Eichhörnchen im Herbst

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Eichhörnchen im Herbst
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Literatura Brasileira de Expressão Alemã
www.martiusstaden.org.br
PROJETO DE PESQUISA COLETIVA
Coordenação geral: Celeste Ribeiro de Sousa
JUANITA SCHMALENBERG BEZNER
1908-1988
(Celeste Ribeiro de Sousa)
2014
Eichhörnchen im Herbst
Érico Veríssimo
I
Als der silberfarbene Omnibus voll von Touristen, an einer Ecke
der Strasse F, im Geschäftszentrum von Washington D.C. anhielt, hob
der Führer das Megaphon an den Mund und gab Auskunft: „Zu
unserer Rechten sehen wir jetzt das Monumental Building, eines der
schönsten und modernsten Gebäude, das die Hauptstadt des Landes
aufzuweisen hat. Es besteht in seiner Ganzheit aus Stahl, Glas und
Aluminium. Seine Korridore sind aus grünem Marmor. Beachten Sie
bitte das grosse Portal – seine Kosten beliefen sich auf ungefähr
dreissigtausend Dollars.“
Ein Ah! des Staunens entrang sich den Touristen ob der
genannten Summe.
„In diesem grossartigen Bau sind die
Monumental-Versicherungs-Gesellschaft
Geschäftsräume der
untergebracht,
eine
der
bedeutendsten dieses Landes!“
Das rote Licht an der Verkehrsampel erlosch – es wechselte auf
grün. Der Omnibus fuhr weiter und der Führer lieferte noch einige
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weitere Angaben über die Gebäulichkeit: die Anzahl der Fenster, Säle,
Aufzüge, Toiletten usw. Aber wahrscheinlich unterliess er es, das
Wichtigste zu erzählen, das sich in jenem Augenblick in dem
Monumental Building zutrug. In einem Saal des 7. Stockwerks litt ein
Mensch.
II
Es handelte sich um das Schreibzimmer von einem der
Direktoren:
mit
Holz
verkleidete
Wände,
auf
dem
Boden
ein
moosgrüner Teppich, Lederpolster, sandfarbene Gardinen; an den
Wänden ein Original-Gemälde von Dufy und ein weiteres von Braque;
in der Nähe des Fensters, auf einem kleinen, runden Tischchen stand
eine Thermoflasche aus Chrom-Metall.
An seinem Arbeitstisch sitzend, rang Geral K. Ames mit einer
Zwangsvorstellung. Lizzy betrügt mich. Lizzy betrügt mich. Jetzt, in
diesem Augenblick. Im Vorführungsraum irgendeines Kinos. Im
Hintergrund einer Bar. Lizzy betrügt mich. Warum nicht gar in einem
Hotelzimmer? Vielleicht sogar in irgendeiner Spelunke von Baltimore.
Oder in einem Motel von Virginia. Lizzy betrügt mich.
Gepeinigt schaute er um sich und für ein paar Sekunden war
ihm, als sei er sich selbst abhanden gekommen, als wisse er nicht
mehr, wo er sich befände. In panischem Schrecken sprang er auf und
bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, auf der Suche nach
irgendwelchen Anhaltspunkten... Dann fing er an, automatisch im
Saal auf und ab zu gehen, wie auf der Suche nach einem Ausgang,
keuchenden Atems, die Augen fast aus den Höhlen tretend. Die Dinge
schienen sich um ihn zu drehen, die Gegestände, die Möbel verloren
ihre Form und ihre gewöhnliche Farbe, dehnten sich, weiteten sich,
verschmolzen eines ins andere, quolen auf wie Ballons, als wollten sie
explodieren, in Atome zerfallen. Er griff nach dem Halt eines Sessels
und lehnte sich an ihn. Die Augen kniff er fest zu und drückte die
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Fingerspitzen hinein, als wolle er die verrückten Bilder in ihnen
auslöschen. Aber gegen den dunklen Hintergrund der Lider brodelte
weiter
das
unerbittliche
Kaleidoskop
–
Kreise,
Striche,
Schlangenlinien, galliges Grün, Feuergelb, Purpurrot, Eletrisch-Blau,
alles wie in einem Wirbel inmitten von jähen Blitzen.
Ich heisse Gerald K. Ames. K. ist der Anfangsbuchstabe von
Kirkland.
Ich
befinde
mich
in
meinem
Schreibzimmer
der
Monumental-Versicherungs-Gesellschaft. Meine Frau heisst Lizzy.
Meine Sekretärin heisst Patsy. Heute ist Freitag. Ich fühle mich
vollkommen wohl. Ich erinnere mich an alles. Ruhe, mein Alter, viel
Ruhe. Ruhe oder bist du verloren.
Er setzte sich in den Sessel und verharrte einige Zeit, den Kopf
nach rückwärts gebogen, ohne die Augen zu öffnen. Sein Ohr nahm
jetzt die Geräusche wahr, die aus dem Nebenraum zu ihm drangen:
das Klingeln eines Telefons, das Rattern einer Schreibmaschine. Von
draussen klang das dumpfe Rollen des Verkehrs herauf. Jäh überkam
ihn ein schmerzvolles, stechendes Gefühl im Bewusstsein seiner
Einsamkeit. Und eine unbestimmte Furcht vor etwas, das ihm selber
unbekannt war.
Er öffnete die Augen. Habe ich nicht behauptet, dass alles in
Ordnung sei? Die Möbel stehen an ihrem Platz, wie früher, wie immer.
Durch das Fenster sah er in der Ferne die Kuppel des Kapitols, die
sich gegen den sanften Oktoberhimmel abhob. Er griff nach der
Thermosflasche, schüttete Wasser in ein Glaus und trank es in einem
Zug leer. Dann zündete er sich eine neue Zigarette an. Er wusste,
dass er sich auf diese Weise masslos vergiftete. Seit Monaten schon
überliess er sich einer Lebensform, die nahezu Selbstmord bedeutete.
