Iles, Die Toten von Natchez (Bel.).indd

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D I E TOTEn VO N
N ATC H E Z
THR ILLER
Aus dem Amerikanischen
von Ulrike Seeberger
Die Originalausgabe unter dem Titel
The Bone Tree
erschien 2015 bei William Morrow, New York.
ISBN 978-3-352-00665-4
Rütten & Loening ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
1. Auflage 2016
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2016
Copyright © 2015 by Greg Iles
Published by Arrangement with HERO’S JOURNEY
MEDIA CORPORATION
Einbandgestaltung www.buerosued.de, München
Gesetzt aus der Bembo und der Schneidler durch Greiner & Reichel, Köln
Druck und Binden CPI books GmbH, Leck, Germany
Printed in Germany
www.aufbau-verlag.de
K APITEL 1
Heute Nacht haben mir der Tod und die Zeit ihr wahres Gesicht
gezeigt.
Ein Leben lang tappen wir blind durch das Schlachthoftor zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Dabei ist jede Sekunde
ein Ende: der Tod des einen Augenblicks, die Geburt des anderen
Augenblicks. Es gibt keinen nächsten Augenblick.
Es gibt nur das Jetzt.
Während uns der Rhythmus unseres Lebens gemessen erscheint,
werden wir in Wahrheit durch dieses Tor getrieben wie das Vieh:
voller Furcht, doch folgsam und empfindungslos. Sogar wenn wir
schlafen, wird das Jetzt zum Damals, so unerbittlich wie ein Fluss,
der über Jahrhunderte einen Felsen abträgt. Zellen verbrennen Sauerstoff, reparieren ihre Proteine, sterben ab und erneuern sich in
scheinbar endlosem Reigen. Tatsächlich beginnen all diese inneren
Uhren bereits im Mutterschoß abzulaufen, bis sie das letzte Chaos
erreichen.
Erst im Schatten des Todes spüren wir die wahre Geschwindigkeit
der Zeit – während das Adrenalin durch unsere Adern pulst, wird die
Ewigkeit greifbar, und alles andere verschwimmt im Hintergrund.
Erst dann scheinen sich paradoxerweise die Sekunden zu dehnen,
wird die Erfahrung überwirklich, vereinen sich Körper und Geist
in der Schlacht, in der es einfach nur darum geht, weiter zu atmen,
bei Bewusstsein und wach zu bleiben – weiter im rasch fließenden
Strom der Zeit zu treiben. Wenn wir die Bedrohung überleben, verblasst diese existentielle Erleuchtung schon bald wieder, denn lange
können wir sie nicht ertragen. Und doch bleibt irgendwo in uns eine
Trennlinie bestehen.
Zwischen Vorher und Nachher.
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Heute Abend hat sich die Zeit so verlangsamt, dass ich sie wie
Kupfer auf der Zunge schmecken konnte. Ich habe sie auf der Haut
gespürt – dicht und schwer –, wie sie sich jeder meiner Bewegungen entgegensetzte. Die Sterblichkeit, ein hellwaches, angespanntes
Raubtier, lauerte hinter meiner Schulter. An eine Wand aus Betonziegeln gekettet, habe ich zugesehen, wie ein Mann, der älter als
mein Vater ist, die Frau, die ich liebe, mit Feuer gefoltert hat. Da begriff ich, dass es die Hölle gibt. Die schreckliche Ironie war, dass ich
sie selbst herbeigeführt hatte. In meiner Arroganz hatte ich alle Ratschläge anderer missachtet, alles, was ich hatte, und mehr – das Leben
anderer Menschen – aufs Spiel gesetzt und versucht, meinen Vater zu
retten. In meiner Verzweiflung hatte ich alle Prinzipien, die er mir je
beigebracht hat, verworfen und in der Hoffnung auf einen Tauschhandel den Mächten der Finsternis meine Hand entgegengestreckt.
Und was habe ich im Austausch für meine Seele bekommen?
Eine Feuersäule, die brüllend in die Nacht aufsteigt. Einen Scheiterhaufen für drei, vielleicht noch mehr Männer, dessen Flammen
meilenweit im ganzen Delta von Louisiana zu sehen sind. Vielleicht
sogar bis Mississippi. Ganz in der Nähe im Osten schläft meine Stadt
auf dem hohen Gelände über dem Fluss. Doch hier ist aller Sinn,
alle Logik aufgehoben, während das Feuer die Toten verschlingt.
