138 test + technik 8/2006 MOTORRAD

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138 test + technik 8/2006 MOTORRAD
DIE GROS
138 MOTORRAD test + technik
8/2006
SE
Perfekt fahren
mit
Teil 2: Kurvenfahren – die Praxis
SAUSE
TEIL 1
MOTORRAD
6/2006
KURVENFAHREN,
DIE THEORIE
TEIL 2
IN DIESEM HEFT
KURVENFAHREN
– DIE PRAXIS
TEIL 3
MOTORRAD
10/2006
FASZINATION
SCHRÄGLAGE
Endlich. Sonntag früh, der
Bürger schnarcht noch in
die Kissen, die ersten Vögel
zwitschern vorlaut durchs
Geäst, und wir bringen das
Kraftrad in Stellung. Herr,
was für ein Tag, was für
Kurven, was für eine Lust,
durch die Landschaft zu segeln,
schwerelos von einer Schräglage in die andere, in sanften
Bögen oder harsch durch die
S-Kurven gebügelt. Damit der
Genuss ohne Reue über die
Bühne geht, verrät MOTORRAD
die wichtigsten Tipps und Tricks
für das flotte Kurventänzchen.
Von Werner Koch; Fotos: Markus Jahn,
Koch; Illustrationen: Petrovic, Müller
TEIL 4
MOTORRAD
12/2006
EFFEKTIVES
BREMSEN
TEIL 5
MOTORRAD
14/2006
FAHREN
MIT GEPÄCK
TEIL 6
MOTORRAD
16/2006
FAHREN
IN DER STADT
TEIL 7
MOTORRAD
18/2006
FAHREN
BEI REGEN
www.motorradonline.de
D
as Vergnügen verbindet Motorradfahrer jedweder Couleur, egal, ob
Sport-Flitzer, Touren-Freaks, Enduristen
oder Reiter nackter Eisen: Kurven sind ihre
Leidenschaft. Selbst der Chopper-Liebhaber funkt mit seinem Chrom-Hobel gelegentlich dem Sonnenuntergang entgegen.
Denn anders als die Autofahrer spielen
Kradler der Fliehkraft einen Streich. Anstatt
uns wie in einer Zentrifuge gegen die
Massenkraft zu stemmen, balancieren wir
Motorradpiloten die Kräfte aus und finden
gerade darin jene scheinbare Schwerelosigkeit, die mit einem erheblichen Suchtfaktor einhergeht.
Ehrlich, wer hat sich in diesem endlos
fiesen Winter nicht heimlich mal in die Garage geschlichen, sich aufs geliebte Zweirad geschwungen wie ein Fünfjähriger auf
dem Kinderkarussell, am Gasgriff gedreht,
am Schalthebel geklickt und ganz leise
wroooaaamm, wroooaaam gebrummt?
Keine Sorge, wir verraten nix, weil wir
selbst der Sucht erlegen sind und keine
Sitzung der Selbsthilfegruppe „BekennenMOTORRAD test + technik 139
왎 Die klassische Kurve, die
durch ihre Übersichtlichkeit eine
fein zurechtgelegte Ideallinie und
knackige Schräglagen zulässt. Bereits
bei der einfachen Kurvenversion ist zu
erkennen, dass beim Anschneiden
(gestrichelte Linie) das Motorrad am Kurvenausgang die größere Schräglage fahren muss,
während der Fahrer beim Hinterschneiden
(durchgezogene Linie) den Scheitelpunkt nach
hinten verlegt (Pylone), in diesem Abschnitt
schon wieder ans Gas geht und die etwas langsamere
Kurvengeschwindigkeit mehr als wettmacht.
Falsche Linie
Gedachter
Scheitelpunkt
Bremsen
Rollen
Beschleunigen
왎 Folgen zwei Kurven in kurzem Abstand,
kommt der Vorteil des Hinterschneidens
noch mehr zum Tragen, weil es der spät
gesetzte Scheitelpunkt erlaubt, die folgende
Linkskurve von weit außen anzufahren,
während es den Fahrer auf der falschen
Linie in Richtung Gegenfahrbahn drängt
und er für die folgende Linkskurve von
einer äußerst ungünstigen Position aus
hart Einlenken muss. Eine flüssig-runde
Linie ist damit nicht zu machen.
de Kurven-Junkies“ verpassen. Jetzt aber
wird’s ernst, und der Spaß beim Kurvenradeln kann schnell auch mal ein Loch bekommen. Wie bereits eingangs und in Teil
1 dieser Serie (MOTORRAD 6/2006) angesprochen, beherrschen wir mit feinen Lenkimpulsen rohe Kräfte, die uns einerseits im
Lot halten, andererseits ruck, zuck außer
Kontrolle geraten können. Denn sobald wir
uns ins schräge Vergnügen stürzen, mobilisieren wir allerhand Kräfte, die auf den
Motorrad-Skizzen (siehe rechts) mit Pfeilen
kenntlich gemacht sind und mit denen
wir bewusst umgehen müssen. Was nicht
dazu führen darf, zögerlich oder gar ängstlich aufs Ross zu steigen. Nur wenn wir
locker, konzentriert und positiv den Ritt
angehen, werden wir ihn auch genießen.
Hurtige Richtungswechsel
erfordern kraftvolle Lenkimpulse
Vor jeder schrägen Kurvenfahrt steht zunächst die Anpassung der Geschwindigkeit auf das gewünschte Niveau. Natürlich
wird auf der trockenen Landstraße überwiegend über die Vorderradbremse verzögert, wobei die Hinterradbremse immer
mit betätigt wird. Solange das Hinterrad
beim Bremsen nämlich nicht abhebt, was
es gewöhnlich nur auf der Rennstrecke tut,
kann der Hinterreifen Bremskraft übertragen und folglich den Bremsweg verkürzen.
Doch das ist ein extra Thema für Folge 4 in
MOTORRAD 12/2006.
Also flott übers Land gebügelt, dann
voll in die Eisen und mit 50 km/h in eine
Linkskurve einlenken. Die Körperspannung
kurz vor dem Verkrampfen, doch die an
sich lammfromme Honda CBF 600 sträubt
sich, mit gezogener Vorderradbremse
Schräglage aufzunehmen. Aufstellmoment
heißt dieses Phänomen und erklärt sich
daraus, dass in Schräglage die Reifenaufstandsfläche aus der Lenkachse (Lenkrohr)
wandert, woraus sich ein Hebelarm ergibt,
der nach hinten zieht. Mit dem Resultat,
dass sich die Lenkung zur Kurveninnenseite verdreht, was zum Aufstellen der
Maschine führt, wenn der Fahrer nicht mit
einer entsprechenden Kraft am Lenker dagegenhält (siehe Skizze rechts oben). Aus
diesem Grund sollte man Geschwindigkeit
und Fahrstil auf unbekannten Strecken so
wählen, dass der Bremsvorgang vor dem
Einlenken abgschlossen ist.
Ein entscheidender Faktor in der
Brems- und Einlenkphase: die Bremswirkung des Motors, die durch Herunterschalten den Bremsvorgang unterstützt.
Bei leistungsstarken Bikes ist hier aber
Vorsicht geboten, denn in niedrigen Gängen ist die Drehzahl und somit die verfügbare Leistung am Scheitelpunkt zu hoch,
die Beschleunigung aus Schräglage gerät
zu aggressiv. Was tun? Ganz einfach, es
Valentino Rossi und Konsorten nachmachen. Sie drücken kurz vor dem Scheitelpunkt wieder den nächst höheren Gang
8/2006
DIE DREI PHASEN
EINER KURVENFAHRT
Schräglage aus der Vogelperspektive
Reifenumfangskräfte
Schwach
Mittelstark
Stark
Seitenführungskräfte
Schwach
Mittelstark
Stark
왎 Rote Phase: Anpassungsbremsung beim Einlenken.
Dabei entsteht besonders bei breit bereiften Maschinen
das so genannte Aufstellmoment, bedingt durch die außermittig
zur Lenkachse verlagerte Aufstandsfläche des Vorderreifens
(Skizze links). Dieses Phänomen muss der Fahrer durch eine
Gegenlenkkraft (blauer Pfeil) ausgleichen. Bei den Fahrversuchen wurde eine Gegenlenkkraft bis zu 25 Kilogramm bei
rund zwölf Grad Schräglage gemessen.
왎 Gelbe Phase: Schräglage in der Rollphase.
In diesem Fahrzustand sind die Umfangskräfte
am Vorderrad minimal, während am Hinterrad
je nach Geschwindigkeit, bei konstant
100 km/h zirka acht PS, die Antriebskraft einwirkt. Die Reifen können
jetzt hohe Seitenkräfte übertragen
und ermöglichen somit eine
enorme Schräglage. Sollte
diese überzogen werden,
verliert meist der
schmalere Vorderreifen zuerst die
Haftung. Man sollte
deshalb versuchen,
so früh wie möglich
leicht zu beschleunigen, um ihn zu entlasten.
왎 Grüne Phase: Beschleunigen aus Schräglage.
Am Kurvenausgang wird sanft das Gas aufgezogen, wodurch sich das Motorrad aufrichtet
und sich der Kurvenradius vergrößert.
Soll dieser Vorgang beschleunigt
werden, hilft ein zusätzlicher Druck
am kurvenäußeren Lenkerende. Je
nach Beschleunigen wirkt eine mehr
oder weniger starke Umfangskraft
auf den Hinterreifen, weshalb
dieser weniger Seitenkräfte, also Schräglage, verkraften kann
als der Reifen vorn,
der in dieser Phase
minimalste Umfangskräfte übertragen muss.
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MOTORRAD test + technik 141
Falsche Linie
Gedachter
Scheitelpunkt
Bremsen
Rollen
Beschleunigen
왎 Verführerisches Kurvengeschlängel mit
großem Risko. Weil der Straßenverlauf zum
großen Teil nicht einsehbar ist, kann sich
dort ein Auto oder Motorrad „verstecken“,
das beim Schneiden der S-Kurve urplötzlich auftaucht. Deshalb ist auch in dieser
Passage das Hinterschneiden die bessere
Lösung, zumal man damit rechnen muss,
dass der Gegenverkehr die S-Kurve ebenfalls schneidet und im schlimmsten Fall
auf der falschen Straßenseite daherprescht.
hinein und können mit geringerer Drehzahl
und einer entsprechend sanften Motorcharakteristik beschleunigen.
Speziell in der Einlenkphase entscheidet die Motorbremskraft über den weiteren
Verlauf von Schräglage und Kurvenlinie. Wer mit einem zu kleinen Gang
und entsprechend hoher Drehzahl/hohem
Bremsmoment einlenkt, ist schon vor dem
Scheitelpunkt zu langsam und muss durch
Beschleunigen oder Aufrichten korrigieren.
Ein Vorgang, der häufig auf SerpentinenStrecken in den Alpen zu beobachten ist.
Ist man in einem zu hohen Gang unterwegs, saust die Fuhre mit zu wenig Bremsmoment um die Kurve, was mit einer
entsprechend großen Schräglage abgefangen werden muss. Tut man das nicht, treibt
die Fliehkraft das Motorrad auf einem zu
großen Radius aus der Spur, sprich auf die
Gegenfahrbahn oder in den Acker.
Ein echtes Desaster beim Einlenken:
der Verlust der Motorbremswirkung, zum
Beispiel durch einen herausgesprungenen
Gang oder eine gezogene Kupplung. Das
Motorrad lässt sich unter solchen Umständen nur noch mit enorm viel Kraft in
Schräglage bringen und drängt durch die
geringe Verzögerung sofort auf einen zu
großen Radius. Generell gilt: In brenzligen
Situationen, wenn zum Beispiel die Kurve
zu eng oder das Motorrad instabil wird,
nie die Kupplung ziehen, weil damit die
stabilisierende Wirkung der Motorbremse
unterbrochen wird. Einzige Ausnahme: die
Notbremsung, bei der es gilt, vorn wie
hinten mit aller Kraft den Stachel in den
Asphalt zu rammen.
142 MOTORRAD test + technik
Phase Nummer zwei: das Rollen, verbunden mit einer mehr oder weniger akrobatischen Schräglage und je nach Motorrad
und Fahrertyp individuellem Fahrstil. Wie
und in welchen Situationen die drei Sitzhaltungen am effektivsten eingesetzt werden, ist auf Seite 145 unten beschrieben.
Nach dem Bremsen folgt die
schwerelose Schräglage
Weil beim Rollen keine nennenswerten
Umfangskräfte (Bremsen oder Beschleunigen) wirken, tendieren die meisten Motorräder beim Überziehen der Schräglage
dazu, zuerst übers Vorderrad abzuschmieren. Eine schaurige Vorstellung, weil solche
Slides auch von hochtalentierten Schräglagen-Dompteuren nur mit viel Glück und
einem stramm ausgestreckten Knie abgefangen werden können. Doch keine Angst,
moderne Reifen stecken in optimaler Verfassung – mit rund 35 Grad warmem Laufflächengummi und auf normal griffigem
Belag – Schräglagen bis knapp 50 Grad
weg. Die meisten Motorräder, Supersportler ausgenommen, ritzen vorher mit Fußrasten, Ständer oder Auspuff fette Rillen in
den Asphalt.
In jedem Fall sollte die Rollphase so
kurz wie möglich ausfallen, weil damit
der mögliche Abflug übers Vorderrad eher
unwahrscheinlich wird. Kurz nach dem
Scheitelpunkt naht der Moment, an dem
das Rollen in Beschleunigen übergehen
muss. Also: Gaaaaas. Aber bitte schön mit
der nötigen Sensibilität, da auch der griffigste Hinterradreifen in voller Schräglage
nur minimale Umfangskräfte verdaut. Je
geringer die Schräglage, desto mehr ist an
Beschleunigung drin und umgekehrt. Und
hier liegt einer der großen Vorteile beim so
genannten Hinterschneiden einer Kurve.
Man lenkt früh mit relativ geringer Kurvengeschwindigkeit ein, kann dann jedoch –
je nach Verkehrssituation und Streckenverlauf – extrem früh wieder beschleunigen
und den Kurvenradius entsprechend frei
wählen. Zudem ist in Rechtskurven der
Abstand zur Gegenfahrbahn am Kurvenausgang angenehm groß, während beim
konventionellen Kurvenschneiden die maximale Schräglage am Kurvenausgang
kaum mehr zu korrigieren ist und im
schlimmsten Fall auf der Gegenfahrbahn
endet. (Mehr dazu auf der folgenden Seite
sowie in den Skizzen auf Seite 140).
Und wie kündigt sich nun ein rutschendes Hinterrad beim Beschleunigen an?
Meist damit, dass das Heck in leichten
Pumpbewegungen nach außen wandert
und sich der Lenker durch den Schräglauf
sanft gegen Kurvenrichtung verdreht. Wer
diese Signale ignoriert und nicht das Gas
zudreht, ist selber schuld, wenn sich das
Gestühl kopfüber in den Dreck bohrt.
Befinden wir uns auf der korrekten
Fahrlinie, dürfte der schnellen und sicheren
Kurvenjagd nichts mehr im Wege stehen.
Oder doch? Zum Beispiel dann, wenn wir
in verzwickten S-Kurven ratz, fatz die Kiste
von einer Schräglage in die andere pressen müssen. Solche Manöver gelingen weder über gut gemeinte Gewichtsverlagerungen noch esoterische Schwingungen
oder den geheimnisvollen Schenkeldruck,
sondern nur über kräftige und gezielte
Lenkimpulse. Beispiel gefällig? Um die
Honda zackig durch ein rund 100 km/h
schnelles Landstraßengeschlängel zu bugsieren, muss beim Schräglagenwechsel
mit bis zu 300 Newton, also rund 30 Kilogramm Kraft am Lenker gezogen werden.
Und genau da liegt der Hase im Pfeffer.
Gleichgültig, ob beim Hineinbremsen in
Schräglage oder beim schnellen Richtungswechsel, stets sind solche Manöver
8/2006
DIE HÄUFIGSTEN FEHLER UND UNFALLURSACHEN
Aus Hunderttausenden von Motorradkilometern und der reichlichen Erfahrung der MOTORRADRedakteure lassen sich die grundlegenden Unfallursachen beschreiben.
Anpassungsbremsung
Schräglagenangst
왎 Der Klassiker unter den Fahrfehlern: die Angst
vor großer Schräglage (Skizze 1), mit der Folge,
dass der Kurvenradius auf der Gegenfahrbahn
endet. Die Ursache dafür ist meist mangelndes
Training von Schräglage und Kurvenspeed. Wer
sich generell keine großen Schräglagenlagen zutraut, hat enorme Probleme, wenn sich der Kurvenradius zuzieht, die so genannte Hundekurve, oder
die Einlenkgeschwindigkeit zu hoch gewählt ist.
Dann gilt es, das Motorrad durch bewusste Lenkimpulse in Schräglage zu zwingen (siehe Teil 1,
mit einem klar definierten Krafteinsatz verbunden. Diese Kraft in stressigen Situationen aufzubringen gelingt nur absolut routinierten Fahrern und erfordert deshalb ein
permanentes Training.
Dass sich die Linienwahl bei flotter
Kurvenfahrt im Lauf der Jahre verändert
hat, ist vor allem eine Folge der rasanten
Weiterentwicklung der Motorradtechnik.
Galt bis zu den 80er Jahren, wo rund
110 Millimeter schmale Vorder- und Hinterreifen montiert waren, noch die goldene
Regel von der runden, gleichmäßigen
Schräglage und Kurvenfahrt, so erfordern
Maschinen mit bis zu 190 Millimeter breiten
Hinterreifen und vergleichsweise schmalen
120er-Pneus vorn eine etwas andere Fahrlinie. Vom Rennsport, in dem mit fast identischen Reifenbreiten gefahren wird, inspiriert, hat sich das Anschneiden einer Kurve
zum so genannten Hinterschneiden gewandelt (siehe Skizzen Seite 140).
Die aufgeführten Streckenpassagen
sind keine künstlichen Gebilde, sondern
stammen aus den GPS-Aufzeichnungen
der MOTORRAD-Testrunde. Bei Messfahrten mit Datarecording wetzte der Pilot, der
die richtige Fahrlinie wählte, auf einer Streckenlänge von knapp einem halben Kilometer, gespickt mit den hinterhältigsten
Hunde- und S-Kurven, nicht nur sicherer,
144 MOTORRAD test + technik
Hohe Anfangsgeschwindigkeit
Panikbremsung
Perfekt fahren mit MOTORRAD, Heft 6/2006). Das
funktioniert jedoch nur, wenn die Wasserwaage im
Kopf diesen Vorgang zulässt, denn von Natur aus ist
die Maschine Mensch nur für 20 Grad Schräglage
geeicht. Soll es mehr sein, muss dies geübt werden.
Tipp: Wenn es richtig eng wird, das Motorrad im
Fahrstil „Drücken“ durch die Kurve zwingen.
왎 Nicht minder sind die Folgen beim „Einfrieren“
auf der Bremse (Skizze 2). Auf der Geraden ordentlich am Quirl gedreht, rast der Bremspunkt schneller auf den Sportsmann zu, als er diesen erfassen
sondern auch gut zwei Sekunden schneller
durch das Labyrinth als der Fahrer auf der
falschen Fährte.
Natürlich sind die Handling-Eigenschaften auch abhängig vom Motorradtyp, von der jeweiligen Fahrwerks- und
Lenkgeometrie und vor allem der Bereifung. Ein Blick in die MOTORRAD-Reifentests bringt schon vor dem Kauf Klarheit
über die Lenk- und Kurveneigenschaften
der teuren Gummis. Denn je nach Typ und
Qualität können sich Reifen regelrecht gegen die gewünschte Schräglage stemmen
– oder Kurven zielgenau wie von Geisterhand umrunden. In diesem Zusammenhang packen die Routiniers auch gerne
den Trick mit der Blickführung aus.
Wenn’s eng wird, lenkt der
Blick die Fahrrichtung
Zum Thema Blickführung, auf dem Motorrad sagt das Lehrbuch: weit vorausschauen. Was im Prinzip stimmt, bei der Landstraßenfahrt allerdings immer im Wechsel
mit dem Blick vors Vorderrad einhergehen
muss. Denn Schlaglöcher, Rollsplit oder
hinterhältige Bitumenstreifen lassen sich
mit dem weit nach vorn gerichteten Blick
kaum erfassen. Er dient dazu, die Fahrlinie
dem erkennbaren Streckenverlauf anzu-
kann. Folglich wird in
ziemlicher Panik mit
aller Macht geankert.
Aber anstatt beim Einlenkpunkt die Bremse
zu lösen und einzubiegen, bleibt der erstarrte Reiter voll in
den Eisen und wundert sich, warum das
Krad nicht einbiegen
möchte, sondern wie auf
Schienen aus der Spur fährt,
Stichwort Aufstellmoment. Auch
in solchen Situationen fehlt die Übung, Auge und
Gehirn mit hoher Geschwindigkeit und brachialer
Verzögerung vertraut zu machen.
Das intensive Trainieren findet am besten auf einem
geeigneten Übungsgelände oder auf der Rennstrecke unter Anleitung statt. Beides gehört zum
Angebot des MOTORRAD action team und kann
für alle, die diesbezüglich Schwierigkeiten haben,
nur empfohlen werden. Wer sich intensiv und tiefgründig mit dem Thema beschäftigen möchte,
dem sei außerdem Bernt Spiegels Buch „Die obere
Hälfte des Motorrades“ ans Herz gelegt. Mehr
dazu unter www.motorradonline.de.
Neben den selbst verursachten Ausrutschern
führen oft äußere Umstände in die Bredouille.
왎 Beispiel Nummer eins (Bild 1) ist die Kreuzung
oder Einmündung am nicht einsehbaren Kurvenausgang. Gewöhnlich kann man dort mit freier
passen, während der kurze Blick vors
Vorderrad die Straße nach Stolperfallen
absucht.
Geht dem flotten Fahrer durch eine
Fehleinschätzung von Kurvenverlauf oder
Geschwindigkeit die Straße aus, ist es
zwingend notwendig, den Blick dorthin zu
richten, wo man landen möchte. Und das
ist die richtige Fahrspur und nicht der
Graben. Die Blickführung dient außerdem
dazu, den Scheitelpunkt einer Kurve anzuvisieren, weshalb dieser bei Fahrtrainings
auf der Rennstrecke oft mit rot-weißen
Pylonen markiert ist. Symbolisch kann
man durch ein gezieltes Training diese Hilfe
auch auf der Landstraße nutzen, indem
man den gewünschten Scheitelpunkt mit
einem konzentrierten Blick fixiert.
Die passende Fahrlinie richtet sich
stets und ohne Einschränkungen nach der
jeweiligen Verkehrslage. Ausschließlich bei
übersichtlichen Strecken und großzügig
bemessener Straßenbreite kann die Ideallinie umgesetzt werden. Für enge, unübersichtliche Kurvenstrecken gilt die eiserne
Regel: so eng wie möglich am rechten
Straßenrand fahren, denn in Schräglage
nimmt der benötigte Raum eines Motorrads immens zu, wie die Fotos rechts eindrücklich demonstrieren. Eine Tatsache,
die von vielen Motorradfahrern beim
8/2006
BEIM KURVENFAHREN
Fahrt rechnen, wenn indes ein Linksabbieger die
Fahrspur blockiert, ist Schluss mit lustig.
왎 Sollte es in freier Wildbahn nach Diesel oder
Benzin riechen, ist Alarmstufe Rot angesagt. Denn
nur selten warnen Schilder (Bild 2) vor Ölspuren
durch undichte oder vergessene Tankdeckel, und
wenn, dann erst Stunden später.
왎 Altbekannter Schlamassel: Bitumen (Bild 3),
in gezeigtem Fall mit gleißendem Gegenlicht. Hier
wird es kritisch, weil das rutschige Zeug nicht nur
bei Regen, sondern auch bei Hitze äußerst gefährlich werden kann. Ergo: Gas raus, selbst wenn die
Kurven noch so verführerisch sind.
왎 Die Nummer mit dem Traktor an der Wegeinmündung (Bild 4) zählt ebenfalls zu den Klassikern,
nicht zuletzt deshalb, weil die Landmaschine trotz
nicht körperlicher Anwesenheit gerne schmierige
Lehmspuren hinterlässt.
왎 Und wenn sich das Kniestrumpf-Geschwader
nach dem Ausflug müde und matt auf den Heimweg macht, werden Wanderparkplätze (Bild 5) zur
Mausefalle. Hier ist vom Rückwärts-Ausparker über
den blinden Linksabbieger bis hin zu spielenden
Kindern mit allem zu rechnen. Deshalb gilt für jeden
lebensbejahenden Kurven-Junkie: Geschwindigkeit
runter.
왎 Fehlt nur noch der frisch aufgebrachte Straßenbelag (Bild 6). Mit Bitumen getränkt, ist die Oberfläche oft über Monate hinweg speziell bei Nässe
extrem rutschig.
왎 Kalte Reifen sind ebenfalls rutschig, weil der
Gummi zu wenig Elastizität aufweist, um sich mit
ca. 130 cm
왎 Drücken nennt sich diese Art und stammt aus
dem Geländesport. In Verbindung mit einem festen
Knieschluss lassen sich fast alle Motorradtypen
sehr gut manövrieren, speziell auf losem Untergrund oder Schotterstrecken. Besonders geeigneter Fahrstil für langsame und enge, unübersichtliche Kurven, die einen blitzartigen Kurswechsel
und eine möglichst schmale Silhouette erfordern.