Abends
nahm
er
Barbitur-Präparate,
um
schlafen
zu
können,
morgens griff er zu Dexedrina, um die Augen offen halten zu können
und die Gedanken während des Tages beieinander zu haben. Er trieb
jedoch so grossen Missbrauch mit den Aufputschmitteln, dass sich
ihm die Bilder der Aussenwelt oft völlig abschalteten, wenigstens für
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Bruchteile von Sekunden, wenn sie sich nicht verzerrten oder
zerplatzten. Aber zum Teufel nochmal – jene Drogen öffneten ihm die
Tore zur Flucht vor sich selbst. Welche anderen Möglichkeiten blieben
ihm denn? Monatelang hatte er sich einer psycho-analystischen
Behandlung unterzogen, zweimal in der Woche legte er sich auf einen
Diwan und redete, redete ohne Aufhören, wie eine Gevatterin, indem
er alle Blödheiten von sich gab, die ihm in den Sinn kamen, während
sich der Psychiater Notizen machte und sich in ein Schweigen hüllte,
das ihn bedrängte und nicht selten irritierte. Schliesslich hatter er als
Patient die Behandlung auf die stupideste Weise unterbrochen.
Gerald blickte jetzt stur auf das eigene Bild, das von dem Metall
der Flasche verzerrt zurückgeworfen wurde. Und er, der unter der
Groteske seiner bürgerlichen Situation so litt, fühlte sich momentan
verletzt durch die Karikatur seiner Gesichtszüge. Aber es wäre doch
die Höhe, wenn er sich durch das falsche Bild, das ein konvexer
Spiegel hervorruft, beeindrucken liess. Er wusste doch genau, was für
eine gute Erscheinung er war! Es waren ihrer nicht viele, die sich mit
56 Jahren noch eines so jugendlichen Aussehens rühmen konnten,
wie er. Noch vor Kurzem war sein Name auf der Geschäftsseite eines
Magazins,
der
Time,
in
einem
Artikel
über
den
Stand
des
Versicherungswesens in Amerika genannt worden. „Gerald K. Ames,
(56), ein ansprechender, jugendlicher Versicherungs-Beamter.“ Die
Time war unparteiisch und nüchtern, die nannte alles beim richtigen
Namen. Ansprechend, jugendlich! Dummheit! Dummheit! Dummheit!
Nichts von Allem konnte die absurde harte Situation verbergen oder
lindern. Lizzy konnte ihrem Alter nach seine Tochter sein. Seine
Heirat mit ihr war eine Unsinnigkeit gewesen.
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich
augenblicklich eine neue an, die er nervös zu rauchen anfing.
Allmählich ergriff ihn ein laues Verlangen, die Frau an seiner Seite zu
haben, es überschwemmte und erweichte ihn endlich so, dass ihm die
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Tränen kamen, sie lösten sich und rannen ihm über die sorgfältig
rasierten Wangen.
Vielleicht
täte
er
gut
daran,
einen
anderen
Psychiater
aufzusuchen. Aber dann musste es jemand sein, der nicht so sehr
seinem Vater gliche, wie dieser Dr. James King.
Mit einem schwachen Empfinden von Lächerlichkeit dachte er
an dem Tag zurück, an dem er zum Arzt ging, kurz vor der
Ausführung seines grossen Entschlusses.
III
- Dr. King, ich muss Sie in einer dringenden Angelegenheit
sprechen!
- Legen Sie sich hin.
- Ich bleibe lieber stehen. Es handelt sich um eine persönliche
Angelegenheit.
Der Psychiater lächelte. Es war das überlegene Lächeln des
alten Ames; so lächelt Einer, der alles weiss, alles kann und alles
erreicht.
-
Aber waren denn nicht alle unsere Unterhaltungen, seit
wir mit der Behandlung begannen, immer persönlicher Art?
-
Ich will damit sagen, dass diese Angelegenheit nichts mit
der Behandlung zu tun hat.
-
So denken Sie. Aber warum legen Sie sich nicht hin?
Ausgestreckt auf dem Diwan würde er sich schutzlos fühlen,
dem Anderen ausgeliefert. Als Junge hatte er immer versucht, sich
mit dem Vater aus einer gewissen Entfernung zu unterhalten, was ihn
ausserhalb der Reichweite der Ohrfeigen setzte, die sein Vater
gelegentlich als entscheidendes Argument anzubringen pflegte.
-
Kommen wir also zur Sache.
-
Ich trage mich mit dem Gedanken zu heiraten, Doktor.
-
Liebe auf den ersten Blick?
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-
So ähnlich...
-
Wollen Sie mich um einen Rat bitten?
-
Nun, es gibt da kein Problem. Das Alter des Mädchens.
-
25?
-
Genau. Woher wissen Sie...
-
Diese Dinge liegen zutage.
-
Nun?
-
Nun was?
-
Soll ich oder soll ich nicht heiraten?
-
Das Ihr Problem.
-
Na, sind Sie nicht mein Psychiater?
-
Gewesen.
-
Warum gewesen? Ich wusste nicht, dass die Behandlung
abgeschlossen war.
-
In Wirklichkeit haben wir damit nicht einmal begonnen
und ich weigere mich, meine Zeit weiter zu verlieren an einen
Patienten, der mir Gedanken und Gefühle verheimlicht.
-
Aber ich habe das Mädchen ja erst vor zwei Wochen
kennen gelernt.
Innerhalb dieser zwei Wochen hatten wir mindestens vier
Sitzungen.
-
Damals wusste ich noch nicht genau, ob ich sie... liebte.
Seit wann soll ein Patient nur von den Dingen sprechen, über
die er genau Bescheid weiss? Haben Sie mich nicht gerade darum
aufgesucht, weil Sie kein Vertrauen mehr zu sich selber hatten und
sich von Zweifeln, Minderwertigkeitsgefühlen und Argwohn eingeengt
fanden?
Gerald spürte Lust, den Arzt körperlich anzugreifen.
-
Um Gottes willen, sagen Sie mir, ob ich, wenn ich das Mädchen
heiratete, einen Fehler begehe oder nicht.
Der Psychiater steckte die Hände in die Taschen und sah
stumm herunter auf den Teppich.
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Gerald
betrachte
ihn
voller
Wut.
Dieses
überlange
Subjekt mit seinem spärlichen Haarwuchs und rosigen Gesicht war
nichts weiter als eine städtische Übertragung vom alten Ames, dem
Weichenwärter von Baltimore & Ohio.
-
Los, Doktor, nehmen Sie mir die Zweifel!
-
Ohne das Mädchen zu sehen, kann ich Ihnen nichts
sagen.
-
Ist das unbedingt notwendig?
-
Ich fürchte, ja. Das Beste wäre es sogar, sie einer Analyse
zu unterziehen.
In Gerald meldete sich die Eifersucht. Lizzy hier auf dem Diwan
von Dr. King? Niemals. Er wusste, dass sich die Patientinnen fast
immer in ihren Psychiater verliebten und zum Schluss von ihm
hingerissen waren.