Zwei dieser Männer haben ihr Leben für Caitlin und mich geopfert: Henry Sexton, der Reporter, und Sleepy Johnston, der Musiker
und verlorene Sohn von Louisiana. Einer ein Weißer, der andere ein
Schwarzer. Verbündete aus Zufall oder vielleicht aus Schicksal. Jedenfalls sind sie nun beide für immer fort.
Durch die Tore des Schlachthofs gegangen.
Eine solche Brutalität wie die, die dem Tod der beiden vorausging,
hatte ich noch nie erlebt, auch nicht solchen Heldenmut, wie die
zwei ihn bei ihrem Opfergang an den Tag legten. Und doch schmecke ich jetzt nur noch Asche auf der Zunge. Vor drei Monaten habe
ich mich ähnlich gefühlt, als eine Flut biblischen Ausmaßes über
New Orleans hereinbrach, die einzige wirkliche Großstadt zwischen
dem Golf und Memphis. Drei Stunden südlich von hier sind heute
immer noch Teams in Chemikalienschutzanzügen damit beschäftigt,
Leichen aus schimmeligen Häusern zu zerren. Genau wie die heu-
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tige Katastrophe war auch diese von Menschen verursacht worden.
Habgier, Apathie, Hochmut – ja, sogar Loyalität – verlangen schließlich irgendwann ihren Preis. Stürme wird es immer geben, und die
Menschen werden immer unter dem Deckmantel irgendeines anderen Wortes Böses tun.
Wie wir darauf reagieren, das definiert uns.
Vor einigen Minuten habe ich in dem wahnsinnigen Irrglauben, unbesiegbar zu sein, Sleepy Johnston aus dem Inferno im Keller des
Hauses geschleppt, in dem dieses Feuer seinen Ursprung hatte. Während ich durch den Rauch und die Flammen taumelte, habe ich nicht
ein einziges Mal bezweifelt, dass ich es ans Tageslicht schaffen würde.
Ich trug einen Mann, der beinahe so schwer war wie ich, mit einer
solchen Leichtigkeit, als hätte ich meine elfjährige Tochter auf der
Schulter. Aber es war vergeblich. Zwei Minuten, nachdem ich ihn
auf den Boden gelegt hatte, starb Johnston an seinen Verletzungen.
Jetzt liegt er ein paar Meter hinter uns und starrt aus blinden Augen
zu den vom Rauch verhüllten Sternen hinauf.
Ich habe nicht gebetet, als sich Caitlin neben ihn kniete, um ihm
seinen Abschied zu erleichtern. Alles, was ich hätte sagen können,
wäre mir überflüssig erschienen. Denn wenn es einen Gott gibt, so
muss er solche Märtyrer in seine Arme schließen. Ich schaute schweigend zu, wie Caitlin das älteste Ritual der Welt vollzog, den Kopf des
älteren Mannes an ihrer Brust barg und ihm mütterliche Worte des
Trostes ins Ohr flüsterte. Ich berührte mein frisch vernarbtes Gesicht
mit der rechten Hand und krallte die Fingernägel meiner Linken in
die Handfläche. Schmerz ist der Beweis, dass man noch lebt.
Nachdem Johnston seinen letzten Atemzug getan hatte, tröstete
ich Caitlin, als hätte ich irgendwie Halt in der Wirklichkeit gefunden. Aber das war nur ein weiterer Irrglaube, obwohl ich das damals
nicht wusste.
Damals …?
Mit Schrecken wird mir klar, dass diese Ereignisse erst vor einer
Minute geschehen sind, wenn es überhaupt so lange her ist. Weiß ein
Mann, der unter Schock steht, das eigentlich?
Wahrscheinlich nicht.
