Schweinehund - Wir spalten Dich!

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Schweinehund - Wir spalten Dich!
Auszug aus: Überfälle auf die Wirklichkeit, Hans Geißlinger, Heidelberg, Carl Auer 1999.
Schweinehund - Wir spalten Dich!
Wir schreiben den 5. Juni des Jahres 1991. An jenem merkwürdigen Tag fällt der
Aktienindex an der Hongkonger Börse um 8,2%. In Großbritannien entdeckt man,
inmitten einzelner Felder, eine weitere Reihe jener wie von Geisterhand gezeichneter
Kornkreise und in Alaska registrieren die Meteorologen einen für diese Region
überdurchschnittlich heißen Sommer. In Kreuzberg, jenem Berliner Stadtteil, in dem
die Nächte bekanntlich besonders lang sind, klettern in aller Herrgottsfrühe,
achtundvierzig Kinder und zwölf Erwachsene in einen Bus. Ferien sind angesagt,
Sommerferien.
N
ach vier Stunden Fahrt, knapp vor dem Ziel, unterbricht der Bus sein
einschläferndes Brummen. Der Motor beginnt zu ruckeln und zu stottern. Kurz
darauf lenkt der Fahrer sein Gefährt zum Straßenrand, bleibt stehen.
Getriebeschaden. Es ist Freitagmittag und keine Siedlung weit und breit.
„Bevor wir hier ewig Rumstehen“, schlägt ein Betreuer vor, „packen wir unsere Rucksäcke
und gehen zu Fuß.“
„Wie weit ist es denn noch nach Querenbach?“
„Zu Fuß? Eine... halbe Stunde vielleicht.“
Gesagt, getan. Sechzig Menschen machen sich mit leichtem Gepäck auf den Weg querfeldein, versteht sich. Der Rest der Sachen bleibt zurück, soll vom Fahrer später
nachgeliefert werden. Die Betreuer kennen die Richtung.
Nach vier Stunden Fußmarsch ist immer noch kein Ort in Sicht. Kindern und Betreuern wird
langsam mulmig. Die Kreuzungen, auf die sie am Weg stoßen, sind nicht mehr auf der
Landkarte verzeichnet. Die wenigen Bauern, denen sie begegnen, kennen kein Querenbach.
Es ist dunkel geworden, die Schar erschöpft, müde und hungrig. Der Rucksack wiegt
zentnerschwer. Daran ändert auch der Araber nichts, den sie irgendwo im Wald aufgegabelt
haben. Er heißt Mokka, führt eine Ziege mit sich und ist froh, sich jemandem in dieser
einsamen Gegend anschließen zu können.
„Da! Hier unten - schau...“, Ein Junge zeigt aufgeregt zwischen dichtes Buschwerk hindurch
auf ein vor ihnen liegendes Tal, "da wohnt wer!“ Tatsächlich. Dort unten, zwischen hohen
Bäumen versteckt, steht ein Haus - eine alte Mühle. Aus ihren Fenstern dringt schwaches,
mildes Licht. Ob man da übernachten könnte?
Eine Tür im gewöhnlichen Sinn scheint das Anwesen nicht zu haben. Die ganze Anlage
gleicht eher einer Burg. Die einzige Möglichkeit, sie zu betreten, stellt ein großes,
verschlossenes Eichentor dar.
„Hallo! Ist hier niemand?!“
Keine Antwort; dann schlürfende Schritte. Knarrend öffnet sich das Tor. In den schmalen
Spalt tritt ein Mann mit brauner Mönchskutte.
„Was?!! Übernachten wollt ihr hier??!! Da muss ich erst den Müller fragen,“ entgegnet er
abweisend „meinen Herrn.“ Hinter ihm fällt das Tor mit einem dumpfen Knall ins Schloss.