-
Aber es wäre doch von tödlicher Lächerlichkeit, wenn ich das
Mädchen bäte, hierher zu kommen, damit mir mein Arzt raten kann,
ob ich sie heiraten soll oder nicht. Das ist doch...
Dr. Kling unterbrach ihn mit einer schroffen, befehlenden Geste.
-
Wenn Sie sie nicht herbringen wollen, lassen Sie es bleiben. Es
ist ja augenfällig, dass Sie garnicht hierher gekommen sind, um
meinen Rat zu erbitten, sondern Sie sind hier, um mir eine
Einwilligung zu entreissen oder besser gesagt, um meine Kumplizität
zu erlangen.
-
Aber warum ist es Ihnen denn so wichtig, das Mädchen
persönlich kennen zu lernen?
-
Weil ich prüfen will, ob sie nur ein ehrgeiziges Luder ist, die in
Ihnen einen reichen Ehemann, von gehobener sozialer Stellung sucht.
Unter solchen Umständen wäre die Heirat ein Unglück, oder aber ob
sie infolge eines Vater-Komplexes in dem Mann von mittleren Jahren
und mit grauen Schläfen den idealen Ehemann sieht. In diesem
letzteren Fall wäre eine glückliche Bindung durchaus möglich, sowohl
in physischer wie in psychischer Hinsicht.
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Gerald hätte beinahe herausgeschrien: „Dankeschön, Vater!“
aber er beherrschte sich und frug:
-
Dann kommt Ihnen die Sache also garnicht so unsinnig vor?
Wenn sich die zweite Hypothese als richtig erweisen sollte,
nein.
-
Haben Sie auch schon daran gedacht, dass, wenn ich 65 Jahre
erreicht habe, das Geschöpfchen eben erst 34 alt sein wird?
-
Wenn es soweit ist, wird sie aufhören, als Geliebte mit
Ihnen zu leben, um fernerhin nur noch Ihre Tochter zu sein.
Gerald runzelte verdutzt die Stirne, perplex. Die Psychoanalyse
war
ihm
immer
als
eine
dunkle
Angelegenheit
erschienen,
unanständig und mehr oder weniger blutschänderisch.
-
Gut.... murmelte er. – Wo blieben wir stehen?
Der Arzt zuckte die Schultern.
-
Der nächste Wurf ist Ihrer.
-
Aber ich bin doch hier, um einen Rat von Ihnen zu erbitten!
Der Andere setzte sich, zündete sich eine Zigarette an und
schien in Gedanken verloren.
-
Sehen Sie – begann er nach einiger Zeit, - das Problem liegt
mehr bei Ihnen, als bei ihr oder etwa in jener chronologischen
Einzelheit. Wenn es Ihnen nicht gelingt, das Minderwertigkeitsgefühl
zu besiegen, das Sie beherrscht, werden Sie allzeit ein misstrauischer
und unglücklicher Mensch bleiben, der seiner selbst nie sicher ist. Und
Sie werden unter der Tortur der Eifersucht stehen, selbst wenn Sie
eine Matrone von 80 Jahren heiraten.
Gerald fühlte, wie ihm das Blut zu Gesicht stieg. Er erinnerte
sich an jenen Tag in Columbus, Ohio, an dem er, all seinen Mut
zusammenraffend, dem Vater gegenübergetreten war.
-
Ich fahre morgen nach Chicago!
Ihm fiel das Gesicht des Alten ein, das plötzlich rot geworden
war
wie
eine
Erdbeere.
Unabhängigkeitstag!
Der
8.
Dezember
1927.
Sein
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Er sah den Psychiater an und sagte:
-
Also,
Dr.
King,
nehmen
Sie
davon
Kenntnis,
dass
ich
entschlossen bin, das Mädchen zu heiraten, einerlei, was Ihre
Meinung über mich oder sie ist. Leben Sie wohl.
Er griff nach seinem Hut und ging hinaus.
IV
Gerald kehrte zu seinem Arbeitstisch zurück und kramte mit
unsicheren Händen in den dort aufgehäuften Papieren. Er setzte seine
Brille auf – was er niemals tat, wenn Frauen in der Nähe waren – und
versuchte, die Policen und Briefe zu sichten, die seiner Unterschrift
harrten. Zwecklos. Die Buchstaben tanzten wirr durcheinander. Er
fand nicht einmal die Stelle, wo er seinen Namen hinsetzen sollte.
Wo mochte Lizzy jetzt sein? Und Tommy, die Kanaille? Seine
Not nahm immer zu, wenn er dieser junge Mann aus Washington
anrückte. Er dachte an den Neffen mit einem Gefühl kalten Hasses.
Um die Wahrheit zu sagen, er war ihm nie sympatisch gewesen. Nie.
Der Halunke hatte ihm nur immer geschmeichelt in Erwartung der
späteren Erbschaft. Aber er würde ihm keinen einzigen Cent
hinterlassen, das war sicher. Alles würde Lizzy bekommen: die
Besitztümmer, die Titel der Gesellschaft, das Geld, das auf den
Banken lag. Alles für Lizzy. Aber kam es nicht letzten Endes auf das
Gleiche heraus? Einmal Witwe geworden, würde Lizzy mit aller
Sicherheit den Tommy heiraten. Und all sein Hab und Gut würden in
die Hände dieses Spitzbuben übergehen. So ein Parasit! Dieser
Playboy von Manhattan, mit einem Appartement in der Park Avenue,
der häufig genug in den Spalten von Cholly Knickerbocker Erwähnung
fand... „Im Copa wurde am Sonnabend Abend, Tommy Ames
Saunders
zusammen
mit
einer
Platinblonden
gesehen,
der
er
Champagner mit einem silbernen Löffelchen einflösste...“ Dieser
Wüstling! Aber das ging alles noch an, wenn dieser Tommy nur in
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seinem Manhattan blieb! Nachdem der Onkel geheiratet hatte,
erschien er oft, als hätte er sich in das Haus verliebt. Und welch
aufreizende Kameradschaft hatte er mit Lizzy geschlossen. Tantchen
hier, Tantchen dort, dazu unnötige Rechte beanspruchend und
unanständige Vertraulichkeiten sich herausnehmend, alles mit einer
Miene falscher Unschuld. „Wenn Onkel Jerry es erlaubt, nehme ich
Lizzy heute mit in die Constitution Hall, damit sie dort den Bernstein
sieht, der die Symphonie dirigiert. Der Junge ist ein Genie. Und
merkt´s euch – ein persönlicher Freund von mir!“ Seit wann
interessierte sich der Halunke für Musik? Er war doch ein halber
Analphabet, hatte nicht einmal die Mittelschule hinter sich gebracht.