Ist bei allen Motorradmodellen mit aufrechter
Sitzposition und breitem Lenker anwendbar. Aber
auch Supersportler können mit etwas Übung aus
dieser Sitzposition heraus dirigiert werden. Der
Nachteil: Motorräder mit geringer Schräglagenfreiheit setzen früher auf.
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Bild 1
Bild 4
Bild 2
Bild 5
dem Asphalt zu verzahnen. Vorsicht ist insbesondere angesagt, wenn der Reifen beim gemütlichen
Dahinrollen bei niedrigen Asphalttemperaturen
schnell auskühlt, man die nächste Kurve aber in
gewohnt flotter Manier nehmen will. So genannte
Kaltstürze gehören leider häufig zu den Unfallursachen beim Kurvenfahren. Denn ohne Grip keine
ca. 130 cm
Bild 3
Bild 6
Schräglage. Mindestens 30 Grad Celsius müssen
die Motorradreifen aufweisen – das ist per Hand
gefühlt deutlich höher als Körpertemperatur –,
um ordentliche Seitenhaftung aufzubauen. Auch
frisch montierte, neue Reifen verlangen auf den
ersten Kilometern ein sehr behutsames Anfahren
ihrer recht rutschigen Oberfläche.
ca. 110 cm
왎 Legen heißt: Fahrer und Maschine bilden in
왎 Hängen – ohne zu würgen. Dieser Fahrstil ist
Schräglage eine Linie. Entweder mit festem Knieschluss oder locker-sportlich abgespreiztem
Knie passt dieser Fahrstil für alle Arten von Kurven
sowie sämtliche Geschwindigkeitsbereiche und
kann in Wechselkurven elegant mit dem Fahrstil
„Drücken“ kombiniert werden. Wie beim Drücken
lässt sich die Fahrtrichtung sehr schnell korrigieren. Ideal für lange Strecken, weil die entspannte
Sitzhaltung wenig Kraft verlangt. In schnellen
Kurven können Oberkörper und Knie nach innen
verlagert werden, was bei Supersportlern Kurvenstabilität und Handling fördert und bei Tourern
die Schräglagenfreiheit erhöht.
speziell auf die Sitzhaltung und Fahrwerksgeometrie von Supersportlern abgestimmt, sollte aber
nur in absolut übersichtlichen Kurven angewandt
werden, weil Kurskorrekturen in Schräglage
lediglich zögerlich verlaufen und der Oberkörper
bei knackigen Schräglagen viel Raum zur Kurveninnenseite beansprucht. Ergibt in Kurven unter
40 km/h und Spitzkehren keinen Sinn. Nachteil:
kostet Kraft und gelingt nur mit viel Übung auf der
Rennstrecke wirklich gut, wobei das Knie nicht
zwingend über den Asphalt zwitschern muss.
Vorteil: Schräglagenfreiheit, Kurvenstabiltät und
-speed erhöhen sich.
MOTORRAD test + technik 145
Schneiden einer Linkskurve nicht berücksichtigt wird, was mitunter zu Kollisionen –
nicht nur mit entgegenkommenden Autos,
sondern auch Motorrädern – führt. Speziell
auf verkehrsarmen Nebenstrecken ist die
Verführung groß, trotz nicht einsehbarer
Streckenführung auf die Ideallinie umzuschwenken. Dabei ist es nur eine Frage der
Zeit, wann einem der regionale Milchlaster
mit Schmackes ums Eck entgegenkommt.
Und dann wird’s verflucht eng.
Und schließlich gibt es auch bei den
MOTORRAD-Testprofis Tage, an denen
selbst mit dem besten Bike nichts zusammenläuft, weil sich die Psyche quer
stellt. Schlecht drauf, ängstlich und unsicher, meist ohne ersichtlichen Grund,
stochert man verkrampft durch die Landschaft. Solche Situationen mit dem Brecheisen zu bewältigen und einfach draufloszubrettern, um von der Gruppe nicht
abgehängt zu werden, kann ins Auge
gehen. Die vernünftige Lösung: ein Tempo
anschlagen, bei dem man sich rundum
wohl fühlt, keinerlei Leistungsdruck zulassen, weder selbst gemachten noch von
den Spezln. Denn meist fährt man sich
von solchen Blockaden innerhalb weniger
Stunden frei und findet zu seinem gewohnten Fahrkönnen zurück.
Um die Faszination Schräglage dreht
es sich im nächsten Teil der Serie,
in dem wir folgende Fragen klären
wollen: Wie schräg geht es wirklich,
was bedeutet Grip, wo sind die
Grenzen und wie um Himmelswillen
bekommt man die peinlichen Angststreifen auf den Reifen weg?
DIE PASSENDE BEREIFUNG FÜR
UNGEBREMSTEN KURVENSPASS
Oft entscheidet die Wahl der Pneus, ob die Kurvensause Spaß oder Tortour wird.
W
ie fleißige MOTORRAD-LESER wissen, gibt die Redaktion für die
meisten Testmaschinen zwei Empfehlungen bezüglich der Fahrwerkseinstellung. Zum einen das komfortable Touren-Setting, zum anderen
die Abstimmung für sportliches Kurvenfahren. Dieses wird auf der extrem
anspruchsvollen MOTORRAD-Testrunde und im Handling-Parcours ausgetüftelt. Häufig wird dabei die Druckstufendämpfung an Gabel und Federbein erhöht, um in Wechselkurven mehr Stabilität und in voller Schräglage
eine klare Rückmeldung zu erhalten. Zudem reduzieren die Testfahrer oft
den Negativfederweg am Hinterrad (ohne Fahrer gemessen) auf maximal
fünf Millimeter, um die Lenkgeometrie mehr in Richtung Handlichkeit zu
trimmen und gleichzeitig die Schräglagenfreiheit zu verbessern.
Doch der entscheidende Punkt ist und bleibt die Bereifung. Gute Straßensportreifen fahren sich deutlich lenkpräziser und handlicher als TourenSchlappen. Der Grund dafür liegt in der Kontur, die beim Sportreifen ähnlich spitz ausfällt wie bei reinrassigen Rennreifen. Das Motorrad kippt dadurch agil in Schräglage. Tourengummis dagegen wölben sich balliger über
die Felge, um in der Laufflächenmitte genügend Auflagefläche zu gewährleisten, was dem Verschleiß entgegenwirkt. Dafür weisen Sportreifen im
Schräglagenbereich eine größere Aufstandsfläche (Latsch) auf, die Haftung
und Rückmeldung verbessert.
146 MOTORRAD test + technik
Tourenreifen
n
re
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To
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ife
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Sportreifen
n
ife
tre
r
po
S
왎 Tourenreifen sind so konstruiert, dass die Auflagefläche, der so genannte Latsch, bei Geradeausfahrt groß ist, was den Verschleiß senkt, die
Handlichkeit aber einschränkt. Sportreifen hingegen sind spitz konturiert
und weisen den größten Latsch im Schulterbereich, also bei Schräglage auf.
8/2006
VERDREH
70 MOTORRAD test + technik
10/2006
Perfekt fahren
mit
TE
Teil 3: Faszination Schräglage
WELT
TEIL 1
IN MOTORRAD
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KURVENFAHREN,
DIE THEORIE
TEIL 2
IN MOTORRAD
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KURVENFAHREN,
DIE PRAXIS
TEIL 3
IN DIESEM HEFT
FASZINATION
SCHRÄGLAGE
TEIL 4
IN MOTORRAD
14/2006
EFFEKTIVES
BREMSEN
TEIL 5
IN MOTORRAD
16/2006
FAHREN
MIT GEPÄCK
TEIL 6
IN MOTORRAD
18/2006
FAHREN
IN DER STADT
TEIL 7
IN MOTORRAD
20/2006
FAHREN
BEI REGEN
www.motorradonline.de
Die Leichtigkeit der schrägen
Sause ist es, was Motorradfahren zu einem einzigartigen
Erlebnis macht und für den Nervenkitzel sorgt. Entsprechend
heiß diskutiert wird das Thema
Schräglage an den MotorradStammtischen. Je schräger,
desto besser – heißt es dort.
Doch wer auf des Messers
Schneide balanciert, kann auch
ruck, zuck das Gleichgewicht
verlieren. MOTORRAD erklärt
wichtige theoretische Grundlagen und zeigt, was geht – und
was garantiert daneben geht.
Von Werner Koch; Fotos: Markus Jahn,
fact, Gargolov, Koch; Illustrationen:
Petrovic, Müller; Zeichnungen: Michelin;
Berechnungen: Dirk Debus/2D
ragen wir mal ganz blöd nach: wozu eigentlich Schräglage fahren? Antwort: Weil sonst unsichtbare Fliehkräfte
das gute Krad – rums – einfach aus der
Kurvenbahn werfen würden. Um das zu
vermeiden, neigen sich Ross und Reiter
gegen die Gewalt der Zentrifugalkraft in
Schräglage. Je schneller, desto tiefer segelt
das Duo über den Grund. So erwächst
aus dem konstruktiven Schwachpunkt des
Einspurfahrzeugs Motorrad eine faszinierende Dynamik. Und der kann sich niemand entziehen. Nicht einmal der maximal
entspannte Chopper-Fahrer widersteht der
Schwerelosigkeit einer forschen Kurvensause. Weil Schräglage eben nicht nur
schnell macht, sondern auch dieses besondere Gefühl von Akrobatik, Sportlichkeit und Wagemut vermittelt.
Je nach Fahrertyp und Philosophie begnügt man sich mit lässigem Schwingen
und dezentem Schräglagenwinkel, der bei
trockener, staubfreier Straße mit 40 Grad
F
MOTORRAD test + technik 71
20°
Aus dieser Kamera-Perspektive verdreht sich der Horizont gewaltig.
Der Fahrer gleicht die Schräglage mit einer möglichst vertikalen Kopfhaltung aus.
gewisse Sicherheitsreserven bei maximaler
Kurvenlust garantiert. Auch die Leichtigkeit
der so genannten kraftneutralen Kurvenfahrt braucht kein aberwitziges Tempo und
lässt sich weit vor dem tatsächlichen
Grenzbereich auskosten. Kraftneutral deshalb, weil die Lenkkräfte in großen Schräglagen bei einem ordentlichen Fahrwerk
und gut gewählter Bereifung nahezu gegen
null tendieren. Zudem verspürt der Motorradfahrer im Gegensatz zum Automobilisten keinerlei Querkräfte. Mit richtiger, also
Der Mensch ist von Natur aus auf etwa 20 Grad
Schräglage getrimmt. Mehr verlangt nach Training.
vorauseilender Blickführung und möglichst
waagerechter Kopfhaltung kommt der Pilot
mit dem schräg ins Blickfeld gerückten
Horizont bestens zurecht.
Ein Gefühl, das den Menschen schon
deshalb fasziniert, weil die menschliche
Wasserwaage, medizinisch korrekt: Gleichgewichtsorgan, von Natur aus auf lediglich
20 Grad Schräglage ausgelegt ist. Ohne
regelmäßiges Training in größerer Schräglage keine einfache Sache, diese Grenze zu
überwinden. Weshalb sicherheitsbewusste
Kradfahrer bei der flotten Landstraßenausfahrt die letzten zehn Prozent Kurvenspeed
sicherheitshalber einfach stecken lassen.
Als einfaches Instrument zum Ertasten
der möglichen Schräglage galt lang – und
gilt auch heute noch – die Fußspitze.
Objektiv betrachtet kann der schleifende
Stiefel natürlich kein wirklich verlässlicher
Indikator für die Schräglagengrenze darstellen, als subjektive Hilfestellung beim
ersten zögerlichen Herantasten allerdings
ist nichts dagegen einzuwenden.
72 MOTORRAD test + technik
kr
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Seitenkräfte
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Na
nk
Umfangskräfte
beschleunigen
bremsen
DER KAMMSCHE
Der Kammsche Kreis, benannt nach dem Ingenieuer
KREIS
Wunibald Kamm, und seine
Kraftlinien zeigen, in welchem
Verhältnis Seiten- und Umfangskräfte den Reifen beziehungs85%
weise die zur Verfügung stehende Haftreibung beanspruchen.
Wobei sich das Verhältnis von
36°
36°
Umfangs- und Seitenkräften
nicht linear verändert.
Straßenfahrt
Die grünen Linien gelten für
eine flotte Landstraßenfahrt, bei
der zirka 50 Prozent der Seitenkräfte genutzt werden. Das entspricht einer Schräglage von
etwa 35 Grad. In dieser Position
10%
könnten noch 85 Prozent der
Umfangskräfte zum Bremsen
oder Beschleunigen aktiviert
57°
werden.
Die roten Linien stehen für
extreme Rennstreckenschräglage von 57 Grad, 99 Prozent
Rennprofi
der Seitenführung sind aufgebraucht. Für das Beschleunigen
stehen nur noch zirka zehn Prozent an Umfangskräften zur Verfügung. Dank der Entwicklung
enorm haftfähiger Gummimischungen hat sich die ursprünglich als physikalische Grenze angenommene Erdbeschleunigung (9,81 m/s²) nach oben verschoben. Nach der vereinfachten FahrRechtskurve
physik können bei einem Reibbeiwert von 1,0 theoretisch 45 Grad Schräglage gefahren werden.
Tatsächlich aber lassen sich mit griffigen Straßensportreifen 55 Grad realisieren. Noch doller beißen sich die Slicks der tollkühnen MotoGP-Piloten in den Asphalt, die knapp 60 Grad erreichen.
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Linkskurve
10/2006
FASZINATION SCHRÄGLAGE
Wenn der Horizont verrutscht.
Applaus der Spezl in der berüchtigten Schattenkurve erstmals Kontakt zum Asphalt. Tags darauf
lag die Suzi komplett zerknittert im Dreck und
setzte damit ein warnendes Signal: Jungs, wenn ihr
so weiterkachelt, endet das Spiel im Krankenhausoder auf dem „Neuen Friedhof“.
Die Zeichen erkannt, wetzte die Clique ab sofort im
Junioren-Pokal über die Rennstrecken. Mit Platz
vier bei der Premiere ging’s gleich richtig zur Sache.
Jepp, so ein Talent sollte man nicht vergeuden.
Die Ernüchterung kam schneller als erwartet, die
Herren Toni Mang, Gustav Rainer und Konsorten
zogen mir den Zahn. Weltmeister? Ha, nie und
nimmer. Aber die Lust an der Schräglage blieb.
Immer und bei allen Gelegenheiten bog das Krad
auf der letzten Rille ums Eck. Häufig endete der
Schräglagenrausch mit Podest und Pokal, manchmal auch mit Schlüsselbeinbruch, Rippenfraktur,
Totalschaden. Doch selbst im Tapeverband fanden
meine Mitstreiter und ich noch höchsten Gefallen
am Schräglagenritt.
Dreißig Jahre später hat sich an der Sucht nichts
geändert. Wenn es im MOTORRAD-Top-Test
in die Kreisbahn geht oder beim Reifentest
die letzte Rille wartet, gibt’s kein Halten mehr:
Knisternd zischt das Knie über den Asphalt,
das Motorrad locker 50 Grad schräg zur
Senkrechten, der Oberkörper zwei Handbreit
überm Asphalt. Leichtes Erdbeben in der Front,
hinten rubbelt sich der Reifen ans Limit, so
schlingert die Fuhre im Grenzbereich daher.
Jede Muskelfaser in Anspannung, jeder Nerv
am Anschlag. Ein Drahtseilakt, bei dem das
Adrenalin gleich literweise aus den Ohren
sprudelt. Ufff – gestanden! Dem physikalischen
Limit den Mittelfinger gezeigt, die Reifen
komplett zerrieben – nur die Mädels stehen
heute nicht mehr am Streckenrand. Schade.
Schräglagensüchtig: MOTORRAD-Redakteur
Werner „Mini“ Koch.
1973 auf einer Suzuki T 250 mit dem Deutschen
Meister Wolfgang Müller im Nacken.
Denselben Effekt hat in jüngerer Zeit
bei Hobby-Rennfahrern das schleifende
Knie, das, quasi als Stütze gedacht, die
Suche nach dem wirklichen Grenzbereich
subjektiv erleichtert. Hier gilt jedoch die
klare Regel, dass dieser Fahrstil auf der
Straße, wenn überhaupt, nur auf ganz
wenigen, absolut übersichtlichen Strecken
bei minimalstem Verkehrsaufkommen zum
Einsatz kommen sollte. Bevor der Sportsmann aber allein mit künstlichen Verrenkungen das Knie auf den Asphalt kriegt
(siehe Foto Seite 77 oben), die Schräglage
dabei trotzdem bescheiden bleibt, sollte er
sich besser aufs flotte und präzise Kurvenfahren konzentrieren. Denn die Knie-Pads
lassen sich auch am Bandschleifer in Form
bringen.
Ein ganz entscheidender Punkt beim
Balanceakt: die Körperspannung. Nicht zu
verwechseln mit einer ängstlichen Verkrampfung, verhilft eine sanfte, von den
Fußballen bis zu den Nackenmuskeln führende Muskelspannung beim knackigen
Schräglagen-Tango zu einem feinsinnigen
Gespür für den Grenzbereich, weil dadurch
die warnenden Signale von Reifen und
Fahrwerk deutlicher beim Fahrer ankommen. Außerdem garantiert die konzentrierte Körperspannung eine schnellere
Reaktionsfähigkeit bei blitzschnell notwendigen Kurs- oder Lenkkorrekturen.
Fahrtraining mit engagierten Instruktoren in
der Kreisbahn gehört beim MOTORRAD action team
(www.actionteam.de) zum Standardprogramm.
Nicht nur für Einsteiger geeignet: Der SpeerSchräglagentrainer (www.speer-racing.com) mit
Stützrädern nimmt die Angst.
Die unbenutzte Reifenschulter, der so genannte
„Angststreifen“, (Pfeil) lässt sich meist nur auf der
Rennstrecke vollständig abrubbeln.
M
it siebzehn hat man noch Träume. Sagt
man. Stimmt nicht, ich hatte sie genau
ein Jahr vorher. Mit sechzehn. In der Schattenkurve, heute heißt das im Motorradfahrer-Jargon
Büsnauer S. Doch Schattenkurve ist Vergangenheit, Schattenkurve war zu Zeiten der berühmten Solitude-Rennen vor den Toren Stuttgarts,
als mir Knirps der legendäre Phil Read vor die
Füße stürzte und ich umgehend beschloss,
Motorrad-Rennfahrer zu werden.
Mit sechzehn wollte ich nur eines: schräger
fahren als die anderen. Und schneller. Zum
einen machten solche Vorstellungen gehörigen
Eindruck bei den Mädels, zum anderen war
und ist Schräglage das Gefühl der absoluten
Schwerelosigkeit. Doch ein geeignetes Übungsgelände gab’s leider nicht an jedem Eck.
Ausgerechnet auf dem Parkplatz am „Neuen
Friedhof“ fand sich ein feines Asphalt-Rondell
mit Doppelkurve,
Spitzkehre und genügend Auslauf. War
die Trauergemeinde
abgezogen, preschte
die Moped-Gang stundenlang durchs Oval.
Wahnsinn, wie schräg
so ein 50erle ums Eck
biegen konnte.
Noch schräger ging’s
mit der 250er-Suzuki
zur Sache. Vorn Metzeler Rille 10, hinten
Block C5, fand auch
das Knie unter dem
74 MOTORRAD test + technik
Konzentrierte Körperspannung
schärft die Sinne
10/2006
WIE ENTSTEHT GRIP?
Warum sind viele Straßen im Frühjahr griffiger als im Herbst? Was ist Hysterese? Und
was hat das Glasverhalten mit Haftung zu tun?
eschleunigen, Bremsen oder Kurvenfahren, der viel beschworene Grip, die Haftreibung zwischen Reifen und Straßenoberfläche,
ist unverzichtbar. Damit diese Verbindung möglichst viel Kraft übertragen kann, ist es notwendig, dass sich das mehr oder weniger weiche
Gummi in den mehr oder weniger tiefen Poren
des Asphalts verzahnen kann. Dazu stehen beim
Motorrad allerdings nur geringe Auflageflächen
zur Verfügung, da die Reifenbreite durch bestimmte physikalische Faktoren begrenzt ist
(siehe Kasten Seite 78). Klares Ziel bei der Reifenentwicklung: eine möglichst gute Haftung
bei nasser wie trockener Fahrbahn und das bei
möglichst allen Temperaturbereichen und Straßenbelägen. Moderne Gummimischungen sind
so entwickelt, dass sie auch bei niedrigen Temperaturen eine sichere Radführung garantieren.
Denn wäre die Gummimischung bei Kälte zu
hart und spröde, man spricht von Glasverhalten,
könnten sich die kleinen Spitzen des Asphalts,
Im rauen Rennstreckenbelag
können sich weiche Gummimischungen bestens verzahnen.
Zudem sickert bei Nässe das
Wasser in die Vertiefungen. Auch
der griffige Landstraßenasphalt
garantiert durch die Mikrorauigkeit
einen Reibbeiwert von bis zu 0,9.
Der glatte Landstraßenasphalt mit
den rund polierten Steinen bringt
es nur auf etwa 0,7 und ist bei
Regen mit Vorsicht zu genießen.
Extrem glatte Beläge mit einem
Reibbeiwert von weniger als 0,2
kommen im Straßenbau nur in
Form von lackiertem oder mit
Kunststoff überzogenem Asphalt
(Fahrbahnmarkierungen, Curbs
auf der Rennstrecke) vor. Bei Nässe können diese fast so rutschig
wie Eis werden.
dessen Mikrorauigkeit, nicht mit dem Gummi verzahnen, die Haftung ist dann miserabel. Erst wenn
der Reifengummi warm, somit visko-elastisch wird
und sein Gummiverhalten erreicht, klappt es auch
mit der Verzahnung, weil sich die Asphaltspitzen tief
in das Gummi bohren.
Richtig griffig wird der Reifen jedoch erst, wenn er
mit leichtem Schlupf, also einem minimalen Durchrutschen über die Verzahnung im Asphalt gleitet.
Dabei verformt sich das Gummi unter der Last von
Mensch und Maschine sowie Umfangs- und Seitenkräften, seine ursprüngliche Form nimmt es nur verzögert wieder an. Man spricht dann von der GummiHysterese. Nix verstehen? Ist auch ein höchst komplizierter Vorgang, der verständlicher wird, wenn
man den Daumennagel in einen warmen Renn- oder
Sportreifen drückt und das Gummi den Abdruck des
Nagels noch eine gewisse Zeit beibehält – das ist in
groben Zügen die Wirkung der ominösen GummiHysterese. Womit wir zum Gegenstück des Reifengummis kommen, der Straßenoberfläche. Je nach
Rennstrecke
Makrorau und mikrorau
glatte Landstraße
Makrorau und mikroglatt
Makrorauigkeit
76 MOTORRAD test + technik
griffige Landstraße
SO SCHRÄG
GEHT’S
Mikrorauigkeit
Bei zu niedrigen Reifentemperaturen befindet sich das kalte Gummi
(blau) im Bereich des Glasverhaltens, ist folglich zu hart, um sich mit
der rauen Oberfläche zu verzahnen.
Erst mit steigender Temperatur
nimmt die warme Lauffläche (rot)
das Gummiverhalten wieder an und
bildet einen nahezu formschlüssigen
Kontakt zur Straße.
Inhaltsstoffen weist der Reibpartner Asphalt
einen mehr oder weniger guten Reibbeiwert
auf, der als „µ“ (sprich „Mü“) bezeichnet wird
und in unten stehender Tabelle den jeweiligen
Straßenbelägen und der theoretisch möglichen
Maximal-Schräglage zugeordnet ist.
Ach so, warum der Grip auf Landstraßen im
Frühjahr besser ist als im Herbst? Weil über den
Winter die kleinen Wassereinschlüsse in der
Straßenoberfläche, speziell in den runden Steinchen, durch den Frost aufbrechen und feine
Spitzen ausbilden, die Mikrorauigkeit (siehe
Fotos unten). Sind Salz, Staub und die sandigen
abgesprengten Partikel erst einmal gründlich
ausgespült, können sich die Reifen in diesen
aufgerauten Oberflächen sehr effizient verzahnen. Leider polieren die Autoreifen auf viel
befahren Kurvenstraßen, beispielsweise den
Alpenpässen, diese Spitzen im Lauf des
Sommers wieder glatt, was den Grip speziell
bei Nässe oder kalten Reifen verschlechtert.
Seitenkraft
Makroglatt und mikrorau
extrem glatter Belag
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Asphalt rau 1,2
Asphalt normal 0,9
Asphalt glatt 0,7
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Nasser Staub 0,3
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33
22
7
Makroglatt und mikroglatt
Die so genannte Mikrorauigkeit
(rot), deren Rautiefe zwischen 0,001
und 0,1 Millimetern liegen kann, verbessert die Haftung speziell bei Nässe
entscheidend, während die Makrorauigkeit (grün) im Bereich zwischen
0,1 und 10 Millimetern angesiedelt ist
und überwiegend die grobe Verzahnung bei trockener Straße verbessert.
Seitenkraft
Die Reifenaufstandsfläche, der so genannte Latsch,
stellt in Schräglage den
Kontakt zwischen Straße
und Motorrad her. Die
Skizze zeigt einen 180erSportreifen mit spitzer
Reifenkontur in 48 Grad
Schräglage. Aus etwa 38 cm2
Kontaktfläche ergibt sich die Seitenführungskraft. Dabei ist noch zu berücksichtigen,
dass meist nur der kleinere Teil dieser Fläche
direkten Bodenkontakt hat.