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Wenn ich das Rad fünfzehn Minuten zurückdrehe, war dieses
Chaos aus Feuer und Rauch noch ein atemberaubendes Haus am
See. Jetzt wird sein Besitzer in den Ruinen seines Heims eingeäschert, und wir zwei Überlebende taumeln unseres Wegs. Da kehrt
die Wirklichkeit mit zerstörerischer Klarheit allmählich zu uns zurück. Wie die imaginäre Stimme eines Radiosprechers klingt es in
meinem Kopf: Brody Royal, der Multimillionär und Soziopath, ist gestern
Abend bei einem Feuer umgekommen, das er mit einem uralten Flammen‑
werfer selbst entfacht hat. Royal war nicht in der Lage, die Morde, die er vor
seinem Ableben noch begehen wollte, tatsächlich vollständig durchzuführen,
was auf das selbstmörderische Eingreifen eines Mannes zurückzuführen ist,
den er in den vergangenen zwanzig Jahren als harmlosen Irren lächerlich ge‑
macht hatte …
Plötzlich geht ein Zucken durch Brodys Haus, als wäre es ein riesiges Lebewesen, und dann fällt einer der Flügel krachend in sich zusammen. Die Hitze lässt einige Sekunden lang ein wenig nach, wird
dann plötzlich noch intensiver, als nährte sie sich von all dem Bösen
im Haus. Schon bald wird sie uns weiter wegtreiben, weiter fort von
Johnstons Leichnam.
Caitlin starrt auf die brennende Ruine, als könne sie noch immer nicht ganz fassen, was geschieht. Vor fünf Minuten glaubten wir
noch, dass wir beide dem Tod geweiht seien, doch hier stehen wir
nun. Sie ist mit Asche bedeckt und schweißüberströmt, die Brandwunde in ihrem Gesicht gleicht meiner. Ich möchte mit ihr reden,
aber ich traue es mir noch nicht zu.
Hinter ihr spiegelt die Oberfläche des Sees ein Bild der Flammensäule wider, und plötzlich überkommt mich die Furcht, als ich unsere
Zukunft darin erkenne. Wie die Feuersäule, der die Israeliten durch
die Wüste gefolgt sind, wird auch dieser Flammenturm Menschen
zu uns führen.
»Ist das eine Sirene?«, fragt Caitlin und schaut von den tobenden
Flammen zu dem schmalen Weg, der von der gleißenden Helligkeit
wegführt.
»Ich glaube ja.« Meine Ohren vernehmen das ferne Jaulen ein wenig später als ihre.
»Kommt da her«, sagt sie und deutet nach Westen, vom See weg.
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Ich starre in die Dunkelheit, kann aber durch das leuchtende
Orange und die überhitzt flirrende Luft keine Polizeilichter ausmachen.
»Was ist mit Henrys Unterlagen?«, fragt Caitlin. »Die sollte ich verstecken.«
Die verkohlte Kiste, die Caitlin aus dem brennenden Keller gerettet hat, steht ein paar Meter von Sleepy Johnstons Leichnam entfernt. Wenn man die Asche darin anschaut, kann von Henrys Notizbüchern nicht viel übrig sein.
»Hier kannst du sie nirgends verstecken«, sage ich zu ihr.
»Was ist mit dem Bootshaus«, fragt sie mit einer Spur Hysterie in
der Stimme.
»Das durchsuchen sie bestimmt. Es ist ohnehin zu spät. Ein Nachbar kommt.«
Das nächste Haus ist beinahe hundert Meter entfernt, aber wir sehen zwei Scheinwerfer, die von der Garage kommen und sich langsam auf die schmale Straße zu bewegen, die hier am See entlangführt.
Vielleicht hat die Sirene den Fahrer des Wagens endlich ermutigt,
sich das Feuer näher anzusehen. Er muss vorhin die Schüsse gehört haben,
überlege ich, sonst wäre er doch sicher schon viel früher gekommen.
Die Sirene wird nun schriller. »Das ist wahrscheinlich die Feuerwehr von Ferriday«, überlege ich laut. »Aber die Polizei wird auch
nicht lange auf sich warten lassen. Ich hoffe, dass es Sheriff Dennis ist,
aber es könnte auch das FBI oder die Staatspolizei sein. Die befragen uns vielleicht getrennt. Wir müssen unsere Geschichten abstimmen.«
Verwirrung zeichnet sich in Caitlins Augen ab. »Wir haben doch
beide das Gleiche durchgemacht, oder nicht?«
Ich nehme sie bei der Hand und bin verstört, weil sie sich so kalt
anfühlt. »Ich glaube nicht, dass es ganz so einfach ist.«
»Alles, was du im Keller von Brody Royal gemacht hast, war Notwehr. Die haben uns gefoltert, Herrgott!«
»Das meine ich nicht. Die schwierigen Fragen werden nicht damit
zu tun haben, was im Keller geschehen ist. Sie werden wissen wollen,
warum es passiert ist. Warum hat Royal uns entführt? Warum wollte er uns umbringen? Wir haben in den letzten paar Tagen viele In-
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formationen zurückgehalten.« Und nicht nur vor der Polizei, füge ich
in Gedanken hinzu.