Alles war nur ein Vorwand, um mit Lizzy allein zu sein.
-
Opfere dich nicht auf, Tommy, ich weiss, dass du Musik
nicht liebst. Ich werde Lizzy selber in´s Konzert bringen.
Tommy befand sich gerade in der Stadt. Wahrscheinlich sass er
um diese Zeit in inniger Umschlingung mit Lizzy in irgendeinem Kino.
Gerald blickte starr auf das Telefon. Soll ich anrufen oder nicht? Ich
muss wissen, ob Lizzy zu Hause ist oder nicht. Nein. Ich rufe lieber
nicht an. Ist ja lächerlich. Ein Mann muss den Respekt wahren. Aber
warum bleibt der Tommy nicht in New York bei seinen Prostituierten?
Das Bild des jungen Mannes zeichnete sich in seinem Gedächtnis mit
schmerzlicher Deutlichkeit ab. Haare, die nach Art der Kadetten von
Westpoint geschnitten waren, hochgewachsen, breitschultrig, mit
einer
beleidigenden
Art,
nach
den
Frauen
auszuschauen,
ein
schamloses Lächeln auf den Lippen, wie von einem, der sich
unwiderstehlich glaubt und der weiss, dass es kein Weibchen gibt,
das nicht seinen Preis hätte.
Er drückte auf den Klingelknopf. Die Sekretärin erschien.
-
Rufen Sie bei mir zu Haus an, Patsy.
Nachdem die Verbindung hergestellt war, griff Gerald zum
Hörer. Er vernahm die Stimme des Dienstmädchens und frug:
-
Ist Madame zu Hause?
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-
Nein, Mrs. Ames ist ausgegangen.
-
Um wieviel Uhr?
-
Um zwei Uhr, ungefähr.
-
Mit wem?
-
Alleine.
Er wollte noch fragen, ob Tommy dort gewesen sei, aber er
beherrschte sich und legte das Telefon zurück an seinen Platz. Jetzt
begann sein Kopf zu schmerzen, es war ein langsam sich steigernder,
unterschwelliger Schmerz, der seinen Sitz im Innern des Schädels zu
haben schien, von wo er in feinen Wellen ausstrahlte und wie ein
fliegender Brand nach allen Richtungen sein Gehirn durchzuckte. Das
Blut pochte ihm dumpf in den Schläfen. Er wollte Lizzy vergessen und
konnte es doch nicht. Er stellte sich ein Hotelzimmer vor und hatte
ein krankhaftes Vergnügen daran, sich zu quälen, indem er die Szene
vor sich sah. Da war der Neffe mit nacktem Oberkörper. Bei jeder
Bewegung, die er machte, sprangen seine Muskeln, elastisch und
glänzend wie eine Aalhaut. Gerald unterhielt sich in Gedanken damit,
diese rosige Haut mit einer Rasierklinge zu ritzen. Auf Brust und
Rücken des Neffen schrieb er Namen. Halunke. Kaum hatte er die
Buchstaben geschrieben, sprangen auch schon Bluttropfen aus der
Haut hervor, sie rannen am Körper des Jungen langsam herunter. In
wilder Wut begann Gerald mit der Klinge das verhasste Fleisch zu
bearbeiten, Tommy, indessen, lächelte nur. Auf dem Bett liegend,
fand auch Lizzy sein Tun ulkig und zum Lachen. Jetzt lachten sie
beide lauthals heraus! Es war die Jugend, die sie unverwundbar
machte. Gerald warf die Klinge von sich. (Er hörte sogar den Laut,
den es gab, als sie auf die Glasplatte des Tisches fiel.) Ihm war, als
hätte er Blut an den Händen. Wenn er nicht acht gab, würde er noch
die Geschäftspapiere beschmutzen, die Policen beschmieren, die
Hunderttausende von Dollars wert waren. Er stand auf und ging auf
die Privattoilette, die Hände weit von sich gestreckt. Dort zündete er
das Licht an, öffnete den Hahn über dem Waschbecken und hielt die
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Finger unter den kalten Strahl. Aber er sah nirgends eine Blutspur.
Wie konnte er denn blutbeschmierte Hände haben, wenn alles nur
Einbildung war! Ruhe, Mann, Ruhe! So wirst du noch verrückt. Los!
Ist doch alles in Ordnung! Nein. Es steht schlecht um alles. Mein Kopf
wird zerspringen. Ich kann weder sehen noch klar denken. Aber ich
weiss, warum ich in diesem Zustand bin. Aus Mangel an Schlaf. Er
hatte die Nacht schlaflos verbracht, eine Zigarette nach der anderen
geraucht
und
dabei
auf
Lizzy
heruntergeschaut,
die
wie
ein
zufriedenes, gesättigtes Tier an seiner Seite lag und schlief.
Er zog aus der Westentasche ein Gläschen hervor, öffnete es,
hob es an den Mund und schluckte die letzten zwei Tabletten
Dexedrina, die es enthielt. Dann trank er einen Schluck Wasser aus
der hohlen Hand. Jetzt würde ihm besser werden.
-
Jerry!
Bestürzt kehrte erin sein Bureau zurück, wo er Parks vorfand,
seinen Kollegen in der Direktion.
-
Mensch, du bist ja so weiss, wie ein Blatt Papier! Was hast
-
Nichts.
Du?
Gerald zündete sich eine Zigarette an.
-
Ich hab´ dir schon mal gesagt, dass du in letzter Zeit
zuviel rauchst.
Ohne zu antworten, kehrte Gerald an seinen Platz zurück. Der
Andere setzte sich in einen der Sessel, holte aus der Tasche ein Stück
Kaugummi hervor und stopfte es in den Mund.
-
Es ist erwiesen – sagte er – dass der Raucher alle Möglichkeiten
auf seiner Seite hat, Lungenkrebs zu bekommen oder sich einen
Herzinfarkt zuzuziehen. Die Statistik....
Gerald konnte dem Kollegen nicht ins Gesicht sehen. Parks
irritierte
ihn
mit
Menschenverstand,
seinen
Statistiken,
seinem
glücklichen
seinem
praktischen
Aussehen,
seiner
Sorglosigkeit. Er schien zu denken, dass die Menschheit gerettet
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wäre, wenn Alle dem Klub der Kiwanis beiträten und jeder den
Reader´s Digest läse.