10/2006
So wird’s nix. Wer nur mit Akrobatik das Knie
auf den Asphalt bekommt, ist nicht echt schnell.
Bei solch verkrampften Aktionen gilt die Konzentration
dem schleifenden Knie-Pad und nicht der Kurvengeschwindigkeit. Merke: Nicht das Knie muss zum
Asphalt – sondern der Asphalt zum Knie. Nur ordentlicher Kurvenspeed mit sauberer Linie kann Grundlage
für tiefe Schräglagen sein.
Wer locker entspannt, mit leicht abgespreiztem
kurveninneren Knie und sanftem Hanging-off durch
die Kurven surft, ist schneller und bestimmt sicherer
und kommt damit automatisch dem schleifenden
Knie näher. Allerdings braucht es diese Nummer für die
zügige Landstraßenfahrt nicht wirklich. Und beim
Herumturnen kann es schon mal passieren, dass man
außenrum vom Klapphelm-Fahrer abgebürstet wird.
Wer seinem Talent auf der Rennstrecke freien
Lauf lässt, darf getrost mit dem Knie schraddeln. Sich
dabei mit leichter Körperspannung so neben das
Motorrad hängen, dass der kurvenäußere Arm und
der Oberkörper am Tank anliegen, was den Kontakt
zum Motorrad und die Rückmeldung verbessert.
Dabei sollten die Arme locker den Lenker greifen und
der Knieschleifer nur zart über den Asphalt sausen.
Durch die Schwerpunktverlagerung zum Kurveninneren
spart man ein paar Grad an Fahrzeug-Schräglage.
Ein Indiz, dass in Sachen Schräglage
noch was geht, ist der allseits bekannte
Angststreifen auf den äußersten Reifenkanten. Je breiter, desto peinlicher empfinden manche Motorradfahrer den jungfräulichen Gummistreifen. Denn geht es nach
der Stammtisch-Fraktion, zeugt das von
mangelndem Fahrkönnen und tranfunzeligem „Kurvenzuparken“. In Wirklichkeit
bleibt der Restgummi bei zügiger Landstraßenpartie deshalb unberührt, weil die
Reifenkonstrukteure speziell am Vorderreifen eine Kontur wählen, die den profilierten Anteil des Reifens so weit krümmt,
dass er bei maximal möglicher Schräglage
auf optimal griffigem Asphalt mit einem
Reibbeiwert bis zu 1,2 noch genügend
Auflagefläche in Reserve hat (siehe auch
Kasten linke Seite).
Da auf Landstraßen je nach Belag zwar
gute Asphaltstrukturen mit einem Reibbeiwert von 0,8 bis 1,0, aber nur seltenst
rennstreckenähnliche Beläge anzutreffen
sind, bleiben auch bei den MOTORRADTestern nach der obligatorischen Testrunde
oft ein paar Millimeter des Angststreifens
übrig. Abgesehen von der Griffigkeit des
Belags gibt’s dafür einen einfachen Grund:
Auf der Landstraße sollte stets noch eine
Portion Grip für einen Bremsvorgang in
Schräglage vorhanden sein. Diese Reserve
schließt es aus, die maximal mögliche
www.motorradonline.de
Haftung zu einhundert Prozent in Schräglage umzumünzen.
Bevor wir uns nun in verwirrenden,
schriftlichen physikalischen Erklärungen
verstricken, nehmen wir zur Erklärung den
berühmten Kammschen Kreis zu Hilfe,
der die komplizierte Thematik von Seitenund Umfangskräften anschaulich auflöst
(siehe Skizze Seite 72).
Die Angststreifen verschwinden bei
den MOTORRAD-Testfahrern erst im Slalom-Parcours oder in der Kreisbahn, wenn
Handling und Kurvenverhalten unter optimalen Bedingungen und auf der letzten
Rille ausgefahren werden. Dabei pilotieren
die Testfahrer die Motorräder mit möglichst geringen Umfangskräften in maximaler Schräglage. Es gehört eine Menge
Erfahrung dazu, derart dosiert Gas zu geben, dass die Maschine im Slalom oder in
der Kreisbahn konstant schnell fährt. Aber
nur so sind die Umfangskräfte niedrig genug, um die maximale Schräglage überhaupt erreichen zu können.
Doppelte Geschwindigkeit gleich
doppelte Schräglage? Von wegen
Maximal engagierte Motorradfahrer mit gewissen Wettkampfambitionen spüren den
richtigen Kick erst, wenn sich die rasante
Fahrt bereits im physikalischen Grenzbe-
reich abspielt und man dem Asphalt näher
ist als dem Himmel. Für diese Gratwanderung jenseits der magischen 45-GradGrenze (siehe Seite 72 unten) müssen alle
Sinne bestens geschult und trainiert sein.
Wer glaubt, die Fahrt auf der letzten Rille
einfach aus dem Handgelenk schütteln zu
können, ist dem Asphalt noch viel näher,
als er denkt. Und wenn’s beim Sturz dumm
läuft, auch der Hölle. Wer den Tanz auf
Messers Schneide wagt, kommt um ein
intensives Schräglagen-Training nicht herum. Denn die Grenze zwischen sicherer
Kurvenfahrt und waghalsigem Ritt kann
nur derjenige beurteilen, der sich bewusst
dem Limit genähert hat und das Gefühl
kennt, wenn die Reifen langsam aber
sicher von souveräner Haftreibung in den
heiklen Schlupfbereich übergehen.
Zumal beim tollkühnen Heizen meist
der schmale Vorderrad-Pneu zuerst die
Haftung verliert. Dann untersteuert das
Motorrad schlagartig, beschreibt einen zu
großen Radius und kippt letztlich schlicht
und ergreifend zur Innenseite um. Solche
Vorderradrutscher in maximaler Schräglage abzufangen verlangen nach einem
blitzschnellen Ausbalancieren durch den
Oberkörper und einem zur Kurveninnenseite korrigierten Lenkeinschlag.
Ganz anders bei einem Gripverlust am
Hinterrad, bei dem durch Gegenlenken das
Übersteuern ausgeglichen wird. Weil sich
der Kurvenradius verkleinert, sobald das
Hinterrad wieder Fuß fast, kann sich das
Motorrad aufrichten und fädelt sich mit
etwas Glück selbständig und sturzfrei in
der Fahrspur ein. Krallt sich der Reifen
nach dem Rutscher allerdings abrupt im
Asphalt fest, entlädt sich die im dann stark
eingefederten Stoßdämpfer gespeicherte
Energie schlagartig und schießt Ross mitsamt Reiter in eine bedrohlich hohe Umlaufbahn. Highsider nennt sich diese wüste
Art zu stürzen und endet häufig mit einem
gebrochenen Schlüsselbein – oder mehr.
Neben der Gratwanderung an der
Rutschgrenze unterliegt die rasante Kurvenfahrt einer weiteren, für den Menschen
lediglich schwer nachvollziehbaren physi-
kalischen Grundregel dynamischer Massenkräfte. Die wachsen nämlich nicht linear, sondern im Quadrat zur Geschwindigkeit an. Anhand des Diagramms auf Seite
80 und eines kleinen Beispiels wird der
Zusammenhang etwas verständlicher: Bei
einer Verdoppelung der Kurvengeschwindigkeit in der MOTORRAD-Kreisbahn (46
Meter Durchmesser) von 20 auf 40 km/h
erhöht sich die Schräglage nicht linear von
10 auf 20 Grad, sondern auf 32 Grad. Ein
Teil der progressiven Steigerung geht auf
das Konto der genutzten Reifenbreite und
der Höhe des Schwerpunkts von Motorrad
und Fahrer.
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Hinter der scheinbar lässig dahergezauberten Schräglage stecken also unzählige
physikalische Geheimnisse, die es lohnt,
genauer genauer studiert zu werden (siehe
Kasten unten). Denn so faszinierend wie
der schräge Kurvenritt selbst, so spannend
REIFENBREITE UND SCHWERPUNKTLAGE
Beide Faktoren wirken sich auf die tatsächlich notwendige Schräglage aus.
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Die Skizze zeigt eine 125er mit einem 130
Millimeter breiten Hinterreifen. Der Schwerpunkt
aus Fahrer- und Maschinengewicht liegt mit 650
Millimetern relativ weit oben, da der hoch sitzende
Pilot rund ein Drittel der Gesamtmasse ausmacht.
Weil sich die Reifenaufstandsfläche nur zirka 55
Millimeter aus der Längsachse verlagern kann,
benötigt die 125er 4,5 Grad mehr als die effektiv
notwendige Schräglage von 40,5 Grad, die die
Reifenbreite nicht berücksichtigt und von einer
mittigen Aufstandsfläche ausgeht, dargestellt von
der gestrichelten Linie.
78 MOTORRAD test + technik
4
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°
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53 G
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Das moderne Sportmotorrad mit 180er-Hinterreifen und einer Schwerpunkthöhe von rund 600
Millimeten. Die Aufstandsfläche kann sich bis zu 80
Millimeter aus der Längsachse verschieben, was eine
zusätzliche Neigung zur effektiv notwendigen Schräglage von rund sieben Grad erfordert. Je höher der
Schwerpunkt, desto weniger Schräglage muss bei
gleicher Geschwindigkeit gefahren werden, was
auch der Handlichkeit zugute kommt. Dies ist mit ein
Grund, warum bei den Rennmaschinen der Schwerpunkt bis zu etwa 150 Millimetern höher liegt als bei
Straßenmotorrädern.
Die fahrdynamische Katastrophe: ein ExtremChopper auf fettem 240er-Hinterreifen, bei
dem sich die Aufstandsfläche gut 110 Millimeter
verschieben kann, dazu ein enorm abgesenkter
Schwerpunkt, bedingt durch die flache Bauweise,
den weit unten platzierten Motor und den tief in
der Sitzmulde kauernden Fahrer. Diese Faktoren
treiben in Kombination die erforderliche Fahrzeugschräglage in abenteuerliche Dimensionen.
In der Praxis verheddern sich jedoch bei solchen
Motorrädern schon bei zarter Kurvenfahrt die
exponierten Bauteile wie Fußrasten im Asphalt.
10/2006
TOP-TEST
Yamaha YZF-R1
Suzuki GSX-R 750
KTM 990 Superduke*
Triumph Speed Triple
Suzuki GS 500 E*
Buell Ulysses*
KTM 640 LC4 Enduro
BMW R 1100 S*
BMW R 1200 GS*
Yamaha FJR 1300*
Yamaha BT 1100*
Harley-Davidson VRSCA V-Rod*
Honda Gold Wing*
Suzuki VTX 1800*
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sind auch die technischen Zusammenhänge,
die bereits bei der Grundkonstruktion jedes
Motorradtyps berücksichtigt werden müssen.
Die wohl wichtigsten Bestandteile für eine
fesche Kurvenfahrt liegen in der richtigen
Linienwahl und dem Kurvenradius, beides
wurde in Teil zwei dieser Serie in MOTORRAD
8/2006 ausführlich abgehandelt. Im Zusammenspiel mit der gewählten Geschwindigkeit
ergibt sich die Zentrifugalkraft, die am Auf-
58
56
55
55
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45
46
43
44
42
38
Die MOTORRADKreisbahn mit 46 Meter
Durchmesser gibt Auskunft über die mögliche
Kurvengeschwindigkeit
jeder Maschine. Aus der
ungefähren Schwerpunktlage und der tatsächlich
genutzten Reifenbreite
lässt sich zudem die
Fahrzeugschräglage auf
etwa ein Grad genau errechnen. Die mit einem
Stern markierten Maschinen setzten vor Erreichen
der Haftgrenze auf.
Wie alle Supersportler
fegt die Suzuki GSX-R 750
superstabil und mit berechenbarem Grenzbereich um den
Kreisel, scharrt dabei zart,
aber harmlos mit den angeschraubten Angstnippeln.
Die GSX-R 750 fängt zuerst
an, übers Vorderrad zu rutschen, und zieht dabei gut
sichtbare schwarze Streifen.
Das rasende Wohnzimmer, die Honda Gold Wing,
schafft es mit engagiertem
Körpereinsatz immerhin
auf 45 km/h und rund 42
Grad Schräglage, bevor
die Fußabstreifer Funken
sprühen. Was der Fahrer
dank der Stereoanlage
großzügig überhört.
Schmale Reifen und
hoher Schwerpunkt sind die
Gründe dafür, dass die KTM
LC4 für ihre 54 km/h nur
46 Grad Schräglage benötigt.
Die grob profilierten Pneus
quittieren den flotten Ritt
mit einem sauberen Drift
und akkurat hingezirkelten
schwarzen Streifen.
www.motorradonline.de
30
20
Sportreifen
Rennreifen
Schräglage
10
0
0
10
20
Geschwindigkeit (km/h)
standspunkt der Pneus als Seitenkraft
wirkt. Darüber, wie hoch diese ausfallen
kann, ohne dass die Maschine seitlich
wegrutscht, entscheidet die Seitenführung,
also die Reifenhaftung oder der viel beschworene Grip. Wie diese Haftung zustande kommt, ist im Kasten auf Seite 76 ausführlich beschrieben.
Ein weiterer, ganz banaler Faktor ist die
Schräglagenfreiheit der jeweiligen Maschine. Während moderne Sportler so konstruiert sind, dass selbst auf der Rennpiste nur
noch die in den Fußrasten verschraubten
„Angstnippel“ über den Asphalt funken,
ist bei Touren- und Allroundmotorrädern
die Schräglagenfreiheit oft begrenzt. Von
tiefergelegten Choppern und Cruisern ganz
30
40
50
Grenzbereich Rennstrecke
Schräglage (Grad)
40
Grenzbereich Rennstrecke
50
Grenzbereich Straße trocken
SCHRÄGLAGE UND
GESCHWINDIGKEIT
Grenzbereich Straße nass
60
60
zu schweigen, denn diese Gattung leidet
außerdem häufig unter extrem breitem
Hinterrad-Schlappen und enorm tiefem
Schwerpunkt. Eine zu tiefe Anordnung der
Massen kostet, entgegen der landläufigen
Meinung, Handlichkeit, Kurvenspeed und
Haftung beim Beschleunigen aus Schräglage. Liegt der Schwerpunkt zu hoch, verschlechtern sich Fahr- und Bremsstabilität.
Sind Seitenständer, Fußrasten oder gar
Motorblock und Auspufftopf zu tief platziert, verhindert dies, dass die Maschine
bei rasanter Fahrt noch mehr Schräglage
aufnehmen kann, obwohl die Reifen deutliche Haftungsreserven bereithalten würden.
Die Konsequenz: Der Kurvenradius kann
im Ernstfall nicht eng genug gezogen wer-
Durch das Chassis-Programm von 2D geben die
MOTORRAD-Messfahrten auf Landstraßen, Rennstrecken, und bei Nässe (Foto oben) Auskunft über
die tatsächlich möglichen Fahrzeug-Schräglagen auf
unterschiedlichen Straßenbelägen. Als Grundlage
für das Schräglagen-Diagramm links dient die MOTORRAD-Kreisbahn mit 46 Meter Durchmesser. Die Angaben der Maximalwerte mit Rennreifen entstammen
den Angaben der Reifenhersteller. Die Redaktion
MOTORRAD möchte jedoch nachdrücklich darauf hinweisen, dass diese Information nicht als Anleitung
zum riskanten Selbstversuch dienen soll.
den, was womöglich auf der Gegenfahrbahn oder im Graben endet. Wie stark Bodenfreiheit, Bereifung und Schwerpunktlage Einfluss auf die tatsächlich mögliche
Kurvengeschwindigkeit und Schräglage
nehmen, demonstriert die Tabelle auf Seite
79, auf der 14 unterschiedliche Maschinentypen von Supersportler Yamaha YZF-R1
bis zum Touren-Dickschiff Honda Gold
Wing durch die MOTORRAD-Kreisbahn
gejagt wurden.
Doch obwohl diese Übung unglaubliche Unterschiede in der Kurven-Performance ans Tageslicht bringt, genießt jeder
die Faszination Schräglage, egal, ob auf
einer fetten Gold Wing oder brüllenden
Rennsemmel.
Auch in der nächsten Folge spielen
Schwerpunkt und Reifenhaftung eine
wichtige Rolle. Noch mehr allerdings
sind die Feinmotorik und Reaktionsschnelligkeit des Fahrers gefragt,
wenn es heißt, mit kreischenden
Reifen richtig und sicher zu bremsen.
Alle Tipps, Tricks und die Technikhintergründe in MOTORRAD 14/2006
Dem Gesichtsausdruck des Fahrers ist zu entnehmen, dass er noch nicht registriert hat, dass
die rasante Kurvenfahrt jetzt zu Ende geht. Dieser
Sturz übers Vorderrad ließe sich auch nicht mehr
mit viel Glück abfangen, weil die untersteuernde
Front einen zu großen Radius beschreibt und der
Gesamtschwerpunkt nach innen kippt. Dafür gehen solche Abflüge meist glimpflich ab, da sich
das Motorrad nicht aufstellt und der Sturzpilot im
flachen Winkel auf der Fahrbahn landet. Wie bei
allen Stürzen gilt: Erst aufstehen, wenn man zum
Stillstand gekommen ist, sich schnell orientieren
und dann unter Berücksichtigung des Verkehrs
nix wie runter von der Fahrbahn.
80 MOTORRAD test + technik
10/2006
DIE HÄUFIGSTEN FEHLER
Damit beim fetzigen Kurvenritt nichts daneben geht, hier die
wichtigsten Tipps und Tricks.
U
nd ewig lockt die Kurve. Wenn’s 2,5 Kilometer
(Bild 1) drunter und drüber geht, will man nichts
versäumen. Das führt dazu – und da macht der Autor
keine Ausnahme –, dass man den Bürgerkäfig vor sich
ruck, zuck noch vor der ersten Biegung in aller Dringlichkeit überholen möchte. Also presst man sich irgendwie,
obwohl’s eigentlich nicht mehr geht, am Automobil
vorbei. Falsch, völlig falsch. Schon deshalb, weil auf
kurvigen Strecken bekanntermaßen gerne der schräglagensüchtige Kradfahrer seine Kreise zieht. Und der ist
schneller da, als man glaubt. Bester Schutz vor überstürzten Überhol-Attacken: Stell dir vor, du kommst dir
auf der Kurvenstrecke selbst entgegen – alles klar?
Die bessere Lösung: kurz rechts ranfahren, ein kleines
Päuschen, und schon lässt es sich mit Genuss und ohne
Risiko über die Kurvenpiste surfen.
Es wippt und schunkelt wie nachts um zehn auf dem
Oktoberfest. Weil man sich an das Gegautsche aber
schon richtig gewöhnt hat, nimmt man es mit Gelassenheit hin. Doch lustiges Schunkeln ist bei der zügigen und
sicheren Schräglagenfahrt fehl am Platz, weshalb man
undichte Telegabeln oder Stoßdämpfer (Bild 2) zwingend
in der Werkstatt überarbeiten oder ersetzen lassen sollte.
Denn eine unzureichende Dämpfung kann die Reifenhaftung selbst auf ebenem Asphalt dramatisch verschlechtern. Kommen noch Bodenwellen oder kurze, harte Querrillen ins Spiel, können die Räder regelrecht aus der Spur
trampeln. Solch kapriziöse Überraschungen enden nicht
selten im Krankenhaus.
Wenn manche Kurvenräuber im metallischen Funkenflug
um die Applauskurve preschen, treibt dies eventuell die
B-Note nach oben, wenn’s dumm läuft aber Ross und
Reiter zu Boden. Speziell massive Bauteile wie Rahmen,
Motorblock oder Krümmeranlage (Bild 3) können die
Fuhre gnadenlos aushebeln, wobei der Grip oft schlagartig abreißt. Lassen sich solche Probleme nicht mit
einer geänderten Fahrwerkseinstellung aus der Welt
schaffen (Federn mehr vorspannen, Druckstufendämp-
fung erhöhen), bleibt nichts anderes übrig, als sich mit
moderater Schräglage zufrieden zu geben.
Dass nur griffige Pellen knackige Schräglagen zulassen,
hat sich herumgesprochen. Wie griffig die jeweiligen
Reifentypen tatsächlich sind, steht in den Reifentests
von MOTORRAD. Dabei ist zu beachten, dass Reifen mit
abnehmendem Profil auch in der Haftung abbauen können. Das liegt zum einen daran, dass sich die Lauffläche
stärker verformt und somit der Latsch (siehe Seite 76 unten) ungünstiger ausfällt, zum anderen an der Tatsache,
dass für die Haftung wichtige Bestandteile des Gummis
ausgasen, wodurch die Elastizität und der Verzahnungseffekt nachlassen, Stichwort Hysterese (siehe Seite 76).
Womit der Übergang von der aktiven zur passiven Sicherheit eingeleitet ist. Denn wenn Hysterese, Ideallinie und
perfektionierter Fahrstil am Ende sind, liegt die Maschine
eben im Dreck. Was an sich schon schlimm genug ist.
Damit der Mensch bei solchen Aktionen möglichst ungeschoren davonkommt, sollte er seine Haut durch eine
zweite schützen. Und da ist, Bequemlichkeit hin oder her,
die klassische Lederkombi, ausstaffiert mit wirkungsvollen Protektoren, immer noch die beste Lösung (Bild 4).
Nein, wir wollen nicht den Herrn Oberlehrer spielen, weil
wir selbst gelegentlich die saloppe Lederjacke/Jeans/
Stiefel-Kombination für die Fahrt ums nächste Hauseck
bevorzugen. Auf der bewusst flotten Ausfahrt indes, womöglich mit Ziel Kurvenparadies, haben Jeans nichts zu
suchen – auch im heißesten Sommer nicht.
Alle weiteren Punkte zur sicheren und spaßigen Kurvenfahrt sind bereits im ersten und zweiten Teil (MOTORRAD
6 und 8/2006) aufgeführt worden. Dazu gehören das
technische Grundwissen über Lenkimpulse, die richtige
Blickführung sowie die perfekte Linienwahl und das Erkennen der klassischen Gefahrenstellen im Kurvenrevier.
Wer diese Teile versäumt hat, sich jedoch brennend dafür
interessiert, kann die Hefte natürlich nachbestellen. Ganz
einfach anrufen (0711/182-12 29) oder per E-Mail an
[email protected] ordern.
Bild 1
Bild 2
Bild 3
Bild 4
www.motorradonline.de
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12.07.2006
11:10
Seite 58
Perfekt fahren
mit
ÜBER AL LE
Teil 4: Fahr en mit Gepäck
BERGE
TEIL 1
IN MOTORRAD
6/2006
KURVENFAHREN,
DIE THEORIE
TEIL 2
IN MOTORRAD
8/2006
KURVENFAHREN,
DIE PRAXIS
TEIL 3
IN MOTORRAD
10/2006
FASZINATION
SCHRÄGLAGE
TEIL 4
IN DIESEM HEFT
FAHREN
MIT GEPÄCK
TEIL 5
IN MOTORRAD
18/2006
EFFEKTIVES
BREMSEN
TEIL 6
IN MOTORRAD
20/2006
FAHREN
IN DER STADT
TEIL 7
IN MOTORRAD
22/2006
FAHREN
BEI REGEN
58 MOTORRAD service
16/2006
www.motorradonline.de
Sommerzeit, Reisezeit. Egal,
ob Drei-Tages-Ritt durch die
Dolomiten oder die mehrwöchige
Exkursion zum Nordkap, die
jährliche Motorradtour ist
und bleibt der abenteuerliche
Höhepunkt der Saison. Wer
vorher clever plant, wird
später von nervigen Pannen
verschont. Die Tipps und Tricks
von MOTORRAD helfen beim
Packen, Fahren, Vorbereiten.
Motto: Urlaub von Anfang an.
Von Werner Koch; Fotos: fact, Koch;
Zeichnungen: Wolfgang Müller
H
ugo ist der Straps gerissen. Hugo
reißt immer der Straps. Und zwar
immer dann, wenn er es besonders eilig
hat. Zum Beispiel jetzt, frühmorgens um
sechs, wenn die ganze Clique zur Abfahrt
parat steht. Da Hugos Gepäck-Strapse von
der ganz billigen Sorte sind, hat er sich,
ganz pfiffig, gleich zwei Strapse zugelegt.
Einen zum gleich abreißen – und den
zweiten beim Tankstopp. Seemännisch verknotet, zurrt das Gummiband das Gepäck
notdürftig übers Krad, und es ist nur eine
Frage der Zeit, wann Hugos neckische
Banani-Slips im Geäst des Mittelstreifens
zerfleddern. Egal, Hauptsache, die Strapse
waren billig. Hat die lustige Reisegesellschaft auch nur einen Hugo in ihren Reihen,
wird der Ausflug zum Desaster. Weshalb
Hugo schon lange Jahre allein fährt.
Die restliche Truppe transportiert Gepäck und Utensilien längst mit teuren, aber
reißfesten Strapsen, wenn nicht gar mit
einem soliden Gepäcksystem. Womit wir
die Diskussion, ob Packtaschen, Tankrucksack oder Gepäckrolle erst gar nicht entfachen wollen. Hauptsache keine billigen
Strapse. Der Rest regelt sich nach Anspruch und Reisedauer.
