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Gespenster
Es scheint, als sei alles gerade eben erst geschehen, wenn überhaupt. Eigentlich ist es nicht
vorüber, ich sehe es doch vor mir, wenn ich die Augen schliesse. Und bevor ich sie wieder
öffnen muss, geschieht es ein weiteres Mal. Ein langer Abschied, so wie ein mysteriöses
Kinobild, das vor den Augen des Zuschauers einfriert - ich werde nicht schlau daraus, ich
drehe die Spule erneut zurück zum Anfang und lasse sie dann ablaufen bis zu ihrem jähen
Ende, dem Moment, wenn nur noch das eine Bild zu sehen ist. Nach einer langen Zeit
stupider Träumerei öffne ich dann meine Augen und denke daran, was ich mit Gewißheit
sagen kann über den guten alten Alvin Kruzel. Doch das liegt außerhalb dieser Geschichte;
einer Geschichte in weiter Ferne, an einem unwirklichen Ort, wie hinter einem Spiegel. Ich
schliesse also die Augen und warte ab, bis sich das erste Bild aus der Dunkelheit des
asiatischen Dschungels herausschält:
Der dritte Zug der Foxtrott Kompanie, ein Stützpunkt namens „Wachsamer Koyote“ und ein
kleines Zeltdorf im Nirgendwo, lag ahnungslos und gänzlich unvorbereitet inmitten einer
Lichtung, die sich unvermittelt entlang des ominösen siebzehnten Breitengrades aufgetan
hatte. Ringsum lauerte die nächtliche Wildnis, reizvoll und fremd wie Barbara Stanwyck in
Double Indemnity. Drinnen, in ihrer lunular überwölkten Schlafstätte, fiel der üppig warme
Lichtschein aus zwei einander gegenüber plazierten Kerosinlampen auf eine Szenerie
trügerischer Ruhe und tiefgründiger Verwirrung, lokalisiert in den ruhelos vor sich hin
geisternden Gemütern von Private Kruzel und Bourbon-Joe.
Kruzel, in seinem neuen Leben auf den militärischen Rang eines Private reduziert, war auch
in seinem vorherigen Leben – soweit er sich zurückerinnern konnte –
ein ziemlich
grüblerischer Mensch gewesen, und diese ungesunde Unart seines Wesens war nicht vollends
unterdrückt worden durch die am Pragmatischen orientierten Konstanten seines soldatischen
Daseins, bestehend aus Essen fassen, Schlafen, Patrouille, Essen fassen und einer
gelegentlichen Nachtlektüre, der alten Gewohnheit wegen. Und doch, manchmal erschien es
ihm, als sei er, dem minimalistischen Charakter seines soldatischen Dahinlebens zum Trotz,
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noch grüblerischer geworden. Überhaupt, Private Kruzel war für seine Kameraden ein
beständiges Enigma, ein Widerspruch in sich selbst. Seiner äußeren Erscheinung nach war er
ein übergewichtiger Tolstoi, auch wenn wenige ihn als einen Tolstoi ansahen, was mit der
bedauerlichen allgemeinen Unkenntnis der russischen Literatur des vergangenen Jahrhunderts
zusammenhing, seinem inneren Wesen nach jedoch, welch bedeutungsvoller Gegensatz, war
er von einer beinahe obszön anmutender Sanftheit, ein seelisches Handicap, das er im rauhen
Dschungelalltag mit einer zunehmend agressiven Störrigkeit den Dingen gegenüber, die nun
einmal so waren wie sie vernunftgemäß nicht sein sollten, zu kompensieren versuchte.
Seine dringlichsten Gedanken waren daheim in Jersey, an der Seite jener jungen Dame, die
den schmerzhaften Stachel seelischer Hingabe – wenn nicht an dieser Stelle, nachsichtiger
Leser, wo sonst wäre lyrisches Pathos angebrachter? – in sein schwaches Fleisch plaziert
hatte. Wie war er überhaupt in diesen verdammten Krieg geraten? Eigentlich hatten sie doch
nach Kalifornien gehen wollen, gewissermaßen dahin durchbrennen wollen, denn Paulina war
strenggenommen noch nicht volljährig (nach den – wie der Franzose sagt – coulanten
Maßstäben in seiner europäischen Heimat, er hatte ungarische Wurzeln, war sie gewiß
volljährig, und für die alten Griechen und Römer wäre seine kleine Paulina, wenn man ehrlich
war, längst über das heirats- bzw. begattungsfähige Alter hinaus, nur nebenbei). Ihrer beider
Vorhaben war gewesen, sich in San Francisco einer jener friedvollen Haight AshburyKommunen anzuschließen, die sich inzwischen hinter jeder Straßenecke auftaten. Ein
schöpferisches Dasein, dem süßen Nektar der Dichterei, gemeinsamen Musizieren (denn
Private Kruzel spielte recht passabel, wie er etwas kokett einschränkte, die Panflöte) und der
freien Liebe geopfert...wie zur Hölle, wie war er bloß hierher gelangt, ans andere Ende der
Welt? Gab es etwas anderes, das in etwa so seltsam war wie sein eigenes Leben?
Aber er hatte erneut den Faden verloren und zwang seine Aufmerksamkeit zum Anfang
seiner Überlegungen zurück. Es gab kaum etwas seltsameres als das, in der Tat, sinnierte
Private Kruzel, als die Tierwelt ringsum des Stützpunktes plötzlich in ein seltsames
Schweigen verfiel. Das behäbige Schmatzen der Vampirfledermäuse, das zur eintönigen
nächtlichen Gewohnheit geworden war, versiegte ebenso jäh wie die vereinzelten Laute der
Brüllaffen- ein sicheres Zeichen dafür, daß etwas Unerwartetes bevorstand.
„Das ist seltsam...das gefällt mir gar nicht!“ raunte Sergeant Joe, der auch Bourbon-Joe
genannt wurde, vom Feldbett gegenüber, die zerfledderte alte Tageszeitung mit den
horoskopischen Vorhersagen sachte vor den dösigen Augen hinabsinken lassend wie ein gen
Erde segelndes Herbstblatt in seiner Heimat New Hampshire. Bourbon-Joe, das war einer
jener seltsamen Naturburschen, die im Krieg allmählich all ihre früheren Eigenschaften
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verloren hatten, anämische Schattenwesen einer fernen Identität, ohne festen Boden unter den
Füßen und ohne Luft zum Atmen.
„Mir gefällt hier auch nichts!“, begann Private Kruzel nach einer kurzen retardierenden
Pause, die er mit einem langgestreckten Seufzer überbrückte. So langgestreckt geseufzt hatte
er den ganzen Tag noch nicht, und da das Leben als Frontsoldat für ihn an jedem einzelnen
Tag ein absonderliches, unwägbares Dilemma war, hatte sich da einiges in ihm aufgestaut,
das nun hinaus wollte und mußte:
„Ich lese diesen Roman hier zum vierzehnten Mal, zum vierzehnten Mal, ich hab mitgezählt.
Du glaubst das vielleicht nicht, aber hier hinten im Einband, bei den Stempeln, hab ich eine
Strichliste, und da sind exakt ...fünf-zehn-einszwodrei, also dreizehn Striche aufgeführt, alle
von mir, willst du sehen...“
„Mmh-?“
„...und weißt du was“, fuhr Private Kruzel unbeirrt fort, „auf die Dauer ist das eine ganz schön
nervige Sache, so ein dicker Schinken wie dieser hier, und ich weiß ja schon im voraus was
passiert, ich kann manches ja schon fast auswendig...nein, ich träume ja schon davon! Aber,
mal im Ernst, was sollte ich sonst schon lesen? Was, im Ernst! Und da wären wir beim
Thema. Hart genug, überhaupt hier zu sein, was erzähle ich dir, in der Armee und so, aber das
Einzige, wirklich das Einzige, was ich doch verlangen darf, ist ein wenig geistige
Zerstreuung! Und weißt du was, ich frag jetzt seit Wochen nach, seit Wochen schon, wann die
neuen Bücher angeschafft werden...Ein bisschen Abwechslung wäre doch wohl nicht
schlecht, was? Doch diese Bibliothek hier, Bibliothek, so dürfte man sie nicht nennen, ein
reiner Ramsch- und Pornoladen ist das, diese Bibliothek also hat, das will ich dir sagen, eine
derart beschissene Auswahl...ganze Regale voll von Pornomagazinen, neuen Exemplaren, da
scheint der Nachschub seltsamerweise zu klappen, scheint doch nicht sooo schwierig zu sein!
Literatur jedoch? Geistige Zerstreuung? Fehlanzeige! Der reinste Schund! Patriostische
Erbauungsliteratur, miese Schinken, Liebesdramen, Vom Winde verweht, vom Winde
verpestet, die können mich mal [ein von Bitterkeit ersticktes Lachen], das hier [hält sein
Buch pathetisch in die Höhe], dieses Buch, ist das Einzige, das einigermaßen anspruchsvoll
ist...“
„Was-“
„...Was ich lesen will, willst du fragen? Das sage ich dir! Darum geht’s gar nicht sosehr, wenn
ich genau überlege, ich hätte einfach nur gern mal eine Auswahl...Ich frag mich: Haben die
Marines eigentlich mitbekommen, dass inzwischen ein neues Jahrhundert begonnen hat? Seit
über sechs...seit beinahe sieben Jahrzehnten? Joyce, hmm? Beckett, hmm? Oder Fitzgerald?
Was meinst du? Wissen die das nicht?“
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„Ich weiß nicht so recht- “, begann Bourbon-Joe träge.
„Ja, haben die das nicht mitbekommen, frag ich dich? Wo sind Jack Kerouac und die
sogenannten Beat-Poeten, nur um ein Beispiel zu nennen? Glauben die etwa, sie können uns
mit Pornos und patriotischer Erbauungsliteratur abspeisen? Wo sind die Klassiker, wo sind
Whit-man? Tho-reau? Dos-tooo-jeski, hmm? Wie sollen wir für die kämpfen, wenn die uns an
den geistigen Abgrund führen, bewußt an den geistigen Abgrund führen, frag ich dich? Nein,
ich sag dir was, die denken sie können uns zuhause auflesen, irgendwo, auf der Straße zum
Beispiel, ohne Arbeit doch frohgemut, denn mir fehlte an nichts, und ohne Immatrikulation
für ein College...oder, oder? Wo haben sie dich aufgelesen, Sarge?“
„Ein paar Leute kamen hinaus zu unserer Hütte-“
„Das ist genau, was ich sage, Joe! Die kommen in dein Leben, klopfen an deine Tür, ohne
dass du sie gebeten hättest, das zu tun. Die reissen dich aus deinem friedvollen Leben, die
schicken dich hierher, und damit ist die Angelegenheit für diese Herren erledigt...oder! Wo
war ich stehengeblieben...ach, ja: Und vor allem sind sie der Meinung, wenn wir erstmal hier
sind, dann ist alles, was wir brauchen, ein Schundheft, worauf wir ab und zu wichsen können
– entschuldige bitte – , und ein Buch hatten die ja selbst nie in der Hand, was anderes außer
ihrem Schwanz [räusper] und dem Geschick des Vaterlands interessiert uns ja nicht! [mit einer
Stimme, die sich vor Erregung jeden Moment zu überschlagen droht] Aber egal, du fragst was
ich lesen will? Verdammt, ich will ein wenig geistige Tröstung, ich will zum Beispiel ein
wenig von den geistigen Schätzen der europäischen Literatur, jener Literatur, die nach dem
Ende des Krieges, des letzten, nein des vorletzten Krieges, also nach Ende des Zweiten
Weltkriegs versucht hat, dem [jetzt beinahe schreiend] zerrüteten Dasein einer
kriegsgeschädigten Generation wieder einen Sinn, ja einen Sinn zu geben...wo ist
Hemingway? Der hat doch sogar gute Kriegsgeschichten geschrieben, verdammt...!“
Da, das geisterhaft flackernde Kerzenlicht auf dem Zeltdach über ihm...