»Was ist, wenn wir einfach sagen, dass wir es nicht wissen?«
»Damit kann ich leben, solange du nicht vorhast, irgendwelche Artikel im Examiner darüber zu veröffentlichen.«
Endlich dämmert es ihr. »Oh.«
Eine halbe Meile vom See entfernt tauchen die roten Lichter eines
Feuerwehrwagens zwischen den Bäumen auf, die den Damm säumen, sie biegen dann in die schmale Straße ein, die am Ufer vom
Lake Concordia vorbeiführt. Eine halbe Meile dahinter folgen rasch
drei Wagen, die im Konvoi fahren. Die Bögen ihrer rotierenden roten Lichter gleiten weit niedriger über die Straße, es sind also Streifenwagen. Schon bald werden wir keine Gelegenheit mehr haben,
unsere Geschichte abzusprechen.
»Ich habe Brody Royals Namen in Henry Sextons Tagebüchern
gefunden«, sagt Caitlin und denkt sich blitzschnell eine Geschichte
aus. »Das hat mich dazu gebracht, seine Tochter zu interviewen. Aus
Furcht vor ihrem Vater ist Katy in Panik geraten und hat eine Überdosis Tabletten geschluckt, ehe ich zu ihr gekommen bin. Aber sie
hat trotzdem noch berichtet, dass Brody an einer Unzahl von Morden beteiligt war. Katys Ehemann hat uns überrascht, nachdem sie in
Ohnmacht gefallen war – das haben sicher die Sanitäter so zu Protokoll gegeben, vielleicht sogar die Polizei. Bis dahin ist alles mehr
oder weniger wahr. Royal hat von Randall Regan erfahren, dass ich
Katy befragt hatte, und sie haben zurückgeschlagen, um mich daran
zu hindern, das zu veröffentlichen, was sie mir erzählt hat.«
Dieses Märchen würde vielleicht den Sheriff der Gemeinde Concordia überzeugen, das FBI aber wahrscheinlich nicht. »Zu viele
Leute haben mich gesehen, wie ich ins St. Catherine’s Hospital gegangen bin«, sage ich. »Sie wissen, dass ich zwanzig Minuten mit
Brody allein gesprochen habe. Jetzt da er tot ist, wird seine Familie
wahrscheinlich alle möglichen Anschuldigungen vorbringen, dass ich
ihn verfolgt hätte. Kaiser wird das früher oder später herauskriegen.«
»Du kannst das Gespräch doch sicher irgendwie erklären?«
»Ich kann auf keinen Fall zugeben, dass ich versucht habe, mit
ihm einen Deal zu machen.« Unter dem Druck der ständig näher
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kommenden Gesetzeshüter rasen meine Gedanken schnell zur dringendsten Aufgabe zurück. »Was ist, wenn ich da weitermache, wo du
aufgehört hast? Ich bin ins St. Catherine’s Hospital gegangen, um sicherzugehen, dass sich Royal nicht irgendwie an dir rächt, weil seine
Tochter einen Selbstmordversuch gemacht hat. Ich hatte vermutet,
dass er in den 1960er Jahren einige Morde angeordnet hatte, und
Katy hat dir das bestätigt. Ich hatte auch geglaubt, dass Royal den
Überfall auf Henry bei seiner Zeitungsredaktion und im Krankenhaus angeordnet hatte, und ich fürchtete, er würde dir auch so was
antun. Das klingt doch plausibel, oder?«
Caitlin nickt rasch, die Augen auf die rotierenden roten Lichter
gerichtet.