MOTORRAD service 59
MRD16058D.qxd
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Seite 58
Perfekt fahren
mit
ÜBER AL LE
Teil 4: Fahr en mit Gepäck
BERGE
TEIL 1
IN MOTORRAD
6/2006
KURVENFAHREN,
DIE THEORIE
TEIL 2
IN MOTORRAD
8/2006
KURVENFAHREN,
DIE PRAXIS
TEIL 3
IN MOTORRAD
10/2006
FASZINATION
SCHRÄGLAGE
TEIL 4
IN DIESEM HEFT
FAHREN
MIT GEPÄCK
TEIL 5
IN MOTORRAD
18/2006
EFFEKTIVES
BREMSEN
TEIL 6
IN MOTORRAD
20/2006
FAHREN
IN DER STADT
TEIL 7
IN MOTORRAD
22/2006
FAHREN
BEI REGEN
58 MOTORRAD service
16/2006
www.motorradonline.de
Sommerzeit, Reisezeit. Egal,
ob Drei-Tages-Ritt durch die
Dolomiten oder die mehrwöchige
Exkursion zum Nordkap, die
jährliche Motorradtour ist
und bleibt der abenteuerliche
Höhepunkt der Saison. Wer
vorher clever plant, wird
später von nervigen Pannen
verschont. Die Tipps und Tricks
von MOTORRAD helfen beim
Packen, Fahren, Vorbereiten.
Motto: Urlaub von Anfang an.
Von Werner Koch; Fotos: fact, Koch;
Zeichnungen: Wolfgang Müller
H
ugo ist der Straps gerissen. Hugo
reißt immer der Straps. Und zwar
immer dann, wenn er es besonders eilig
hat. Zum Beispiel jetzt, frühmorgens um
sechs, wenn die ganze Clique zur Abfahrt
parat steht. Da Hugos Gepäck-Strapse von
der ganz billigen Sorte sind, hat er sich,
ganz pfiffig, gleich zwei Strapse zugelegt.
Einen zum gleich abreißen – und den
zweiten beim Tankstopp. Seemännisch verknotet, zurrt das Gummiband das Gepäck
notdürftig übers Krad, und es ist nur eine
Frage der Zeit, wann Hugos neckische
Banani-Slips im Geäst des Mittelstreifens
zerfleddern. Egal, Hauptsache, die Strapse
waren billig. Hat die lustige Reisegesellschaft auch nur einen Hugo in ihren Reihen,
wird der Ausflug zum Desaster. Weshalb
Hugo schon lange Jahre allein fährt.
Die restliche Truppe transportiert Gepäck und Utensilien längst mit teuren, aber
reißfesten Strapsen, wenn nicht gar mit
einem soliden Gepäcksystem. Womit wir
die Diskussion, ob Packtaschen, Tankrucksack oder Gepäckrolle erst gar nicht entfachen wollen. Hauptsache keine billigen
Strapse. Der Rest regelt sich nach Anspruch und Reisedauer.
MOTORRAD service 59
Seite 60
Planung ist der halbe Urlaub: Wenn Blechlawinen in den Urlaub rollen,
wählen pfiffige Motorrad-Touristen für ihre Reiseroute besser das kurvige Gefilde.
Planungsphase Nummer eins:
wie viele Kilometer am Tag?
Bei Solisten ist der Gedanke schnell zu
Ende gebracht, in der Gruppe hingegen
werden einige Kneipenabende notwendig
sein, um die gemeinsame Route und die
Länge der Tour festzulegen. Ganz wichtig
dabei: Das schwächste Glied gibt die
Tagesetappen vor. Es ist nicht nur extrem
stressig, sondern brandgefährlich, Motorradfahrer mit wenig Übung über vier-
hundert oder mehr Landstraßenkilometer
pro Tag zu hetzen. Deshalb die Reisetage
so großzügig einteilen, dass keine Panik
entsteht, wenn man in Verzug kommt.
Mieses Wetter, Pannen, Übermüdung –
alles ist möglich.
SCHWERPUNKTLAGE UND LENKGEOMETRIE
Bei hoher Zuladung verändern sich mit der Balance auch die Fahreigenschaften.
nicht weiter, kann die Serieneinstellung (zum
Beispiel 16 Klicks offen) auf den halben Wert (acht
Klicks) verändert und das Fahrverhalten/Komfort
auf bekannter Strecke ausprobiert werden. Auch
die Zugstufe kann, etwas zugedreht, mit einer
cremigen Ausfederdämpfung für Ruhe sorgen.
Die Messwerte der Bandit 1200 beweisen, dass
kaum mehr als 40 Millimeter für die Stoßabsorbtion
zur Verfügung stehen. Durch dieses extreme Ein-
S3
S2
S1
S1
Schwerpunkt
Achslast
vorn
kg
hinten kg
Lenkkopfwinkel Grad
Negativfederweg
vorn mm
hinten mm
S1
S2
S3
118 151
116 174
65,5 64,0
156
270
62,0
30
5
40
35
Druckstufeneinstellung
45
78
hin oder her. Schließlich ist man ja auf
Urlaubstour. Gegen Nachmittag kommt
der menschliche Organismus dann wieder
in Schwung, vorausgesetzt, man hat die
Zeit zur Ruhe genutzt und nicht im hektischen Palaver vergeudet.
Planungsphase Nummer zwei:
die Strecke selbst
Diesbezüglich rät die Redaktion geschlossen dazu, den Motorrad-Urlaub tatsächlich
als solchen zu genießen. Und zwar von
Anfang an. Nichts trifft die Sache besser
als die abgelutschte Phrase vom Weg,
der auch das Ziel ist. Natürlich wollen
wir hurtig der gewohnten Umgebung
entschwinden. Doch mit dem Motorrad
erschließen sich im Gegensatz zum Automobil völlig neue Wege. Und das im
wahrsten Sinne des Wortes.
Vom angestrebten Urlaubsort magisch
angezogen, lassen wir häufig in ereignisloser Autobahn-Monotonie die kurvigsten
Gefilde links liegen, anstatt durch intensives Landkartenstudium die Route so zu
kombinieren, dass wir auf oftmals traumhaften Nebenstrecken flott vorankommen.
Wer die endlosen Mittelgebirge der Republik wie Eifel, Harz, Hunsrück, die Rhön
oder den Bayerischen Wald abseits rast-
90
loser und verstopfter Autobahnen erklommen hat, weiß Bescheid. Wer nicht,
sollte sich schlau machen. Mittels übersichtlicher Landkarten, zum Beispiel den
erstklassigen MOTORRAD-Exemplaren von
Mairs Geographischem Verlag im Maßstab 1:200 000, lassen sich die kurvigsten
Reviere querbeet zusammenpuzzeln.
Keine Zeit dafür? Keine Zeit! Für elegantes Kurvenswingen? Für traumhafte
Landschaften? Für rustikale Landgasthöfe?
Für richtig geiles Motorradfahren? Weil
Zeit immer relativ ist, ein kleines Beispiel.
Wer von Stuttgart in Richtung Schweizer
Alpen/Italien rauscht, kann auf der überlasteten Autobahn über Ulm und Memmingen die teuren Reifen eckig fahren und
für drei Euro fuffzich eine latschige Käsesemmel am Rasthof verdrücken. Eine Stunde und 42 Minuten bei zirka Tempo 130
(Durchschnitt 113 km/h) zeigt das GPS für
den gähnend langweiligen Ritt.
Nur 40 Minuten länger (Durchschnitt
72 km/h) dauert die Sause über die zerklüfteten Landschaften der Schwäbischen
Alb und die anschließende Kurvenachterbahn durchs sattgrüne Allgäu. Die Reifen
rundum aufgerubbelt, geht das knackig
schräge Motorradvergnügen nahtlos und
auf kürzestem Weg an der österreichischen Grenze bei Bregenz weiter. Uff, den
FEDERHUB UND VORSPANNUNG
(LINEARE FEDER)
80
70
60
50
40
30
20
10
0
2
Diagramm
Federbasis
1
Vorspannung 20 mm
Vorspannung 10 mm
0
100
200
300
400
500
Federkfraft am Federbein (kg/cm)
600
700
800
900
10 mm
Beladen bis zum Anschlag, verändert sich der für
die Handlichkeit wichtige Lenkkopfwinkel von 64 auf 62
Grad, parallel dazu wandert der Schwerpunkt extrem
weit nach hinten. Deshalb gehören schwere Gegenstände
in den Tankrucksack und nicht auf die Gepäckbrücke.
60 MOTORRAD service
Eine Feder wird beim Vorspannen nicht härter, man
verändert nur die Federbasis und damit die Fahrzeughöhe. Egal, ob nur mit Fahrer (1) oder zusätzlich mit
Sozius (2) beladen, der Negativfederweganteil wird kleiner, der Positivfederweg größer. Weshalb die Maschine
hinten höher steht, was Bodenfreiheit und Lenkgeometrie verbessert. Beim Diagramm der Federrate von
100 kg/cm ist das Übersetzungsverhältnis von Hinterachse zum Federbein durch die Umlenkung 2 zu 1: 120
Millimeter am Rad hinten, deren 60 am Stoßdämpfer
Verstellung
der Federvorspannung
g
MESSWERTE
ma
Be x.
lad
un
Schwerpunkt
Lenkkopfwinkel
Achslast
tauchen kippt die Maschine um knapp zwei
Winkelgrad nach hinten. Deshalb ganz wichtig:
Die Scheinwerferhöhe bei Dunkelheit und
drei Meter Abstand zu einer Wand mit Kreide
anzeichnen und bei voll beladener Maschine
und mit Sozius mittels Einstellschraube am
Scheinwerfer (siehe Fahrerhandbuch) auf die
gleiche Höhe herunterdrehen, damit die Eichhörnchen ohne Sonnebrille schlafen können.
sol
o
eshalb sollten die Einstellmöglichkeiten
am Fahrwerk genutzt werden, um das
weit eingetauchte Fahrzeugheck etwas zu kompensieren (siehe Kasten rechts). Was zum einen
über die Anpassung der Federvorspannung
und wenn möglich
Druckstufendämpfung
geschieht. Hilft das
Fahrerhandbuch
lee
r
D
Weil die Leistungskurve des Menschen, also seine Konzentration und Ausdauer, nicht linear über den Tag verläuft,
sondern mit zwei Kamelhöckern aufgebaut
ist, sollte man dem natürlichen Zyklus
folgen und sich möglichst früh in den
Sattel schwingen. Von etwa sechs bis elf
Uhr hält das erste Hoch an, danach fällt
der Mensch ins Leistungsloch. Grund genug, eine ausgiebige Pause von gut einer
Stunde einzuschieben, die die Reisegesellschaft gleich mit einem leckeren Mittagessen verbinden kann.
Nein, wir raten nicht zu sportlich-spartanischer Schonkost und Müsli, sondern
zu dem, was schmeckt. Weil der Genuss
im Vordergrund steht und nicht der ehrgeizige Langstrecken-Wettlauf. Aber: nicht
zu viel, nicht zu fett und wenn möglich eine
Mischung aus Kohlehydraten und Ballaststoffen. Hat man sich bei der Schlemmerei
doch zu viel aufgetischt, lösen Enzympräparate (Creon, Panzytrat) den lästigen
Klumpen im Magen schneller auf.
Nicht vergessen bei hitzigen Touren:
trinken, trinken, trinken. Die Wasser- oder
Apfelschorleflasche gehört immer griffbereit in den Tankrucksack. Wer dehydriert,
baut ruck, zuck ab und hat oft mit Kopfschmerzen zu kämpfen. Regelmäßige Trinkund Pinkelpausen müssen sein, Zeitverlust
maximaler Federhub 60 mm
13:30
maximaler Federhub 60 mm
12.07.2006
Federhub am Federbein (mm)
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16/2006
Anschlagpuffer
Zugstufeneinstellung
Um bis zu zehn Millimeter sollte die Vorspannung der Zentralfeder bei voller Zuladung mittels
Hakenschlüssel oder Hydraulik erhöht werden.
Bei der Druckstufendämpfung (Stellschraube oben)
regelt ein Nadelventil (rot) den hydraulischen Widerstand und somit den Einfedervorgang bei Bodenwellen.
MOTORRAD service 61
Seite 60
Planung ist der halbe Urlaub: Wenn Blechlawinen in den Urlaub rollen,
wählen pfiffige Motorrad-Touristen für ihre Reiseroute besser das kurvige Gefilde.
Planungsphase Nummer eins:
wie viele Kilometer am Tag?
Bei Solisten ist der Gedanke schnell zu
Ende gebracht, in der Gruppe hingegen
werden einige Kneipenabende notwendig
sein, um die gemeinsame Route und die
Länge der Tour festzulegen. Ganz wichtig
dabei: Das schwächste Glied gibt die
Tagesetappen vor. Es ist nicht nur extrem
stressig, sondern brandgefährlich, Motorradfahrer mit wenig Übung über vier-
hundert oder mehr Landstraßenkilometer
pro Tag zu hetzen. Deshalb die Reisetage
so großzügig einteilen, dass keine Panik
entsteht, wenn man in Verzug kommt.
Mieses Wetter, Pannen, Übermüdung –
alles ist möglich.
SCHWERPUNKTLAGE UND LENKGEOMETRIE
Bei hoher Zuladung verändern sich mit der Balance auch die Fahreigenschaften.
nicht weiter, kann die Serieneinstellung (zum
Beispiel 16 Klicks offen) auf den halben Wert (acht
Klicks) verändert und das Fahrverhalten/Komfort
auf bekannter Strecke ausprobiert werden. Auch
die Zugstufe kann, etwas zugedreht, mit einer
cremigen Ausfederdämpfung für Ruhe sorgen.
Die Messwerte der Bandit 1200 beweisen, dass
kaum mehr als 40 Millimeter für die Stoßabsorbtion
zur Verfügung stehen. Durch dieses extreme Ein-
S3
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Schwerpunkt
Achslast
vorn
kg
hinten kg
Lenkkopfwinkel Grad
Negativfederweg
vorn mm
hinten mm
S1
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S3
118 151
116 174
65,5 64,0
156
270
62,0
30
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Druckstufeneinstellung
45
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hin oder her. Schließlich ist man ja auf
Urlaubstour. Gegen Nachmittag kommt
der menschliche Organismus dann wieder
in Schwung, vorausgesetzt, man hat die
Zeit zur Ruhe genutzt und nicht im hektischen Palaver vergeudet.
Planungsphase Nummer zwei:
die Strecke selbst
Diesbezüglich rät die Redaktion geschlossen dazu, den Motorrad-Urlaub tatsächlich
als solchen zu genießen. Und zwar von
Anfang an. Nichts trifft die Sache besser
als die abgelutschte Phrase vom Weg,
der auch das Ziel ist. Natürlich wollen
wir hurtig der gewohnten Umgebung
entschwinden. Doch mit dem Motorrad
erschließen sich im Gegensatz zum Automobil völlig neue Wege. Und das im
wahrsten Sinne des Wortes.
Vom angestrebten Urlaubsort magisch
angezogen, lassen wir häufig in ereignisloser Autobahn-Monotonie die kurvigsten
Gefilde links liegen, anstatt durch intensives Landkartenstudium die Route so zu
kombinieren, dass wir auf oftmals traumhaften Nebenstrecken flott vorankommen.
Wer die endlosen Mittelgebirge der Republik wie Eifel, Harz, Hunsrück, die Rhön
oder den Bayerischen Wald abseits rast-
90
loser und verstopfter Autobahnen erklommen hat, weiß Bescheid. Wer nicht,
sollte sich schlau machen. Mittels übersichtlicher Landkarten, zum Beispiel den
erstklassigen MOTORRAD-Exemplaren von
Mairs Geographischem Verlag im Maßstab 1:200 000, lassen sich die kurvigsten
Reviere querbeet zusammenpuzzeln.
Keine Zeit dafür? Keine Zeit! Für elegantes Kurvenswingen? Für traumhafte
Landschaften? Für rustikale Landgasthöfe?
Für richtig geiles Motorradfahren? Weil
Zeit immer relativ ist, ein kleines Beispiel.
Wer von Stuttgart in Richtung Schweizer
Alpen/Italien rauscht, kann auf der überlasteten Autobahn über Ulm und Memmingen die teuren Reifen eckig fahren und
für drei Euro fuffzich eine latschige Käsesemmel am Rasthof verdrücken. Eine Stunde und 42 Minuten bei zirka Tempo 130
(Durchschnitt 113 km/h) zeigt das GPS für
den gähnend langweiligen Ritt.
Nur 40 Minuten länger (Durchschnitt
72 km/h) dauert die Sause über die zerklüfteten Landschaften der Schwäbischen
Alb und die anschließende Kurvenachterbahn durchs sattgrüne Allgäu. Die Reifen
rundum aufgerubbelt, geht das knackig
schräge Motorradvergnügen nahtlos und
auf kürzestem Weg an der österreichischen Grenze bei Bregenz weiter. Uff, den
FEDERHUB UND VORSPANNUNG
(LINEARE FEDER)
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Diagramm
Federbasis
1
Vorspannung 20 mm
Vorspannung 10 mm
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Federkfraft am Federbein (kg/cm)
600
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900
10 mm
Beladen bis zum Anschlag, verändert sich der für
die Handlichkeit wichtige Lenkkopfwinkel von 64 auf 62
Grad, parallel dazu wandert der Schwerpunkt extrem
weit nach hinten. Deshalb gehören schwere Gegenstände
in den Tankrucksack und nicht auf die Gepäckbrücke.
60 MOTORRAD service
Eine Feder wird beim Vorspannen nicht härter, man
verändert nur die Federbasis und damit die Fahrzeughöhe. Egal, ob nur mit Fahrer (1) oder zusätzlich mit
Sozius (2) beladen, der Negativfederweganteil wird kleiner, der Positivfederweg größer. Weshalb die Maschine
hinten höher steht, was Bodenfreiheit und Lenkgeometrie verbessert. Beim Diagramm der Federrate von
100 kg/cm ist das Übersetzungsverhältnis von Hinterachse zum Federbein durch die Umlenkung 2 zu 1: 120
Millimeter am Rad hinten, deren 60 am Stoßdämpfer
Verstellung
der Federvorspannung
g
MESSWERTE
ma
Be x.
lad
un
Schwerpunkt
Lenkkopfwinkel
Achslast
tauchen kippt die Maschine um knapp zwei
Winkelgrad nach hinten. Deshalb ganz wichtig:
Die Scheinwerferhöhe bei Dunkelheit und
drei Meter Abstand zu einer Wand mit Kreide
anzeichnen und bei voll beladener Maschine
und mit Sozius mittels Einstellschraube am
Scheinwerfer (siehe Fahrerhandbuch) auf die
gleiche Höhe herunterdrehen, damit die Eichhörnchen ohne Sonnebrille schlafen können.
sol
o
eshalb sollten die Einstellmöglichkeiten
am Fahrwerk genutzt werden, um das
weit eingetauchte Fahrzeugheck etwas zu kompensieren (siehe Kasten rechts). Was zum einen
über die Anpassung der Federvorspannung
und wenn möglich
Druckstufendämpfung
geschieht. Hilft das
Fahrerhandbuch
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Weil die Leistungskurve des Menschen, also seine Konzentration und Ausdauer, nicht linear über den Tag verläuft,
sondern mit zwei Kamelhöckern aufgebaut
ist, sollte man dem natürlichen Zyklus
folgen und sich möglichst früh in den
Sattel schwingen. Von etwa sechs bis elf
Uhr hält das erste Hoch an, danach fällt
der Mensch ins Leistungsloch. Grund genug, eine ausgiebige Pause von gut einer
Stunde einzuschieben, die die Reisegesellschaft gleich mit einem leckeren Mittagessen verbinden kann.
Nein, wir raten nicht zu sportlich-spartanischer Schonkost und Müsli, sondern
zu dem, was schmeckt. Weil der Genuss
im Vordergrund steht und nicht der ehrgeizige Langstrecken-Wettlauf. Aber: nicht
zu viel, nicht zu fett und wenn möglich eine
Mischung aus Kohlehydraten und Ballaststoffen. Hat man sich bei der Schlemmerei
doch zu viel aufgetischt, lösen Enzympräparate (Creon, Panzytrat) den lästigen
Klumpen im Magen schneller auf.
Nicht vergessen bei hitzigen Touren:
trinken, trinken, trinken. Die Wasser- oder
Apfelschorleflasche gehört immer griffbereit in den Tankrucksack. Wer dehydriert,
baut ruck, zuck ab und hat oft mit Kopfschmerzen zu kämpfen. Regelmäßige Trinkund Pinkelpausen müssen sein, Zeitverlust
maximaler Federhub 60 mm
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maximaler Federhub 60 mm
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Federhub am Federbein (mm)
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Anschlagpuffer
Zugstufeneinstellung
Um bis zu zehn Millimeter sollte die Vorspannung der Zentralfeder bei voller Zuladung mittels
Hakenschlüssel oder Hydraulik erhöht werden.
Bei der Druckstufendämpfung (Stellschraube oben)
regelt ein Nadelventil (rot) den hydraulischen Widerstand und somit den Einfedervorgang bei Bodenwellen.
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Seite 62
Voll bepackt verändern sich
Fahrleistungen und Bremsverhalten.
Da enorm viel Gewicht auf dem Hinterrad lastet, wird das Vorderrad beim
Beschleunigen leicht und hebt früh ab.
Durch das „leichte“ Vorderrad kann
es je nach Bereifung verstärkt zu
Lenkerflattern (Shimmy) im Bereich
von 60 bis 100 km/h kommen. Bei
entsprechend empfindlichen Pneus
gilt deshalb: nicht frei- oder einhändig
fahren. Wer in den Alpen unterwegs
ist, sollte berücksichtigen, dass der
Bremsweg bei starkem Gefälle deutlich zunimmt, wie die Messungen mit
dem tadellosen Suzuki-ABS aufzeigen.
sol
o
MESSUNGEN
ma
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lad
ung
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0–100 km/h
0–130 km/h
sek
sek
3,6
5,4
4,9
7,2
sek
sek
3,6
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4,9
7,9
50–100 km/h
50–130 km/h
Bremsmessung ABS
Bremsweg
m
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40,2
71,6
41,1
m
44,9
45,9
m
37,8
37,0
Rundenzeit
sek
Vmax am Messpunkt km/h
10,5
52,4
11,2
48,2
28,0
53,8
31,2
50,8
So wie man sich an die veränderten Kurveneigenschaften der voll beladenen Maschine gewöhnen
muss, sollten auch die schlechteren Fahrleistungen beim Überholen eingeplant werden. Geht die
durchzugsstarke 1200er-Suzuki noch relativ flott voran, kann sich bei 34-PS-Maschinen die Länge des
Überholvorgangs verdoppeln. Bei leistungsschwachen Motoren deshalb mit mindestens 60 Prozent
der Höchstdrehzahl zum Überholen ansetzen und jeden Gang konsequent ausdrehen.
beim Wenden, betätigt er gar den Hupenknopf und klemmt den Lenker ein? Was
passiert bei einer Vollbremsung? Überholt
einen die Gepäckrolle obenrum?
Wer die Mängel und Fehler rechtzeitig aussortiert, kann noch nachbessern.
Gleiches gilt für die Bekleidung. Ein neuer
Handling-Parcours II
In Kurven verringert sich mit Zuladung die Schräglagenfreiheit, zudem kann sich das Heck
der Maschine durch den extrem beanspruchten Reifen (Foto rechts) regelrecht aufschaukeln.
Auch wenn das moderne Zweirad ein an
sich pflegeleichter Kamerad ist, fordert
die große Tour mit voller Zuladung einige
62 MOTORRAD service
Handgriffe. Zum Beispiel am Fahrwerk. Die
Einstellung, die dem Solisten genügt, kann
bei maximalem Ballast komplett kapitulieren. Denn wie die Messwerte auf Seite
60 zeigen, werden speziell die Hinterradfederung und Bereifung extrem beansprucht. Fast das gesamte Gewicht eines
Passagiers und der angebrachten Gepäcksysteme lastet auf der Hinterachse.
Diese Beanspruchung muss zumindest
durch eine Erhöhung der Federvorspannung und, wenn möglich, eine straffere
Einstellung der Druck- und Zugstufendämpfung ausgeglichen werden. Für diejenigen, die überwiegend im Tourentrimm
unterwegs sind, lohnt die Anschaffung
eines speziell auf die hohe Zuladung abgestimmten Nachrüst-Federbeins. Denn
im Prinzip können nur eine härtere Feder
und eine entsprechend ausgelegte Dämpferabstimmung die extreme Zuladung optimal ausgleichen. Wer sich die Mühe einer
angepassten Abstimmung spart, wird, wenn
es ganz dumm läuft, durch ein miserables,
teilweise auch gefährliches Fahr- und Kurvenverhalten bestraft.
Dasselbe gilt für den Reifenluftdruck,
der unbedingt erhöht werden muss. Die
Werte sind meist im Fahrerhandbuch angegeben, wenn nicht, können bei allen
Radialreifen hinten je nach Zuladung ab
160er-Baubreite 2,9 bis 3,1 bar nicht schaden. Am Vorderrad hingegen muss der
Druck aufgrund der kaum erhöhten Achslast nur um 0,2 bis 0,3 bar auf 2,5 bis 2,7
bar aufgestockt werden, damit Bremsstabilität und Lenkpräzision erhalten bleiben.