Zehn Minuten sind vergangen und von einem Müller keine Spur. Unruhig geworden und
leicht fröstelnd, gehen einige Kinder um das Anwesen herum, schauen heimlich durch ein
beleuchtetes Fenster und trauen ihren Augen nicht. Im matten Schein einer Petroleumlampe
sitzt, leicht gebeugt, ein alter weißhaariger Herr und zählt Geld, Unmengen von Geld. Ein
großer, hölzerner Tisch ist über und über mit Goldmünzen bedeckt; viele davon sind in kleine
Säckchen verpackt, die der Alte aus einer am Boden stehenden Truhe holt.
Hinter dem weißhaarigen Herrn steht der Mann mit der Kutte. Beide sprechen leise und lange
miteinander, dann verlässt letzterer das Zimmer, kehrt zum Tor zurück.
„Ausnahmsweise“, meint er zu den Kindern und zeigt mit dem Finger in die Richtung eines
großen, außerhalb des Anwesens stehenden Heuschobers, „ausnahmsweise, für eine Nacht.“
Es mag ja viele Arten von Schuppen geben. Aber als der Knecht die beiden Scheunentore
öffnet, präsentiert sich der erschöpften Schar eine Kathedrale von einem Heusschober. Von
den schweren, die gewaltige Decke stützenden Balken hängen lange, spinnwebenartige
Heubüschel, die sich lianengleich durch den gesamten Raum ziehen. Die Umgebung wirkt
unheimlich und irgendwie nicht ganz geheuer. Trotzdem. Besser, als draußen im Wald zu
übernachten. Kurze Zeit später sind alle Schlafsäcke über das Heu verteilt und das letzte
Getuschel verebbt.
I
n einer derart ungewohnten Umgebung schläft man nicht lange. Schon beim ersten
zaghaften Sonnenstrahl sind die meisten aufgewacht; der Magen knurrt, die Neugier
kitzelt. Schubertklänge ziehen über die Wiese und morgendliche Nebelschwaden. Und
inmitten dieser Szenerie, am Ufer eines Sees, sitzt der Müller. Vor ihm ein Tisch, der sich
unter Braten, Trüffel, Schinken, Weintrauben und Champagner biegt. Vorsichtig und noch
etwas ängstlich rücken die ersten Kinder näher, zischeln sich zu:
„Jetzt isst er Salami, weitersagen.“
„Jetzt ein Hühnchenbein.“
Doch der Müller scheint von den hungrigen Blicken der Kinder wenig beeindruckt.
„Wer nicht arbeitet“, brummt er und zeigt auf einen Stapel wirr durcheinander liegender
Holzscheite, „soll auch nicht essen.“
Und so beginnen sie zu arbeiten, zögern nicht lange, hacken Holz, füttern die Kühe, striegeln
das Pferd - ohne Fragen, ohne Murren. Endlich, gegen Mittag, bringt Nesto, der Knecht in der
Kutte, Brot und Milch. Doch für jeden nur ein kleines Stück und einen winzigen Schluck.
Gierig verschlingt die ausgehungerte Meute die knappen Brocken, dann wollen sie endlich
aufbrechen, zum Ferienlager nach Querenbach. Doch in welche Richtung?
„Querenbach?“, meint der Müller und legt seine Stirn in Falten, „Querenbach - kenne ich
nicht.“
„Wir haben Hunger“, schreien ihm die Kinder empört entgegen, „Hun- ger, Hun - ger, Hun ger!“
„Ihr habt doch alles...“, erwidert er mürrisch „...eine Unterkunft, Essen. Was wollt ihr mehr?
Schlaraffenland?! “
Einige kichern. Da schnippt der Alte mit dem Finger und zeigt in Richtung Wald.
„Meinetwegen. Holt es euch.“
Holt euch was?!!? Die Kinder schauen sich an, zögern. Dann rennen die ersten los. Kurz
danach dringt ein Freudengeschrei aus dem Wald, lässt die Letzten, immer noch unschlüssig
verharrenden, in die vom Müller gezeigte Richtung laufen. Tatsächlich! Unfassbar! Inmitten
einer Lichtung türmen sich Torten, Schnitzel und Pommes frites auf einer schier endlos
langen Tafel; Bratwürste, Schokolade und Früchte hängen von den Zweigen Schlaraffenland!