Ich trete näher zu ihr hin. »Wirst du den Polizisten erzählen, dass
du Katys Aussage aufgenommen hast?«
»Das kann ich ruhig, denn Brody hat beide Kopien verbrannt. Sie
werden ohnehin in der morgigen Zeitung davon lesen.«
Ich schließe die Augen und sehe vor mir, wie Caitlins Treo-Smartphone und mein geborgtes Diktafon von einer schrecklichen Feuerwolke aus dem Flammenwerfer verzehrt werden. »Du hast wirklich
nicht noch eine Kopie bei der Zeitung?«
Ihr verzweifelter Blick ist meine einzige Antwort.
Inzwischen hat der Löschzug die Einfahrt zu Royals Anwesen erreicht. Wir haben jetzt nur noch Sekunden.
»Was ist mit Brodys Geständnis?«, fragt Caitlin. »Dass er hinter
dem Tod von Pooky Wilson steckte? Dass Frank und Snake Knox
Pooky beim Knochenbaum umgebracht haben?«
»Davon erzählen wir den Polizisten alles. Jede Information rechtfertigt, was wir heute Abend getan haben.«
Caitlin wirkt seltsam zögerlich, was ich nicht verstehen kann.
Selbst wenn wir der Polizei von diesem Geständnis erzählen, kann
sie die Geschichte immer noch veröffentlichen, ehe irgendein anderes Medienportal die Informationen bekommt.
»Herrgott!«, sage ich. »Bis heute Abend war sich niemand absolut
sicher, dass es den Knochenbaum überhaupt gibt. Und Royal hat zugegeben, dass er an der Vergewaltigung von Viola Turner beteiligt
war. Das müssen wir ihnen erzählen.«
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Caitlin wirft mir einen durchdringenden Blick zu. »Brody hat uns
auch gesagt, dass dein Vater Viola umgebracht hat. Möchtest du das
der Polizei ebenfalls erzählen?«
»Natürlich nicht.«
»Also gut. Deswegen frage ich ja, was wir für uns behalten. Sonst
noch was?«
Ich kann ihren Blick nicht deuten. Wir haben einander in den
letzten zwei Tagen so viel vorenthalten, dass es schwerfällt, zu wissen,
wo unsere Geschichten voneinander abweichen werden, wenn man
sie vergleicht.
»Die Gewehre«, sage ich leise. »Diese beiden Gewehre in der Vitrine, die er uns gezeigt hat, ehe du ihm das Rasiermesser an den Hals
gehalten hast. Hast du die gesehen?«
»Ja, aber ich habe nicht wirklich drauf geachtet. Ich habe auf die
Gelegenheit gelauert, ihn anzugreifen.«
»Unter allen anderen Gewehren in der Sammlung waren Schildchen mit den Namen angebracht. Auf den Schildchen unter diesen
beiden Gewehren standen nur Datumsangaben. Jeweils ein Datum
und eine kleine amerikanische Flagge.«
Caitlin zuckte mit den Schultern. »Ja und?«
»Die Daten waren der 22. November 1963 und der 4. April 1968.«
Sie blinzelt ein paar Sekunden lang verwirrt, aber dann werden
ihre Augen kugelrund. »Niemals! Ich meine … glaubst du wirklich …?«
»Eigentlich nicht. Aber wenn wir Kaiser nicht davon erzählen,
verschwinden die Überreste dieser Gewehre garantiert noch heute
Nacht. Und dann finden wir es nie heraus.«
Caitlin berührt vorsichtig die Brandwunde an ihrer Wange. »Dann
hoffen wir mal, dass in einem dieser Streifenwagen Sheriff Dennis
sitzt und nicht die gottverdammte Staatspolizei. Nicht dieser Captain Ozan.«
Ich strecke die Hand aus und drücke ihr die Schulter. »Wer es auch
ist, stelle dich verwirrter, als du bist. Du stehst wirklich unter Schock,
aber übertreibe es noch ein bisschen. Wenn sie dich befragen, versuche bei der vergangenen Stunde zu bleiben. Sag, dass du völlig ausgelaugt bist, und übertreibe deine Verletzungen.«
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Caitlin scheint diesen Plan nicht zu billigen. »Ich will die Nacht
nicht in einem verdammten Krankenhaus verbringen. Das ist die
größte Story, an der ich je dran war. Ich habe null Komma null Zeit
zu verschwenden.«
»Ich weiß.« Ich trete auf sie zu und ziehe sie fest an mich. Vor einer
Stunde habe ich den größten Fehler meines Lebens gemacht, als ich
sie anflehte, Teile eines Artikels zurückzuhalten, weil ich versuchen
wollte, mit einem Killer einen Handel über das Leben meines Vaters abzuschließen. Ich habe kein Recht, mich in irgendetwas einzumischen, was sie jetzt macht. »Es tut mir leid, dass ich nicht auf dich
gehört habe. Du hast mir zu erklären versucht, dass so etwas wie das
heute Abend passieren würde. Meine Sorge um Dad hat mich blind
gemacht.«
Sie schüttelt an meiner Brust den Kopf. »Das warst nicht nur du.