Rundenzeit
sek
Vmax am Messpunkt km/h
67 m
Überholvorgang in Metern,
volle Beschleunigung
Fahrdynamik
Kreisbahn, ø 46 m
Planungsphase Nummer drei:
das Motorrad und die Technik
89 m
Durchzug 3. Gang
aus 130 km/h
aus 100 km/h
aus 100 km/h
mit 18 % Gefälle
aus 100 km/h
mit 18 % Steigung
Kaffee mit Kuchen und Blick auf die Alpen
hat man sich verdient.
Damit man sich nicht an jeder Weggabelung verfranzt, hilft die Landkarte im
Tankrucksack und ein mit durchsichtiger
Folie aufgeklebtes Roadbook, in dem alle
größeren Ortschaften oder landschaftlichen
Besonderheiten vermerkt sind. Bei der
Planung sollten größere Städte und langweilige Bundesstraßen außen vor gelassen werden. Die Suche gilt verkehrsarmen
Nebenstrecken, die in ihrer kürzesten Anbindung gerne auch mal über unbefestigte
Pisten oder einspurige 1,5-Tonnen-Pfade,
im ländlichen Jargon auch Promille-Sträßchen genannt, führen dürfen. Hauptsache
kurvig und verschlungen, sind sie Garant
für höchstes Fahrvergnügen. Wer allerdings
vom norddeutschen Flachland aus seine
Exkursion in die nordische oder südliche
Bergwelt startet, kann die erste Etappe
bedenkenlos auf der Autobahn zurücklegen. Viel zu versäumen gibt es, kurventechnisch betrachtet, nicht.
Wem das alles zu viel an Planung und
Erbsenzählerei ist, kann sich auch einer
geführten Tour des MOTORRAD action
team anschließen. Denn die Scouts haben
sich exakt auf die genussvollen Kurventouren spezialisiert.
79 m
Überholvorgang in Metern,
Durchzug, 3. Gang
Fahrleistungen
Beschleunigung
Neben der verbesserten Kurvenstabilität mindert der hohe Reifenluftdruck den
Abrieb, weil die Walkarbeit des Reifens
und somit die Erhitzung von der Gummilauffläche dadurch geringer ist. Und hohe
Temperaturen sind immer gleichbedeutend
mit unnötig hohem Verschleiß.
Verschleiß macht auch der Antriebskette zu schaffen, wenn diese zu straff
justiert ist. Speziell bei weit eingefederter
Schwinge muss zwingend darauf geachtet
werden, dass beim Nachspannen ausreichend Spiel vorhanden ist. Was sich am
besten in voller Zuladung von einer dritten
Person kontrollieren lässt.
Um zu dokumentieren, wie sich die
Fahrdynamik bei maximaler Zuladung gegenüber Solofahrt verändert, bepackte
MOTORRAD eine Suzuki Bandit 1200 S.
Im Top-Test-Handlingkurs, auf Passstraßen
sowie beim Bremsentest (siehe oben) zeigte sich die Bandit zwar auch im vollen
Reisetrimm von der besten Seite, machte
aber klar, dass gut 210 Kilogramm Zuladung nicht ohne Folgen bleiben. Beschleunigungsvermögen, Bremsverhalten
und Schräglagenfreiheit, alles über ein 2DDatarecording aufgezeichnet, verändern
sich deutlich. Aus diesem Grund gehört
rechtzeitig vor Reisebeginn eine ausführliche Probefahrt in vollem Ornat und mit
Passagier über die allseits bekannte Hausstrecke zum Pflichtprogramm. Passen
Federung und Dämpfung? Oder schaukelt
sich die Kiste auf? Schraddeln Hauptständer und Auspuff schon beim Abbiegen
über den Asphalt? Stört der Tankrucksack
16/2006
Helm oder neue Stiefel sollten die eine
oder andere Ausfahrt hinter sich haben,
weil sich nur so Druckstellen oder andere
lästige Eigenschaften aufstöbern lassen.
Und Obacht: Fett bepackten Bikes
geht früher die Puste aus. Je weniger Leistung, desto dramatischer hängt die Fuhre
76 m
solo
maximale Beladung
beim Spurt in den Seilen, was insbesondere beim Überholen zu einem kritischen
Engpass führen kann. Doch selbst die
durchzugsstarke 1200er-Suzuki schwächelte bei den Vergleichsmessungen spürbar. Wer sich auf den Drehmomentberg
großvolumiger Motoren verlässt und wie
HAARNADELKURVEN RICHTIG FAHREN
Mit ein paar Tricks lässt sich der lässige Twist um die Serpentinen perfektionieren.
S
Kehre 1
Kehre 2
Kehre 3
Ideallinie
falsche Linie
Blickführung
www.motorradonline.de
o gilt es in luftigen Höhen einzukalkulieren, dass die Reifentemperatur absinkt
und der Gummi dadurch weniger Haftung
aufbaut. Griffig warm heißt: Lauffläche gut
handwarm – etwa 35 Grad – über die gesamte
Reifenbreite. Dazu kommt, dass der Asphalt
vieler Alpenpässe durch die radierenden Reifen
der Autos regelrecht glatt poliert wird und
speziell bei Nässe wenig Grip aufweist.
Damit der alpine Kurvenspaß nicht zu kurz
kommt, kann der Gegenverkehr bereits vor der
Anfahrt zur Serpentine ausgespäht werden. Ein
vorausschauender Blick auf die Verkehrslage
nach oben oder unten genügt, um die Ideallinie
an Kehre 1 und 2 dementsprechend zu wählen.
Das heißt: spät einlenken und den Scheitelpunkt
erst nach etwa zwei Dritteln des Kurvenradius
setzen. Wer zu früh einlenkt (graue Linie), wird
auf die Gegenfahrbahn hinausgetragen und
ist am Kurvenausgang gezwungen, einen noch
engeren Bogen zu fahren. Dabei hilft es, die
Maschine im Enduro-Fahrstil (aufrechter Oberkörper, Motorrad über den Lenker nach unten
drücken) um die Kehre zu pressen.
Bei Kehre 3 ist jegliche Sicht auf den Gegenverkehr verdeckt und zwingt den Fahrer, auf die
schwungvolle Ideallinie zu verzichten und stattdessen die Serpentine auf möglichst engstem
Radius auf der rechten Fahrbahnseite zu umrunden, da selbst auf den entlegensten Passstraßen
mit Lkw- oder Busverkehr zu rechnen ist, der
die komplette Fahrbahnbreite beansprucht.
MOTORRAD service 63
12.07.2006
13:37
Seite 62
Voll bepackt verändern sich
Fahrleistungen und Bremsverhalten.
Da enorm viel Gewicht auf dem Hinterrad lastet, wird das Vorderrad beim
Beschleunigen leicht und hebt früh ab.
Durch das „leichte“ Vorderrad kann
es je nach Bereifung verstärkt zu
Lenkerflattern (Shimmy) im Bereich
von 60 bis 100 km/h kommen. Bei
entsprechend empfindlichen Pneus
gilt deshalb: nicht frei- oder einhändig
fahren. Wer in den Alpen unterwegs
ist, sollte berücksichtigen, dass der
Bremsweg bei starkem Gefälle deutlich zunimmt, wie die Messungen mit
dem tadellosen Suzuki-ABS aufzeigen.
sol
o
MESSUNGEN
ma
x.
Be
lad
ung
MRD16062D.qxd
0–100 km/h
0–130 km/h
sek
sek
3,6
5,4
4,9
7,2
sek
sek
3,6
6,0
4,9
7,9
50–100 km/h
50–130 km/h
Bremsmessung ABS
Bremsweg
m
m
67,9
40,2
71,6
41,1
m
44,9
45,9
m
37,8
37,0
Rundenzeit
sek
Vmax am Messpunkt km/h
10,5
52,4
11,2
48,2
28,0
53,8
31,2
50,8
So wie man sich an die veränderten Kurveneigenschaften der voll beladenen Maschine gewöhnen
muss, sollten auch die schlechteren Fahrleistungen beim Überholen eingeplant werden. Geht die
durchzugsstarke 1200er-Suzuki noch relativ flott voran, kann sich bei 34-PS-Maschinen die Länge des
Überholvorgangs verdoppeln. Bei leistungsschwachen Motoren deshalb mit mindestens 60 Prozent
der Höchstdrehzahl zum Überholen ansetzen und jeden Gang konsequent ausdrehen.
beim Wenden, betätigt er gar den Hupenknopf und klemmt den Lenker ein? Was
passiert bei einer Vollbremsung? Überholt
einen die Gepäckrolle obenrum?
Wer die Mängel und Fehler rechtzeitig aussortiert, kann noch nachbessern.
Gleiches gilt für die Bekleidung. Ein neuer
Handling-Parcours II
In Kurven verringert sich mit Zuladung die Schräglagenfreiheit, zudem kann sich das Heck
der Maschine durch den extrem beanspruchten Reifen (Foto rechts) regelrecht aufschaukeln.
Auch wenn das moderne Zweirad ein an
sich pflegeleichter Kamerad ist, fordert
die große Tour mit voller Zuladung einige
62 MOTORRAD service
Handgriffe. Zum Beispiel am Fahrwerk. Die
Einstellung, die dem Solisten genügt, kann
bei maximalem Ballast komplett kapitulieren. Denn wie die Messwerte auf Seite
60 zeigen, werden speziell die Hinterradfederung und Bereifung extrem beansprucht. Fast das gesamte Gewicht eines
Passagiers und der angebrachten Gepäcksysteme lastet auf der Hinterachse.
Diese Beanspruchung muss zumindest
durch eine Erhöhung der Federvorspannung und, wenn möglich, eine straffere
Einstellung der Druck- und Zugstufendämpfung ausgeglichen werden. Für diejenigen, die überwiegend im Tourentrimm
unterwegs sind, lohnt die Anschaffung
eines speziell auf die hohe Zuladung abgestimmten Nachrüst-Federbeins. Denn
im Prinzip können nur eine härtere Feder
und eine entsprechend ausgelegte Dämpferabstimmung die extreme Zuladung optimal ausgleichen. Wer sich die Mühe einer
angepassten Abstimmung spart, wird, wenn
es ganz dumm läuft, durch ein miserables,
teilweise auch gefährliches Fahr- und Kurvenverhalten bestraft.
Dasselbe gilt für den Reifenluftdruck,
der unbedingt erhöht werden muss. Die
Werte sind meist im Fahrerhandbuch angegeben, wenn nicht, können bei allen
Radialreifen hinten je nach Zuladung ab
160er-Baubreite 2,9 bis 3,1 bar nicht schaden. Am Vorderrad hingegen muss der
Druck aufgrund der kaum erhöhten Achslast nur um 0,2 bis 0,3 bar auf 2,5 bis 2,7
bar aufgestockt werden, damit Bremsstabilität und Lenkpräzision erhalten bleiben.
Rundenzeit
sek
Vmax am Messpunkt km/h
67 m
Überholvorgang in Metern,
volle Beschleunigung
Fahrdynamik
Kreisbahn, ø 46 m
Planungsphase Nummer drei:
das Motorrad und die Technik
89 m
Durchzug 3. Gang
aus 130 km/h
aus 100 km/h
aus 100 km/h
mit 18 % Gefälle
aus 100 km/h
mit 18 % Steigung
Kaffee mit Kuchen und Blick auf die Alpen
hat man sich verdient.
Damit man sich nicht an jeder Weggabelung verfranzt, hilft die Landkarte im
Tankrucksack und ein mit durchsichtiger
Folie aufgeklebtes Roadbook, in dem alle
größeren Ortschaften oder landschaftlichen
Besonderheiten vermerkt sind. Bei der
Planung sollten größere Städte und langweilige Bundesstraßen außen vor gelassen werden. Die Suche gilt verkehrsarmen
Nebenstrecken, die in ihrer kürzesten Anbindung gerne auch mal über unbefestigte
Pisten oder einspurige 1,5-Tonnen-Pfade,
im ländlichen Jargon auch Promille-Sträßchen genannt, führen dürfen. Hauptsache
kurvig und verschlungen, sind sie Garant
für höchstes Fahrvergnügen. Wer allerdings
vom norddeutschen Flachland aus seine
Exkursion in die nordische oder südliche
Bergwelt startet, kann die erste Etappe
bedenkenlos auf der Autobahn zurücklegen. Viel zu versäumen gibt es, kurventechnisch betrachtet, nicht.
Wem das alles zu viel an Planung und
Erbsenzählerei ist, kann sich auch einer
geführten Tour des MOTORRAD action
team anschließen. Denn die Scouts haben
sich exakt auf die genussvollen Kurventouren spezialisiert.
79 m
Überholvorgang in Metern,
Durchzug, 3. Gang
Fahrleistungen
Beschleunigung
Neben der verbesserten Kurvenstabilität mindert der hohe Reifenluftdruck den
Abrieb, weil die Walkarbeit des Reifens
und somit die Erhitzung von der Gummilauffläche dadurch geringer ist. Und hohe
Temperaturen sind immer gleichbedeutend
mit unnötig hohem Verschleiß.
Verschleiß macht auch der Antriebskette zu schaffen, wenn diese zu straff
justiert ist. Speziell bei weit eingefederter
Schwinge muss zwingend darauf geachtet
werden, dass beim Nachspannen ausreichend Spiel vorhanden ist. Was sich am
besten in voller Zuladung von einer dritten
Person kontrollieren lässt.
Um zu dokumentieren, wie sich die
Fahrdynamik bei maximaler Zuladung gegenüber Solofahrt verändert, bepackte
MOTORRAD eine Suzuki Bandit 1200 S.
Im Top-Test-Handlingkurs, auf Passstraßen
sowie beim Bremsentest (siehe oben) zeigte sich die Bandit zwar auch im vollen
Reisetrimm von der besten Seite, machte
aber klar, dass gut 210 Kilogramm Zuladung nicht ohne Folgen bleiben. Beschleunigungsvermögen, Bremsverhalten
und Schräglagenfreiheit, alles über ein 2DDatarecording aufgezeichnet, verändern
sich deutlich. Aus diesem Grund gehört
rechtzeitig vor Reisebeginn eine ausführliche Probefahrt in vollem Ornat und mit
Passagier über die allseits bekannte Hausstrecke zum Pflichtprogramm. Passen
Federung und Dämpfung? Oder schaukelt
sich die Kiste auf? Schraddeln Hauptständer und Auspuff schon beim Abbiegen
über den Asphalt? Stört der Tankrucksack
16/2006
Helm oder neue Stiefel sollten die eine
oder andere Ausfahrt hinter sich haben,
weil sich nur so Druckstellen oder andere
lästige Eigenschaften aufstöbern lassen.
Und Obacht: Fett bepackten Bikes
geht früher die Puste aus. Je weniger Leistung, desto dramatischer hängt die Fuhre
76 m
solo
maximale Beladung
beim Spurt in den Seilen, was insbesondere beim Überholen zu einem kritischen
Engpass führen kann. Doch selbst die
durchzugsstarke 1200er-Suzuki schwächelte bei den Vergleichsmessungen spürbar. Wer sich auf den Drehmomentberg
großvolumiger Motoren verlässt und wie
HAARNADELKURVEN RICHTIG FAHREN
Mit ein paar Tricks lässt sich der lässige Twist um die Serpentinen perfektionieren.
S
Kehre 1
Kehre 2
Kehre 3
Ideallinie
falsche Linie
Blickführung
www.motorradonline.de
o gilt es in luftigen Höhen einzukalkulieren, dass die Reifentemperatur absinkt
und der Gummi dadurch weniger Haftung
aufbaut. Griffig warm heißt: Lauffläche gut
handwarm – etwa 35 Grad – über die gesamte
Reifenbreite. Dazu kommt, dass der Asphalt
vieler Alpenpässe durch die radierenden Reifen
der Autos regelrecht glatt poliert wird und
speziell bei Nässe wenig Grip aufweist.
Damit der alpine Kurvenspaß nicht zu kurz
kommt, kann der Gegenverkehr bereits vor der
Anfahrt zur Serpentine ausgespäht werden. Ein
vorausschauender Blick auf die Verkehrslage
nach oben oder unten genügt, um die Ideallinie
an Kehre 1 und 2 dementsprechend zu wählen.
Das heißt: spät einlenken und den Scheitelpunkt
erst nach etwa zwei Dritteln des Kurvenradius
setzen. Wer zu früh einlenkt (graue Linie), wird
auf die Gegenfahrbahn hinausgetragen und
ist am Kurvenausgang gezwungen, einen noch
engeren Bogen zu fahren. Dabei hilft es, die
Maschine im Enduro-Fahrstil (aufrechter Oberkörper, Motorrad über den Lenker nach unten
drücken) um die Kehre zu pressen.
Bei Kehre 3 ist jegliche Sicht auf den Gegenverkehr verdeckt und zwingt den Fahrer, auf die
schwungvolle Ideallinie zu verzichten und stattdessen die Serpentine auf möglichst engstem
Radius auf der rechten Fahrbahnseite zu umrunden, da selbst auf den entlegensten Passstraßen
mit Lkw- oder Busverkehr zu rechnen ist, der
die komplette Fahrbahnbreite beansprucht.
MOTORRAD service 63
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Seite 64
Gedachter
Scheitelpunkt
Beschleunigen
Bremsen
Kombination
aus Beschleunigen
und Bremsen
Damit sind Sie am Stilfser Joch der König: der Trick mit der Hinterradbremse. Haarnadelkurven können auch geübte Piloten bei Maschinen mit starken
Lastwechselreaktionen aus dem Tritt bringen. Deshalb vor dem Einlenken das
Gas leicht öffnen, den Antriebsstrang auf Zug bringen. Vor dem Scheitelpunkt
die überschüssige Geschwindigkeit gleichzeitig über einen sanften Tritt auf die
Hinterradbremse anpassen, Gas geben und die Bremse entsprechend langsam
lösen. Den Umgang mit der Gas-Brems-Kombination vorher auf einem leeren
Parkplatz üben. Und keine Sorge, die Hinterradbremse macht das Spiel locker mit.
gewohnt bei halber Höchstdrehzahl den
Hahn spannt, staunt nicht schlecht über
einen teilweise lethargischen Antritt.
Beim Kurvenritt mit Sozius und Marschgepäck spielt die richtige Linienwahl und
Kurventechnik (siehe Teil 1 bis 3) eine
noch größere Rolle als beim Solo-Auftritt,
weil die schwere Maschine behäbiger auf
Kurskorrekturen reagiert und sie beim
Aufsetzen in Schräglage kaum ein harsch
eingeleitetes Ausweich- oder Lenkmanöver
zulässt. Deshalb eine vorausschauende
Fahrweise wählen. Was nicht zwingend die
launige Kurvensause schmälert. Motto: Geteilter Spaß ist doppelter Spaß. In diesem
Sinne: gute Reise.
Der nächste Teil der Serie „Perfekt
fahren mit MOTORRAD“ erscheint in Heft
18/2006 und verrät alle Tipps und Tricks
für effektives und sicheres Bremsen
sowie die grundsätzlichen Erklärungen
zur Brems- und Motorradtechnik.
FAHREN AUF SCHOTTER
Abenteuerlustige Reiter treiben ihre Straßenmaschinen gerne über Schotterpisten.
E
s muss ja nicht gleich eine Sonderprüfung
der Six-Days bewältigt werden, doch für
gestandene Abenteurer ist die Offroad-Einlage
kein Hindernis, sondern das Salz in der Suppe.
Wer sich mit einer Straßenmaschine auf eine
längere Schotterpassage einlässt, sollte den
Luftdruck in den Reifen auf 1,6 bar vorn und 1,8
bar hinten senken. Diese Maßnahme verbessert
die Eigendämpfung der Reifen und reduziert
ein unkontrolliertes Springen und Versetzen der
Räder beim Überfahren grober Schottersteine.
Achtung: Auf Asphalt bei nächster Gelegenheit
den Reifendruck wieder erhöhen.
Fahrtechnik auf Schotter: Im Irrgarten von
grobem Schotter und tiefen Bodenwellen ist
die konzentrierte Blickführung die grundlegende
Voraussetzung, um heikle Passagen sicher zu umschiffen. Der richtet sich wie auf der Straße nicht
direkt vors Vorderrad, sondern zehn, zwanzig Meter
voraus, um rechtzeitig die ideale Spur anzusteuern.
Sollte es dennoch zum Stillstand und die Fuhre
aus dem Gleichgewicht kommen, den Sturz immer
bergwärts einleiten, nie Richtung Abgrund. Ein
Reflex, der sich antrainieren lässt.
Hilfreich im Gelände: Fahren im Stehen. In dieser
Position hat man nicht nur den besseren Überblick
über die kommenden Schlüsselstellen, sondern
findet auch eine gute Balance, um Spurrillen oder
schräg abfallende Offroad-Sektionen sicher zu
durchqueren. Bodenwellen und harte Kanten las-
sen sich durch Abfedern in den Knien weicher
und ohne aufzusetzen überqueren.
Speziell bei steilen Bergab-Passagen ist es nötig,
Vorder- und Hinterradbremse einzusetzen. Ist
das Motorrad mit Passagier besetzt, kann zwar
mit der Hinterradbremse gut verzögert werden,
trotzdem muss bei steilen Abfahrten auch die
vordere Bremse herhalten. Die Blockiergrenze
auf Schotter wird akustisch deutlich angemahnt:
Vorder- und Hinterradreifen mahlen vor dem
Blockieren laut und vernehmlich.
Bei allen Brems- und Fahrmanövern sollten
beide Füße auf den Fußrasten bleiben und die
Maschine über einen festen Knieschluss stabilisiert werden. Mitfußeln ist nur in Notfällen
und bei geringer Geschwindigkeit ratsam. Die
Verletzungsgefahr von Ober- und Unterschenkel
ist insbesondere mit Koffern recht groß.
Kurvenfahren auf Schotter ist kein Hexenwerk.
Rechtzeitig vor dem Einlenken Vorderradbremse
lösen und sanft einlenken. Das Motorrad wird
über den kurvenäußeren Oberschenkel mit kräftigem Kontakt am Tank und einer nach vorn
orientierten Körperhaltung in die Kurven gelenkt.
Die Körperspannung wird über den gesamten
Radius gehalten, womit man auch verhindert,
dass die Maschine beim Beschleunigen auf
einen unerwünscht großen Radius ausweicht.
Alle Kurvenfahrten werden durch den Endurotypischen Fahrstil „Drücken“ unterstützt (siehe
Serie Teil 2, Kurvenfahren).
In unbekanntem Gelände gilt: Der Bremsweg
darf nie länger als die einsehbare Strecke
sein, da man selbst im abgelegensten Winkel
mit zackig daherbrummenden Geländewagen
und unvermittelt auftauchenden Straßenabbrüchen oder geschlossenen Schranken
zu rechnen hat.
Wenn die Wildnis ruft, sollte man ihr folgen. Mit etwas Übung und Talent
lassen sich abenteuerliche Schotterpisten auch ohne Enduro bewältigen.
64 MOTORRAD service
16/2006
TIPPS UND TRICKS
Oft sind es nur läppische Kleinigkeiten, die einem die Tour vermasseln.
Passt, wackelt und hat Luft:
Bekleidung und Ausrüstung
Sonnebrille eingepackt? Ganz wichtig für
den Strand und die Bergwanderung, aber fehl
am Platz zum Motorradfahren. Wechseln
plötzlich die Lichtverhältnisse, steht respektive
fährt man im Dunkeln und ahnt nur noch
den Streckenverlauf. Wer jedoch bis in die
Dämmerung unterwegs ist, hat die letzten
Kilometer oft mit grellem Gegenlicht zu kämpfen. Für Vielfahrer sind Helme mit integriertem
und hochklappbarem Blendschutz empfehlenswert. Zumal sich das abgedunkelte Visier bei
großer Hitze und geöffnetem Hauptvisier als
Augenschutz erstklassig bewährt hat (Bild 1).
Fast alle, auch nicht getönte Helmvisiere dienen als wirksamer Schutz vor Sonnenbrand.
Ein zusätzlicher Schutz der Gesichtshaut durch
Sonnencreme ist bei empfindlicher Haut und
starker Sonneneinstrahlung trotzdem besser.
Bei Lederkombis oder Textiljacken liegt der
Halsbereich oft frei. Wer den lieben langen
Tag mit der Sonne im Nacken durch die Landschaft gondelt, verbrennt sich ohne Sonnencreme oder Halstuch dabei mächtig den
Pelz. Also eincremen, und zwar bevor es zu
spät ist (Bild 2).
Schutzkleidung sollte stramm anliegen,
aber niemals so eng, dass die Blutzirkulation
eingeschnürt wird. Auch Handschuhe dürfen
an den Bündchen keinen Blutstau verursachen,
bei dem als Folge die Hände pelzig werden
und „einschlafen“. Doch auch ohne solche
Engpässe leiden viele Motorradfahrer bei langen
Touren an pelzigen, gefühllosen Händen
oder Fingern. Mit Dehnübungen zwischendurch
und morgens wie abends einem zehnminütigen
Wechselbad mit kaltem und heißem Wasser
lassen sich solche Durchblutungsstörungen
oft lindern.
Egal, ob Sommer oder Winter, Lederkombi oder
Textilanzug, darunter gehört auf jeden Fall
eine schweißtransportierende Unterwäsche
mit langen Ärmeln und Beinen. Abends mit
Seife gewaschen, ist der oft mufflige Geruch
kein Thema.