Über dem Festessen ist der Abend hereingebrochen. Zwei Jungs wären beinahe vor
Erschöpfung bei Tisch eingeschlafen. Jetzt liegen auch sie, wie die anderen, warm verpackt in
ihren Schlafsäcken im Heuschober. Draußen beginnt es dunkel zu werden. Ein leiser, lauer
Wind dringt flüsternd durch die Ritzen der Bretterwände. Einige tuscheln noch miteinander.
Da öffnet sich mit leisem Knarren das Tor. Der Müller tritt, mit einer Öllampe in der einen
und einer Pergamentrolle in der anderen Hand in den Kreis der Einschlafenden, setzt sich auf
einen Strohballen. Wortlos winkt er die Kinder zu sich.
„Auch ich“, beginnt er langsam zu erzählen, „war einmal da draußen.“ Er deutet in die
Richtung aus der die Gruppe tags zuvor gekommen war. „Doch das liegt lange zurück.“ Der
Müller stockt, schweigt, dann fährt er fort:
„Ja, ich bin reich, unermesslich reich. Aber dafür musste ich ihn auch unterzeichnen - den
verfluchten Pakt!“
Langsam und verbittert spricht der Müller. Wort für Wort zieht es aus ihm heraus, Satz für
Satz eröffnet er den noch schlaftrunkenen, völlig verdutzten Kindern das Geheimnis seines
Reichtums. Es ist mäuschenstill in der Scheune. Alle hängen sie, wie gebannt, an seinen
Lippen. Durch den Pakt sei er zwar reich, sein Dasein aber lieb- und freudlos geworden. Die
Mühle jemals wieder zu verlassen sei ihm untersagt, eine Rückkehr in sein altes Leben
unmöglich gemacht. Ja, er wisse noch nicht einmal, worin sein altes Leben eigentlich bestand.
„Und so warte ich hier,“ fährt der Alte fort, „auf jene klitzekleine Chance, diesem verfluchten
Pakt zu entkommen. Und diese Chance“, er hebt den Kopf, sein Blick trifft den der Kinder
„habe ich vielleicht - in euch.“ Er entrollt das Pergament, hebt, gleich einem Schwur, seine
rechte Hand. Die Worte des Alten bekommen jetzt etwas Getragenes, fast Feierliches:
„Fünf Finger hat die Hand, fünf Fallen das Glück. Euch allein wäre es möglich, diese Fallen
für mich zu lösen. Dafür müsstet ihr sie finden, dort draußen, in der Welt aus der ihr kommt.“
Für einen Moment zögert der Alte, dann setzt er erneut an: „Noch seid ihr vereinzelt, jeder für
sich. Um das zu schaffen, was vor euch liegt, müsstet ihr ein Rudel werden, eine
Gemeinschaft. Damit hättet ihr auch“, der Müller zeigt seinen Daumen „die erste der fünf
Fallen gelöst - die Einsamkeit. Die zweite“, jetzt hebt er den Zeigefinger, „wird in euch selbst
entstehen. Nur dort werdet ihr sie auch finden können: die Täuschung. Die Dritte Falle aber
könnt ihr nicht verfehlen. Wer Ohren hat zu hören und Augen hat zu sehen...: Es ist der
Größenwahn. Die Falle Nummer Vier bekommt man gleich einer Grippe. Sie ist keine
Eigenschaft, die man hat oder nicht. Nein, sie wird einem übertragen. Es ist die Langeweile.“
und jetzt hebt der Müller Ringfinger und kleinen Finger zusammen. „Ihr Überträger aber ist
die fünfte und gefährlichste aller Fallen: der Schweinehund.“
Keiner versteht, was der Alte damit meint, was das für Fallen sind, die ihn gefangen halten.