Nachdem ich die Aussage von Katy aufgezeichnet hatte, wäre Brody
sowieso hinter uns her gewesen.«
»Aber er hätte nichts von der Aufnahme erfahren, wenn ich ihm
nicht davon erzählt hätte.«
Das ist fraglich, aber Caitlin weicht einen Schritt zurück und
schaut mir fest in die Augen. »Egal, was jetzt passiert, ich muss zur
Zeitung zurück. Bitte tu, was du kannst, um mir das zu ermöglichen.«
Der Feuerwehrwagen kommt zehn Meter von uns entfernt quietschend zum Stehen. Männer in Uniform springen heraus. Die Löschschläuche werden schneller entrollt, als ich das für möglich gehalten
hätte, aber diese Jungs haben keine Chance, das Feuer zu löschen.
Einer der Feuerwehrmänner rennt auf den Körper zu, der am Boden
liegt, und geht in die Knie, aber ich rufe ihm zu, dass der Mann tot ist.
»Was ist passiert?«, ruft ein anderer hinter mir. »Ist noch jemand
im Haus?«
Als ich mich umdrehe, sehe ich einen Feuerwehrmann mit einem
schwarzen Schutzhelm und feuerfestem Mantel. »Drei tote Männer.
Mehr weiß ich nicht. Die sind aber nicht im Feuer umgekommen.
Es hat eine Schießerei gegeben.«
»Schießerei? Im Haus von Mr. Royal?«
»Brody Royal ist einer der Toten.«
»O nein!«
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»Sein Schwiegersohn ist ein anderer. Der Dritte ist der Reporter
Henry Sexton.«
Der Feuerwehrmann schüttelt den Kopf, er kann immer noch
nicht fassen, was ich ihm erzähle. »Und das ist alles? Sonst niemand?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Niemand, für dessen Rettung ich
Menschenleben riskieren würde.«
Der Feuerwehrmann schaut mich an, als wäre ich nicht ganz bei
Trost.
»Sie haben uns gefoltert«, sage ich. »Ehe das Feuer ausgebrochen
ist.«
»Gefoltert?« Der Mann mustert mich. »He, Sie kenne ich doch. Sie
sind der Bürgermeister von Natchez. Penn Cage.«
»Stimmt.«
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«
»Na ja. Das ist Caitlin Masters, die Herausgeberin des Natchez
Examiner.«
»Wie zum Teufel ist es zu dem Brand gekommen?«
Die Antwort auf diese Frage ist etwas, das der Feuerwehrmann
mir nur schwer abnehmen wird. Ich will’s mal versuchen … Brody Roy‑
al machte sich gerade daran, Caitlins Arm mit einem Flammenwerfer zu
versengen. Ich war an die Wand gefesselt und zerfleischte mir in einem ver‑
zweifelten Befreiungsversuch die Hände. Da hat sich Henry Sexton trotz
seiner Verletzungen irgendwie auf die Beine gerappelt und Caitlin mit seinem
Körper abgeschirmt. Royal hatte vorgehabt, ihn auch zu verbrennen. Doch
dann hat sich der Reporter wie ein mittelalterlicher Märtyrer auf Royal ge‑
stürzt und seine Arme um ihn geworfen, ehe der alte Mann den Flammen‑
werfer auslösen konnte. Während wir anderen fassungslos zuschauten, be‑
tätigte Henry den Auslöser des Flammenwerfers und verbrannte sich und
Royal, entfesselte diesen Feuersturm, den keine noch so große Wassermenge
löschen würde …
»Herr Bürgermeister?«, sagt der Feuerwehrmann und packt mich
bei den Schultern. »Vielleicht sollten Sie sich hinsetzen, was?«
»Es war ein Flammenwerfer aus dem Zweiten Weltkrieg«, murmele ich. »Betankt mit Benzin und Teer.«
Der Mann schüttelt ungläubig den Kopf, winkt Hilfe her und
brüllt Befehle.