„Sag mal“, nach einer kurzen, besorgten Pause, „...höre ich mich hysterisch an? Ich habe das
Gefühl, in meiner Stimme ist etwas zutiefst irrationales, das sich da eingeschlichen hat. Ich
hätte niemals dieses Zeug nehmen sollen, das Bizzz mir neulich angeboten hat...Aber worum
es mir eigentlich geht, ist diese...Ich meine, okay, es ist Krieg und so, aber sag mal, verlange
ich eigentlich zuviel? [erneut seufzend] Aaaach, ich bin kein guter Soldat, mein Werkzeug ist
hier..[tippt sich mit dem zusammengeklappten Buch an die Schläfe], nicht dort...[zeigt mit
dem Zeigefinger der anderen Hand auf sein Gewehr, das am Fußende seiner Hängematte an
der Barackenwand lehnt und seine Braut ist seit nunmehr fünfzehn Monaten]...und meine
Verlobte, hach, davon will ich gar nicht sprechen...“
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Und tatsächlich, als sei eine sanfte Note in der fragilen mentalen Konstitution des Private
Kruzel angeschlagen worden, gleich dem Klang einer Saite, waren Zorn und Bitternis wie
verflogen.
Stattdessen,
plötzlich,
zarte
anschwellende
Erregung,
ein
imaginierter
Konzertflügel, Paulina vor dem Flügel, ihre zarten Finger, die in rasanter Geschwindigkeit
die Klaviertasten bearbeiten, in einer – hach! – in einer Mischung aus kühler Präzision und
emotionaler Hingabe.
„Moment mal, da fällt mir ein“, unterbrach Bourbon-Joe hastig die bittersüßen Gedanken,
“ich hab da was gehört beim Morgenappell und ich glaub, vielleicht hat der Bizzz deinen
Hemingway ausgeliehen, zumindest liest er ihn wohl grade. Ich mein bloß, weil du eben den
Hemingway erwähntest. Zumindest, Bizzz hat so ne Bemerkung gemacht, beim Appell, das
war in dem Moment, als wir alle dachten, huch-was-ist-denn-nu-los, Regentropfen? Es fängt
doch wohl nicht an zu regnen? Und er dann, manchmal seh ich mich tot im Regen liegen, und
wir so, Verdammt Bizzz, sag nicht sowas, das bringt Pech!, und der Kommander plötzlich,
Ruhe, ihr Schwachköppe und Sodomiten, elendes Gesindel!, kennst ja den Kommander, und
wir dann so, ne Tonspur leiser, Bizzz, hast du eine Erscheinung oder was?, und er so mit nem
breiten Grinsen und dem schrägen Blick, das war doch von Hem, ihr Einfaltspinsel, und wir
so, häh, Hem? Und er dann, wie er halt so ist, Von Hemingway, ein Ziiie-taaat, ihr Dösis, und
wir so, Bist du mit ihm bekannt oder wieso nennst du ihn so? Und er dann...weiß nicht mehr,
du kennst ihn ja... naja ich kann mich täuschen...“
Joe hatte Kruzels vorherigem Wutanfall aufmerksam zugehört. Ein armer Kerl, der da,
ständig ein Buch vor der Nase aber verloren wie sonstwas im Dschungel. Aber ging es ihm
besser? Streng genommen hatte Joes präzise Rekapitulation der morgendlichen Ereignisse
rund um den imaginierten Regenguss und der gelehrigen Hemingway-Anspielung in all ihrer
umständlich ausgeschmückten Detaliverliebtheit, der Private Kruzel übrigens keinerlei
Aufmerksamkeit geschenkt hatte, versunken wie er war, der ganze träge Monolog also hatte
keinen anderen als einen exorzistischen Zweck gehabt, exorzistisch deshalb, weil es Joe
einzig darum ging, jene sich aus der Ferne nähernden Dämonen in Distanz zu halten, jene
Ungeheuer, die nur auf ein entsprechendes Stichwort, eine sentimentale schwächliche Regung
lauerten wie die Bluthunde, und die ihn, wenn er nicht höllisch aufpasste, bei Tag und mehr
noch in der Nacht in den Wahnsinn trieben.
Ja, es stimmte, auch er war aufgerieben von halluzinierenden Erinnerungen an eine Frau,
eine Frau die daheim auf ihn wartete, das heißt sie mußte einfach warten, das süße Weibstück,
jede Minute wie der Tag lang ist, wie sollte es ihr auch anders ergehen? Er hatte es oft erlebt,
diese hinterhältigen Attacken, sie schlichen sich an wie die Aussätzigen, von denen der Alte
früher erzählt hat, ganz schöne Schauergeschichten waren das, wollten nur ein Centstück oder
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was, kamen immer in einem Moment der Schwäche, der Unachtsamkeit, und erwischten einen
kalt und mit Hosen herunter, wie diese Herzschmerz-Säuseleien, und nichts ließen sie zurück
als Verzweiflung und Einsamkeit- wirklich, zu nichts war das nutze, an früher zu denken und
an das kleine Weibstück, eine Schlange ist sie eigentlich, hat ihn verhext. Früher, als er noch
nichts so achtsam gewesen war, da hatte er sich seinen Träumereien noch bereitwillig ergeben
und den Blick schweifen lassen, weit weit hinfort, durch das Zelttuch ihrer provisorischen
Behausung hindurch, viele tausende Meilen über den Ozean, und dann nochmals quer durch
die guten alten Staaten, denen es schon einmal besser gegangen war, bis in die rauschige
Blätterwelt seiner Heimat – Heimat, Heimat! Welch großes, mythisches Wort das inzwischen
war – die vielen großen seelenvollen Bäumen, die Blättervielfalt, direkt lyrisch für jeden, der
mit den Augen hineintauchte, ja, jene Blätter, unter denen sie einst gewandelt war, Gwenda,
seine Gwenda...seine Schwester, aber wen kümmerte das schon? Komisch, manchmal sah er
sie direkt vor sich, mitten im Dschungel, genauso wie die Umgebung ihrer kleinen Hütte.
Ein hässliches Wort übrigens, In-zest. Wer hatte sich sowas überhaupt einfallen lassen? Da
konnte er nur ausspucken, wenn er sowas hörte. War ihre Liebschaft in New England
strafbar? Gewiß, schließlich befand man sich nicht am französischen Hofe oder auf einer
verschwiegenen griechischen Insel. Was konnte die Gesellschaft schon davon wissen, nichts
ging sie das an, nichts. Und die Strafe Gottes? Gerne, nur her damit, aber im Diesseits hat sie
mir gehört. Doch seine Gedanken verwirrten sich, die Bilder verschwammen vor seinen
Augen...Fort mit euch, pockennasige Boten aus der Hölle...Das war wieder einer dieser
Nächte, einer dieser Dschungel-Nächte, die ein böses Spiel mit ihnen trieben, mit ihnen allen,
die ihre Empfindungen schärfte und auf die Spitze trieb, bis es zu viel war, bis sie soweit
waren, dass sie bei der geringsten Berührung wie ein Stern verglühten.
„Soso...“, machte Private Kruzel, und es war absolut unklar, worauf sich diese Aussage
beziehen mochte. „Meine Nerven sind überspannt“, sagte er ein wenig entschuldigend in
Richtung entferntes Feldbett, auf dem der Schatten von Joe Lapodey, jetzt Bourbon-Joe, döste
und sich gegen seine privaten Dämonen zur Wehr setzte.
„Und was vermißt du so am meisten? Hast du eine Frau?“ stocherte Private Kruzel im Trüben
und traf – welch Präsision! – den wunden Nerv.
„Wie-?“, mühsam und gequält, nicht mehr als der ferne Nachhall eines menschlichen Wortes.
Und schon wieder: Gwenda, Gwenda...pochte es gegen Joes Schläfe, wo war der Bourbon
um das alles zu ertränken und wieder auf ein vernünftiges Maß zu zwingen? [Fingert
detektivisch in der kleinen Ritze zwischen Matraze und angrenzender Zeltwand und fischt,
unter diversen Kleidungsstücken, einigen Playboy-Magazinen und einem zusammenklappbaren Feldspaten verborgen, taraaa!, tatsächlich noch eine zu dreiviertel gefüllte Flasche
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hervor, nimmt drei gierige Schlucke der nach Rauch und Erde schmeckenden Ingredienz,
propft den Korken auf, verstaut die Kostbarkeit, ohne dass irgendein neugieriges
Spionageauge hinübergespechtet hätte, an ihren angestammten Platz, und weiter geht’s, die
alte Gedächtnismaschine rattert weiter, wie geschmiert] Wie, ja wie also könnte es anders
sein, als sich ertappt zu fühlen. Ertappt, wie ein Hühnerdieb. Doch was wußte der Private
schon? Wie könnte er ihn verurteilen?
Man schaue ihn sich an, ein wenig überspannt und gereizt, ja, aber dick und gutmütig wie
ein alter Bär, der konnte nichts schlimmes über ihn denken. Ein wenig schwätzen? Nun gut,
alles was ablenkt, also nochmal ganz von vorn. Wo wäre der alte Joe Lapodey angefangen?
„In meiner Heimat gibt es Bäume, die ich sehr vermisse...“, hielt er sich sehr vage.
Private Kruzel schüttelte sich kurz in seiner Matte, wie um etwas Unliebsames abzustreifen,
gleich einer regendurchnässten Uniformen- ach Private, als ob das so einfach wäre...
„Ich verstehe das nicht...hier gibt es doch so viele Bäume, ich kann gar keine Bäume mehr
sehen, ich hasse dieses Dschungelleben!", verwarf Private Kruzel die Sentimentaliät, die
plötzlich wie ein lästiger, uneingeladener Gast die Stimmung im Raum vergiftete.
„Du verstehst nicht, wie haben zuhause ganz andere Bäume, Bäume, die woanders längst
ausgestorben sind, Ahorn und Eiche dutzenhaft, und du kannst den Himmel und die Sonne
durch die Blätter sehen und hast nur frische Luft in der Kehle, kannst du dir das vorstellen?
Und wenn sich die Blätter alle verfärben, dann kommen die Touristen zu uns, in großen
Greyhound-Bussen kommen sie, Busladungen voll, zu uns in die Berge der White Mountains,
und wir backen ihnen Streuselkuchen, klauen ihre Brieftaschen und machen Limonade,
Orangenlimonade für sie – in dieser Reihenfolge – das ist ein erklägliches Nebengeschäft!“
„Verstehe. Du hast ja auch sonst nichts, oder?“ sagte Private Kruzel und bereute es sofort.