Keine Reise ohne Gehörschutz. Obwohl
es ein paar Kilometer dauert, bis man sich an
das anfangs taube Gefühl gewöhnt hat, sind
Ohrstöpsel dringend zu empfehlen. Rennarzt
und Motorrad-Freak Dr. Christoph Scholl
spricht von einer 25- bis 30-prozentig besseren
Konzentrationsfähigkeit und einem auf Dauer
geschützten Gehör. Zudem können mit Gehörschutz auch Nebengeräusche wie Hupsignale
oder ungewöhnliche Motorgeräusche wahrgenommen werden, während ohne Ohrstöpsel
keine Differenzierung möglich ist.
Rucksackträger aufgepasst. Der kleine Brustgurt (Bild 3) sollte ebenso wie der Bauchgurt
immer geschlossen sein. Greift der Reisende
während der Fahrt nach hinten, um beispielsweise das Gepäck zu kontrollieren, kann der
Trageriemen durch den Fahrtwind nach hinten
rutschen und sich hinter den voluminösen
Schulterprotektoren so verspannen, dass der
Fahrer den Arm nicht mehr zum Lenker führen
kann. Eine peinliche, mitunter sogar brandgefährliche Situation.
www.motorradonline.de
Bild 1
Bild 4
Bild 2
Bild 5
Bild 3
Bild 6
Wer mir Rucksack unterwegs ist, kann sich
Verspannungen im Nacken und Schulterbereich
einhandeln, die zu Kopfschmerzen führen können.
Wer dies rechtzeitig bemerkt, kann die Tragriemen
länger oder kürzer einstellen, wodurch sich die
Belastung etwas verändert. Sind die Trageriemen
lang genug, kann man den Rucksack so justieren,
dass er leicht auf der Sitzbank aufliegt und dadurch Schulter- wie Nackenmuskulatur entlastet.
In jedem Fall muss der Rucksack mittig sowie
symmetrisch sitzen und sollte beim Beladen gut
ausbalanciert sein. Nichts Schlimmeres als ein
schief sitzender Rucksack, der ständig zurechtgerückt werden muss.
Nicht nur lästig, sondern gefährlich sind Tankrucksäcke, die den Blick auf die Kontrollleuchten
der Blinker versperren (Bild 4). Wer mit unbewusst gesetztem Blinker auf eine Kreuzung
zusteuert, dann aber geradeaus fährt, kann eine
verheerende Reaktion anderer Verkehrsteilnehmer auslösen. Leider sind, wie auch an der
Suzuki Bandit 1200, die Blinkkontrollleuchten
in den Armaturen so weit unten angeordnet, dass
der Tankrucksack nur bis zu einer bestimmten
Höhe befüllt werden kann.
Beim Verzurren des Tankrucksacks unbedingt
darauf achten, dass man im Lenkkopfbereich
keine Bremsschläuche oder elektrische
Leitungen einklemmt (Bild 5).
Vor der großen Reise stellt sich die Frage:
Welche Reifen taugen am besten? MOTORRAD wählte für die große Bandit den Testsieger
des Reifentests in Heft 11/2006 – und war
begeistert. Die Suzuki fährt sich mit dem
Metzeler Roadtec Z6 (Bild 6) wie verwandelt:
handlich, superpräzise, lenkneutral, mit brillanter
Haftung und tadelloser Kurvenstabilität bei
voller Zuladung. Einfach Spitzenklasse. Vorteile,
die auf langen Strecken nicht nur dem Fahrspaß zugute kommen, sondern auch der aktiven
Sicherheit und Konzentrationsfähigkeit des
Fahrers. Stößt der auf langen, anstrengenden
Strecken an die Grenzen seines Fahrvermögens,
hilft ein neutraler und lenkpräziser Pneu,
kritische Situationen besser zu meistern
als ein Reifen, der störrisch oder mit großem
Eigenlenkverhalten nach einer permanenten
Korrektur verlangt. In Verbindung mit einem
ordentlich eingestellten Fahrwerk erhöht sich
der Spaßfaktor in genialer Art und Weise.
MOTORRAD service 65
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Gedachter
Scheitelpunkt
Beschleunigen
Bremsen
Kombination
aus Beschleunigen
und Bremsen
Damit sind Sie am Stilfser Joch der König: der Trick mit der Hinterradbremse. Haarnadelkurven können auch geübte Piloten bei Maschinen mit starken
Lastwechselreaktionen aus dem Tritt bringen. Deshalb vor dem Einlenken das
Gas leicht öffnen, den Antriebsstrang auf Zug bringen. Vor dem Scheitelpunkt
die überschüssige Geschwindigkeit gleichzeitig über einen sanften Tritt auf die
Hinterradbremse anpassen, Gas geben und die Bremse entsprechend langsam
lösen. Den Umgang mit der Gas-Brems-Kombination vorher auf einem leeren
Parkplatz üben. Und keine Sorge, die Hinterradbremse macht das Spiel locker mit.
gewohnt bei halber Höchstdrehzahl den
Hahn spannt, staunt nicht schlecht über
einen teilweise lethargischen Antritt.
Beim Kurvenritt mit Sozius und Marschgepäck spielt die richtige Linienwahl und
Kurventechnik (siehe Teil 1 bis 3) eine
noch größere Rolle als beim Solo-Auftritt,
weil die schwere Maschine behäbiger auf
Kurskorrekturen reagiert und sie beim
Aufsetzen in Schräglage kaum ein harsch
eingeleitetes Ausweich- oder Lenkmanöver
zulässt. Deshalb eine vorausschauende
Fahrweise wählen. Was nicht zwingend die
launige Kurvensause schmälert. Motto: Geteilter Spaß ist doppelter Spaß. In diesem
Sinne: gute Reise.
Der nächste Teil der Serie „Perfekt
fahren mit MOTORRAD“ erscheint in Heft
18/2006 und verrät alle Tipps und Tricks
für effektives und sicheres Bremsen
sowie die grundsätzlichen Erklärungen
zur Brems- und Motorradtechnik.
FAHREN AUF SCHOTTER
Abenteuerlustige Reiter treiben ihre Straßenmaschinen gerne über Schotterpisten.
E
s muss ja nicht gleich eine Sonderprüfung
der Six-Days bewältigt werden, doch für
gestandene Abenteurer ist die Offroad-Einlage
kein Hindernis, sondern das Salz in der Suppe.
Wer sich mit einer Straßenmaschine auf eine
längere Schotterpassage einlässt, sollte den
Luftdruck in den Reifen auf 1,6 bar vorn und 1,8
bar hinten senken. Diese Maßnahme verbessert
die Eigendämpfung der Reifen und reduziert
ein unkontrolliertes Springen und Versetzen der
Räder beim Überfahren grober Schottersteine.
Achtung: Auf Asphalt bei nächster Gelegenheit
den Reifendruck wieder erhöhen.
Fahrtechnik auf Schotter: Im Irrgarten von
grobem Schotter und tiefen Bodenwellen ist
die konzentrierte Blickführung die grundlegende
Voraussetzung, um heikle Passagen sicher zu umschiffen. Der richtet sich wie auf der Straße nicht
direkt vors Vorderrad, sondern zehn, zwanzig Meter
voraus, um rechtzeitig die ideale Spur anzusteuern.
Sollte es dennoch zum Stillstand und die Fuhre
aus dem Gleichgewicht kommen, den Sturz immer
bergwärts einleiten, nie Richtung Abgrund. Ein
Reflex, der sich antrainieren lässt.
Hilfreich im Gelände: Fahren im Stehen. In dieser
Position hat man nicht nur den besseren Überblick
über die kommenden Schlüsselstellen, sondern
findet auch eine gute Balance, um Spurrillen oder
schräg abfallende Offroad-Sektionen sicher zu
durchqueren. Bodenwellen und harte Kanten las-
sen sich durch Abfedern in den Knien weicher
und ohne aufzusetzen überqueren.
Speziell bei steilen Bergab-Passagen ist es nötig,
Vorder- und Hinterradbremse einzusetzen. Ist
das Motorrad mit Passagier besetzt, kann zwar
mit der Hinterradbremse gut verzögert werden,
trotzdem muss bei steilen Abfahrten auch die
vordere Bremse herhalten. Die Blockiergrenze
auf Schotter wird akustisch deutlich angemahnt:
Vorder- und Hinterradreifen mahlen vor dem
Blockieren laut und vernehmlich.
Bei allen Brems- und Fahrmanövern sollten
beide Füße auf den Fußrasten bleiben und die
Maschine über einen festen Knieschluss stabilisiert werden. Mitfußeln ist nur in Notfällen
und bei geringer Geschwindigkeit ratsam. Die
Verletzungsgefahr von Ober- und Unterschenkel
ist insbesondere mit Koffern recht groß.
Kurvenfahren auf Schotter ist kein Hexenwerk.
Rechtzeitig vor dem Einlenken Vorderradbremse
lösen und sanft einlenken. Das Motorrad wird
über den kurvenäußeren Oberschenkel mit kräftigem Kontakt am Tank und einer nach vorn
orientierten Körperhaltung in die Kurven gelenkt.
Die Körperspannung wird über den gesamten
Radius gehalten, womit man auch verhindert,
dass die Maschine beim Beschleunigen auf
einen unerwünscht großen Radius ausweicht.
Alle Kurvenfahrten werden durch den Endurotypischen Fahrstil „Drücken“ unterstützt (siehe
Serie Teil 2, Kurvenfahren).
In unbekanntem Gelände gilt: Der Bremsweg
darf nie länger als die einsehbare Strecke
sein, da man selbst im abgelegensten Winkel
mit zackig daherbrummenden Geländewagen
und unvermittelt auftauchenden Straßenabbrüchen oder geschlossenen Schranken
zu rechnen hat.
Wenn die Wildnis ruft, sollte man ihr folgen. Mit etwas Übung und Talent
lassen sich abenteuerliche Schotterpisten auch ohne Enduro bewältigen.
64 MOTORRAD service
16/2006
TIPPS UND TRICKS
Oft sind es nur läppische Kleinigkeiten, die einem die Tour vermasseln.
Passt, wackelt und hat Luft:
Bekleidung und Ausrüstung
Sonnebrille eingepackt? Ganz wichtig für
den Strand und die Bergwanderung, aber fehl
am Platz zum Motorradfahren. Wechseln
plötzlich die Lichtverhältnisse, steht respektive
fährt man im Dunkeln und ahnt nur noch
den Streckenverlauf. Wer jedoch bis in die
Dämmerung unterwegs ist, hat die letzten
Kilometer oft mit grellem Gegenlicht zu kämpfen. Für Vielfahrer sind Helme mit integriertem
und hochklappbarem Blendschutz empfehlenswert. Zumal sich das abgedunkelte Visier bei
großer Hitze und geöffnetem Hauptvisier als
Augenschutz erstklassig bewährt hat (Bild 1).
Fast alle, auch nicht getönte Helmvisiere dienen als wirksamer Schutz vor Sonnenbrand.
Ein zusätzlicher Schutz der Gesichtshaut durch
Sonnencreme ist bei empfindlicher Haut und
starker Sonneneinstrahlung trotzdem besser.
Bei Lederkombis oder Textiljacken liegt der
Halsbereich oft frei. Wer den lieben langen
Tag mit der Sonne im Nacken durch die Landschaft gondelt, verbrennt sich ohne Sonnencreme oder Halstuch dabei mächtig den
Pelz. Also eincremen, und zwar bevor es zu
spät ist (Bild 2).
Schutzkleidung sollte stramm anliegen,
aber niemals so eng, dass die Blutzirkulation
eingeschnürt wird. Auch Handschuhe dürfen
an den Bündchen keinen Blutstau verursachen,
bei dem als Folge die Hände pelzig werden
und „einschlafen“. Doch auch ohne solche
Engpässe leiden viele Motorradfahrer bei langen
Touren an pelzigen, gefühllosen Händen
oder Fingern. Mit Dehnübungen zwischendurch
und morgens wie abends einem zehnminütigen
Wechselbad mit kaltem und heißem Wasser
lassen sich solche Durchblutungsstörungen
oft lindern.
Egal, ob Sommer oder Winter, Lederkombi oder
Textilanzug, darunter gehört auf jeden Fall
eine schweißtransportierende Unterwäsche
mit langen Ärmeln und Beinen. Abends mit
Seife gewaschen, ist der oft mufflige Geruch
kein Thema.
Keine Reise ohne Gehörschutz. Obwohl
es ein paar Kilometer dauert, bis man sich an
das anfangs taube Gefühl gewöhnt hat, sind
Ohrstöpsel dringend zu empfehlen. Rennarzt
und Motorrad-Freak Dr. Christoph Scholl
spricht von einer 25- bis 30-prozentig besseren
Konzentrationsfähigkeit und einem auf Dauer
geschützten Gehör. Zudem können mit Gehörschutz auch Nebengeräusche wie Hupsignale
oder ungewöhnliche Motorgeräusche wahrgenommen werden, während ohne Ohrstöpsel
keine Differenzierung möglich ist.
Rucksackträger aufgepasst. Der kleine Brustgurt (Bild 3) sollte ebenso wie der Bauchgurt
immer geschlossen sein. Greift der Reisende
während der Fahrt nach hinten, um beispielsweise das Gepäck zu kontrollieren, kann der
Trageriemen durch den Fahrtwind nach hinten
rutschen und sich hinter den voluminösen
Schulterprotektoren so verspannen, dass der
Fahrer den Arm nicht mehr zum Lenker führen
kann. Eine peinliche, mitunter sogar brandgefährliche Situation.
www.motorradonline.de
Bild 1
Bild 4
Bild 2
Bild 5
Bild 3
Bild 6
Wer mir Rucksack unterwegs ist, kann sich
Verspannungen im Nacken und Schulterbereich
einhandeln, die zu Kopfschmerzen führen können.
Wer dies rechtzeitig bemerkt, kann die Tragriemen
länger oder kürzer einstellen, wodurch sich die
Belastung etwas verändert. Sind die Trageriemen
lang genug, kann man den Rucksack so justieren,
dass er leicht auf der Sitzbank aufliegt und dadurch Schulter- wie Nackenmuskulatur entlastet.
In jedem Fall muss der Rucksack mittig sowie
symmetrisch sitzen und sollte beim Beladen gut
ausbalanciert sein. Nichts Schlimmeres als ein
schief sitzender Rucksack, der ständig zurechtgerückt werden muss.
Nicht nur lästig, sondern gefährlich sind Tankrucksäcke, die den Blick auf die Kontrollleuchten
der Blinker versperren (Bild 4). Wer mit unbewusst gesetztem Blinker auf eine Kreuzung
zusteuert, dann aber geradeaus fährt, kann eine
verheerende Reaktion anderer Verkehrsteilnehmer auslösen. Leider sind, wie auch an der
Suzuki Bandit 1200, die Blinkkontrollleuchten
in den Armaturen so weit unten angeordnet, dass
der Tankrucksack nur bis zu einer bestimmten
Höhe befüllt werden kann.
Beim Verzurren des Tankrucksacks unbedingt
darauf achten, dass man im Lenkkopfbereich
keine Bremsschläuche oder elektrische
Leitungen einklemmt (Bild 5).
Vor der großen Reise stellt sich die Frage:
Welche Reifen taugen am besten? MOTORRAD wählte für die große Bandit den Testsieger
des Reifentests in Heft 11/2006 – und war
begeistert. Die Suzuki fährt sich mit dem
Metzeler Roadtec Z6 (Bild 6) wie verwandelt:
handlich, superpräzise, lenkneutral, mit brillanter
Haftung und tadelloser Kurvenstabilität bei
voller Zuladung. Einfach Spitzenklasse. Vorteile,
die auf langen Strecken nicht nur dem Fahrspaß zugute kommen, sondern auch der aktiven
Sicherheit und Konzentrationsfähigkeit des
Fahrers. Stößt der auf langen, anstrengenden
Strecken an die Grenzen seines Fahrvermögens,
hilft ein neutraler und lenkpräziser Pneu,
kritische Situationen besser zu meistern
als ein Reifen, der störrisch oder mit großem
Eigenlenkverhalten nach einer permanenten
Korrektur verlangt. In Verbindung mit einem
ordentlich eingestellten Fahrwerk erhöht sich
der Spaßfaktor in genialer Art und Weise.
MOTORRAD service 65
MASSE
62 MOTORRAD test + technik
18/2006
N-
Perfekt fahren
mit
Teil 5: Effektives Br emsen
VERZÖGERUNG
TEIL 1
IN MOTORRAD
6/2006
KURVENFAHREN,
DIE THEORIE
TEIL 2
IN MOTORRAD
8/2006
KURVENFAHREN,
DIE PRAXIS
Schnurzegal, ob fetter Chopper,
rassige Rennfeile oder gemütlicher Tourer, wenn es brenzlig
wird, zählt jeder Meter, der
beim Bremsen verschenkt oder
gewonnen wird. MOTORRAD
zeigt, wie man sein Krad sicher
und effektiv verzögert, die
Bremsanlage richtig einstellt und
die Technik drum herum fit hält.
Von Werner Koch; Fotos: Markus Jahn,
Koch, Archiv; Zeichnungen: Wolfgang Müller
TEIL 3
IN MOTORRAD
10/2006
FASZINATION
SCHRÄGLAGE
TEIL 4
IN MOTORRAD
16/2006
FAHREN
MIT GEPÄCK
TEIL 5
IN DIESEM HEFT
EFFEKTIVES
BREMSEN
TEIL 6
IN MOTORRAD
20/2006
FAHREN
IN DER STADT
TEIL 7
IN MOTORRAD
22/2006
FAHREN
BEI REGEN
www.motorradonline.de
H
err Müller wandert für sein Leben
gern. Die reinste Lust, jedes Wochenende stundenlang durch die Landschaft
zu stiefeln, um sich zum guten Schluss mit
dem wohlverdienten Bierchen zu belohnen. Danach geht’s zurück zum Parkplatz,
Rucksack im Kofferraum verstaut, Zündschlüssel rein und gemütlich ab nach Hause. Im Schneckentempo rollt die Limousine
über den Schotterplatz und fädelt sich,
ohne einen Blick nach links und rechts, auf
die kurvige Landstraße ein.
Wer in diesem Augenblick mit dem
Motorrad Herrn Müllers Heimweg kreuzt,
sollte einen Meisterbrief in Sachen Vollbremsung in der Tasche haben. Denn viel
Zeit bleibt nicht, um Ross und Reiter vor
Herrn Müllers Heckscheibe, hinter der der
obligatorische Wackeldackel nickt, zum
Stehen zu bringen. In Sekundenbruchteilen gilt es, die Entscheidung zu fällen:
ausweichen oder voller Anker? Wer sich
situationsbedingt für den Anker entschließt,
muss ein wahres Wunder an Feinmotorik
und fahrphysikalischem Können vollbringen. Eine optimale Vollbremsung erfordert,
vor allem wenn sie ohne jegliche Ankündigung erfolgen muss, selbst für die
Testprofis von MOTORRAD alle Sinne und
noch mehr Feingefühl für das, was geht –
oder auch nicht.
MOTORRAD test + technik 63
Was passiert genau? Um diese Frage
zu beantworten, nehmen wir eine Vollbremsung mit der Honda CBF 1000 unter
die Lupe. Damit jede einzelne Phase, jede
Veränderung und jeder noch so kleine Fehler bei den Bremsprüfungen mit und ohne
ABS ans Licht kommen, ist die Honda
vollgepackt mit einem ganzen Bündel an
elektronischen Sensoren und Messgeräten.
Vom hydraulischen Druck in den jeweiligen
Bremskreisen über die Federwege bis
zur Erkennung des Vorderradschlupfs,
also der Blockierneigung, werden sämtliche Messwerte aufgezeichnet.
Die Standard-Messung aus
100 km/h schütteln die Testfahrer lässig aus dem Ärmel
Im ersten Fahrversuch simuliert die
MOTORRAD-Testmannschaft die Vollbremsung aus 100 km/h ohne ABS, durchgeführt auf einem abgesperrten Flugplatz
und einer mit Pylonen ausgesteckten,
festgelegten Bremsstrecke. Weil dieser Akt
zu den Standardtests bei MOTORRAD
gehört, klatscht das ausführende Personal
ab der zweiten Bremsung einen Bestwert nach dem anderen auf den Asphalt.
Gewusst wie, wimmern die Reifen von Anfang bis Ende am absoluten Grenzbereich
entlang. Ausgehend von einer Ausgangsgeschwindigkeit von 100 km/h steht die
Fuhre mit einem eleganten Stoppie nach
knapp 40 Metern still, was einer Verzögerung von rund 9,8 m/s2 entspricht (siehe
dazu Kästen Seite 65 sowie Seite 69). Das
allerdings ist nur der Bremsweg, nicht der
Anhalteweg. Zum besseren Verständnis:
Wer bei einer Bremsung aus 100 km/h eine
Sekunde lang zögert oder unachtsam ist –
gemeinhin als Schrecksekunde bekannt –,
legt exakt 28 Meter Fahrstrecke zurück.
Ergo setzt sich der tatsächliche Anhalteweg aus der Reaktionszeit und der Zeit,
in der der Bremsdruck aufgebaut und so-
mit die dynamische Radlastveränderung
erzeugt wird, zusammen.
Dynamische Radlastveränderung? Hinter diesem Begriff verbirgt sich die physikalische Gesetzmäßigkeit, dass sich bei
einem Motorrad aufgrund der Massenträgheit und der Höhe des Schwerpunkts mit
zunehmender Verzögerung die Radlast
auf dem Vorder- und Hinterrad verändert.
Am Vorderrad, also dort, wo sich die Fahrzeugmassen bei einer negativen Beschleunigung (Bremsen) abstützen, wird diese
größer, hinten anteilsmäßig geringer. Mit
zunehmender Radlastverteilung nach vorne
kann zunehmend mehr Bremskraft überragen werden.
Wie hoch die Radlast oder salopp
ausgedrückt der Anpressdruck ist, kann
der Fahrer an der Gabel erkennen. Je tiefer
sie eintaucht, desto höher die Radlast,
weil die Massen (Fahrer und Motorrad)
über den Widerstand der Gabelfedern und
einen gewissen Anteil der Druckstufendämpfung auf den Reifen übertragen werden. Um ein zähes Gerücht zu entkräften:
Der Fahrzeugschwerpunkt verschiebt sich
beim Bremsen nur in geringem Umfang
von wenigen Zentimetern, etwa durch
das Einfedern der Gabel oder durch die
veränderte Sitzposition des Fahrers.
Es verändert sich also die dynamische
Radlast, mit deren Hilfe unsere Vollbremsung sehr effizient und mit geringster
Blockierneigung über die Bühne gehen
soll. Dazu muss der Bremsdruck kontinuierlich, je nach Schwerpunktlage und
Radstand (durch Motorradtyp vorgegeben),
innerhalb von etwa 0,5 bis 0,7 Sekunden
mit dem Einfedervorgang der Gabel gesteigert werden. Wer blitzartig (gemessen
weniger als 0,1 Sekunden) und mit hoher
Kraft hinlangt, bringt sich ruck, zuck in
die Bredouille. Denn das Vorderrad kann
nur so viel Bremskraft übertragen, wie Gewichtskraft auf ihm lastet. Ist die Bremskraft zu hoch bei gleichzeitig zu geringem
Mit diesem Reifenabdruck wird deutlich, wie
stark die dynamische Radlast den Vorderreifen auf
den Asphalt presst. Das grün umrandete Feld gibt
die Reifenaufstandsfläche, den so genannten Latsch,
bei konstanter Geradeausfahrt wieder. Die rot und
grün markierten Flächen zusammen zeigen den
Latsch bei einer Vollbremsung mit der CBF 1000 und
den maximalen Anpressdruck des Reifens von rund
300 Kilogramm. Die extrem ausgelegte Buell (links)
mit kurzem Radstand und relativ hohem Schwerpunkt
hebt lange vor Erreichen der Blockiergrenze des Vorderrads mit dem Hinterrad ab. Entsprechend schlecht
fallen die Bremswege mit 43,3 Metern aus 100 km/h
aus. Dafür ist selbst auf weniger griffigem Asphalt
eine Blockierneigung vorn durch die hohe dynamische
Radlast nahezu ausgeschlossen
64 MOTORRAD test + technik
18/2006
BREMSVORGANG UNTER DER LUPE
Der schmale Grat zwischen optimaler Verzögerung und Abflug.
Handkraft 70 N
Bremsdruck 9 bar
Die durchschnittliche Bremsverzögerung beim
flotten Landstraßenritt mit der CBF 1000 liegt bei
rund 5 m/s2, also etwa der Hälfe einer Vollbremsung.