-
Gute Nachrichten! – rief Parks – indem er sich einen Klaps
auf die eigene Hüfte gab.
-
So?
-
Den Fall vom Eispalast haben wir gewonnen!
Es handelte sich um ein Auditorium in Cleveland, das vor wenig
mehr als einem Jahr von den Flammen zerstört worden war. Die
Monumental hatte der Eigentümer-Firma des Gebäudes eine Police
gegen
Feuergefahr
verkauft,
die
einen
recht
stattlichen
Wert
darstellte. Schon am Anfang hatte man Verdacht geschöpft und
vorsätzliche Brandstiftung vermutet, aber der Fall hatte sich durch
Monate
hindurch
in
Gerichtsverhandlungen
hingezogen.
Parks
erzählte Einzelheiten dieses Sieges. Seine süssliche Stimme, mit dem
Neger-Akzent der Menschen aus dem Süden, hüllte Gerald ein wie ein
widriger Duft von Magnolien. Aber die Gedanken des Ehemannes von
Lizzy waren weit weg, sie eilten zu einem gewissen Morgen in einem
anderen
Herbst.
Er
sah
sich
die
Stufen
der
National-Galerie
hinaufsteigen.
V
Nachdem
er
Witwer
geworden
war,
pflegte
er
jeden
Sonnabendmorgen die Nationalgalerie zu besuchen. Er war ein
begeisterter Freund der Malerei und rühmte sich, besonders in den
Schöpfungen des XIX. Jahrhunderts zu Hause zu sein. Seinen
Rundgang begann er meist bei der üppigen Diana von Renoir. Dann
wendete er sich einem seiner Lieblingsbilder zu, dem „Porträt der
Sônia“ von Fantin-Latour. Die Gestalt des Mädchens, nach der Mode
um
die
Jahrhundertwende
gekleidet,
mit
seinem
unschuldigen
Hütchen, die Boa um die Schulter geschlungen, die Hände ruhend im
Schosse – erschien ihm von einem geheimnissvollen Reiz. Vielleicht
suchte er in dem Bild die Tochter, die er sich immer gewünscht und
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die ihm Gott versagt hatte. Oder lag es an dem gewissen air, der das
Bild zu umhüllen schien und dem Besucher den Eindruck vermittelte,
dass diese Sônia eine Geschichte haben müsse. Wer mochte diese
kleine Französin gewesen sein, mit dem japanischen Haarschnitt und
dem runden, brünetten Gesicht? Warum blickte sie mit solch einem
Ausdruck von sanfter Betroffenheit in die Welt? Gerald betrachtete
das Bild und lächelte. Er brauchte eine geraume Zeit, um die
Gegenwart der Person zu bemerken, die an seine Seite getreten war.
Er warf ihr einen raschen und zufälligen Blick zu und beschäftigte sich
wieder mit der Malerei. Aber aus irgendeinem Anlass sah er auf´s
Neue seine Nachbarin an. Sie war ein sehr junges Mädchen mit ihm
irgendwie vertrauten Zügen. Ach so, ja, sie glich der Sônia! Er fühlte
eine prickelnde Freude, als habe er soeben das Rätsel des Bildes
gelöst und widerstand der Versuchung nicht, sich in ein Gespräch mit
der Unbekannten einzulassen.
-
Ist das Ihr Porträt? – frug er, indem er mit dem Kopf in
die Richtung des Bildes deutete.
-
Das könnte mir passen! Mit solch einem Gesichtchen wäre
ich jetzt nicht hier!
-
Wo denn?
-
Vielleicht auf diesem Bild!
Gerald fand die Antwort grossartig. Die Unbekannte hatte
genau die Stimme, die man von Sônia erwarten mochte: hell, ruhig
und flüssig.
-
Hat Ihnen nie jemand gesagt, dass Sie ihr gleich sehen?
-
Doch. Deshalb bin ich ja hier. Ich war neugierig auf sie.
-
Und was meinen Sie?
-
Ich sehe überhaupt keine Ähnlichkeit. Wahrhaftig nicht.
Sie neigte den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen.
Ein grüner Sweater umhüllte sie und betonte ihre herausfordernden
Brüste. Wie grüne Zitronen – dachte Gerald und erinnerte sich an
seine Jugendzeit, in der er sich als Maler versucht hatte und als
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armer Mensch, der er damals war, meistens die Stilleben aufass,
nachdem er sie auf die Leinwand gebracht hatte.
Beide blieben einige Augenblicke lang stumm.
-
Sagen Sie mir nur nicht, dass Sie auch Sônia heissen...
-
Nein, ich heisse Elisabeth. Elisabeth Clay.
-
Ein hübscher Name.
-
Es gibt schönere. Und hässlichere.
Gerald
war
ein
wenig
enttäuscht,
weil
dem
Mädchen
anscheinend nichts daran lag, seinen Namen in Erfahrung zu bringen.
Er fühlte ein unbezwingbares Verlangen, ihre Aufmerksamkeit auf
sich zu lenken und packte Gelehrsamkeit vor ihr aus. Fantin-Latour,
erklärte er, auf die Signatur des Bildes deutend, war ein Freund von
Degas
gewesen,
von
Monet
und
Manet,
ohne
jedoch
den
impressionistischen Kreisen anzugehören. Er war mehr eine Art von
romantischem Spätling, ein Träumer – wissen Sie – Einer, der weit
mehr mit der eigenen Innenwelt beschäftigt ist, als mit der äusseren
Wirklichkeit.
Elisabeth hörte ihm zu, blickte auf die Sônia und gab sich einer
Versunkenheit hin, die Barrieren der Zeit und des Raumes besiegte.
-
Ich glaube, ich langweile Sie.
Ach nein, nicht im Geringsten. Ich finde das Alles sehr
interessant und lehrreich. Ich habe einen Onkel, der mal in Paris war.
Gerald lächelte.
-
Kommen Sie öfter in diese Galerie?
Sie werden es kaum glauben – aber dieses ist das erste Mal.
Eine Schande, nicht wahr?
-
Eine grosse Schande. Diese hier ist nämlich eine der fünf
berühmtesten Kunstgalerien, die es in der Welt gibt.
-
Junge!
Sie gingen weiter, Seite an Seite, von Saal zu Saal. Gerald
machte seine Begleiterin auf das eine oder andere Bild aufmerksam
„Sehen Sie, Lizzy, ... ich bin alt genug, um Ihr Vater sein zu können,
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deshalb darf ich wohl Lizzy zu Ihnen sagen... beachten Sie die
Vollkommenheit jener Perspektive dort. Canaletto war von einer fast
fotographischen Genauigkeit...