Das Leben in den Wäldern mochte, trotz der Leaf Peeper [denn so wurden die Touristen des
Indian Summer allgemein genannt], hart und entbehrungsreich sein, die Wirtschaftslage war
schlecht und er hätte nicht darauf anspielen sollen. Die Wälder in New Hampshire waren das
kleine Fenster, das in dem bourbongeschwängerten Wahnsinn, der sich Krieg nannte, für
einen wie Sergeant Joe als kleiner hoffnungsvoller Ausblick offen stand. Jeder brauchte hier
seinen ganz persönlichen Ausblick.
Aber Joe nahm es nicht krumm, er schien ohnehin weit weg zu sein, wie in einer foliageTrance, in die er sich selbst hineinversetzt hatte, und so sprach er einfach weiter, vom Leben
in den Wäldern, und ja, auch vom Leben mit seiner Schwester, ganz unschuldig malte er sich
alles aus (ganz ohne die drängenden Fummelfinger, schmutzige Abdrücke einer befleckten
Realität, ganz ohne – rein zufällig, versteht sich – aneinanderreibende Körper zwischen Tür
und Angel, ganz ohne jene mitternächtlichen, heißblütigen Überraschungsangriffe unter dem
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Tarnmantel fiebrigen Albdrucks), von einer ihm wohlgesonnenen Natur ohne Agent Orange
oder White Orange oder Blue Orange, nur mit Naturfarben.
Es kam unter den Frontsoldaten, wie Private Kruzel betrübt feststellen mußte, nur noch
selten zu Gesprächen über Familie und Heiraten und allem was dazu gehört, ein Thema das
Private Kruzel jedoch sehr interessierte- zumeist wurde nur über Sport und asiatische
„Freudenmädchen“ gesprochen, denen manche von den Jungs auf Kurzurlaub in Saigon
begegnet waren. Das war nichts für ihn, nur ein weiteres Zeichen einer Zivilisation, die völlig
den Bach runter ging und auf alles spuckte, was einst wertvoll und schön gewesen war... Aber
so sollte er nicht urteilen, über niemandem. Vor allem durfte er nicht bitter werden, er war
doch zuhaus immer ein sehr umgänglicher, feiner Kerl gewesen...
„Mmmh...? Nein, das war nicht mein Finger...“, brummte Joe gedankenverloren, vermutlich
auf irgendeine imaginäre Frage antwortend, die er sich im Geiste selbst gestellt hatte.
Woraufhin ein Schweigen folgte, das beide Soldaten in sich selbst versunken sah. Bald wußte
keiner mehr, wie man an die vorherige Konversation sinnvoll hätte anknüpfen können.
Die verfluchten Hippies hatten in dem Punkt recht, dachte Joe völlig unvermittelt, aber
Drogen konnten eine wahnsinnige Hilfe sein...wie war er darauf gekommen...Der Dschungel,
der elende Dschungel war Schuld! Die Gedanken zusammen zu halten war verdammt
schwierig inmitten von diesem großen, atmenden Etwas...Ach komm, Joe, eines Tages
schlägst du die Augen auf und bist wieder inmitten der Heimat, in deiner kleinen Holzhütte in
den White Mountains. Aaaach, wer´s glaubt...
„Tarapp, Tarapp, Taptaaaaarapp!“
Private Kruzel kräuselte die Stirn über die plötzliche rhytmische Dissonanz, die sich über
den imaginierten musikalischen Vortrag seiner virtuosen Verlobten gelegt hatte wie die
kakophonischen Klänge eines nervtötenden Trommelspielers, und zwar einer von denen, die
er bei einem früheren Besuch der pamplonischen Fiesta unter den einheimischen riau riauTänzern gesehen hatte. Und er hatte sie bereits damals nicht ausstehen können, diese
überdrehten Fiesta-Heinis. Nur, was machte der riau riau- Tänzer hier im vietnamesischen
Dschungel?
„Schleeeemihl, alter Schleeeemihhhl, alter Schleeeeeeemihl!“, flötete es durch die Baracke.
Private Kruzel hob mühsam den Oberkörper, um den schmalen Gang hinunter zu spähen,
konnte jedoch, da er seine Brille – er war etwas kurzsichtig – zum Buchlesen immer ablegte,
nur verschwommen die schlaksige Gestalt erkennen, die in ungelenken Bewegungen auf sie
zugetänzelt kam und dabei komische Geräusche machte. Trotzdem wußte er natürlich sofort,
um wen es sich handelte.
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„Ich bin geisteskrank, geisteskrank!“, trällerte es Private Kruzel und Sergeant Joe, der nun
auch in Richtung des wahnsinnigen riau riau- Tänzers blickte, entgegen. „Schlemihl, alter
Schleeemiehhl! Guten Tag! Ich bin heute geistig behindert!“
„Soso...“,
machte
Private
Kruzel,
während
Bournon-Joe
–
weiterhin
in
seine
Laubwaldvergangenheit versunken – der Szene und dem plötzlichen Eindringling, den er nur
zu gut kannte, kaum Aufmerksamkeit schenkte, und es vorzog, noch ein paar köstliche
Schlucke zu tanken und im Dämmerzustand dahin zu delirieren: Northern Red Oak, Scarlet
Oak, Red Maple, Silver Maple, Gwenda Maple, zarte Farbenpracht, vollendete Symbiose aus
Chlorophyll und Zucker...
„Nun, meine Damen, für heute ist mein Dienst beendet, das verrat ich euch...Eines kann ich
dir versichern, mein süßer Dicker: Von dem Fraß hier hab ich genug, damit bin ich durch, da
dreh ich durch, wenn ich das noch ein paar Tage länger fressen muß, den Fraß, den
elenden...Huuuh, was leeeeesen wir denn da ?“ [deutet auf den alten französischen Schinken,
der aufgeklappt und geduldig auf Private Kruzels stattlichem Bauch ruht, bereit, ein
vierzehntes Mal gelesen zu werden]
Private Kruzel fühlte ein leises Unbehagen in sich aufsteigen. Nicht, dass er Sergeant
Easterman verabscheute, er war ihm vielmehr oft genug ein zur Zerstreuung willkommener
Gesprächspartner gewesen, die Anspielung auf sein kleines Gewichtsproblem hätte er jedoch
unterlassen können. Zudem war es ihm nicht geheuer, dass ausgerechnet der Sarge über das
Essen herzog, wo er doch selbst der Kantinenchef war...Das Essen war eine wichtige Sache
im Dschungel, um nicht gänzlich verrückt zu werden, eine Bestätigung des Prinzips von
Lebendigkeit und Akzeptanz der menschlichen Daseinsform, allen widrigen Umständen zum
Trotz, ja, davon war er überzeugt. Umso überflüssiger dieser taktlose Kommentar, selbst
wenn Krieg war, eine weitere unerfreuliche Angelegenheit.
Er beobachtete den Sarge, der eigentlich Bill hieß, den aber alle nur Bizzz nannten, warum
wußte keiner (Private Kruzel vermutete jedoch, der Spitzname von Easterman sei eine
sprachliche Abwandlung von bizarr). Sergeant Easterman war eine große, hagere Gestalt mit
spärlich-wirrem Haar, die sich, ungeachtet ihrer in letzter Zeit stark erhöhtem Drogenkonsum,
allgemein den Ruf erworben hatte, zu den eher intellektuellen, distinguierteren Frontsoldaten
zu gehören. Zumindest hatte Sarge Bizzz eine hervorragende Erziehung genossen, wie es
hieß. Eltern Universitätsprofessoren und so, dazu eine vermögende und spendable, kinderlose
Tante, die um seine Gunst mit den leiblichen Eltern buhlte, alles recht komplex. Daher hatte
Private Kruzel ihn vermutlich anfangs für einen Bourgeois gehalten, obgleich sich Private
Kruzel selbst natürlich auch gern über sein literarisches Interesse definierte, das allerdings in
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gänzlicher Eigeninitiative entwickelt und nicht durch den Feinschliff eines durchgeistigten
Elternhauses gefördert war, aber egal.
„Soso, Kruzel...“, meinte Sarge Bizzz, nachdem das raubtierhafte Etwas hinter seinen dicken
Brillengläsern das Buchcover taxiert hatte – er war tatsächlich noch ein wenig kurzsichtiger
als der Private –, „wenn ich nicht so verflucht beschäftigt wäre, würde ich gewiss auch nach
der verlorenen Zeit suchen!“
Private Kruzel hatte einen Einfall: „Sag mal Bizzz, stimmt es, daß du seit Monaten Bücher
ausleihst und nicht wieder zurückgibst, zum Beispiel Ernest Hemingway?“
Sarge Bizzz verzog das Gesicht und machte erstaunte Augen, als habe er soeben eine
indianische Squaw nackt durch den Raum laufen sehen. Dann beugte er sich leicht herunter,
befühlte mit der linken Hand visitatorisch seinen ausgemergelten Oberkörper und fischte mit
der anderen ein kleinen kleinen blauen Beutel aus seiner Hosentasche hervor:
„Voilá! Ein kleiner Koffeinschub gefällig? [wedelt verspielt mit dem Beutel vor Kruzels
Gesicht hin und her] Ich bin heut die alte Kräuterhexe! Probleme beim Wacheschieben?
Schwere Augenlider, die dem Gesetz der Schwerkraft folgen wollen, während der
Vietcoooonng sich dem Schützengraben bedrohlich nähert? Huuuuuh...das hier bringt
Abhilfe! [entnimmt dem Beutel eine kleine Pille und befördert sie mit einem gekonnten
Schnipp! in den Rachenraum] Ich hab heut schon drei – nein: vier! – davon genommen und
sie wirken, wie du siehst, ausgezeichnet! Du auch eines, kleiner dicker Schlemihl...?“ [beugt
sich zu Kruzel herunter und macht eine Visage wie seine alte Oma, die ihr freundliches,
zerfurchtes Antlitz stets dem Gesichtsfeld des Säuglings genähert hatte, um eine zärtliche
Geste seiner Zuneigung zu erhaschen]
Private Kruzel war nicht nach zärtlichen Gesten zumute. Noch immer hing er träge in
seinem behaglichen Netz und wälzte sich ungelenk hin und her, unsicher ob des verlockenden
Angebots. Andererseits hatte ihn das Gras, das er zuletzt aus den Händen dieses verstiegenen
alten Kantinen- Mütterchens empfangen hatte, irgendwie aggressiv gemacht, und er erkannte
sich kaum wieder, wenn er zornig war. In Gedanken, wenn sein Geist ganz weit weg war vom
Dschungel, war er noch immer der einfühlsame, glückselig den Akademiestücken seiner
Geliebten lauschende Alvin. Wie seltsam, diesen Namen im Geiste auszusprechen,
Alvin...gehörte dieser Name noch zu ihm? Hier war er Private Kruzel, und die Musik aus der
Heimat war wie ein ferner Klang, der über den Ozean herüberwehte.
„Seit Tagen fördere ich nichts anderes zutage als steinharte Brickets, das macht mir
Sorgen...“, sagte Sarge Bizzz und zauberte auf sein Gesicht eine manirierte Sorgenfalte,
haargenau in der Art, wie es bei ihm zuhaus vor Jahrhunderten die alten Fetteln zu tun
pflegten, wenn sie aus dem Vogelflug eine ungünstige Vorhersage für die Zukunft deuteten.