Dabei trägt die Hinterradbremse wegen der hohen
Radlast von 35 Prozent zur Verzögerung bei, das
Vorderrad ist bei gutem Straßenbelag noch weit von
der Blockiergrenze entfernt. Der rote Pfeil gibt die
resultierende Kraft aus Massenkraft (grün) und Gewichtskraft (gelb) wieder. Solange diese resultierende Kraft hinter dem Vorderrad wirkt (gestrichelte
Verlängerung), besteht keine Überschlagsneigung
Gewichtskraft
Massenkraft
Bremskraft
Achslast
35 % Fußkraft 80 N
Bremsdruck 7 bar
35 %
65 %
Resultierende
65 %
Federweg
vorn
mm
hinten mm
Achslast*
vorn
kg
hinten
kg
Lenkkopfwinkel Grad
Nachlauf
mm
Reifenaufstandsfläche
vorn
cm2
Ø Anpressdruck/cm2
vorn kg/cm2
nor
Fahmale
rzu r
sta
nd
Vo
llb
rem
sun
MESSWERTE
g
Schwerpunkt
53
45
115
5
148
192
65,0
110
300
40
60,5
87
28
96
4,2
3,1
Handkraft 110 N
Bremsdruck 20 bar
5%
5%
Fußkraft 30 N
Bremsdruck 2 bar
95 %
95 %
* mit Fahrer
Handkraft 140 N
Bremsdruck 28 bar
0%
0%
www.motorradonline.de
Fußkraft 0 N
Bremsdruck 0 bar
100 %
100 % + X
Bei der optimalen Vollbremsung mit 9,81 m/s2 ist
das Verhältnis von Gewichts- zu Massenkraft ausgeglichen, die resultierende Kraft verläuft jetzt je nach
Schwerpunkthöhe nahe der Aufstandsfläche am Vorderrad,
das an der Blockiergrenze verzögert, während das Hinterrad im Durchschnitt der Bremsung kaum noch Bodenkontakt hat. In der Praxis wird dabei das Hinterrad einfach
blockiert, das Vorderrad mit viel Gefühl und hohem Bremsdruck am Grenzbereich, der sich meist durch schrilles
Quietschen ankündigt, verzögert
Bei der überzogenen Vollbremsung, bei der durch
den hohen Schwerpunkt oder durch den angenommen
extrem hohen Reibbeiwert von µ =1,2 das Hinterrad abhebt
wie bei der Buell (Foto Seite 64), trifft die resultierende
Kraftlinie vor dem Vorderrad auf. Würde der Fahrer den
hohen Bremsdruck von 28 bar beibehalten, würde sich
die Maschine nach vorn überschlagen. Bei entspechend
niedrigem Schwerpunkt blockiert bei zu hohem Bremsdruck vor dem Abheben des Hinterrads das Vorderrad
MOTORRAD test + technik 65
Reibwertsprung Rollsplitt, im Sommer als lästige
Spaßbremse von den Straßenbauern gerne aufgebracht, wird in der Bremszone über einen Bereich von
drei Metern akkurat verteilt und mit Pylonen markiert.
Mit 100 km/h und voll gezogener Bremse saust die
Honda auf den Rollsplitt zu. Dann heißt es, die Vorderradbremse blitzschnell zu lösen und sofort danach
den Bremsvorgang mit aller Macht fortzusetzen
„Anpressdruck“, kommt das Vorderrad in
Schlupf oder blockiert sogar und verliert
dadurch die Seitenführungskraft. Gefährlich, weil die Maschine seitlich wegrutschen kann und ein Sturz nur mit akrobatischem Einsatz zu verhindern ist. Deshalb
gilt am Anfang jeder Bremsung: Nicht blitzartig zupacken, sondern innerhalb etwa
einer halben Sekunde den Bremsdruck auf
das persönliche Maximum steigern. Die
unten stehenden Diagramme zeigen diesen entscheidenden Vorgang im Detail.
Die menschliche Feinmotorik
ist oft überfordert
Der zweite Schritt einer effektiven Vollbremsung liegt darin, Vorder- und Hinter-
140
140 140
Bremsweg 40 m
120 120
100
80
3
60
40
Geschwindigkeit effektiv
Geschwindigkeit Vorderrad
20
Federweg vorn
Bremsdruck vorn
1
0
10
20
30
40
50
80
80
60
60
40
40
20
20
Federweg (mm)
100 100
2
Bremsdruck (bar)
Geschwindigkeit (km/h)
120
radbremse so effizient einzusetzen, dass
beide Reifen mit einem bestimmten Schlupf
arbeiten und somit die bestmögliche Verzahnung von Gummi und Asphalt gewährleistet wird. Ein sehr diffiziles Geschäft,
denn die menschliche Feinmotorik und
Auffassungsgabe schaffen es kaum, vorne
wie hinten gleichzeitig so feinfühlig zu
bremsen, dass man sich in dem schmalen
Die optimale Bremsung. Der Bremsdruck (1) wird
kontinuierlich gesteigert, die Gabel federt entsprechend
ein (2) und der Reifen wird durch die dynamisch
wirksame Radlast fest auf den Asphalt gepresst.
Dadurch ist eine hohe Bremskraftübertragung möglich.
Selbst bei dem erhöhten Schlupf (3), bedingt durch
die auf Block gehende Gabel und einem dadurch leicht
springenden Vorderrad – an den Zacken beim Federweg (grün) gut zu erkennen –, bleiben Bremsdruck und
Verzögerung konstant. Solche Bremsmanöver erfordern viel Übung, um das Feingefühl für den Grenzbereich zu trainieren und im Notfall abrufen zu können
60
Bremsweg (m)
Geschwindigkeit effektiv
Geschwindigkeit Vorderrad
Federweg vorn
Bremsdruck vorn
120 120
100
80
100 100
Bremsdruck (bar)
Geschwindigkeit (km/h)
140 140
Bremsweg 53 m
120
2
60
40
20
3
1
0
10
20
30
40
50 53
60
80
80
60
60
40
40
20
20
Federweg (mm)
140
70
Bremsweg (m)
Die Schreckbremsung. Durch ein plötzlich auftauchendes Hindernis erschreckt, schnappt der Fahrer
nach dem Bremshebel. Dabei steigt der Bremsdruck wesentlich schneller an (1), als die Gabel eintaucht
und sich die dynamische Radlastveränderung aufbauen kann. Mit dem Resultat, dass der Reifen noch
nicht genügend Grip aufgebaut hat, sofort zu blockieren droht (2) und mit 50 Prozent Schlupf (3) arbeitet.
Der Fahrer öffnet die Bremse, um einen Sturz zu vermeiden, greift danach aber mehrfach viel zu brutal zu.
Letztlich verlängert sich der Bremsweg dramatisch
66 MOTORRAD test + technik
In der mit Öl befüllten Telegabel befindet sich ein
hydraulischer Durchschlagschutz (Hydro-Stopp), bei
dem zirka 15 Millimeter vor dem metallischen Anschlag
der Kolben in einen Zylinder taucht und das dort befindliche Öl verdrängt (rechts). Bei sehr weichen Gabelfedern
blockiert in diesem Bereich das Vorderrad vorzeitig
18/2006
BREMSENTECHNIK TRANSPARENT
Dank pfiffiger Bremstechnik genügt für die Vollbremsung ein kräftiger Händedruck.
M
ächtig ist des Menschen Kraft, wenn er
mit dem Hebel schafft.“ Die populäre physikalische Formel ist auch bei Motorradbremsen
der Schlüssel zum Erfolg. Allein durch eine enorme
mechanische und hydraulische Übersetzung der
menschlichen Handkraft gelingt es, selbst schwerste Motorräder im Handumdrehen von Höchstgeschwindigkeit auf null zusammenzubremsen. Um
diese Massenkraft zu bändigen, zieht der Fahrer
mit einer Kraft von etwa 120 Newton (zirka zwölf
Kilogramm) am Bremshebel (gemessen zwischen
Mittel- und Ringfinger) und erzeugt dadurch im
Bremssystem einen mittleren Druck von rund
18 bar. Im Verbund mit hochfesten Bremsleitungen
pressen die Bremszangenkolben die hitzebeständigen und mit einem hohen Reibbeiwert ausgestatteten Bremsbeläge gegen die rotierenden Scheiben.
Während sich die mechanische Handkraft und
die anschließende hydraulische Übertragung kaum
durch die Materialqualität beeinflussen lassen,
spielt diese bei den Bremszylindern und Belägen ein
gewichtige Rolle. So versucht man möglichst steife
Bremszangen zu konstruieren, damit sich diese
beim Bremsdruck und den hohen Temperaturen
nicht aufweiten, weshalb im Rennsport so genannte
Monoblock-Zangen verwendet werden, die aus
einem Stück hochfestem Aluminium gefräst sind.
Den Ansprüchen im Großserienbau genügen auch
für die nächsten Jahre solide Festsattelbremsen
mit vier Kolben. Selbst die betagte SchwimmsattelKonstruktion der Honda CBF 1000 reicht aus, um
zuverlässig und fadingfrei Bremsverzögerungen auf
den Asphalt zu zaubern (siehe auch Zeichnungen
unten rechts). Die im Sportlerbereich derzeit übliche
radiale Verschraubung verringert nur den Schrägverschleiß der Bremsbeläge durch die stabilere
Verbindung zum Gabelholm.
Bei den Bremsbelägen gibt die Materialmischung
den Ausschlag, ob die Bremse giftig oder stumpf
zu Werke geht. Auch das Fadingverhalten hängt
davon ab. Meist werden so genannte Sintermetallbeläge verwendet, die kalt wie heiß gute Bremswerte garantieren. Bei älteren Maschinen dagegen
wurden organische Belagmischungen eingesetzt, die
in kaltem Zustand nur lustlos an der Bremsscheibe
lutschten und bei Nässe oft versagten. Deshalb
bieten die meisten Bremsbelag-Hersteller auch für
ältere Modelle moderne Sintermetall- oder SemiSintermetallbeläge an. In Verbindung mit hochdruckfesten Bremsschläuchen – Stahlflexleitungen –
lassen sich mit betagten Bremssystemen ebenfalls
akzeptable Bremswege erreichen.
Wie sich letztlich die Bremskraft über mechanische
und hydraulische Übersetzungen aufbaut, ist in
den Zeichnungen der unterschiedlichen Handbremszylinder (radiale und konventionelle Bauart) dargestellt. Bei genauer Analyse der Funktion beider
Systeme wird deutlich, dass die viel gepriesene
Radial-Bremspumpe kaum Vorteile bietet. Bei
der Radialpumpe fällt das mechanische Übersetzungsverhältnis mit 1 zu 7,5 (20 zu 150 Millimeter)
deutlich größer aus als beim konventionellen Bauteil mit 1 zu 6,0 (25 zu 150 Millimeter). Heißt: Bei
gleicher Handkraft am Hebel wirkt bei der radialen
Variante eine größere Kraft auf den Bremskolben
der Handpumpe als bei der konventionellen (für
Physik-Fans: F1 x L1 = F2 x L2, siehe auch Zeichnung unten). Dafür bringt der in unserem Beispiel
18 Millimeter große Bremskolben der radialen
Bauart die hydraulische Übersetzung durch die
rund 2,5 cm2 große Kolbenfläche wieder auf das
Niveau des 16er-Kolbens mit 2,0 cm2; es baut sich
bei beiden Systemen mit 100 Newton (etwa 10
Kilogramm) Handkraft ein Bremsdruck von 30 bar
auf (F1:F2 = A1:A2). Der Vorteil der Radialpumpe
liegt zweifelsfrei darin, dass der größere Kolben
beim Bremsvorgang weniger Weg zurücklegt und
dadurch die Rückmeldung und das Bremsgefühl
besser und transparenter wird. Eine weitere Hebelübersetzung im System: die Bremsscheiben. Je
größer diese ausfallen, desto größer ist auch hier
wieder das Bremsmoment bei gleicher Kraft, mit
der die Bremszangen die Räder verzögern.
Zu guter Letzt verzahnen sich die Reifen je nach
Straßenoberfläche mit einem Reibbeiwert µ = 1,2
(Supersportreifen auf Rennstreckenbelag) und erlauben eine maximale Verzögerung von über 10,0
Radial-Handbremspumpe
20
mm
m
150 m
Handkraft 100 N
Ø 18 mm (2,5 cm2)
Bremsdruck
30 bar
Festsattel
Handbremspumpe
Ø 16 mm
(2,0 cm2)
m
150 m
25
mm
Handkraft 100 N
Bremsdruck
30 bar
Über die mechanische und hydraulische Übersetzung der Handkraft steuert der Motorradfahrer die
Bremswirkung. Das Beispiel zeigt den Vergleich einer Radial-Handbremspumpe (oben) mit einem konventionellen Bauteil. Bei Letzterem wirkt eine kleinere mechanische Hebelübersetzung (1 zu 6) als bei der
Radialpumpe (1 zu 7,5). Dafür erzeugt der 16 Millimeter große Kolben ein größeres hydraulisches Übersetzungsverhältnis. Unterm Strich gleichen sich beide Systeme an und erzeugen im Bremssystem exakt denselben Bremsdruck. Trotzdem ist der Unterschied in einer feineren Dosierbarkeit und Rückmeldung spürbar
68 MOTORRAD test + technik
Die Festsattelbremse hat sich im Lauf der Jahre
durchgesetzt. Dabei werden in dem steifen, meist aus
zwei Teilen verschraubten Gehäuse auf jeder Seite
ein (Zweikolbenbremse), zwei (Vierkolbenbremse)
oder gar drei Kolben (Sechskolbenbremse) mit dem
hydraulischen Druck auf die Bremsbeläge gepresst
18/2006
eiw
ert
Bre
ms
we
g(
m)
Re
ibb
BREMSWEG UND
STRASSENBELAG
Asphalt rau
Asphalt normal
Asphalt glatt
Kopfsteinpflaster
Nasser Staub
Eis
m/s2. Auch der Winddruck steigert die tatsächliche
Verzögerung und kann einfach dazu addiert werden,
da diese Kraft nicht über die Reifen übertragen werden muss. Deshalb lassen sich bei Bremsungen aus
über 200 km/h Werte von gut 11 m/s2 realisieren.
Die für den technisch weniger bewanderten
Menschen ziemlich irritierende Formulierung m/s2
(Meter pro Sekunde im Quadrat) hat ihre Grundlage
in der Erdbeschleunigung, die mit 9,81 m/s2 als
Grenzwert für alle Beschleunigungs- oder Bremsvorgänge (ohne Luftwiderstand) mit dem Reibwert
µ = 1,0 gilt. Bei Fahrzeugen ohne formschlüssigen
Antrieb (Zahnräder, Ketten et cetera) kann der
Reifen durch seine Haftreibung nur die Kraft übertragen, mit der er auch auf die Straße gepresst
wird. Erreicht man beim Bremsen/Beschleunigen
oder Kurvenfahren (Querbeschleunigung) die
9,81 m/s2, wird der Körper oder die Fahrzeugmasse
mit exakt dem Wert seines Eigengewichts in der
horizontalen Richtung belastet. Das heißt, die
Massenkraft (G) entspricht maximal der Gewichtskraft. Im Falle unserer Honda CBF 1000 werden
die Räder also mit 340 Kilogramm (Motor-rad vollgetankt plus Fahrer) auf den Boden gepresst. Fast
genau dieselbe Kraft wirkt bei der Vollbremsung
mit 9,7 m/s2 in horizontaler Richtung. Aus diesem
Grund bremsen schwere Tourenmaschinen bei entsprechend ausgelegten Bremsanlagen und dimensionierter Bereifung so gut wie eine leichte 125er.
Die Mischung macht’s: Bremsbeläge tragen
durch ihre Bestandteile signifikant zu Bremsleistung,
Dosierbarkeit und Fadingverhalten bei. Mit passenden Nachrüstbelägen lassen sich Bremsanlagen
häufig optimieren, wie die regelmäßigen Bremsbelagtests von MOTORRAD beweisen. Ob mit oder ohne
Nuten spielt dagegen nach den Erfahrungen der
Tester bei der Wirkung keine Rolle
Schwimmsattel
1
Die Schwimmsattelbremse kommt meist an kostengünstigen Bikes zum Einsatz. Der Bremssattel ist auf
zwei dauerhaft geschmierten Bolzen (1) gelagert und
kann sich axial verschieben, wenn der nur auf einer
Seite wirkende Bremskolben aktiviert wird. Hier spricht
man von Ein, Doppel- oder Dreikolben-Bremssätteln
www.motorradonline.de
1,2
0,9
0,7
0,5
0,3
0,08
32,8
43,7
56,1
78,6
131,0
491,3
Wie auch schon die maximale Schräglage
(siehe Teil 3 der Serie, Heft 10/2006), so ist auch der
Bremsweg abhängig vom Reibbeiwert der Straßenoberfläche. Der extrem griffige Belag mit µ=1,2 wird
meist nur bei Test- oder Rennstrecken verwendet.
Auf Landstraßen schwankt die Griffigkeit von µ=0,9
bis auf 0,7. Je geringer der Reibbeiwert, desto mehr
Bremskraft kann über das Hinterrad übertragen werden.
Deshalb: Bei Nässe oder glattem Belag immer vorn
und hinten bremsen
Grenzbereich zwischen Schlupf und Abflug
bewegt. Weshalb man sich in erster Linie
darauf konzentriert, die Bremse vorne optimal zu dosieren, während das Hinterrad
bei gezogener Kupplung durch einen beherzten Tritt blockiert wird. Die Gefahr,
dass die Fuhre dabei quer kommt, ist relativ
gering und kann durch Lösen der Hinterradbremse in Windeseile korrigiert werden.
Spätestens jetzt dürfte sich vor allem
die Riege der Sportfahrer zu Wort melden
und verkünden, dass man die hintere
Bremse bei den Supersportlern doch gänzlich vergessen könne. Der Gemeinde sei
jedoch gesagt: Wer bremst schon permanent mit mehr als 9 m/s2? Selbst erfahrene
Motorradtester bringen es bei einer flotten
Landstraßensause beim Anbremsen von
engen Kurven auf kaum mehr als 7,0 m/s2
Verzögerung. Außerdem: Allein durch das
Gaswegnehmen und/oder Runterschalten
wird durchs Bremsmoment des Motors
auch am Hinterrad mitgebremst. Also: Solange das Hinterrad nicht vom Boden abhebt, kann es den Bremsvorgang effektiv
unterstützen, deshalb hinten mitbremsen.
Ob und wann dieser Bodenkontakt
unterbrochen wird, hängt in erster Linie
vom Motorradtyp (Schwerpunktlage, Radstand, Bereifung) und der erreichten Verzögerung ab. Sportmotorräder mit einer
vorderradlastigen Gewichtsverteilung lupfen früher den Hintern als etwa unsere
CBF 1000, bei der bereits vor dem Abheben
des Hinterrads das Vorderrad blockiert.
Schon deshalb ist es enorm wichtig, dass
jeder Motorradfahrer seine Maschine und
deren Bremsverhalten in gezielten Trainings, zum Beispiel beim MOTORRAD
action team, einschätzen lernt, um im Fall
der Fälle richtig zu reagieren.
Neben der Dosierung der Bremsen
spielen aber noch andere Faktoren eine
signifikante Rolle. Schlägt beispielsweise
die weich abgestimmte Gabel durch, verliert das Vorderrad auf holprigem Asphalt
schneller als gedacht Bodenkontakt und
Haftung. Oder die Kiste setzt ohne große
Ankündigung zum Salto vorwärts an. Beides verlangt nach blitzschneller Reaktion,
also dem Lösen und dem sofortigen
Wiederaufbau des Bremsdrucks. Diese
feinmotorischen Regelungen gelingen nur,
wenn die Mechanik mitspielt, weshalb
dem individuell bevorzugten Abstand des
Bremshebels zum Lenker oder die absolute Leichtgängigkeit der Armaturen (siehe
Kasten Seite 71) eine elementare Bedeutung zukommt.
Teil zwei der Bremsversuche: die Vollbremsung aus 200 km/h. Eine Aufgabe,
die den Puls des Testfahrers gewaltig
nach oben treibt. Denn im Gegensatz zum
Bremsversuch aus 100 km/h, bei dem
das Quietschen und Wimmern der Reifen
klare Signale für den Grenzbereich setzen,
werden diese bei Tempo 200 im Orkan
des Fahrtwinds erstickt. Das Bewusstsein,
dass bei Tempo 200 das blockierte Vorderrad die einzige und womöglich letzte Rückmeldung bietet, zwingt den Piloten zur
Vorsicht, was sich an der relativ langsamen
Steigerung des Bremsdrucks und der aus
diesem Tempo eher mäßigen Verzögerung
von 9,3 m/s2 (166 Meter Bremsweg) ablesen lässt. Erst nach mehreren Versuchen
erreicht der Testprofi einen Maximalwert
von 9,7 m/s2 (159 Meter Bremsweg).
Im Alltag muss der erste
Bremsversuch sitzen
Doch im richtigen Leben, wenn der fette
Lkw urplötzlich die Überholspur blockiert,
muss der erste Versuch sitzen. Und der
gelingt, Profitester hin oder her, am besten
MOTORRAD test + technik 69
MEINUNG
Intensives Bremstraining und ABS sind unverzichtbar.
Ramona Haidchen düst
mit einer Suzuki GSX-R 600
durchs Land, findet aber
Gefallen an der CBF 1000. „So
brutal habe ich in meinem
Leben noch nicht gebremst
wie unter Anleitung und mit
ABS. Mir ist richtig schwindelig geworden. Richtig Bremsen, egal, ob mit
oder ohne ABS, muss jeder und jede trainieren“
Oliver Heda hat nach Jahren
auf einer Honda Bol d’Or zur
Yamaha YZF-R1 gefunden, muss
jedoch feststellen, dass man mit
den ganzen „Super-Dupper-Bremsen“ der aktuellen Heizgeräte nur
was anfangen kann, wenn man auf
der Rennstrecke oder bei Fahrtrainings die Grenzen auslotet. ABS findet Oli grundsätzlich, aber speziell bei Regen hammermäßig
Bäckermeister Rudi
Hanser zischt als Wiedereinsteiger auf seiner Suzuki
DR 650 durch die Landschaft.
Seit dem Bremsenstraining
weiß er, auf was es ankommt.
„Die Honda-Bremse an sich
ist schon der Hammer, aber
das ABS – unglaublich. Das Nächste, was ansteht,
ist ein intensives Bremstraining“
und sichersten mit ABS. Bei vollem Speed
mit aller Wucht den Stachel reingehauen,
verzögert die Honda CBF 1000 mit rund
9,5 m/s2 (162,5 Meter Bremsweg). Bedingt
durch den im Quadrat zur Geschwindigkeit anwachsenden Bremsweg (siehe dazu
Kasten Seite 69) benötigt die CBF folglich
nicht etwa die doppelte Distanz wie bei der
Bremsmessung aus 100 km/h (40 Meter),
sondern ganze 122 Meter mehr.
Versuch Nummer drei: der Reibwertsprung. Nicht-Fahrzeugbau-Studierten sei
erklärt, dass dies nichts anderes bedeutet,
als eine auf der Straße aufgebrachte Stolperfalle in Form von glitschigen Bitumen-
flecken oder Zentimeter dicken Schotterauflagen, also der Übergang von griffigem
zu rutschigem Belag (mehr dazu in Teil 3
der Serie, Heft 10/2006). Wer auf solchem
Untergrund eine herzhafte Bremsung
hinlegen muss, ist maximal gefordert.
Auch der MOTORRAD-Testfahrer gerät bei
der künstlich inszenierten Rutschbahn ins
Schwitzen. Aus 100 km/h voll in die Eisen,
nach zwanzig Metern den Bremsdruck
auf null zurückfahren, um nach drei Meter
Schotter wieder voll zuzupacken – da ist
die Koordination leicht überfordert.
Beim ersten Anlauf komplett haltlos
übers Schotterfeld geschliddert, öffnet der
Pilot bei den nächsten Versuchen beide
Bremsen vorsichtshalber über gut 14 Meter
Fahrstrecke. Das sind 11 Meter mehr, als
die eigentlich Stolperfalle lang ist, was
den Bremsweg auf 48,7 Meter verlängert.
In dieser Disziplin ist das ABS nicht zu
schlagen. Schon wenige Meter nach der
Schotterpassage, bei der die Räder nur
ganz kurz in Schlupf geraten, packt die
Bremse dermaßen zu, dass es das Hinterrad kurz vom Boden reißt und die Honda
nach 45 Metern zum Stehen kommt.
Testlauf Nummer vier: Bremsen in
Schräglage. Eine äußerst heikle Angelegenheit, weil das fahrende Volk gemein-
BREMSWEG AUS 100 KM/H
Honda CBF 1000
Suzuki M 1800 R
46,6 m 8,3 m/s2
nur vorne
58,5 m 6,6 m/s2
93,6 m
nur hinten
Honda CBF 1000
4,1 m/s2
86,7 m 4,4 m/s2
optimale
Vollbremsung
40,0 m
9,7 m/s2
41,9 m
0
10
20
Bremsweg (m)
30
40
9,2 m/s2
50
60
70
80
90
100
Suzuki M 1800 R
Obwohl Gesamtgewicht (252 zu 348 Kilogramm),
Radlastverteilung und Schwerpunkthöhe beider
Maschinen völlig unterschiedlich sind, kommen sie
auf sehr ähnliche maximale Bremsverzögerungen.
Dabei tendiert die hecklastige Suzuki mit tiefem
Schwerpunkt und langem Radstand dazu, vorn sehr
früh zu blockieren und bremst deshalb „nur vorne“
deutlich schlechter als die ausgewogene Honda. Bei
beiden verkürzt die Betätigung der hinteren zusätzlich zur vorderen Bremse den Bremsweg deutlich
70 MOTORRAD test + technik
18/2006
hin davon ausgeht, dass Schräglage und
Bremsen einfach nicht unter einen Hut zu
bringen sind. MOTORRAD sagt: Es geht.
Je nach äußeren Umständen (Reifentemperatur/Grip) lassen sich bei rund 35 Grad
Schräglage mit der serienmäßigen Honda
CBF 1000 bis zu 8 m/s² Verzögerung
sicher umsetzen. Diesen Wert kann ein
guter Motorradfahrer bei gezielten Vollbremsungen erreichen. Die Bremsung in
Schräglage sollte sich jedoch nur auf den
Notfall beschränken, weil das Vorderrad
schon bei geringstem Schlupf seitlich
ausbricht und Sturzgefahr droht. Außerdem muss der Fahrer je nach Bereifung
seiner Maschine gegen das Aufstellmoment ankämpfen.