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Das Geräusch jaulender Motoren lässt mich zur Einfahrt herumwirbeln. Drei Streifenwagen der Polizei der Gemeinde Concordia
rasen hinter den Löschzug. Zwei parken dort, aber ein Chevy Tahoe
fährt um das Feuerwehrauto herum und bleibt erst drei Meter vor
mir stehen.
»Gott sei Dank«, flüstert mir Caitlin ins Ohr.
Sheriff Walker Dennis steigt aus dem Wagen und stapft auf uns zu.
Er ist Ende vierzig und hat den Körper eines leicht aus der Form geratenen Baseballstars aus der Minor League. Er wiegt über hundert
Kilo, und seine Unterarme würden jeden davon abhalten, bei einem
Wettbewerb im Armdrücken gegen ihn zu wetten. Er trägt die braune Uniform und den Stetson, als wäre er schon sein ganzes Erwachsenenleben Sheriff, aber in Wirklichkeit hat er den Job erst vor etwa
sechs Wochen übernommen, nachdem man seinen Vorgänger wegen
eines Korruptionsfalls, der die gesamte Polizeitruppe dezimierte, angeklagt hatte.
»Alles in Ordnung?«, brüllt Dennis. Er kommt mit Riesenschritten
her und packt mich beim Unterarm, als müsste er sich davon überzeugen, dass ich noch lebe.
»Ja, ja. Bei Caitlin auch.«
Der Sheriff schaut zum Feuer hinüber. Zwei Löschteams haben
ihre Schläuche auf die Flammen gerichtet, aber der größte Teil des
Hauses ist bereits verschwunden.
»Noch jemand drin?«, fragt Dennis.
»Royal und Regan, beide tot.«
»Scheiße. Die haben es nicht mehr rausgeschafft?«
»Nein.«
Der Sheriff wirft mir einen merkwürdigen Blick zu. »Sie haben sie
nicht rausbringen können?«
»Ich habe es nicht versucht, Walker. Sie haben uns beim Büro des
Examiner gekidnappt – vielmehr zwei Typen geschickt, die das für sie
gemacht haben. Sie haben Caitlin gerade gefoltert, um an Informationen zu kommen, als der Mann hier« – ich deute auf den Leichnam
von Sleepy Johnston – »mit Henry reingestürzt kam und uns gerettet
hat. Royal hatte da unten einen Flammenwerfer. Es ist ein Wunder,
dass wir lebendig rausgekommen sind.«
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»Henry ist auch tot«, sagt Caitlin.
Walker Dennis reibt sich die Stirn, als würde er gleich einen Migräneanfall bekommen. »Ich hätte Sie offensichtlich noch intensiver
über Brody Royal ausquetschen sollen.«
»Das hätte nichts geändert.«
Er nimmt eine Dose Kautabak aus der Brusttasche, öffnet sie mit
einer gewissen Dringlichkeit und stopft sich einen Pfriem unter die
Unterlippe. »Wer zum Teufel ist das?«, fragt er und deutet auf den
Toten auf der Erde.
»Sleepy Johnston. Sie kennen ihn besser als ›Gates Brown‹.«
Die Augen des Sheriffs weiten sich. Dennis kennt »Gates Brown«
als den Decknamen eines Mannes, der in den letzten paar Tagen immer wieder mal am Rande unserer Ermittlungen herumgespukt ist.
Er geht näher zu ihm hin und schaut in das Gesicht eines Siebenundsechzigjährigen, der als Junge in dieser Gegend lebte, dann nach
Detroit floh. »Das ist der Typ, der mir am Telefon gesagt hat, er hätte gesehen, wie Royal und Regan den Concordia Beacon abgefackelt
haben?«
Ich nicke.
»Wir müssen machen, dass wir hier so schnell wie möglich wegkommen. Die Staatspolizei könnte jeden Augenblick auftauchen, und
wir müssen noch ein paar Dinge klären, ehe Sie mit denen reden.«
Ich schaue zu Caitlin, die uns genau beobachtet. Ich nicke, denke wahrscheinlich das Gleiche wie sie und Dennis: Captain Alphonse
Ozan.