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„Warum nennst du mich Schlemihl?“, wechselte Private Kruzel das Thema.
„Nicht sauer sein, altes Tucktuck-Baby! Ist nur eine Art... Typisierung, was religiöses
eigentlich, nenn es meinetwegen literarisch, wenn du so willst, zur oberflächlichen Erfassung
deines komplexen hochneurotischen Charakters, [fuchtelt mit den Händen durch die Luft] aus
dem hier niemand schlau wird und der noch alle in die Verzweiflung treibt. Aber ich liebe
dich natürlich!“
Private Kruzel fand Sarge Bizzz ganz aufgedreht, ein Opfer der modernen Wissenschaft. An
eine Konversation über Literatur war sicher nicht zu denken.
„Ach...Sarge?“, schwebte es schüchtern vom der gegenüberliegenden Barackenwand herüber,
wo Bourbon-Joe inzwischen wieder in die Sphäre der tristen Gegenwart aufgetaucht war,
„wie sieht die Lage auf dem hochprozentigen Markt aus?“
Rasch hatte Sarge Bizzz – schneller als der gemächliche Private Kruzel reagieren konnte,
dessen Hand irgendwo im neutralen Raum schwebte und sich nicht zum Zugreifen hatte
entschließen wollen – den blauen Aufputschbeutel wieder in der Hosentasche verschwinden
lassen und war im nächsten Moment, bevor irgendjemand der Szene hätte folgen können, aus
der Baracke hinausgestürmt, und zwar mit den Worten „Ich werde sehen, was sich machen
läßt!“
„Erstaunlicher Abgang,“ meinte Sergeant Joe träge.
Private Kruzel überlegte einen Moment, ob er weiterlesen sollte...Ein jäher Gedanke kam
ihm plötzlich, ein Gedanke daran jene Wirklichkeit, von der er so weit entfernt lebte,
wiederzufinden, wieder zu erfassen, die Wirklichkeit, von der er sich immer mehr entfernte,
jene Wirklichkeit, ohne deren wahre Erkenntnis er am Ende noch stürbe, und die doch ganz
einfach sein Leben war, und entschwand dann wieder, ehe er daraus hätte schlau werden
können... Stattdessen erneut Melodien aus der Ferne. Jaaaaa, ihr reichhaltiges BachProgramm, wie waren noch gleich die Titel, ach ja, Kunst der Fuge und Widerstehe doch der
Sünde, ihre Fugen, traumhafte Fugen, er verstand nicht viel davon, aber er hörte wahre
Kenner davon sprechen, und was sie in Worte fassten, das konnte er fühlen...Die Kunst, mit
zehn Fingern Klangfarben wie mit einem Orchester zu erzeugen, eine Phrase wirklich leben,
erst ein wenig verhalten, dann dem Höhepunkt entgegen streben, doch selbst dem Drängen
zum Trotz einen Widerstand aufbauen, damit tatsächlich im sachten Vorwärtsschreiten so
etwas wie ein Bogen zustande kommt, der sich hin zur Klimax, zum Finale erstreckt, und von
dort dann langsam dem Sehnen nach einer Auflösung der Spannung entgegenkommen, bis die
Phrase beendet ist, dann Atem schöpfen und eine neue Phrase beginnen...aber wie schwer es
war, der Sünde zu widerstehen, wie unmöglich...
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Die Anmut, wenn sie spielte, vor einem großen Publikum oder im kleinen familiären Kreis,
in den er sich wie ein wollüstiger Plebejer – als Nachhilfelehrer, nicht der ihrige, nein, der
ihrer jüngeren Schwester – hineingeschlichen hatte, wie ein Wolf auf Samptpfoten...aber
dieser Rhythmus, dieses Gefühl...mmmh, und dabei hatte er sie zunächst für eine Lesbierin
gehalten. Aber warum eigentlich? [verzieht im Bemühen, die Erinnerung wachzurufen,
grüblerisch die Miene] Naja, zunächst hatte sie ständig Chopin gespielt, zumindest hatte sie
ihm gesagt es sei Chopin, dabei hätte sie natürlich alles für ihn spielen können, aber es war
ausgerechnet Chopin gewesen, so fragil, so vergeistigt, diese europäische Aura, die von der
ganzen Familie ausging, französische Aristokraten wenn er sich nicht irrte, ein verkümmerter
Zweig allerdings – sonst wären sie wohl nie nach New Jersey gezogen – das heißt, waren sie
wirklich Franzosen? Oder Belgier, Polen, Hugenotten? Verfluchter Mist, er konnte sich nicht
erinnern! Ach, aber was soll´s, ruhig Blut, war doch nicht wichtig, von wo sie einst
gekommen waren, auf diesen Stammbaum-Fetischismus, den man in gewissen Kreisen zu
betreiben pflegt, hatte er nie einen feuchten Dreck gegeben, worauf es alleinig ankam war
also, wollte er sagen, nicht die Frage ihrer Herkunft, sondern...ja, was war wichtig, verdammt
wo war er stehen geblieben... – diese verdammten Haluzinogene! Er hätte niemals Meskalin
probieren dürfen, eine verfluchte Apotheke war das hier, eine Hexenküche! – ach ja, das
wichtige und entscheidende war, natürlich, daß sie keine Lesbierin war, sondern sich vielmehr
nach nicht allzu langer Zeit, im köstlichen Versteck eines dichten Rhododendrongebüschs (es
war Sommer, nein..Frühjahr, ohja! Ja, Paulina! Das zarte Aufknospen der Pflanzenwelt um sie
herum) – und während die Eltern im Jugendstil-Wohnraum musizierten, hehehe – in seine
starken, ungeschickten Arme begeben hatte, seine zärtliche Gefangene wurde, die er später
einmal mit sich nehmen wollte, hinaus aus dem vornehmen Käfig ihres Elternhauses, auf in
die Ferne, on the road, dorthin wo das Leben gerade am aufregendsten und lebendigsten war,
auf nach San Francisco, oh ja! [legt einen Arm verspielt und zufrieden in den Nacken und
wiegt sich gemütlich hin und her, das protestierende Ächzen der strapazierten Seile
ignorierend, ehe er sich grüblerisch – noch nicht vollständig mit dem harmonischen
Erscheinungsbild seiner Imagination einverstanden – auf die feiste Unterlippe beißt]
Und dennoch, da war dieses junge Mädchen gewesen, diese Konkurrentin, zumindest hatte
er sie als solche empfunden... Nicht die Eltern waren das Hindernis, wie sich später
herausstellen sollte, sondern dieses andere junge Ding, ach wie hieß sie noch gleich, auch so
ein geschraubter Name, so französisch, nicht direkt geschraubt, vielmehr...verdammt, ihm fiel
nicht das richtige Wort ein, so...kapriziös, ja!, zumindest war sie im gleichen Alter wie
Paulina, und wie sie ständig die Köpfe zusammensteckten, und da war ihm ja auch erst die
Idee gekommen, daß es in diesen schicken Kreisen ja – wie ihm aus der Literatur bereits
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bekannt war –
quasi als perverse Gepflogenheit einer sich weltmännisch aufspielenden
aristokratischen Sippschaft, als harmlose erotische Spielerei, allgemein geduldet und
anerkannt war, zwei heranwachsende junge Mädchen zusammenzubringen, zur Ausbildung
einer verfeinerten Note der sinnlichen Betätigung... neugierige Frauenhände, die auf
Forschungsreise gehen, mmmh, möglicherweise war da etwas dran....erste harmlos
dahingehauchte Küsse und was immer noch geschah, ohne das eine Konsequenz, also eine
aufgeblähte Bauchdecke, daraus erwüchse. Naja, auf diese Art waren die Mädchen zu einer
gewissen Reife gelangt, bevor sich ihnen – grob und feist – die ersten männlichen
Forscherhände, und es blieb ja nicht bei den Händen, erwartungsvoll näherten...bevor also
seine Hände an jenem verzauberten Pergolanachmittag tätig wurden. Nun, ob da etwas dran
war an dieser Geschichte, er hatte es nicht herausfinden können und er war auch viel zu
rücksichtsvoll gewesen, um sie darauf anzusprechen. Sehr bald hatte er ihr Herz gewonnen,
hach wie romantisch das klang, eigentlich ziemlich euphemistisch, denn es war ja so
leidenschaftlich vor sich gegangen, diese kleine Raubkatze, er hatte noch so gestaunt, weil er
sie ganz anders, viel zartfühlender – die Anmut ihres Flügelspiels, Chopin! – eingeschätzt
hatte...
Nein nein, das war ein Teil in ihr, den hatte nicht er zum Leben erweckt, das war sie
gewesen – aber ein Scheiß drauf, jetzt gehörte sie ja ihm –, das war diese Anaïs gewesen, da
war ihr Name wieder! Anaïs Nappo...klein und dunkelhaarig, durchtrieben und frühreif,
vorlaut und fuchsartig, beinahe einschüchternd für ihr jugendliches Alter, mit messerscharfironischem Blick, ein Schatten auf Paulines junger Blüte. Und natürlich auch aristokratisch –
ganz Ivy-League! – , versteht sich, die geeignete Spielgefährtin, um seine Paulina
einzuführen, um sie zu verderben, gewiß nicht verstohlen in einem Gebüsch, das wäre ganz
und gar nicht standesgemäß gewesen, vielmehr schamlos und ganz offiziell in ihrem
Mädchenzimmer, mit einem Türschild – Silence! s´il vous plait. Deux lesbiennes en action! –
draußen angebracht, paah!
Schwere tatzige Pranken lasteten unruhig auf seiner Stirn. Er war übernächtigt, er sollte jetzt
aufstehen, er sollte dem Sarge hinterherlaufen...ach, allein das! Er würde ihn kaum
einholen...und dennoch würde er einen kleinen Aufputscher ganz gut gebrauchen
können....wirklich merkwürdig, dieses seltsame Gefühl in der Magengegend, es war kein
Hungergefühl oder irgendeine sehnsuchtsvolle melancholische Verstimmung, nein, vielmehr
so etwas wie eine Vorahnung! Da lag etwas in der Luft...
Erstaunlich, wie rasch die Dinge manchmal geschehen, wie schnell eine neue Situation
eintritt, beinahe wie in einem Traum, und man weiß später nicht mehr, wie es eigentlich dazu
gekommen ist, geschweige denn wie es sich bereits durch dieses flaue Gefühl, eine dunkle
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Vorahnung, ankündigt hatte- überhaupt bestand das ganze Dschungelleben nur aus dunklen
Vorahnungen, ach was, das ganze Leben. Die Erweckung eines atavistischen Instinkts, ja, den
frühere evolutionäre Entwicklungsstadien einmal zum menschlichen Überleben in einer
feindlichen Umgebung herausgebildet hatten und der für den Zivilisationsmenschen
unwiederbringlich verloren war.
Es war späte Nacht, noch stockdunkel, der Dschungel lag in trügerischer Ruhe, Private
Kruzel döste ein wenig. Schlafen im eigentlichen Sinne, wie er es von früher her kannte,
konnte er nicht mehr, konnte niemand mehr, man lag mit einem wachen, naja, oft genug mit
einem rauschhaft umnebelten Auge darnieder.