Die Einsamkeit überwinden, die Täuschung entdecken, gegen den Größenwahn kämpfen, die
Langeweile abschütteln und, als ob das nicht genug sei, ein Tier erledigen, das noch nie zuvor
jemand gesehen hat, den Schweinehund.
„Doch! Mein Papa kennt den Schweinehund“, greift ein Junge korrigierend ein „immer wenn
er mit dem Rauchen aufhören will, spricht er von ihm.“
Lange überlegt die Gruppe in dieser Nacht. Einige haben Angst, viele wollen helfen. Und so
entscheiden sie sich, nach intensiver und aufregender Debatte, für das wohl größte Abenteuer
ihrer Kindheit. Nesto, den Knecht, das Pferd samt Planwagen und ein großes Zelt will der
Müller für die weite, gefährliche Reise bereitstellen.
„Dein neuer Name?“
„Grille.“
„Auf dass die Erde die gesamte Musik der Grillen birgt. Dein neuer Name?“
„Blondhaar.“
„Auf dass die Erde deine Haare nie schwarz macht.“
Einer nach dem anderen geht, an Nesto vorbei, durch das Scheunentor hindurch ins Freie. Der
Knecht des Müllers malt jedem Kind mit seinem Zeigefinger einen schwarzen Strich aus Erde
auf die Stirn. Alle haben sie jetzt neue Namen, jeder durfte sich seinen aussuchen:
Regenwolke, Ehrliches Auge, Hexenbein, MC Hammer, Dracula, Witzboy, Alter Fritz...
Unendliche Wälder liegen vor ihnen, viele unbekannte Wege. Wo werden die Fallen zu finden
sein? Allzu lange soll ihre Lösung ja nicht dauern. Ferien sind schließlich die kostbarsten
Wochen im Jahr.
In Wäldern finden sich weder Geschäfte noch Supermärkte, Pilze sind rar und schwer zu
unterscheiden und wer isst schon gerne Baumrinde? Nestos Kontakte zur Unterwelt
ermöglichen die Versorgung mit Essen und Trinken. Mehrmals am Tag verschwindet der
Knecht, wie vom Boden verschluckt, um kurz darauf in Begleitung zweier zwielichtiger
Gestalten auf Motorrädern wieder zu erscheinen. Die beiden übergeben Lebensmittel,
springen auf ihre Maschinen und tauchen ab, in die Dunkelheit des Waldes.
Betreuer sein ist aller Regel nach kein Beruf. Was jemand ist und kann, zeigt sich erst bei
näherer Betrachtung. Endlos lange Tage in einem endlos großen Wald ergeben eine Menge
Gelegenheiten. Da ist beispielsweise Britta Gitter, die Frau mit dem grauen Trainingsanzug
und den Handschellen am Gürtel. Die Vorliebe der ehemaligen Gefängniswärterin,
Zellentüren von Insassen, in die sie sich hoffnungslos verliebte, einfach offen stehen zu
lassen, war der Grund für ihre vorzeitige Entlassung. Jetzt arbeitet sie als Betreuerin und
Fachfrau
für
Kuppelei.
Ihre
Spezialität:
der
Gittersche
Liebestest
-
ein
Heiratsfähigkeitsermittlungsverfahren. Zwei Liebende werden drei Stunden lang mit
Handschellen aneinandergekettet. Haben sie sich danach immer noch lieb, steht ihrer
Hochzeit nichts mehr im Wege. So erklärt es sich, dass innerhalb der Gruppe stets ein
Pärchen in Handschellen marschiert. Die Anmeldeliste für diesen Test ist schon nach kurzer
Zeit hoffnungslos überfüllt.