Als sie beim Abendmahl von Salvador Dali angelangt waren,
erklärte Lizzy, dass ihr dieses Bild wie ein cinemascope der MetroGoldwyn-Mayer vorkäme.
Gerald lachte laut heraus. Sehr gut gesagt! Grossartig! Er lud
sie ein, in der cafeteria des Museums mit ihm zu frühstücken. Sie
nahm seine Einladung mit einer Natürlichkeit an, die ihn rührte.
Während des Essens sprach er ununterbrochen, erzählte Lizzy sein
ganzes Leben, von seiner Kindheit und Jugend in Ohio, wo sein Vater
Bahnangestellter war, dann weiter von seinem Entschluss, mit der
väterlichen Autorität zu brechen und sein Glück in Chicago zu
versuchen, wo er Zeitungsverkäufer wurde, Platzanweiser im Kino,
Kellner in Restaurants. Er übertrieb seine Not und seine Entbehrung
ein wenig und kam schliesslich in melancholischem Tonfall auf seinen
fehlgeschlagenen Versuch, Maler zu werden, zu sprechen. Als Letztes
erzählte er ihr von seinen Erfolgen in der Welt der Geschäfte.
-
Heute
bin
ich
einer
der
Direktoren
der
Monumental
Versicherungsgesellschaft – gestand er mit bedauernder Miene, als
gälte es, einen Fehlschlag zu beichten. – Ein reicher Mann, Witwer,
ohne Kinder, der allein in einem grossen, öden Kasten haust.
Täuschen Sie sich nicht, mein Kind, das Geld hat noch niemandem
Glückseligkeit beschert.
Die Lippen mit Milch befeuchtet, Augen weit geöffnet, sah Lizzy
ihn an, als sähe sie ihn in diesem Augenblick zum ersten Mal.
Grosser Gott! – rief sie aus und die grünen Zitronen wogten
heftig auf und nieder – Dann sitze ich also hier und esse mit einem
richtigen „big-shot“?
Als er dieses Wort hörte, erinnerte er sich, dass er es schon
viele Male in der Gesellschaftsspalte der „Washington Post“ gelesen
hatte.
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Vor dem Museum verabschiedeten sie sich mit einem langen
Händedruck. Gerald ging, zufrieden vor sich hinpfeifend, weiter,
joviale
Fusstritte
an
die
welken
Blätter
austeilend,
die
den
Bürgersteig bedeckten.
Am nächsten Sonnabend ging er wieder zur Kunstgalerie, in der
leisen Erregung eines Verliebten, die ihm zugleich lächerlich und
köstlich vorkam. Er folgerte: „Ich werde keinen einzigen Schritt tun,
der
abseits
von
meinem
gewöhnlichen
Wegen
liegt,
um
sie
wiederzusehen. Wie sie mir sagte, war sie vorher nie in dieser Galerie
gewesen. Gut. Finde ich sie heute hier, so kam sie in der Erwartung,
mich zu treffen. Also...“ Dann schloss er sich selbst Wetten ab. Zehn
Dollar, wenn ich sie niemals wiedersehe. Dreissig Dollar, wenn Lizzy
jetzt unter dem Porträt der Sônia steht.
Aber sie war nicht dort. Vor dem Gemälde traf er nur ein
blasses, männliches Wesen an, das wie ein Seminarist aussah und die
Malerei eifrig zu studieren schien. Enttäuscht, setzte er seinen Weg in
betrübter Stimmung fort. Vor einem Watteau verhielt er den Schritt,
etwas, was er noch nie getan hatte, denn für die Maler des XVIII.
Jahrhunderts konnte er sich nicht begeistern. Ohne Interesse blickte
er auf die Malerei, schliesslich fesselte ihn das eigene Bild, das vom
Glas zurückgeworfen wurde. Er war noch dabei, seine Krawatte zu
richten, als er im gleichen Glas Lizzy kommen sah, die geräuschlos
hinter ihn trat. Er tat so, als habe er niemanden bemerkt. Das
Mädchen pflanzte sich an seiner Seite auf, ohne ihn zu begrüssen und
äusserte, als handele es sich um die Weiterführung eines alten
Gesprächs:
-
Nun sagen Sie mir bloss nicht, dass ich auch mit diesem
Kavalier Ähnlichkeit habe.
Sie griff nach der Hand von Gerald, den ein wohliges Erzittern
von Freude und Überraschung durchrann. Was bedeutete diese
Geste? Drückte sie nur die biedere Hand eines „Onkels“ oder die des
Mannes, der eines Tages ihr Gatte sein könnte?
18
Die Hände ineinander verschlungen, schlenderten sie weiter. So
kamen sie zu dem Rembrandt-Saal, der um diese Zeit völlig leer von
Besuchern war. Unter dem Selbstbildnis des Künstlers umfasste
Gerald schweigend Lizzy´ Taille, drückte sie an seine Brust und
küsste sie lange auf den Mund.
Viele Male traf er sie in den folgenden Wochen. Einen Monat
nach der Szene des ersten Kusses, nach einer schlaflos verbrachten
Nacht voller Zweifel, suchte er den Dr. James King auf. Eine Woche
später heiratete er Elisabeth Clay.
Den Honigmond verbrachten sie unter der Sonne von Acapulco.
Als sie nach Hause zurückkehrten, fanden sie Washington in Schnee
gehüllt. Nun begann für Gerald K. Ames ein ganzes neues Leben
voller Überraschungen, voller Erregungen und immer neuer Wonnen.
Aber noch bevor das Paar den ersten Jahrestag seiner Hochzeit feiern
konnte, begann schon die Eifersucht das Glück von Gerald zu
verdunkeln.
VI
- Jerry!
Gerald fuhr hoch. Parks rüttelte ihn an den Schultern.
-
Was hast du bloss, Mann? Sitzt da, mit einem Gesicht wie
ein Schlafwandelnder!
-
Nichts. In der letzten Zeit nur ein paar Schwindelanfälle.
-
Du musst dir klar machen, dass du keine dreissig mehr
bist...
Gerald hüllte sich in verbissenes Schweigen. Parks hatte sich
seiner Heirat widersetzt und er wollte dem Kollegen keinen Anlass
geben, sein klassisches „Hab´ ich dir´s nicht gesagt?“ anzubringen.
-
Warum gehst du nicht nach Hause?
-
Das gerade werde ich tun.