Im nächsten Moment war Sergeant Bizzz zurück, ebenso unvermittelt wie er einige Zeit
zuvor, Gott weiß wie lange das her sein mochte, verschwunden war. Er hatte eine Weile damit
zugebracht, sich zu überlegen, ob er einen dramatischen Auftritt wählen sollte, um die Bande
angemessen in Alarmbereitschaft zu versetzen, denn schließlich waren ja dramatische
Ereignisse im Gange, deren Ausmaß noch nicht vollständig abzusehen war. Da war – soviel
war gewiss – ein Funkspruch gewesen, mit dem alles seinen Anfang nahm: Signal 300, das
bedeutete „feindlicher Angriff“! Und das direkt aus Saigon, aus dem Botschaftsgebäude!
Puuuh, das war ernst...er mußte einen klaren Gedanken fassen, einen klaren Gedanken, um
angemessen reagieren zu können..., die Koffeindosis, die er sich im Verlauf des Tages
zugeführt hatte, konnte ihm noch äußerst nützlich sein, so schnell würde er nicht
schlappmachen, auch wenn er noch immer ein wenig aufgedreht war, nicht zu sehr
aufgedreht, er hatte sich vorhin in die Küche begeben und einige Poulardenbrüste zubereitet,
die nach der Mittagskantine für den Offiziersstab übrig geblieben waren, mit einer köstlichen
Minz-Salsa- Sauce nappiert, dazu einige Kaiserschoten (zusammen mit Lauchzwiebeln in
Erdnussöl angebraten).
Die Poulardenbrüste hatte er mit den Cornflakes paniert, die er aus einer der Kisten für die
Frühstücksrationen herausgefischt hatte. Für die Minzsalsa hatte er außer einem fein
geschnittenem Bund türkischer Minze – die Verpflegung der Offiziere war etwas
anspruchsvoller als die der Mannschaftsdienstgrade – alles verwendet, was ihm in den Sinn
gekommen war, also Salatgurke, grüne Paprika, Lauchzwiebeln, Chilis, etwas Limettensaft
und Salz, genau genommen Meersalz, eine schmackhafte, runde Sache! Tjaja, kochen konnte
Sergeant Bizzz in jedem Zustand, was ihn nicht wenig stolz auf sich machte (zwei Monate
zuvor hatte er bei einem feierlichen Stabskongress mit einem kredenzten Zicklein für eine
kleine Sensation gesorgt)...natürlich hatte er auch Übung darin, in allen möglichen
Bewußtseinszuständen die motorisch notwendigen Handgriffe zur Zubereitung eines Mahls zu
tätigen und rein instinktiv, quasi also unbewußt, auf Rezepte zurückzugreifen, die irgendwo in
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einem Teil seines Unbewußten abgespeichert waren, auf den diverse halluzinogen wirkende
Drogen, sämtliche Opiate oder einfaches Peace oder Gras, ja sogar Morphium und
Methamphetamine keinen Zugriff hatten, ja wirklich erstaunlich – obwohl er sich nicht sicher
war, was genau er in seinem Dschungelleben schon alles ausprobiert hatte, zumeist handelte
er nur mit allem möglichen Zeugs, das er sich von seinem Verbindungsmann, einem
halbvietnamesischen Apparatschik, beschaffte, der es wiederum von anderen Leuten bezog,
die Sarge Bizzz nicht persönlich kannte und auch nicht kennen wollte, die wiederum in
Kontakt standen zum laotischen Gebirgsvolk der Meo, das unter der Billigung der Marines
und zur Sicherung seines Auskommens Opium im großen Stil anbaute, tjaaa, Verbindungen
waren alles – aber die jetzige Situation war ernst, er durfte nicht zu sehr abdriften,
Konzentration, ja Konzentration war gefragt... sah so aus, als sei er der Einzige, der dazu in
der Lage war eine Entscheidung zu treffen, Sergeant Easterman, an ihm hing das Schicksal
des Stützpunktes, Donnerlittchen...Er war so damit beschäftigt, sich eine angemessene
Reaktion zu überlegen, dass er, unversehens, völlig unspektakulär ins Kompanie-Zelt Nr. 6
geschlendert war.
Der Kommandeur oder einer der Lieutenants mit genügend Mumm, der danach lechzte die
militärische Hierarchie weiter emporzuklettern, hätte vermutlich das gesamte Zelt ordentlich
zusammengebrüllt und etwas von sich gegeben wie „Bewegt Eure faulen Ärsche in die Höhe
und trocknet eure Pinte, der Feind greift an!“, und er hielt es durchaus für möglich, dass
Dergleichen in einem der anderen Zelte – der Stützpunkt war doch recht groß – bereits im
Gange war, aber Sarge Bizzz teilte zum einen nicht die eher grobe Mentalität dieser Leute,
und außerdem mußte er plötzlich an seine Erziehung zurückdenken, an die elterliche
Förderung seiner künstlerischen Empfindsamkeit. Nun ja, um es zusammenzufassen, sah er
sich aufgrund seiner geistig-kulturellen Konstitution nicht dazu in der Lage, etwas Derartiges
zu sagen, geschweige denn es herauszuschreien. Komisch, dachte Bizzz mit einer
ermutigenden Selbstgewissheit, während er unschlüssig im Zeltgang verweilte, direkt
komisch, dass er gerade in einem solchen Moment, der ihn [mit stolzer Intonation] einer
schicksalhaften Konfrontation mit dem Tod aussetzte, an seine Kindheit, an seine Wurzeln
zurückdachte- war in diesem Wahnsinn noch nicht alles verloren?
Sarge Bizzz wählte, sich der fragilen psychischen Konstitution seiner Gegenüber bewußt,
eine gedämpfte Tonart, um den Private und Bourbon-Joe über die Vorgänge in Kenntnis zu
setzen: „Leute, ihr werdet nicht erraten, was soeben vor sich geht...!“
Unglaublich, tatsächlich...an viel mehr konnte Private Kruzel nicht denken, während
inzwischen auch die kurze Sirene ihr jauliges Wehklagen über den gesamten Stützpunkt
verteilte, um jeden einzelnen Soldaten von der bedrohliche Botschaft in Kenntnis zu setzen,
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dass also die Kacke gewissermaßen am Dampfen war. Nein, nun war offensichtlich nicht
mehr der Zeitpunkt, um sich in philosophische Überlegungen zu ergehen! Nun öffnete sich
der tiefe Schlund des bevorstehenden Kampfes und entblößte – wie hübsch das klang – seine
todbringenden, reißerischen Zähne...Aber nein, er wollte nicht sterben! Er konnte auch gar
nicht sterben! Wie könnte jetzt alles vorüber sein, wo er nicht einmal mit seiner
Vergangenheit abgeschlossen hatte? Alles lief durcheinander, besonders vor den Zelten, wo
sich einander widersprechende Befehle überschlugen. Offenbar war die Befehlsstruktur
unterbrochen, oder alle waren ob des breitgefächerten Angriffs, der nun – obwohl noch keine
Gefechtsgeräusche zu hören waren – unmittelbar bevorstand, bevorstehen musste, in panische
Aufregung versetzt. Mmmh, möglicherweise war aber auch alles nur ein falscher Alarm?
„Victor Charlie hat eine Großoffensive gestartet!“, hatte Sarge Bizzz wenige Minuten zuvor,
um Contenance bemüht, verkündet. Sergeant Joe schien nicht weiter verunsichert, doch
Private Kruzel hatte, wie ihm nun schmerzlich bewußt wurde, eine solch bedrohliche
Situation noch nicht erlebt, den Großteil seiner Dienstzeit hatte er schließlich an einem
Schreibtisch in Saigon verbracht. Aber auch da war es nunmehr offensichtlich nicht mehr
sicher, wie der Sarge zu verstehen gab, als er damit begann, seine Leute provisorisch mit
einzelnen Puzzlestücken der Ereignisse zu versorgen, szenisch und dramaturgisch ergänzt von
einigen seltsamen, nicht zu entziffernden Schattenbildern, die er zur Illustration seines eher
trocken gehaltenen Berichts mit fahrigen, flatterhaften Händen vor dem karmesinfarbenen
Schein der Lampe an die Zeltwand fabrizierte:
„Die amerikanische Botschaft in Saigon ist überfallen worden, außerdem sind Angriffe
gemeldet aus einem guten Dutzend anderer großer Städte, besonders im Mekong Delta, das
genaue Ausmaß der Kämpfe ist zur Zeit ungewiss, aber es handelt sich zweifelsohne um eine
Großoffensive...[an Private Kruzel gewandt, der zerstreut seine Brille suchte] Dennoch
besteht kein wirklicher Grund zur Panik, ich bin sicher ...hmmm....dass unsere Truppen rasch
und siegreich zurückschlagen werden... Eine seltsame Vorstellung von einem Neujahrsfest
haben die! [ungläubig den Kopf schüttelnd]“
Bourbon-Joe hielt in seinen motorischen Verkehrungen, sich die Stiefel zu schnüren und
sein Gewehr mit Munition zu füttern, einen Moment inne, weil ihm leise Zweifel kamen (die
Sirene – als offizielles Zeichen einer drohenden Gefahr – war zu diesem Zeitpunkt noch nicht
ertönt, geschweige denn dass etwaige Gefechtsgeräusche durch den Urwald tobten)...
“Sag mal, Bizzz...nichts für ungut, aber bist du dir da ganz sicher? Täusch ich mich, oder hat
Westmore [wie General Westmoreland bei manchen der Einfachheit halber genannt wurde]
einen achtundvierzigstündigen Waffenstillstand ausgehandelt?“
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„Mmmmh, ich fürchte du täuscht dich nicht“, machte der Sarge etwas nachdenklich, noch
immer auf seine bourgeoise Art ostentativ gelassen.
„Und warum läßt der Kommandeur nichts verlauten?“, ließ Bourbon-Joe nicht locker, ganz so
als wolle er sich zu später Nacht nicht ohne triftigen Grund aus seinem Feldbett begeben.
Sarge Bizzz schien verlegen, ein leises Schuldgefühl kratzte unangenehm an seinen
Magenwänden. „Nun, es ist offen gestanden so, dass in diesem Moment mehrere Leute damit
beschäftigt sind, den Commander dazu zu bewegen, einmal ordentlich abzukotzen, um wieder
halbwegs bei Sinnen zu sein...[resignierend] Unter uns, ich würde in den nächsten zwölf
Stunden nicht auf den Commander zählen...“
„Und was ist mit all den anderen?“, traute sich Borbon-Joe kaum zu fragen.
„Naja, bei den meisten Jungs aus dem Befehlsstab sieht es kaum anders aus..., [mit gespielter
Strenge, denn so richtig streng konnte der Sarge Bizzz gar nicht sein] aber ich hätte den
Leuten auch nicht geraten, alle zur selben Zeit etwas einzuschmeissen! [achselzuckend] Mal
sehen, wen wir wieder auf die Beine kriegen! [sich ob eines Einfalls plötzlich köstlich
amüsierend] Da fällt mir etwas ein. Na, das ist ja wirklich ein Ding...Unser guter Cassandrus,
[an die beiden gewandt]– das ist einer der griechischen Tellerwäscher – hat doch seit Tagen
von nichts anderem phantasiert als einer bevorstehenden Offensive der Nationalen
Befreiungsfront, und das sieht mir jetzt doch tatsächlich ganz danach aus- damit hat er sich
eine Kiste Jack Daniels verdient! Aber tsssss, es wollte ihm natürlich niemand glauben...“
„Ich würd auf das Geschwätz anderer nichts geben, ich trau nur der Wissenschaft und les´
meine Horoskope!“ verlautbarte Bourbon-Joe, noch immer nicht von der ganzen Sache
überzeugt.