Drei Tage und drei Nächte ist die Schar nun schon unterwegs. Und immer nur Wald, Wald,
Wald. Um Nestos Hals hängen, an einer Schnur, zwei Eisenzähne. Würden sie sich drehen,
wäre dies, so Nesto, ein untrügliches Zeichen dafür, dass die erste Falle gelöst ist. Doch nichts
bewegt sich. Gegen Mittag bricht die Achse des Wagens. Unter glühender Sonne wird sie
wieder behelfsmäßig zusammengeflickt. Dann erneuter Aufbruch, der Zeitverlust soll
wettgemacht werden. Am vierten Tag verweigert das Pferd nach stundenlangem Ziehen,
angesichts eines tiefen, breiten Grabens, seinen Dienst. Viele sind am Ende, können kaum
mehr vor Erschöpfung. Doch Jammern nützt nichts. Der Wagen muss abgeladen, Schlafsäcke,
Isomatten, Zeltstangen über den Graben auf die andere Seite transportiert werden. Alle bilden
eine Kette, dann spannen sich die Kinder selbst vor das leergeräumte Gefährt, ziehen es mit
Hilfe eines langen Taues, unter Aufbietung aller Kräfte, Meter für Meter, den Graben
hindurch und den sich unmittelbar daran anschließenden steilen Hang hoch. Die meisten
zittern vor Erschöpfung, einigen rinnen die Tränen über die Wangen. Doch trotzalledem: sie
haben es geschafft!
In diesem Augenblick, viele liegen atemlos am Boden, strecken alle Viere von sich, beginnen
die Eisenzähne von Nesto sich zu bewegen. Zunächst nur unmerklich, dann immer deutlicher.
„Sie drehen sich!“
Wie ein Lauffeuer geht die Nachricht durch die Reihen der erschöpften Schar und verändert
die Situation auf einen Schlag. Alle Müdigkeit ist wie weggeblasen. Die Kinder liegen sich
vor Freude in den Armen, kullern gemeinsam über das weiche Moos des Waldbodens.
„Geschafft!“ schreit es aus vielen Mündern gleichzeitig „Geschafft! Wir sind ein Rudel!“
„Wenn nicht jeder und jede bis zum Umfallen an diesem Seil gezogen hätte, wären wir nie
über den Graben gekommen!“ Nesto lässt sich vor Freude rückwärts ins Moos fallen „Ich
werd´ verrückt!“
Nach einer knappen Stunde wohlverdienter Pause macht sich der Zug erneut auf den Weg.
Noch am gleichen Tag, kurz vor Eintritt der Dunkelheit, beginnt sich der endlose, sie seit vier
Tagen umschließende Wald zu öffnen: Freies Feld in Sicht!
D
och um welchen Preis?! Eine einzige Falle ist gelöst - eine, von fünf. Als kurz
darauf das Rudel einen Wegweiser nach Querenbach entdeckt, gibt es auf; geht,
erschöpft und müde, dorthin, wohin es schon immer wollte - ins Ferienlager. Die
Verlockung ist zu groß; der Müller und die Fallen vergessen. Man will Ballspielen, faulenzen,
sich erholen. Soll Nesto doch die restlichen vier Fallen alleine lösen.
„Es ist einfach besser“, meint der Alte Fritz, „wir wollten am Anfang ja auch nach
Querenbach. Schließlich haben wir ja für Querenbach bezahlt, und nicht für den Wald.“
„Hier kann man spielen und so“, erklärt Goliath „und was weiß ich noch alles machen.“
Doch vorerst geht es mehr um die Erfüllung grundlegenderer Bedürfnisse: gutes Essen,
anständige Betten, warme Duschen... Am nächsten Tag ergänzt der Alte Fritz seine
Lageeinschätzung bereits mit dem hoffnungsvollen Satz:
„Eigentlich müsste es noch besser werden.“
Warum „noch besser“? Nun, weil der Mensch nicht vom Brot alleine lebt, schon gar nicht
Kinder. Was tut man an einem Ort, der zwar viele Bequemlichkeiten bietet, aber nichts von
alledem, was das Leben würzt, es aufregend, interessant und prickelnd macht? Ganz einfach,
man schafft sich die fehlende Spannung selbst. All das, was bis jetzt keinen richtigen Raum
hatte sich entwickeln zu können, kommt jetzt so recht zur Entfaltung: Pöbeleien, Prügeleien,
Diebstähle...