-
Mein Chauffeuer kann dich hinfahren. Du scheinst nicht in
der Lage zu sein, um deinen Wagen selber zu steuern.
19
-
Blödsinn. Mir ist vollkommen wohl.
Der Andere drang weiter auf ihn ein, aber Gerald vereiste ihn
mit einem „Guten Abend, Parks!“
Wenige Minuten später sass er am Steuer seines Autos, auf
dem Weg nach Hause. Ungeduldig hielt den Wagen vor den roten
Lichtsignalen an. Dann entschloss er sich, den Weg durch den Park zu
nehmen, er war der kürzere und weniger belebte.
Als er an der Ecke der Virginia Avenue und der Strasse 21
anhielt, sah er zwei junge Soldaten, die sich mit lauter Stimme
angeregt unterhielten. Er hörte, dass sie von Frauen sprachen. Von
was Anderem konnten diese Schweine auch sprechen? Er warf ihnen
einen wütenden Blick zu. Soviel Jugend irritierte ihn. Bernard Shaw
hatte recht; die Jugend war eine wunderbare Sache, die die Natur an
junge Menschen verschwendete. Idioten!
Das grüne Licht leuchtete auf. Er drückte den Fuss mit einer
solchen Kraft auf das Pedal, dass der Wagen fast mit einem vor ihm
fahrenden Auto zusammengestossen wäre. Ruhe, mein Alter, Ruhe.
Aber wie kann ich Ruhe bewahren, wenn Lizzy diesen Nachmittag in
den Armen vom Tommy zugebracht hat. Und wenn es nicht Tommy
war? Dann irgendein Anderer. Vielleicht heute nicht? Nein, gestern
war´s. Morgen wird es ganz gewiss sein. Das ist unvermeidlich. Ich
jedenfalls bin erledigt. Ein trauriger, lächerlicher Greis.
Er bog in den Park ein und wählte eine um diese Zeit nahezu
leere Fahrstrasse, denn der rush vom späten Nachmittag hatte noch
nicht eingesetzt. Die B6aume trugen schon ihr Herbstkleid, keine
Spur von Grün war mehr an ihnen zu entdecken. Ihre Blätter waren
aus altem Gold und von einem Scharlachrot, das sich an einzelnen
Zweigen in ein rostiges Rotbraun verlor. Die Ahorn-Bäume sahen aus,
als hätten sie Feuer gefangen.
Plötzlich angesprochen und betroffen von der Schönheit des
Bildes (der Herbst war immer seine bevorzugte Jahreszeit gewesen),
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verminderte Gerald die Geschwindigkeit des Wagens und lenkte ihn
schliesslich an den Strassenrand, wo er unter den Bäumen anhielt.
Die stille Luft war von der leuchtenden Durchsichtigkeit des
Glases. Nach Virginia zu stieg eine lange, weisse Wolke, die das
Ansehen eines Flügels hatte, am Himmel auf, der sich langsam rosa
färbte.
Gerald wünschte sich Lizzy mit einer zitternden und zärtlichen
Heftigkeit herbei. Heiliger Vater, hab´ich sie wirklich für immer
verloren?
Er
fühlte
sich
als
das
Opfer
einer
ungeheuren,
unbenennbaren Ungerechtigkeit.
Schliesslich öffnete er die Wagentür und trat hinaus. Den Hut
nahm er ab. Die frische Nachmittagsluft belebte ihn und klärte seinen
Blick. Auf einmal sah er die Eichhörnchen. In grossen Scharen liefen
sie über den Rasen, übersprangen den Weg, rannten hintereinander
her, als ob sie Fangen spielten, kletterten die Bäume hoch, flink,
braunrot, lebendig wie ein unbesiegbares Symbol der Jugend. Schön
und dumm waren sie. Wie Lizzy. Wie Tommy. Er kauerte sich nieder
und streckte die Hand nach dem Eichhörnchen aus, das nur wenige
Schritte von ihm entfernt war und wohl glaubte, Gerald wolle ihm
etwas zu fressen geben. Das Tierchen streckte in ungeschickter Gier
die Pfoten nach ihm aus. Au! – stöhnte Gerald und fühlte einen
plötzlichen, heftigen Schmerz an der Spitze seines Zeigefingers. Er
durchrann ihn wie ein elektrischer Schock. In einem Anfall von Wut
wollte er das Eichhörnchen mit einem Fusstritt treffen, aber das Tier
schlug einen Haken und entfloh. Gerald führte den blutenden Finger
an den Mund. Verdammtes Eichhörnchen! Hinter sich hörte er ein
Frauenlachen. Wo? Von wem? Sie lachten über ihn. Er kam sich
selbst lächerlich vor, wie ein Narr, ein trauriger Narr. Im Park
kannten sicher schon Alle seine Geschichte. Mehr als je, war er sich in
diesem Augenblick des Elends seines Körpers bewusst. Er dachte an
die eigenen Arterien, die immer sklerotischer wurden, an die Gelenke,
die ihn schmerzten, sobald die kalte Jahreszeit einsetzte. Warum?
21
Wozu? Gab es Gerechtigkeit in der Welt? Wer hatte von seinem Altern
Gewinn? Wer? Vieleicht das Eichhörnchen, das ihm die Fingerspitze
aufgerissen hatte. Da sass das Tier am Strassenrand, auf seinen
Hinterfüssen. Gerald trat ins Auto, setzte es in Bewegung und blind
vor Hass, mit zusammengebissenen Zähnen, lenkte er es mit
höchster Geschwindigkeit auf das Tier zu. Er hörte ein Quietschen
und fühlte den Anprall des Körpers gegen den Kotflügel.
Ohne rückwärts zu schauen, fuhr er weiter.
Ich habe ein Eichhörnchen getötet – sagte er zu sich selbst,
jetzt schon voller Abscheu. Stupide. Der Schweiss lief ihm über das
Gesicht. Himmlicher Vater! Ich habe mit Absicht ein Eichhörnchen
totgefahren!
VII
Als er ins Haus trat, kam ihm Lizzy entgegen, umarmte ihn und
bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
-
Hat dir der Film gefallen? – frug er und verachtete sich im
gleichen Augenblick, weil ihm die Frage entfahren war.
-
Was für ein Film, Liebster?
-
Warst du nicht im Kino?
-
Selbstverständlich nicht.
-
Wo hast du den Nachmittag verbracht?
-
Bei Garfinckel´s, beim Aussuchen von dem Pelzmantel,
den Du mir schenken willst.