„Steht zumindest drin, mein treuer Kumpan und Saufkopp, wie die ganze Geschichte hier
ausgehen wird?“, meinte Sergeant Bizzz, ein wenig ironisch-scherzhaft, denn er verachtete
Astrologie.
„Lass mal sehen“, meinte Sergeant Joe und fischte eine uralte Zeitung unter seiner Pritsche
hervor, einen zerfledderten Teil des „New England Patriot“ vermutlich, aber es könnte sich
auch um eine andere Gazette gehandelt haben.
„Ah! Ja, ja...Skorpion! Das bin ich dann wohl...[Joe streicht das strapazierte Altpapier auf
seinem Schoß so glatt wie eben möglich, um die Eintragung zu entziffern, und rezitiert
anschließend umständlich und gebrochen] ...Showtime! Mit ihren spit-..spritzigen Ideen ihrer
Durchsetzungsfähigkeit und jenem Quentchen Glück, das auch die Tüchtigen brauchen, sind
Sie in der Poo...Pool Position...“
„Wieso Pool Position?“, warf Private Kruzel in die Runde.
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„Moment, geht noch weiter: Sie sind verkrampft? Wahrscheinlich leiden Sie unter aufge...aufer-legten Verboten. Lassen Sie sich doch mal gehen! Lassen Sie sich doch mal gehen?
[wendet seinen von Stirnfalten umwölkten Blick erneut Richtung horoskopische
Weissagungen] Aufgepasst! Aufgepasst, steht hier!“
„Jajaja, mein Guter, nur hurtig voran, dein Lesefluss plätschert recht träge“, rügte Sarge
Bizzz.
„Hmm? Hmm...also: Aufgepasst! Ihr Unterbewusstsein schickt ihnen um den 29.4. eine
glänzende Idee, die ihr Leben verändern kann. 29.4....?“
„Wenn wir dann mal noch leben, was?“, meinte Sergeant Bizzz recht fröhlich.
„Ohhhje...“, trübe und stockend, aus Bourbon-Joes Munde.
„Ja, watt denn?“, ungeduldig und neugierig, von Sarge Bizzz, der ein paar Trippelschritte
näher kam und sich leicht hinunterbeugte.
„Vorsicht! Unheimliche Pechsträhne bahnt sich an, bleiben Sie die Woche besser zuhaus,
verriegeln sie die Tür und beten Sie, dass niemand um Einlass bittet...Es könnte höchst
brenzlig für Sie werden. Doch vor allen Dingen, treiben Sie sich nicht draussen herum, wenn
es nicht unbedingt nötig ist. Beten Sie, auch wenn Sie ein ungläubiger Hurensohn sind, be-ten
Sie...!“
„Wie, das steht da?!“, Sarge Bizzz, eher skeptisch.
„Aaaach was, hehehe, keine Sorge, Bizzz... Soon shiiiit, bin in der Zeile verrutscht, ist schon
das nächste Sternzeichen! Verdammte Fische!“
„Hey hey!“, raunte Private Kruzel, der beim Stichwort Fisch hellhörig geworden und aus
seinen sorgenvollen Gedanken aufgetaucht war, mit augenzwinkernder Strenge. „Nichts
gegen Fische, Leute! Nichts gegen Fische, das beste Sternzeichen, tjachz tjachz...“
„Na denn, na denn...“ machte Bizzz, angestrengt um Gelassenheit bemüht, Richtung Zeltmitte
schlendernd und die Magengegend spitzfingrig durchkraulend.
„Ja denn, ja denn...“
„Ja denn, was nun?“, fragte Private Kruzel, der inzwischen wirklich nicht mehr wußte, was
als nächstes geschehen sollte.
Genau in jenem atmosphärisch äußerst heiklen Moment ertönte schließlich die in Sachen
dramatischer Auftritt äußerst versierte Sirene und machte dem interessanten Plausch ein
vorläufiges Ende.
Später, als sich Private Kruzel an der Seite von Sarge Joe im einem der Schützengräben
wiederfand, um die Lage auszukundschaften, bestand kein Zweifel mehr daran, dass etwas
Großes im Gange war. Bourbon-Joe ließ den Blick durch das Nachtsichtgerät schweifen. Vor
ihnen lag die finstere Dschungellandschaft wie eine mysteriöse, gefährliche Geliebte, die sie
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alle zu verspeisen, zu absorbieren gedachte, phantasierte Joe und verspürte das bitteres Gefühl
einer unbezwingbaren Angst, die ein Psychologe ohne Schwierigkeit als sexuell konnotiert
identifiziert hätte- die Natur forderte ihr Recht, den Prozess der Zersetzung an den toten
Körpern zu vollziehen, sie dem Appetit der Ungeziefer auszusetzen, und zu Mus zu machen;
ein unwürdiges, wenn auch dramatisches Ende ihrer kurzen, bizarren Reise, die sich Leben
nannte. Noch konnte niemand genau sagen, wann der Angriff losschlagen würde, aber von
seiner faktischen Evidenz waren alle überzeugt. Zähne zeigen, raunte etwas in Sergeant Joe,
man mußte Zähne zeigen...Er zischte mehrmals kräftig durch die hervorgestreckten
Kieferleisten, die eine Reihe nicht mehr sehr ansehnlicher, von diversen Löchern gezierte
Zahnfragmente beherbigte, gleich einem ehemals majestätischen Gebirge, in das jahrelange,
unermüdliche bakterielle Grubenarbeit unzählige pechschwarze Schächte gebuddelt hatte.
Gwenda in der bergigen Ferne wird das nicht gefallen, aber, verflucht, er konnte sich ein
Gebiss machen lassen, ein elfenbeines Gebiss, mit langen Konstruktionen an den Ecken, dann
könnten sie Vampir spielen, draußen im Wald, jaja, renn nur fort, scheues Reh, gleich hab ich
dich, husch husch ab ins Körbchen, dein saftiger zarter Hals, aaaach!...Private Kruzel zuckte
unwillkürlich zusammen.
„Was ist? Siehst du etwas?“
Joe, der neben ihm hinter dem provisorischen Holzverschlag lag und durch einen Spalt
lugte, sah eine ganze Menge Fremdes, das ihm Angst machte, aber zumindest keine Vietcong.
Vietcong, ein seltsames Wort war das, verflucht...
„Ich sehe Bäume...“, sagte Joe verärgert. Er konnte nicht begreifen, dass es womöglich diese
Dschungelbäume waren, diese fremdartigen Gewächse, die er als letztes in seinem Leben zu
sehen bekommen sollte.
Die Vorstellung, die er vom Dschungel hatte und die an dieser Stelle zur genaueren
Charakterzeichnung von Joe „Bourbon“ Lapodey wiedergegeben werden soll, war die einer
mörderischen grünen Hölle, in der es Millionen beängstigender Tiere gab und nicht weniger
geheimnisvoller Pflanzen, die andere Pflanzen fraßen, sogenannte Epiphytien – das Wort hatte
er recherchiert und anschließend auswendig gelernt, warum, wußte nur er selbst – ein
grausames, ein geradezu giftiges Wort für diverse Würgepflanzen, die den Baum hinab
wuchsen bis zum Wurzelwerk und ihren Wirt dann auf die sanfte Art killten, ihn einfach
abtöteten und zu einem preiswerten Dinner der Termiten machten. Da waren Pflanzen, die
Insekten fraßen und Insekten, die Pflanzen fraßen, ein verdammter Schnellimbiss war das,
und da waren auch Pflanzen, die Menschen fressen konnten, oh ja, davon war er
überzeugt...Menschenfressende Bäume – von denen ihm mal irgendjemand erzählt hatte –, die
ihre langen Ranken über den Dschungelboden kriechen ließen, und wenn dann ein Mensch zu
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nahe kam und in die Falle tappte – zzzziiiippp! – dann zogen die Ranken kräftig zu, und in den
Ranken waren giftige Stacheln, die bohrten sich ins Fleisch und zogen den in panischer Angst
wie gelähmten Körper an den Stamm heran und ließen das Blut durch die Rinde sickern, ein
köstliches Mahl! Er wollte gar nicht wissen, wieviele seiner Kameraden auf diese Weise
schon elendig abgekratzt waren...Wer nicht aufpasste, der ging verloren in dieser grünen
Hölle, aber selbst wenn man verdammt wachsam war, hieß das rein gar nichts, man ging
trotzdem verloren, es war reines Schicksal, ob man mit dem Leben davon kam, purer Zufall,
und das war die bittere Pille, die alle schlucken mußten, das man so verflucht hilfolos war im
Dschungel...
Und es gingen nicht nur Menschen verloren, das war ja das verrückte, es gingen ganze
Städte verloren- die wurden einfach so gefressen, so wie dieses buddhistische Heiligtum in
Kambodscha, dessen Name seltsam genug war dass ihn sich niemand merken konnte,
zumindest war es nicht selten, daß eine Patrouille plötzlich, wie aus dem Nichts auf eine
vermoderte alte Buddhastatue oder sowas stieß, und die hatte niemand in den Dschungel
hineingebaut, versteht sich, die hatte der Dschungel, dieses gefräßige Monster, sich einfach
einverleibt, wohl bekomms! Alles stand irgendwie auf dem Kopf, war aus den Fugen geraten,
Bäume die von oben nach unten wuchsen, um eine bessere Position zu haben im Kampf ums
Licht, alle wollten sie zum Licht, und unten am Boden war alles Mord und Totschlag, und das
immer und immer wieder, alles ein dynamischer Prozess, kein Tag wie der andere, aber für
uns sieht alles gleich aus, einförmig wie eine Wüstenlandschaft, man konnte stundenlang
marschieren und sah nichts Neues mehr...es war zum verrückt werden, wenn man zu lange
drüber nachdachte, über den Krieg zwischen Pflanzen und Tieren, in den sie da hineingeraten
waren, in dieses irrwitzige Produkt einer außer Kontrolle geratenen Evolution, Mutation,
Selektion, Isolation, Adaption... – oh, gütige Mutter! – und das ganze lief schon seit Millionen
Jahren so, seit Hunderten von Millionen Jahren, unvorstellbar, unvorstellbar...
Man mußte sich leer machen, genau, innerlich leer sein, frei von allem und klar in
Gedanken, so eine Art stoische Ruhe, was soll´s auch? Zumindest – und wenn das nicht mal
ne gute Nachricht war – gab es keinen Regen, der die Sicht noch mehr erschwert hätte, es gab
überhaupt kaum noch Regen, seit Monaten nicht. Und davor hatte es sechs Monate lang nur
geregnet... der Monsun, ein weiteres von diesen furchterregenden Worten, die für etwas
standen, das ihm fremd war. Er bleckte die Zähne, dem Schicksal entgegen, aber mehr um
sich selbst in Stimmung zu bringen. Neben ihm war Private Kruzel, der die Aufgabe haben
würde, sein Maschinengewehr ordentlich zu füttern, dafür zu sorgen, dass der lange
Patronengürtel problemlos durchrasseln konnte. Darüber hinaus waren sie noch mit diversen
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Granaten ausgestattet, aber wenn der Feind erstmal so nah dran war, daß sie ihn mit
Handgranaten beschmeissen konnten, war es womöglich schon zu spät.