Erweist sich Querenbach zunächst als das, was es in der Phantasie der Kinder stets war, das
Paradies schlechthin, verwandelt es sich, mit zunehmender Länge des Aufenthaltes, in sein
Gegenteil. Absperrbänder durchziehen die Spielwiese. Um acht Uhr muss ins Bett gegangen
werden und im Freien schlafen ist verboten. Kein Gitterscher Liebestest, keine Hochzeiten.
Im Grunde genommen ist nahezu alles, was Spaß macht, entweder verboten oder irgendwie
verloren gegangen.
Auf die Frage, was er denn gemacht habe, fällt Goliath am Abend des dritten Tages zunächst
gar nichts ein und dann: „Witze erzählt.“ Danach überlegt er und ergänzt: „Im Wald war´s
schöner.“
So geht es inzwischen vielen. Die Eisenzähne, der Spähertrupp des Rudels, beginnen die
Umgebung zu durchforsten. Vielleicht finden sich ja Hinweise auf die nächsten Fallen, dann
hätte man wenigstens einen Grund endlich wieder von hier loszukommen.
„Schließlich“, meint Witzboy, völlig entgegengesetzt zu seiner vor drei Tagen geäußerten
Meinung „haben wir es dem Müller doch versprochen - oder?!“
Auch Regenwolke will los, Ehrliches Auge dagegen weiß noch nicht so recht. „Und das...“,
kommentiert Regenwolke das Verhalten ihrer Freundin „finde ich nicht o.k.“
Weg zu wollen ist eine Sache, aber wohin? So sehr die Eisenzähne auch suchen, es findet sich
nichts, kein einziger Hinweis auf die nächste Falle.
Am Nachmittag des vierten Tages, als überhaupt niemand mehr weiß wie es weitergehen soll,
kommt dem Alten Fritz urplötzlich eine Idee:
„Wenn etwas, das man sich ganz toll vorstellt in Wirklichkeit gar nicht so ist, nennt man das
dann nicht eine Täuschung?!“ Ist Querenbach die Täuschung?
„Ja!“ schreit Witzboy, „Die Falle Nummer Zwei. Der Müller hat doch auch gesagt sie liegt in
uns. Wer hat sich denn getäuscht?!“
Kurz darauf ist der gesamte Tross reisefertig. Die Falle ist gefunden und ihre Lösung liegt
klar auf der Hand: weiterziehen.
„Größenwaal“, meint Dracula, „der Müller hat Größen w a a l gesagt!“
„Quatsch“, verbessert der Alte Fritz „Größen w a h n!“
Aber auch wenn er recht hat, was nützt es. Niemand weiß, was das sein soll, ein Größenwahn.
„Irgendwas mit groß“, meint Regenwolke „vielleicht etwas, das größer aussieht als es sein
soll, oder umgekehrt?“
Mokka, der Araber hat eine Vermutung: Auf seinen großen, ausgedehnten Reisen ist er vor
nicht allzu langer Zeit durch ein Dorf gekommen, das sich um die Olympischen Spiele im
Jahr 2000 beworben hat. Mokka hat nicht weiter nachgefragt.
„Alles komische Leute dort“, meint er „die haben sich auch an anderen, eigenartigen
Wettbewerben beteiligt wie Unser Dorf soll schöner werden und so. Größenwahnsinnige
eben.“
Doch, wie in aller Welt, sollte man die finden?
„Irgendwo in der Nähe hier,“ meint Mokka, „aber wo genau, keine Ahnung.“
Die Ortschaften der Umgebung liegen friedlich und verträumt. Da entdecken die Eisenzähne
auf einem ihrer Erkundigungsgänge, acht Kilometer entfernt, eine erste verdächtige Spur im
Schaufenster eines Bäckerladens: Brezeln in Form Olympischer Ringe. Zufall? Weitere
Erkundigungen werden eingezogen: Die örtliche Schule umgibt ein riesiger Sportplatz und
über dem Eingang der Turnhalle sind Olympische Ringe aus Glasbausteinen angebracht. Ein
Golfplatz ist im Bau. Die Kinder erkunden vorsichtig, verschweigen den Einheimischen den
wahren Grund ihrer Ermittlungen.