Gerald dachte an sein „Verbrechen“. Lizzy anzuklagen, war ein
Mittel, um sein eigenes Schuldgefühl herabzusetzen.
-
Warst du heute mit Tommy zusammen?
Tommy! Aber du weisst doch, das er gestern nach New York
zurückgefahren ist.
Jetzt erinnerte sich Gerald. In einem Gefühl von Erleichterung
drückte er Lizzy an seine Brust und küsste ihre Haare, die Wangen,
22
den Mund, während Tränen sein Gesicht überschwemmten. Es war
das erste Mal, dass er in Gegenwart seiner Frau weinte.
-
Aber Jerry... bist du krank?
Nein, ich war krank. Jetzt bin ich wieder wohl. Jetzt ist
alles wieder gut.
Die Frau streichelte seine Haare.
-
Das ist Übermüdung – du arbeitest zuviel. Ich werde das
Abendessen früher auftischen lassen. Wenn du magst, können wir
nachher in ein Kino oder Theater gehen...
-
Gerald dachte an den dumpfen, weichen, ominösen Anprall
gegen den Kotflügel. Und stellte sich den pelzigen, blutfarbenen Brei
auf dem Asphalt vor...
VIII
Sie waren mitten im Abendessen, als die Türglocke ertönte. Es
war der Bote von Garfinckel, der den Pelzmantel brachte. Lizzy
widerstand nicht der Versuchung, ihn sofort anzuziehen, damit ihr
Gatte sähe, wie gut er ihr stände.
-
Wie findest du ihn, Liebster?
Gerald erhob sich und stand für Augenblicke in Gedanken
versunken, das imaginäre Fell zerstreut mit den Händen streichelnd.
-
Ich muss dir etwas gestehen! – murmelte er, nach allen
Seiten
blickend,
um
sich
zu
vergewissern,
dass
die
Angestellte nicht im Zimmer war.
-
Warum diese ernste Miene?
-
Das, was ich dir zu sagen habe, ist sehr ernst.
-
Jerry! Hat dir etwa der Arzt etwas über dein Herz gesagt?
Gerald schüttelte verneinend den Kopf. Mit niedergeschlagenen
Augen beichtete er:
-
Ich habe heute im Park ein Eichhörnchen getötet.
Für den Bruchteil einer Sekunde blieb Lizzy ohne Verstehen;
dann lachte sie laut heraus.
23
-
Ein Eichhörnchen? Aber, mein armer Liebling, wo gibt es
einen Autofahrer, der nicht einmal in seinem Leben ein Eichhörnchen
getötet hätte, oder einen Hund, oder eine Katze?
-
Ja, aber ich habe es mit Absicht getan.
-
Jerry! Du musst Fieber haben! Komm, ich geb´ dir eine
Aspirin-Tablette und steck´dich ins Bett!
In diesem Augenblick klingelte das Telephon. Wenige Sekunden
darauf erschien das Dienstmädchen.
-
Mr. Ames, ein Herr wünscht Sie zu sprechen.
Gerald begab sich in die Vorhalle und näherte sich dem Apparat
in dem seltsamen Vorgefühl eines Unheils.
-
Hallo – flüsterte er.
-
Spricht dort G. K. Ames? Hier spricht Roy Philips, von der
Mordabteilung. Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern, aber wir
begegneten uns einmal in Ihrem Büro, als ich den Selbstmord-Fall
von einem bei Ihrer Gesellschaft Versicherten untersuchte.
-
Ah! Womit kann ich Ihnen dienen?
-
Ich habe eine sehr ernste Angelegenheit mit Ihnen zu
besprechen...
-
Warum kommen Sie nicht morgen in mein Büro?
-
Es muss sofort sein. Es handelt sich um einen dringenden
-
Dann sprechen Sie.
Fall.
Ein kleines Zögern auf der anderen Seite.
-
Vor etwas mehr als einer Stunde hat sich im Park ein
schwerer Unfall zugetragen... Das Herz von Gerald setzte aus. –
Sagen Sie mir, Herr Ames, haben Sie mehr oder weniger um dieselbe
Zeit den Park mit Ihrem Wagen überquert?
-
Ja.
-
Hallo? Sprechen Sie bitte lauter. Ich verstehe nicht.
-
Ja, ich war dort.
Gerald zitterte am ganzen Körper. Heftig und unbeherrschbar.
24
-
Herr Ames, der Fall ist sehr ernst. Denken Sie darum gut
nach, bevor Sie antworten. Es gibt zwei Augenzeugen des Unfalls,
wenn es ein Unfall war. Beide merkten sich die Nummer des Autos,
das ihn veranlasste. Antworten Sie jetzt mit aller Vorsicht. Welche ist
Ihre Autonummer?
Gerald brauchte einige Zeit, um sich zu erinnern. Endlich
flüsterte er:
-
AP 3456.
-
Genau die Nummer, die die beiden Zeugen angaben. Jetzt
eine weitere Frage. (Und die Stimme des Inspektors nahm allmählich
einen drohenden Ton an.) Waren Sie selbst es oder Ihr Chauffeur, der
den Wagen lenkte?
Die Antwort blieb Gerald für einige Sekunden wie festgekrallt im
Halse stecken.
-
Wer war es?
-
Ich war´s.
-
Dann
bemühen
Sie
sich
baldigst
um
einen
guten
Advokaten, denn Sie haben sich in einer Teufelsschlinge verfangen!
Gerald versuchte eine Reaktion.
-
Aber, Inspektor, schliesslich ist es doch kein so grosses
Verbrechen, ein Eichhörnchen zu töten und wenn es auch mit Absicht
geschah!
-
Ein Eichhörnchen? – brüllte der Andere. – Sie müssen
ganz ausser Verstand sein! Ihr Wagen hat ein junges Mädchen von 19
Jahren überfahren und getötet, das friedlich am Strassenrand stand!
Gerald K. Ames liess den Hörer fallen. Seine Beine gaben nach,
seine Blicke trübten sich. Aus dem Esszimmer machte ihm ein
ungeheuer grosses Eichhörnchen mit bräunlichem Fell irgendwelche
Zeichen.
Übertragung von
Juanita Schmalenberg Bezner
25
FONTE:
Bezner, Juanita Schmalenberg. Eichhörnchen im Herbst (Esquilos de
outono). Trad. de trecho de Esquilos de outono, de Érico Veríssimo.
In: Serra-Post Kalender. Ijuí, Ulrich Löw, 1971, p. 97-113.
Texto transcrito por Celeste Ribeiro de Sousa

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