. Himmlicher Vater! Ich habe mit Absicht ein Eichhörnchen totgefahren! VII Als er ins Haus trat, kam ihm Lizzy entgegen, umarmte ihn und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. - Hat dir der Film gefallen? – frug er und verachtete sich im gleichen Augenblick, weil ihm die Frage entfahren war. - Was für ein Film, Liebster? - Warst du nicht im Kino? - Selbstverständlich nicht. - Wo hast du den Nachmittag verbracht? - Bei Garfinckel´s, beim Aussuchen von dem Pelzmantel, den Du mir schenken willst. Gerald dachte an sein „Verbrechen“. Lizzy anzuklagen, war ein Mittel, um sein eigenes Schuldgefühl herabzusetzen. - Warst du heute mit Tommy zusammen? Tommy! Aber du weisst doch, das er gestern nach New York zurückgefahren ist. Jetzt erinnerte sich Gerald. In einem Gefühl von Erleichterung drückte er Lizzy an seine Brust und küsste ihre Haare, die Wangen, 22 den Mund, während Tränen sein Gesicht überschwemmten. Es war das erste Mal, dass er in Gegenwart seiner Frau weinte. - Aber Jerry... bist du krank? Nein, ich war krank. Jetzt bin ich wieder wohl. Jetzt ist alles wieder gut. Die Frau streichelte seine Haare. - Das ist Übermüdung – du arbeitest zuviel. Ich werde das Abendessen früher auftischen lassen. Wenn du magst, können wir nachher in ein Kino oder Theater gehen... - Gerald dachte an den dumpfen, weichen, ominösen Anprall gegen den Kotflügel. Und stellte sich den pelzigen, blutfarbenen Brei auf dem Asphalt vor... VIII Sie waren mitten im Abendessen, als die Türglocke ertönte. Es war der Bote von Garfinckel, der den Pelzmantel brachte. Lizzy widerstand nicht der Versuchung, ihn sofort anzuziehen, damit ihr Gatte sähe, wie gut er ihr stände. - Wie findest du ihn, Liebster? Gerald erhob sich und stand für Augenblicke in Gedanken versunken, das imaginäre Fell zerstreut mit den Händen streichelnd. - Ich muss dir etwas gestehen! – murmelte er, nach allen Seiten blickend, um sich zu vergewissern, dass die Angestellte nicht im Zimmer war. - Warum diese ernste Miene? - Das, was ich dir zu sagen habe, ist sehr ernst. - Jerry! Hat dir etwa der Arzt etwas über dein Herz gesagt? Gerald schüttelte verneinend den Kopf. Mit niedergeschlagenen Augen beichtete er: - Ich habe heute im Park ein Eichhörnchen getötet. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb Lizzy ohne Verstehen; dann lachte sie laut heraus. 23 - Ein Eichhörnchen? Aber, mein armer Liebling, wo gibt es einen Autofahrer, der nicht einmal in seinem Leben ein Eichhörnchen getötet hätte, oder einen Hund, oder eine Katze? - Ja, aber ich habe es mit Absicht getan. - Jerry! Du musst Fieber haben! Komm, ich geb´ dir eine Aspirin-Tablette und steck´dich ins Bett! In diesem Augenblick klingelte das Telephon. Wenige Sekunden darauf erschien das Dienstmädchen. - Mr. Ames, ein Herr wünscht Sie zu sprechen. Gerald begab sich in die Vorhalle und näherte sich dem Apparat in dem seltsamen Vorgefühl eines Unheils. - Hallo – flüsterte er. - Spricht dort G. K. Ames? Hier spricht Roy Philips, von der Mordabteilung. Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern, aber wir begegneten uns einmal in Ihrem Büro, als ich den Selbstmord-Fall von einem bei Ihrer Gesellschaft Versicherten untersuchte. - Ah! Womit kann ich Ihnen dienen? - Ich habe eine sehr ernste Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen... - Warum kommen Sie nicht morgen in mein Büro? - Es muss sofort sein. Es handelt sich um einen dringenden - Dann sprechen Sie. Fall. Ein kleines Zögern auf der anderen Seite. - Vor etwas mehr als einer Stunde hat sich im Park ein schwerer Unfall zugetragen... Das Herz von Gerald setzte aus. – Sagen Sie mir, Herr Ames, haben Sie mehr oder weniger um dieselbe Zeit den Park mit Ihrem Wagen überquert? - Ja. - Hallo? Sprechen Sie bitte lauter. Ich verstehe nicht. - Ja, ich war dort. Gerald zitterte am ganzen Körper. Heftig und unbeherrschbar. 24 - Herr Ames, der Fall ist sehr ernst. Denken Sie darum gut nach, bevor Sie antworten. Es gibt zwei Augenzeugen des Unfalls, wenn es ein Unfall war. Beide merkten sich die Nummer des Autos, das ihn veranlasste. Antworten Sie jetzt mit aller Vorsicht. Welche ist Ihre Autonummer? Gerald brauchte einige Zeit, um sich zu erinnern. Endlich flüsterte er: - AP 3456. - Genau die Nummer, die die beiden Zeugen angaben. Jetzt eine weitere Frage. (Und die Stimme des Inspektors nahm allmählich einen drohenden Ton an.) Waren Sie selbst es oder Ihr Chauffeur, der den Wagen lenkte? Die Antwort blieb Gerald für einige Sekunden wie festgekrallt im Halse stecken. - Wer war es? - Ich war´s. - Dann bemühen Sie sich baldigst um einen guten Advokaten, denn Sie haben sich in einer Teufelsschlinge verfangen! Gerald versuchte eine Reaktion. - Aber, Inspektor, schliesslich ist es doch kein so grosses Verbrechen, ein Eichhörnchen zu töten und wenn es auch mit Absicht geschah! - Ein Eichhörnchen? – brüllte der Andere. – Sie müssen ganz ausser Verstand sein! Ihr Wagen hat ein junges Mädchen von 19 Jahren überfahren und getötet, das friedlich am Strassenrand stand! Gerald K. Ames liess den Hörer fallen. Seine Beine gaben nach, seine Blicke trübten sich. Aus dem Esszimmer machte ihm ein ungeheuer grosses Eichhörnchen mit bräunlichem Fell irgendwelche Zeichen. Übertragung von Juanita Schmalenberg Bezner 25 FONTE: Bezner, Juanita Schmalenberg. Eichhörnchen im Herbst (Esquilos de outono). Trad. de trecho de Esquilos de outono, de Érico Veríssimo. In: Serra-Post Kalender. Ijuí, Ulrich Löw, 1971, p. 97-113. Texto transcrito por Celeste Ribeiro de Sousa