„Lange kann es nicht mehr dauern“, meinte Bourbon-Joe, „ich kann mir nicht denken, daß sie
bis zum Morgengrauen warten, dann ist der Überraschungseffekt hin...Naja, ich wär ja jetzt
schon nicht mehr überrascht, also ist es wahrscheinlich eh zu spät... Die Tiere sind alle ganz
still. Die warten auch...[Private Kruzel das Nachtsichtgerät hinhaltend] Hier, riskier ruhig mal
nen Blick!“
Private Kruzel war aufgeregt genug, für jede Betätigung dankbar zu sein. Nur nicht die
ganze Zeit hier liegen müssen, warten müssen, dass es losging, nur nicht stumm daliegen und
zum Nachdenken gezwungen sein...
„Sag mal, Sarge...man hört so Dinge, ich meine, man hört so Sachen von den...den Vietcong.“
„So, was hört man denn, mein Sohn?“
Komisch, aber Bourbon-Joe fühlte sich plötzlich für den Private verantwortlich. Wenn er
nur diese eine unschuldige Seele retten könnte...Mann, das war ein Gedanke nach echtem
Schrot und Korn, oder! Sergeant Lapodey, der Beschützer. Nebenbei, hatte er den Private
gerade Sohn genannt? Seltsam, seinen eigenen Vater, den alten Waldschrat und härtesten
Konkurrenten im Kampf um...um sie, ihn hatte er doch immer verachtet... Aber Private
Kruzel hatte es ohnehin nicht wahrgenommen, denn er war in einen grausamen Gedanken
verwickelt, schon wieder.
„Man erzählt sich schreckliche Dinge, die sie mit einem anstellen, wenn sie dich erwischen,
wenn sie dich lebend erwischen...“
„Was erzählt man sich, Private?“
„Nun...ich hab gehört, sie wenden psychologische Foltermethoden an, um an geheime
Informationen zu kommen.“
„Nicht unwahrscheinlich, mein Sohn“, mutmaßte Joe, der für einen gänzlich irrationalen
Moment von der fixen, strahlendgleißenden Idee durchzuckt wurde, dass sein ganzes
fragwürdiges Leben ihn zu diesem einen Moment, diesem entscheidenden Moment geführt
hatte. Was das bedeuten sollte, war ihm ein Rätsel.
„Man sagt, sie fesseln einen an einen Baumstamm und lachen einen dann aus, furchtbar...“
„Ich weiß, ich weiß...“, etwas gepresst.
„Und dann spielen sie einem gräßliche Lieder vor, aus einer Jukebox, die sie irgendwo
geklaut haben, unvorstellbare asiatische Volkslieder, dass man kaum hinhören kann, grelle
hysterische Frauenstimmen, gräßliche warzige Urgroßmütter fabrizieren eine gesangliche
Kernspaltung...“
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„Genug, Private, genug-“
„Man hört ihre Schreie, Sarge, erst hört man die Musik, und dann ihre Schreie! Und dann
setzen sie einem ekelhafte ...ekelhafte Speisen vor, asiatisches Puddings, mit Tieren drin,
Tiere, die wir gern haben und die sie uns zu essen zwingen, Mousse au Bulldogge, verstehst
du?“
„Ja, mein Sohn, sie zwingen uns dazu, unsere Freunde zu essen. Das ist allgemein bekannt.“
„Aber das ist doch gegen die Genfer Konventionen!“
„Häh-?“
„Gegen die Genfer...das ist gegen internationale Regeln und Bestimmungen, gegen das
Kriegsrecht!“
„Das kennen die sicher nicht, Private- die können nicht mal lesen!“
Private Kruzel seufzte tief und kratzte sich nachdenklich den Bart.
„Ich weiß nicht, ob ich unter dieser Folter bestehen könnte. Ich meine, ich weiß nicht, ob ich
die Geheimnisse preisgeben würde. Ich...ich bin kein Held.“
„Das kann man vorher nie sagen.“
„Übrigens, Sarge, was für Geheimnisse werden sie erfahren wollen? Wofür interessieren die
sich?“
„Über unsere Pläne, Private, unsere strategischen Pläne.“
„Aber ich habe keine Pläne...?“
„Unseren Angriffsplan, Private.“
„Ja, aber davon weiß ich nichts...!“
„Mmmh...“, machte Seargent Joe, „unsere wunde Stelle wollen sie rauskriegen. Wo sie uns
treffen können. Kapiert?“
„Aber das ist mir doch egal...?“
„Denen aber nicht.“
„Aber von einer wunden Stelle hat mir niemand was erzählt, Sarge!“
„Und? Warum so hysterisch?“
„Ja, aber was kann ich ihnen denn bloß erzählen?“
„Du sollst eben nichts erzählen, Private, nichts!“
„Aber...wassollnurwerden...“, presste Private Kruzel hervor, in ein fortwährendes Nuscheln
verstrickt und leise schluchzend.
„Unsinn, Kruzel, mach dir keine Gedanken. Vielleicht wollen sie gar nichts von uns wissen.
Allerhöchstens, wo unsere Vorgesetzten sich aufhalten oder wie sie heissen...“
„Unsere Verwandten...?“, verwirrt und den hartnäckigen Klos in seinem Hals bekämpfend.
„Private...unsere Kommandeure!“
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„Wieso das? Was nutzen denen die Namen?“
„Sie wollen...hmmm...vielleicht wollen sie unsere Vorgesetzten beleidigen, nächtliche
Verleumdungen mit dem Megaphon, quer durch den Dschungel...“
Private Kruzel überlegte eine Weile. „Da hätte ich nichts gegen.“
„Siehst du!“, versuchte Sarge Joe die Unterhaltung abzuwürgen, weil er eigentlich mit
anderen Dingen beschäftigt sein sollte. Was wäre wenn? Was wäre wenn- bullshit!
„Ach, wenn ich doch nur ein wenig asiatisch aussehen würde, dann könnte ich im Ernstfall
untertauchen, mich als stummen Nordvietnamesen ausgeben, wäre das so falsch...“
„Mein Gott, Junge, ganz sacht, sachte. Weißt du, wie gering die Chance ist, dass sie uns
lebend erwischen? Die knallen uns sofort ab, keine Sorge!“
Ja, er mußte Ruhe bewahren, schwer genug, es war sein erstes Gefecht, es würde sein erstes
Gefecht sein, es hatte ja noch nicht einmal begonnen, ohje...vielleicht konnte Sarge Bizzz ihm
etwas zur Entspannung bersorgen...aber nein, wie unvernünftig. Er konnte jetzt nicht auch
noch irgendwelche Uppers oder Downers einschmeissen, das wäre sein sicherer Tod,
entweder einschlafen und erschossen werden oder durchdrehen, nach vorne ins Gebüsch
durchstarten und erschossen werden, ja, hehehe, das waren wirklich verlockende Alternativen.
Es kursierte eine sarkastische Wendung unter den Kameraden, die alles präzise
zusammenfasste und die so ging: Wenn es wirklich heiß wird, dann suchst du dir am besten
ein sicheres Versteck, und das ist in deinem Arschloch!
Etwas obszön, ja, aber doch sehr treffend, ein Versteck, ein Ausweg...Genauso verrückt war,
dass er überhaupt hier lag, er konnte nichts sehen, buchstäblich nichts, ist ja unfassbar, lag das
an seiner Brille, an seiner angeborenen Schwersichtigkeit, da war auch noch ein Sehfehler,
der ihm als kleines Kind zu schaffen gemacht hatte und der schließlich operativ behoben
werden mußte? Mein Gott, das hätte er bei seiner Musterung angeben müssen, hatte er das
angegeben, er durfte doch gar nicht hier sein, oder?!...Bücher konnte er gut lesen, er konnte
Dokumente sortieren, Texte schreiben, einen verdammten Bürojob verrichten, aber hier in
stockfinstrer Nacht liegen und mit diesem Gerät, das er nicht einmal richtig zu justieren
imstande war, den Dschungel nach sich anpirschenden Vietcong zu durchforsten, die sich ja
auch – das kam zu allem Ärger noch hinzu – tarnten, unsichtbar machten, zu Pflanzen
wurden, eine vollkommen andere, widerstandsfähigere menschliche Erscheinungsform...oh,
Gott! Er wurde verrückt, er wurde verrückt...
Private Kruzel atmete schwer, das Nachtsichtgerät zitterte in seinen Händen wie die
kostbare Porzellankanne in den Händen seiner tattrigen Urgroßmutter, die es sich früher – wie
lange war das her? – niemals entgehen ließ, den verängstigten Gästen selbst den Kaffee
nachzuschenken, aus purem Stolz, auch wenn es immer daneben ging.
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„Ich sehe nichts“, stieß er mühsam hervor, „ich sehe überhaupt nichts!“
Für Bourbon-Joe, der nichts mehr zu erwarten hatte, der für sich beschlossen hatte, dass nun
alles hinter ihm lag und nicht mehr zählte, keinen blanken Heller mehr, nur noch die vor ihm
liegende Aufgabe, für jenen Bourbon-Joe also war das Zittern in der Stimme seines
Gegenübers gleich einer alten Melodie wohlbekannt: jener schrille fremde Ton, der die
unfälschbare Signatur einer sich anbahnenden psychischen Krise war. Sssssshit, Private, nicht
jetzt! Die Situation für einen Zusammenbruch ist denkbar ungünstig, verflucht, er konnte
nicht die ganze Zeit auf ihn aufpassen, er war genug mit dem Dschungel beschäftigt, mit
diesen Bäumen, vor allem diese fremden Bäume, die ihn mehr beschäftigten als der nahende
Victor Charlie, und da konnte er nicht, da konnte er wirklich nicht...
Stattdessen kam er dem Private mit ein, zwei blitzschnell ausgeführten Handgriffen zur
Hilfe, drehte an der Justierung des Nachtsichtgeräts, veränderte die Schärfeneinstellung leicht
und hielt den Blick fest auf Kruzels Augen gerichtet, in denen ein nervöses Licht flackerte.
„Geht es jetzt besser?“
Private Kruzel schluckte kurz, schaute ein weiteres Mal durch das Nachtsichtgerät und
reichte es an Sergeant Joe zurück.
„Hör zu...“, stimmte Bourbon-Joe feierlich an und gab seiner Stimme den Klang einer John
Wayne-Dialogzeile, „du mußt den verdammten Dschungel nicht beobachten, das werde ich
tun, und wenn sich da vorne auch nur das Geringste tut, das uns Kopfschmerzen bereitet, dann
schiessen wir los, hmmm, dann fütterst du mein Maschinengewehr fleissig mit Patronen,
verstehst du? Wirst du das schaffen?“
„Ja, werde ich...“ Der Private befreite seine Stimme von dem irrationalen Zittern, das sie für
einen Augenblick, nur einen kurzen Augenblick, befallen hatte. Was war es? Die Erinnerung?
Der drohende Abschied? Von was der Abschied...?