Den Abschluss unserer Testreihe begleiten drei Motorradfahrer von der Straße,
die helfen sollen, das Thema Bremsen
besser zu verstehen und die mit ihren
ebenfalls aufgezeichneten Bremsversuchen
ein klares Zeichen setzen: Wer die maximal
mögliche Bremsverzögerung nicht im regelmäßigen Training spürt und erlebt, kann sie
im Notfall auch nicht abrufen. Schon nach
einer halben Stunde intensivem Bremstraining verkürzte sich der Bremsweg der drei
Testkandidaten um gut 20 Prozent. Noch
wichtiger als der verkürzte Bremsweg
war das Verständnis, wie dieser zustande
kommt, wie sich die physikalischen Bedingungen verändern und wo die Gefahren
lauern. Worauf etwa Bäckermeister Rudi
Hanser auf der CBF 1000 mit quietschendem Vorderrad und fett qualmendem
Hinterrad-Socken durch die Bremsgasse
schlidderte. So effektiv gebremst, dürfte
auch Herr Müllers Limousine mitsamt
Wackeldackel ohne Schaden davon kommen. Und Rudi erst recht.
Wie man sich mit dem Motorrad am
besten und sichersten durch den Großstadtdschungel kämpft, welche Gefahren dabei lauern und wie man diese
am besten meistert, steht in Teil 6 der
Serie „Perfekt fahren mit MOTORRAD“
Heft 20/2006.
TIPPS UND TRICKS
Ein gutes Bremsgefühl stellt sich nur ein, wenn die Mechanik stimmt.
W
eil bei jeder Vollbremsung gewaltige
Kräfte und Momente erzeugt werden, ist
eine optimale Übertragung und Dosierung der
Hand- und Fußkraft notwendig. Am Bremshebel
selbst entsteht durch die mechanische Übersetzung eine enorm hohe Reibung an den Lagerstellen. Laufen diese ohne Schmierung trocken,
lässt sich der Bremshebel bei hohem Druck
durch das Losbrechmoment nur noch ruckartig
bewegen. Aus diesem Grund müssen Bolzen
und Reibfläche am Bremszylinder mit einem
hochdruckfesten Fett oder Kupferpaste geschmiert werden (Bild 1). Nur so lassen sich
die rohen Kräfte fein dosieren.
Bei der Justierung der Handpumpe sollte diese
so ausgerichtet werden, dass die ausgestreckten
Finger und der Unterarm in einer Linie liegen.
Durch Lösen der Klemmschrauben kann der
Bremsgriff exakt in diese Position gebracht
werde. Bei der Montage der meist asymmetrischen Klemmung darauf achten, dass zunächst
die mit einem Pfeil und der Bezeichnung „up“
(oben) markierte Klemmschraube (Bild 2)
so weit festgezogen wird, bis der Luftspalt
geschlossen ist. Erst dann wird die Handpumpe mit der unteren Klemmschraube fixiert.
Bei unsachgemäß montierten Klemmungen
gibt die Bremspumpe beim Druck mit hoher
Handkraft nach und schafft ein teigiges,
indifferentes Bremsgefühl.
Das subjektive Empfinden des Fahrers für die
richtige Bremsdosierung beginnt bei der Reichweite zum Bremsgriff. Diese wird über die bei
Bild 3
www.motorradonline.de
fast allen Maschinen vorgesehene Rastermechanik
(Pfeil in Bild 3/4) so justiert, dass der Fahrer die
Bremskraft mit möglichst viel Gefühl aufbauen
kann. Dazu sollten versuchshalber alle Positionen
durchgetestet werden. Nur so lässt sich die individuell optimale Hebelstellung herausfinden.
Packt die ganze Hand zu, kann die Reichweite meist
verkürzt werden, was ein bessere Bremsgefühl vermittelt (Bild 3). Giftige Supersportbremsen reagieren oft schon bei kleinster Handkraft mit brachialer
Verzögerung, weshalb sich hier der Bremsvorgang
mit nur zwei Fingern bewerkstelligen lässt. Wer
so bremst, benötigt in vielen Fällen eine größere
Reichweite, damit die Finger, die den Lenker
umfassen, nicht eingeklemmt werden (Bild 4).
Umständliches Umsetzen des Fußes bei der Hinterradbremse kostet wertvolle Zeit und stört die
Dosierung des Bremsdrucks. Deshalb sollte der
Fußbremshebel so tief justiert werden, dass
der Fuß ohne Verkrampfung auf dem Hebel ruht
(Bild 5) und dieser bei Bedarf sofort aktiviert
werden kann.
Ein Problem beim harten Anbremsen von Kurven
und gleichzeitigen Herunterschalten: das Hinterrad beginnt speziell bei großvolumigen Motoren
mit hohem Bremsmoment zu stempeln, weshalb
moderne Motorräder so genannte Anti-HoppingKupplungen besitzen. Ist dies nicht der Fall,
erzielt der Fahrer den gleichen Effekt, wenn er
nach dem Herunterschalten den Kupplungshebel mit wenig Kraft leicht gezogen hält.
Damit bleibt die notwendige Bremswirkung des
Motors erhalten, die Spitzen der unregelmäßigen
Bremskraft die beim Verdichtungstakt im Motor
entstehen, aber werden gekappt, die Stempelneigung wird unterbunden.
Bild 1
Bild 2
Bild 4
Bild 5
MOTORRAD test + technik 71
GEFAHRE
52 MOTORRAD test + technik
20/2006
N-
Perfekt fahren
mit
Teil 6: Fahr en in der Stadt
DSCHUNGEL
TEIL 1
IN MOTORRAD
6/2006
KURVENFAHREN,
DIE THEORIE
TEIL 2
IN MOTORRAD
8/2006
KURVENFAHREN,
DIE PRAXIS
TEIL 3
IN MOTORRAD
10/2006
FASZINATION
SCHRÄGLAGE
TEIL 4
IN MOTORRAD
16/2006
FAHREN
MIT GEPÄCK
TEIL 5
IN MOTORRAD
18/2006
EFFEKTIVES
BREMSEN
TEIL 6
IN DIESEM HEFT
FAHREN
IN DER STADT
TEIL 7
IN MOTORRAD
22/2006
FAHREN
BEI REGEN
www.motorradonline.de
Auch wenn das Fahren in der
Stadt zur alltäglichen Routine
gehört, lauern im Großstadtgetümmel die hinterhältigsten
Gefahren. Nur mit wachem
Auge und dem siebten Sinn für
brenzlige Situationen lässt
sich die Durchquerung der City
unbeschadet meistern.
Von Werner Koch; Fotos: fact;
Zeichnungen: Wolfgang Müller
bgemacht, Engelchen, in einer Viertelstunde bin ich da.“ Keine Frage,
für den hurtigen Ritt durch die Stadt
schwingt sich der flotte Tommy grundsätzlich aufs Krad. Egal, ob zäher Berufsverkehr oder freie Fahrt bei Nacht, mit
dem Motorrad ist er der Chef in der City.
Staus und Kolonnenverkehr werden lässig
abgehängt, verstopfte Kreuzungen auf
kürzestem Weg durchstoßen. Und wenn’s
mal richtig dicht ist, entflieht der Zweiradler
mittels eleganter Kehrtwende auf engstem
Raum. Außerdem: Ein freier Parkplatz ist
garantiert, weil sich fürs Motorrad immer
ein legales Plätzchen findet.
Doch bei allen Vorzügen der einspurigen Mobilität sind die Gefahren im
Verkehrsgetümmel nicht zu unterschätzen.
Deshalb gilt an allen Kreuzungen und
Einmündungen, an denen der ent gegenkommende Verkehr links abbiegen kann,
Alarmstufe rot. Das heißt: den rollenden
Gegenverkehr beobachten. Blinkt jemand
links? Ordnet sich jemand ganz nah am
Mittelstreifen ein und drosselt das Tempo –
auch ohne den Blinker zu setzen? In
diesem Augenblick muss jeder Motorradfahrer damit rechnen, dass das Auto
stumpf die Fahrbahn kreuzt. Ob der Entgegenkommende das Motorrad auf dem
A
MOTORRAD test + technik 53
Der klassische Linksabbieger kreuzt den Weg des Motorradfahrers. Hat er den Blinker nicht gesetzt, ist
er am gedrosselten Tempo und dem Fahren nah am Mittelstreifen zu erkennen. Bleibt die Frage: Bremsen
oder ausweichen, was sich daraus ergibt, ob das Auto die Straße überquert oder auf halbem Weg stehen bleibt
volle Konzentration und stets bremsbereit.
Zwei Finger liegen also auf dem Handbremshebel, der Fuß befindet sich über
dem Bremspedal. Und zwar egal, ob sich
das Szenario in der Nähe von Parkplätzen
stadtnaher Erholungsgebiete, unscheinbaren Einfahrten zu entlegenen Bauernhöfen
oder fett gekennzeichneten Linksabbiegerspuren abspielt. Unfälle mit linksabbiegendem Querverkehr gehören nach wie vor
zu den häufigsten und leider auch zu den
übelsten.
35 397
MOTORRADUNFÄLLE
MIT PERSONENSCHÄDEN 2005
54 MOTORRAD test + technik
65
außerorts
997
innerorts
1062
670
14 185
14 855
Gesamt
Verletzte
Getötete
273
Quelle: Statistisches Bundesamt
35 670
Film hat oder nicht, lässt sich oft am Blick
des Autofahrers ablesen. Schweift der
bereits in die Abbiegerichtung oder sucht
verwirrt nach einem Straßenschild oder
sonst einer Orientierung, ist Vorsicht angebracht und das Tempo zu drosseln.
Dieses Szenario gilt besonders auf
schnellen Ausfallstraßen. Da dort das Tempo um einiges höher ist, sind die Folgen
eines Seitenaufpralls umso schlimmer. Einziges Mittel, solch hochgradig riskante
Passagen zu entschärfen: Tempo runter,
Autobahn
Die Unfallstatistik verdeutlicht, dass Motorradfahrer im
Stadtverkehr erheblich gefährdet sind. In dieser Statistik sind
jedoch auch alle Motorroller und
Mopeds erfasst. Aufgrund der
relativ geringen Geschwindigkeiten ist die Zahl der 273 tödlich
verletzten Zweiradfahrer, das
entspricht 0,765 Prozent, im
Verhältnis zu den 35 670 Unfällen mit Personenschäden gering.
Auf der Landstraße außerorts
steigt die Zahl der tödlichen
Unfälle aufgrund der höheren
Geschwindigkeit auf 4,51, bei
Autobahnfahrten auf 6,12 Prozent. In der Statistik nicht erfasst
sind Motorradunfälle, die ohne
Personenschäden ausgehen
Auch an Ampel-Kreuzungen
sollte der Kradfahrer Vorsicht
walten lassen.
Hier gelten für den Motorradfahrer zwei
Regeln. Zum einen sollte er sich beim kurz
entschlossenen, harten Abbremsen vor
einer gelben Ampel möglichst weit nach
rechts verdünnisieren, weil der hinter ihm
fahrende Autofahrer womöglich trotz der
inzwischen hellroten Ampel den Sprint für
sich entscheiden möchte. Und so wenig
man sich auf das Signal Gelb-Rot-Stopp
verlassen kann, sollte man auch Grün
nicht ohne Kontrolle hinnehmen. Ein kurzer
Seitenblick vor dem Start, zuerst nach
links, dann nach rechts. Ansonsten kann
der Querverkehr, der noch bei Hellrot aufs
Gaspedal tritt, dem zackig bei Grün startenden Motorrad-Piloten rasch das Vorderrad krumm fahren. Wenn’s gut ausgeht.
Aufmerksamkeit und Konzentration sind in
der Stadt oberstes Gebot.
Kreuz und quer geht’s auch zu, wenn
der Zweiradfahrer den Joker der schlanken
Einspurigkeit ausspielt und in ungebremster Fortbewegung durch den Stau balanciert. Was zwar nach StVO verboten ist,
inzwischen aber fast überall von den
Gesetzeshütern toleriert wird. Dabei muss
jedem klar sein, dass dieses Durchschlängeln mit Risiken einhergeht, für die man
im Fall der Fälle nicht pauschal den Auto-
20/2006
AUS SICHT DES AUTOKUTSCHERS
Autofahrer queren unseren Weg nicht aus bösem Willen, sondern meist,
weil sie einen übersehen.
Die Fotos dokumentieren klar und deutlich,
dass auch ein aufmerksamer Autofahrer durch die
eingeschränkte Sicht das Motorrad oft übersieht,
da es im toten Winkel verschwindet oder kaum erkennbar ist. Speziell die auf zwei Streben aufgeteilte
A-Säule (links) stört den Blick beim Einbiegen und
Wenden. Meist sind dann noch die Rücksitze mit
Kopfstützen ausgerüstet, weshalb der Autofahrer
sein Gefährt beim rückwärts Ausparken eher im
Blindflug aus der Parklücke bugsiert. Deshalb gilt
für Motorradfahrer: Sehen wir den Menschen am
Lenkrad nicht, sieht uns dieser auch nicht, und wir
müssen damit rechnen, dass er mit seinem Auto die
Fahrbahn kreuzt
fahrer verantwortlich machen kann (siehe
Kasten Seite 56/57). Dazu kommt, dass
sich die Größe und Höhe der Vierräder in
den letzten Jahren dramatisch verändert
hat. Stichwort Van, Kleinsttransporter, Geländewagen, die dem Motorradfahrer die
Sicht nach vorn verdecken.
Womit wir bei einem der wichtigsten
Punkte angelangt sind: der Wahrnehmung
durch den Autofahrer. Denn wie bitte
schön soll ein im Bürgerkäfig gefangener
Mensch bei Radiogedudel und Klimaanlage damit rechnen, dass sich ein Motorradfahrer millimeterscharf durch den Stau
hangelt und ihm der ansatzlose Spurwechsel des Autolenkers vorkommt wie
ein geplanter Mordanschlag?
Wir als Motorradfahrer betrachten die
Welt anders, auch wenn wir mit dem Pkw
unterwegs sind. Doch wir müssen lernen,
die Verkehrswelt nicht aus unserer Sicht,
sondern aus der des reinen Autofahrers zu
Wenn die freie Spur zum Durchfädeln sehr eng wird, heißt es fußeln. Was zwar nicht sehr elegant ist,
aber immer noch besser, als dem Wagenlenker den Lack zu zerkratzen. Tipp: Die Geschwindigkeit beim
Rollen, in engen Kurven oder bei Spurwechseln mit sanftem Druck über die Hinterradbremse steuern
www.motorradonline.de
sehen. Wir, für die ein Sprint von null auf
100 km/h in fünf Sekunden völlig normal
ist, müssen erkennen, dass bei dem
Mensch, der im Auto sitzt, ein anderer Film
läuft. Der geht Einkaufen, ist unterwegs
zum Steuerberater, bringt die Kinder zur
Schule oder sucht verzweifelt nach einem
Parkplatz, während wir in der Regel nur
fahren wollen. Zügig, konzentriert, agil.
Diese beiden Welten prallen speziell im
Stadtverkehr brutal aufeinander.
Wer sich durch den Stau mogelt, sollte seine Pole
Position vor der Grünphase eingenommen haben.
Und aufgepasst: Besonders in Einkaufsstraßen kreuzen
auch Fußgänger durch Staus. Noch eine Gefahr: Auf
viel befahrenen Hauptstraßen drücken Lkw und Busse
tiefe Rinnen in den Asphalt, die Motorräder aus der
Bahn werfen können
MOTORRAD test + technik 55
AUF KOLLISIONSKURS
Mit diesen Fahrfehlern und Hinterhältigkeiten muss man im Stadtverkehr immer rechnen.
Der Super-GAU beim Überholen: Während man
sich als Kradfahrer nur auf den Gegenverkehr konzentriert und bei scheinbar freier Strecke zum Überholen
ansetzt, braut sich von links das Unheil zusammen.
Denn der Autofahrer, der aus der versteckt liegenden
Seitenstraße einbiegt, richtet seinen Blick logischerweise nur auf die linke Straßenseite. Ist diese frei,
schwenkt er seinen Wagen schwungvoll auf die Fahrbahn, die man sich als Kradfahrer als Überholspur ausgedacht hatte. Diese brenzlige Situation ist nicht auf
die Stadt beschränkt, sondern findet sich auf dem
freien Land in allen möglichen Variationen wieder
Ob der Linksabbieger tatsächlich geblinkt hat oder
nicht, ist nach dem Crash zweitrangig. Auf jeden
Fall muss man als Motorradfahrer immer mit kurz entschlossenen Abbiegern rechnen, weshalb das Überholen von Autokolonnen stets mit einem gewissen
Risiko verbunden ist. Um brenzlige Situationen zu vermeiden, sollte die Geschwindigkeit beim Überholen der
Kolonnen sehr dezent gewählt sein. Sobald eine Möglichkeit zum Linksabbiegen in Sicht kommt, heißt
das Vorsicht, im Zweifel Überholverbot. Abbiegemöglichkeiten sind nicht nur offizielle Kreuzungen, sondern
auch Einfahrten zu Tankstellen oder Parkplätzen
Mitten im sanft dahinrollenden Verkehr fordert der
nette Autofahrer vor uns den entgegenkommenden
Fahrer zum Abbiegen auf. Womit der am rechten Rand
balancierende Motorradfahrer absolut nicht gerechnet
hat. Als Konsequenz müssen wir an solchen Passagen
alle Möglichkeiten des Querverkehrs in unser GefahrenRepertoire aufnehmen und als Folge den Gegenverkehr in unseren Blickpunkt rücken. Was angesichts der
immer höher und massiger werdenden Pkws nicht ganz
einfach ist. Tipp: Wenn das Auto, an dem wir rechts
vorbeirollen, langsamer wird, den Gegenverkehr
kontrollieren und entsprechend das Tempo drosseln
Der Rückwärtsausparker zwingt unseren Motorradfahrer zu einem harschen Ausweichmanöver. Natürlich
könnte man die Schuld an solchen Aktionen locker dem
Autofahrer zuschieben. Doch die enorme Verkehrsdichte und Unübersichtlichkeit in den Stadtgebieten
bringt auch aufmerksame Autofahrer zuweilen in die
Bredouille. Deshalb ist der Motorradfahrer gefordert,
muss sich konzentriert, mit viel Umsicht und Fantasie
auf alle möglichen Situationen vorbereiten. Auch auf
die unvermittelt aufspringende Autotür, aus der ihm
das kleine Mädchen vors Rad hüpft
56 MOTORRAD test + technik
20/2006
Vorsicht, Rutschgefahr. Auf den weißen Fahrbahnmarkierungen geht es bei trockenem Wetter noch ganz
flott ums Eck, bei Nässe dagegen ist der aufgebrachte
Kunststoff spiegelglatt. Das gilt auch für viel befahrene
Straßen, die insbesondere im Bereich der Kreuzungen
und Ampeln durch abtropfendes Öl bei Regen zum
Teil extrem rutschig werden. Und immer dran denken:
In der Stadt kommen die Reifen nie auf eine ordentliche
Temperatur, also fehlt es auch an Haftung
Der Motorradfahrer wird vom abrupten Abbiegen
des Autofahrers überrumpelt. Oft ohne Blinker oder
sonstige Anzeichen wechseln Autofahrer die Spur,
um zu wenden oder einfach auf eine andere Straße zu
gelangen. Solche Entscheidungen fallen häufig in Sekundenbruchteilen und werden dann ohne Blick in den
Rückspiegel, vor allem nicht in den rechten, umgesetzt.
Auch hier gilt: Jede Abbiegemöglichkeit nach rechts
ist eine potenzielle Gefahrenstelle. Außerdem nutzen
Fußgänger gern den langsam dahinfließenden Verkehr zum Überqueren der Fahrbahn und treten scheinbar urplötzlich hinter sichtversperrenden Lkw hervor
Was uns Motorradfahrern bleibt,
ist die Anpassung der Geschwindigkeit an die reale Verkehrswelt.
Wenn wir mit Tempo 30 auf eine Straße
einbiegen und auf Tacho-Tempo 60 km/h
beschleunigen, vergehen mit einem 85PS-Motorrad nur 1,3 Sekunden. In dieser
Zeit legen wir 13 Meter zurück. Ein Autofahrer, der an der Kreuzung steht, etwas
unsicher den Querverkehr beäugt und
dann loszuckelt, benötigt für seinen Startvorgang bis zu drei Sekunden. „Um Gottes
Willen, wo sind denn Sie hergekommen,
ich hab’ Sie gar nicht gesehen.“ Das ist
dann meist die völlig perplexe Reaktion,
wenn das Krad im Kotflügel steckt.
Schuld am Desaster ist nicht der als böse
und rücksichtslos verdächtigte Autolenker,
sondern die völlig unterschiedlichen Ansätze der mobilen Fortbewegung: Wir und
unsere Motorräder sind zu flink für diese
Welt. Zumindest für die Welt der eingedosten Stadtbummler, die sich im City-Verkehr
mit allem beschäftigen, nur nicht mit dem
heranbrausenden Zweirad.
www.motorradonline.de
Der Klassiker: Linksabbieger mit und ohne Blinker
queren die Fahrbahn. Jetzt heißt es reagieren. Entweder bremsen, was in jedem Fall eine Reduzierung
der Geschwindigkeit bedeutet und den womöglich unvermeidbaren Aufprall abschwächt. Oder doch besser
ausweichen? Dazu gehört eine ordentliche Portion
Fahrkönnen, weil sich ein Motorrad nur mit beherztem
Lenkimpuls um ein Hindernis herumzirkeln lässt.
Wer halbherzig zupackt, wird’s kaum schaffen. Die in
der Fahrschule gelehrte Kombination aus Bremsen
mit anschließendem Ausweichen ist im Ernstfall kaum
machbar und erfordert zudem eine gute Feinmotorik
Weshalb wir immer wieder in Notsituationen geraten. In denen muss in Sekundenbruchteilen die Entscheidung fallen:
voll in die Eisen oder Ausweichen. Beides
gleichzeitig lässt sich aus fahrphysikalischen Gründen nicht umsetzen. Wobei
innerorts bei Tempo 50 die Vollbremsung in
den meisten Fällen die bessere Lösung ist,
weil dabei auf jeden Fall die Geschwindigkeit reduziert wird, was bei einem Aufprall
entscheidend ist. Zudem sind die Bremswege aus niedrigeren Geschwindigkeiten
sehr kurz. Aus 50 km/h bringt ein sehr
guter Fahrer sein Motorrad nach zirka zehn
Metern zum Stehen (Verzögerung 9,6m/s2).
Bei 30 km/h genügen schon 3,6 Meter.
Weniger Geübte benötigen dazu kaum
länger (zwölf Meter aus 50 km/h und 4,3
Meter aus 30 km/h). Wer in solchen Situationen ein gutes ABS zur Verfügung hat,
gewinnt entscheidend an Metern, da er
mit geringster zeitlicher Verzögerung eine
maximale Bremsung auf den Asphalt legt.
Die in der Fahrschule praktizierte Kombination aus Bremsen und anschließendem
Ausweichmanöver wird erst ab 80 km/h
wirklich effizient. Und selbst dann ist der
Fahrer maximal gefordert. Christian Auernhammer, Ex-Rennfahrer und ADAC-Motorrad-Instruktor, hat erkannt, dass diese
Kombination nur im synthetischen Training
funktioniert. „In kaum mehr als zwei
Sekunden effektiv bremsen und sofort danach hart ausweichen, das schaffen allein
sehr talentierte Motorradfahrer.“
Kommt es doch zu dem Fall, dass der
beherzte Spurwechsel einen Aufprall verhindert, zum Beispiel bei einer plötzlich
geöffneten Autotüre, muss klar sein, dass
dieses Vorhaben nur gelingt, wenn der
Fahrer mit aller Macht blitzartig einen Lenkimpuls einbringt (siehe Serie Teil 1 und 2).
Nach den Aufzeichnungen des Datarecordings muss der MOTORRAD-Testprofi für
einen wirklich effizienten Spurwechsel von
drei Metern mit rund 30 Kilogramm am
Lenker zerren. Was dazu führt, dass die
Maschine bei solch harschem Schräglagenwechsel hinten wie vorn bis zum
Anschlag durchfedert. Beim Fahrversuch
mit einem wenig trainierten Kradler zeigte
sich, dass dieser lediglich die halbe Kraft
aufwendet, wodurch sich das Ausweichmanöver dramatisch verlängert. Der Grund
für die Zögerlichkeit: Man traut sich nicht
zu, das Motorrad derart brutal auf Kurs zu
bringen, weil solche Manöver im normalen
Fahrbetrieb höchst selten gefordert sind.
Weshalb sich auch beim Thema Fahren
in der Stadt unmissverständlich zeigt: Nur
wer sein Krad beherrscht und regelmäßig
trainiert, kommt ungeschoren zum Rendezvous mit seinem Engelchen.
Es wird Herbst. Und mit dem Herbst
kommt der Regen. Wie man auf nassen
Straßen sicher vorankommt, welcher
Fahrstil am besten zum rutschigen
Untergrund passt und welche Reifen
sich am besten schlagen, steht in
MOTORRAD Heft 22/2006.
MOTORRAD test + technik 57

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