»In Ordnung«, sagt Dennis. »Dann fahren wir mal auf die Wache
zurück und nehmen Ihre Aussagen auf. Zumindest habe ich dann
ein Heimspiel, wenn die versuchen, mir diesen Fall wegzunehmen.«
»Was ist mit dem FBI?«
»Agent Kaiser hat mich angerufen, kurz bevor ich hier eingetroffen bin. Er hatte gerade erst von dem Brand gehört, aber er schien
noch nicht zu wissen, dass es sich um Brody Royals Haus handelt.«
»Ich wette, das weiß er inzwischen.«
Sheriff Dennis spuckt auf den Boden und beugt sich nah zu mir
her. »Wir haben hier ein Scheißspiel an der Backe, rein juristisch gesehen, und wir riskieren hier beide unseren Arsch.«
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»Ich weiß.«
»Sie fahren mit mir«, sagte er und zieht mich auf seinen Tahoe zu.
»Ms. Masters kann in dem Wagen hinter uns mitfahren.«
»Moment.« Ich reiße meinen Arm los. »Caitlin fährt mit uns.«
Walker schüttelt den Kopf. »Tut mir leid. Ich muss Sie beide trennen. Viele Augen sind auf uns gerichtet. Da muss ich mich an die
Regeln halten.«
»Sie kann doch sicher mit uns fahren. Sie können dann schwören,
dass wir uns unterwegs nicht unterhalten haben.«
Caitlin, die die Gefahr wittert, ist neben mich getreten und hat
meinen Arm ergriffen.
»Tut mir leid«, sagt Dennis mit fester Stimme. »Es muss sein.«
Ehe ich weiter diskutieren kann, beugt er sich wieder zu mir.
»Mein Schwager fährt das zweite Auto. Wenn Sie sie anrufen müssen, können Sie das tun. Das Blödeste, was wir jetzt machen können,
wäre, hier zu bleiben und uns zu streiten. Wollen Sie, dass Ozan Sie
verhaftet, weil Sie einen der reichsten Männer von Louisiana getötet
haben? Der in den letzten fünfzig Jahren mit jedem einzelnen Gouverneur befreundet war?«
»Ich fahre gern mit dem zweiten Wagen«, sagt Caitlin und schiebt
mich auf Dennis’ Auto zu. »Wir sollten keine Sekunde mehr verlieren. Ich will nur schnell Henrys Unterlagen holen.«
Walker wirft ihr einen dankbaren Blick zu, macht dann einem
Deputy, der bei einem der Streifenwagen hinter dem Löschzug
steht, ein Zeichen. Der Mann erreicht uns, als Caitlin mit ihrer Kiste kommt. Dennis stellt ihn als Grady Wells, seinen Schwager, vor.
Ich bitte Wells, sich um Caitlin zu kümmern, als wäre sie sein eigen
Fleisch und Blut, und er verspricht es mir.
»Wenn die Staatspolizei versucht, uns anzuhalten«, erklärt Walker,
»dann ignoriere sie einfach. Bleib nicht stehen, bis wir wieder im
Hauptquartier sind. Du nimmst nur von mir Befehle entgegen. Ignoriere auch den Funk, und wenn sie anfangen, dich mit ihrem Megafon anzubrüllen, kümmere dich nicht darum. Wir klären den ganzen
juristischen Scheiß, wenn wir wieder auf dem Revier sind.«
Wenige Augenblicke später werden sechs Autotüren zugeschlagen,
und unser kleiner Konvoi rast auf den Highway 84 und den Missis-
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sippi zu. Als ich mich umdrehe und durch das Rückfenster schaue,
sehe ich immer noch die Feuersäule über der riesigen Schwemmebene aufragen und der ganzen Welt das Unheil verkünden. Wenn
meine Mutter und meine Tochter hoch oben auf dem Felsen von
Natchez aus ihrem Fenster im zweiten Stock blicken würden, dann
würden sie die Flammen in der Ferne sehen. Als ich an meine Mutter
denke, fährt mit das scharfe Schwert des schlechten Gewissens und
der Wut zwischen die Rippen, und ich frage mich, ob sich auch mein
Vater in Sichtweite dieser Flammen aufhält.
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