Er atmete etwas ruhiger und schaute Bourbon-Joe an. Vielleicht ginge es so. Sich von allem
Ballast befreien, in eine neue Rolle schlüpfen und im Augenblick aufgehen. Jeder Augenblick
eine Ewigkeit, etwas anderes existierte nicht...völlig unnötig, an etwas anderes als das Jetzt zu
denken, es gibt gar nichts anderes als dieses Jetzt, diesen Dschungel, den Mann neben ihm,
den alle Bourbon-Joe nannten und ihn selbst, der Private Kruzel hieß und noch zu viele
Melodien im Kopf hatte. Erstaunlich, dieser Bourbon-Joe! Aber andererseits auch nicht,
nahezu exemplarisch...puuh, wie schwierig es war sich ein authentisches Bild von jemand zu
machen...nur nicht zu hochgestochen jetzt, seine psychologische Belesenheit half ihm nicht
weiter. Er mußte sich unterhalten, das würde helfen, ein wenig herum palavern und die Zeit
vergessen...
„Ich war nur etwas unruhig gerade, weiß auch nicht...“, sagte Private Kruzel.
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„Verstehe...das ist der Dschungel!“, meinte Bourbon-Joe und verlieh dem letzten Wort einen
verächtlichen Unterton.
„Der Dschungel? Du meinst die Leute, die da drin stecken...“
„Mmmmh“, machte Bourbon-Joe und war nun ganz von Selbstsicherheit erfüllt, „es ist der
Dschungel selbst, Private, glaub mir!“
Private Kruzel beobachtete kurz die Augen seines Gegenübers, in denen sich so etwas wie
eine wilde Entschlossenheit, beziehungsweise...verflucht, wieder fielen ihm die passenden
Worte nicht ein – das war nicht das erste Mal, das mußte er mal fachmännisch untersuchen
lassen – , vielleicht ein Ausdruck von...Gedrängtsein, Getriebensein abspielte, ja, wie ein
verrücktes Kaninchen, hmm, nicht zu viel denken, Private...Er war daran interessiert, die
Unterhaltung möglichst auf eine Ebene zu führen, die ihm weniger verfänglich und mit
neurotischen Gefühlen belastet erschien. Nur, worüber konnten sie reden? Er hatte sich kaum
einmal mit Bourbon-Joe unterhalten, hatte auch eigentlich keinen richtigen Drang dazu
verspürt, er wußte nur wenig von ihm und es gab nichts, was er als signifikante Eigenschaft
mit ihm in Verbindung brachte, beinahe gruselig, naja, er war für ihn nie mehr gewesen als
ein Hinterwäldler, ein Naturfreak...hmmm, ja also, das war doch was. Also stimmte Private
Kruzel an:
„Du kommst aus den White Mountains, ja? Dort gibt es sehr schöne Bäume, ja?“
„Ja...ganz andere Bäume...“ Und so nahm seine Stimme wieder einen menschlichen,
wehmütigen Duktus an.
„Das sind sehr viele Farben, Private! Unsere Wälder sind bunt, besonders im Herbst...nicht so
eine einförmige grüne Kacke wie hier!“
„Und welche Baumarten gibt es bei euch so?“
„Naja, es gibt Northern Red Oak und Scarlet Oak, dann gibt es Sassafras, Dogwoods,
Sweetgum, Sweetgwend...ach, nein- hab den Namen vergessen. Es gibt sehr vieles, ich will
eigentlich nicht mehr dran denken, weißt du!“
Dann kam dem Private ein anderer Gedanke.
„Lapodey...so heisst du doch, oder? Ist ein komischer Name!“
„Na und? Hab ich mir den etwa ausgesucht? Kruzel find ich auch nicht grade schöner...“
„Nein, natürlich...was anderes: Es heißt, der VC hat neuerdings russische Flak, glaubst du
das?“, aber der Gedanke war nur flüchtig und die Frage nicht mit Nachdruck gestellt, sodass
sie wirkungslos in der Atmosphäre zerstob.
Bourbon-Joe heftete seinen müden Blick auf die dichte Dschungelwelt vor ihnen: „Ich
wünschte, sie würden einen F 100-Jagdbomber schicken und der würde das alles hier mit
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Napalm zudecken...Verstehst du? So wie General Le May es uns versprochen hat...zurück in
die Steinzeit das alles!“
Es verging einige Zeit, schwer zu sagen wieviel Zeit genau, und es kam ein neuer Tag, es
war offiziell immer noch Tet, es war auch immer noch Krieg, und was die Lage in unserem
von den Ereignissen überrumpelten Stützpunkt anbetrifft, so gewann die Kommandostruktur
wieder an nötiger Klarsicht. Es wurden entsprechende Vorkehrungen getroffen, um sich
einmal einen ordentlichen Überblick über die Lage zu verschaffen. Zur Hölle mit Saigon und
den anderen betroffenen Städten im Süden, von entscheidender, ja lebenswichtiger
Dringlichkeit war nun die Frage, wie es eigentlich in der Umgebung des Stützpunktes so
aussah mit Feindbewegungen, und daher machte sich also ein etwa dreißigköpfiger Trupp auf
den Weg. Und da es das Schicksal nicht anders wollte, fand sich neben Private Kruzel auch
Sergeant Joe „Bourbon“ Lapodey unversehens auf Patrouille durch den verhassten Dschungel
wieder. Während letzterer es mit grimmigem Zynismus nahm – es war auch nicht seine erste
Reise in die Hölle – fackelte in Private Kruzels Augen eine nervöse Anspannung, die ihn seit
seiner Zeit an der Front befallen hatte und nun neurotisch zu werden drohte. Sergeant Bizzz
war übringens im Stützpunkt geblieben, was Private Kruzel leise bedauerte, aber einen
Kantinenkoch im Patrouillengefecht zu verlieren war verständlicherweise ein zu hohes Risiko,
für das sich hinterher niemand würde verantworten können, geschweige denn wollen.
Aus einer geringen Entfernung konnte man den Streiftrupp für eine völlig homogene Masse,
eine bewegliche mimetische Erscheinung in einer geisterhaften Umgebung halten, wenn da
nicht die beiden Korrespondenten von der Presse gewesen wären, die sich in ihren leuchtend
roten, beziehungsweise gelben Hemden von der tarngefleckten militärischen Gruppe
abhoben- wenn man Bourbon-Joe nach seiner Meinung gefragt hätte, war dies nicht mehr als
ein lächerlicher Versuch, sich bei Feindberührung als neutrale Berichterstatter und
ungeeignetes Ziel erkennen zu geben. Vor wenigen Jahren war das noch undenkbar gewesen,
aber heute trugen viele Journalisten zivile Kleidung. Sarge Lapodey hätte als erstes auf die
hübschen, bunten Muster gezielt, und eine gemeine Seite in ihm frohlockte bei der sicheren
Voraussicht, dass der Vietcong es ebenso tun würde...
Manch dumpfe und manch gemeine Gedanken spukten durch die Köpfe der schweigsamen
Soldaten, die sich in ihrer Gruppe wie ein geschmeidiger Organismus langsam durch den
Wald vorwärtsbewegten, auf verzweifelte Art wachsam, und doch bald sehr müde und
erschöpft. Obgleich es in der letzten Zeit nur sehr wenig geregnet hatte, war die
Luftfeuchtigkeit unverändert hoch und sorgte für einen beständigen Schweißstrom, der
keinerlei Kühlung brachte, da er in der dampfgesättigten Luft nicht verdunsten konnte. Auch
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die Bäume und Pflanzen schienen zu transpirieren, der gesamte Dschungel war nichts anderes
als ein großes natürliches Treibhaus, und der Stoßtrupp war eine willkommene Beute.
Bevor die Nacht anbrach, war es zu einem unspektakulären Feindkontakt gekommen, als
eine Handvoll überraschter Vietcong-Kämpfer sich urplötzlich und direkt vor den Augen des
Stoßtrupps aus einem mysteriösen Loch im Dickicht heraus gewunden hatte und
augenblicklich
durch
hektisch
abgefeuerte
Salven
aus
den
modernen
M16-
Schnellfeuergewehren in skurrile Marmorstatuen verwandelt wurde. Alles passierte so
plötzlich, es erschien manchen der Soldaten beinahe unwirklich. Die toten Körper blieben
zurück, allesamt kleine schwarzgekleidete Gestalten unbestimmbaren Alters, mit Sandalen an
den Füßen und chinesischen Ballonmützen auf dem Kopf.
Stunde um Stunde verging in dieser grünen Einförmigkeit, die manchen an eine trostlose
Wüstenlandschaft denken ließ. Macheten pfiffen durch den üppigen Unterwuchs, die Luft war
unter dem dichtgedrängten Blätterdach, das sich in einer Höhe von gut fünfzig Metern über
ihnen ausspannte, von Moder und Fäulnis durchwoben. Ein seltsames Gefühl bemächtigte
sich derer, die so etwas noch nicht erlebt hatten, und die Zeit stand plötzlich still. Sie waren in
einen Raum geraten, der ganz für sich selbst existierte und für den alles außerhalb nichts
weiter war als eine unbedeutende Illusion. Ein grüne Unterwelt, ganz ohne Himmel.
Als die Nacht hereinbrach, wurde einer der Soldaten auf einen Baum geschickt, von wo aus
er die Sterne inspizieren sollte. Das war tatsächlich die einzige Möglichkeit, um sich neu zu
orientieren, wenn man sich verlaufen hatte. Erstaunlich ruhig war es, trotz der vielen
Millionen Tiere und Pflanzen um sie herum. Das bedächtige Schmatzen, ja, das war zu
hören...es kam von den Fledermäusen, die ihre Früchte verspeisten. Ansonsten war alles in
träge Apathie verfallen. Am erstaunlichsten erschien es vielen, daß es in der Nähe des
Waldbodens durchaus nicht, wie man hätte denken können, stockfinster war. Nein, im
Gegenteil, eine unwirkliche, ja unirdische Lichterwelt bereitete sich vor ihren Augen aus.
Plötzlich zogen phosphoriszierende Nebelschwaden auf, die weite Teile des Grundes
überlagerten. Emporgehobene Blätter glühten in den Händen der faszinierten Soldaten. Was
manche für eine geisterhafte Erscheinung hielten, war eigentlich nichts weiter als das
Nebenprodukt des Stoffwechsels von Bakterien und Pilzfäden, die damit beschäftigt waren,
die abgestorbene Substanz, die sie überall auf dem Boden verstreut vorfanden, sorgfältig zu
zersetzen.
Es gab kein totes Tier, keine abgestorbene Pflanze, die auf dem Waldboden länger als drei
Tage lang ihre materielle Erscheinung beibehielt, lediglich ausgehöhlte Baumriesen,
möglicherweise von irgendwelchen epiphytischen Würgepflanze erdrosselt, hielten sich
einige Wochen länger...Viel Munition wurde nutzlos verschwendet, denn die Nerven der
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Soldaten waren äußerst fragil und die Bewegungen in der üppigen, wuchernden Umgebung
um sie herum waren mannigfaltig. Private Kruzel feuerte einige Salven in das indifferente
Pflanzenwerk hinein, wo er einen grünen Teufel ausgemacht zu haben glaubte, und verfehlte
dabei einen Brüllaffen, der erschrocken seinen Kopf einzog, nur um Haaresbreite.
...eNDE
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