„Wollen Sie denn noch weitere Sportanlagen bauen?! fragt Dracula die Dame hinter dem
Schalter im Rathaus.
„Aber natürlich“, meint diese „auch der Golfplatz soll im nächsten Jahr noch erweitert
werden. In fünf bis zehn Jahren ist es hier mit der Ruhe vorbei.“
Weitere Indizien kommen hinzu: Noch nie wurden soviel Rasenmäher gezählt, noch nie
soviel Fußball- und Sportplätze registriert. Auch ein in einer kleinen Gasse verborgenes
Fitness-Studio wird entdeckt.
„In der Kirche“ erzählt Ehrliches Auge „haben sie auf die Decke einen Engel mit einem
Lorbeerkranz in der Hand gemalt; darunter die Zahl 1722. So ein Kranz bedeutet doch Sieg.
Die haben also schon vor über zweihundert Jahren die Idee gehabt.“
„Und das“ ergänzt Witzboy kopfschüttelnd „bei gerademal zwölf Parkplätzen zusammengenommen. Die spinnen doch oder?! Die sind total wahnsinnig geworden.“
Noch am gleichen Tag zieht das Rudel mit Sack und Pack in die Nähe des Dorfes, um dort
sein Basislager aufzuschlagen. Von hier aus soll der Angriff auf den Größenwahn gestartet
werden.
Noch vor dem Frühstück hat Mokka, der Araber, eine Vielzahl geheimnisvoller Kräuter im
nahe gelegenen Wald gesammelt. Jetzt, während die anderen langsam ihre Köpfe aus den
Schlafsäcken schieben und der morgendlichen Sonne entgegenblinzeln, verkocht er sie zu
einem duftenden Gebräu.
„Was soll das denn werden, eine Gemüsesuppe?“
„Nein...“, meint Mokka, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, „ein Enttäuschungsserum.“
Ein Dorf, das sich darum bewirbt, Olympiaaustragungsort im Jahr 2000 zu werden, bildet sich
natürlich auch ein, die meisten Medaillen dann selbst zu ergattern. Die Olympiasportler im
Jahr 2000 aber sind die Zehn- bis Vierzehnjährigen von heute und die befinden sich an einem
normalen Werktag Vormittag in der Schule. Genau dort nimmt der Kampf gegen den
Größenwahn seinen Anfang. Das Rudel greift an - mit einem Olympiatest im Schulhof: Wie
reif sind Sie für Olympia? Überzeugen Sie sich selbst! Gewichtheben, Laufen, Kopf unter
Wasser halten...
Vor dem Start der Großveranstaltung hat Mokka alle Olympiabrezeln vom Bäcker aufgekauft
und sie, vermittels einer Spritze, mit einer gewaltigen Dosis des selbstgebrauten
Enttäuschungsserums
versetzt.
Jetzt
sitzt
er
mit
seiner
Truppe
ausgebildeter
Kräuterspezialisten am Rande des Spektakels und verteilt die als Brezeln getarnte heimliche
Schluckimpfung an Lehrpersonal und Schüler.
Dann wird dem Größenwahn der Erwachsenenwelt zu Leibe gerückt: ein Tanzspektakel: Zwei
Tage braucht das Rudel zur Vorbereitung. Es behandelt die Geburt der Olympischen Idee,
vom tödlichen Zweikampf, über den Marathonlauf, der Verkündung des Sieges, bis hin zur
„Disziplinierung“, der Entstehung klassischer Disziplinen - Kugelstoßen, Speerwerfen,
Gewichtheben, Diskus... Am Ende der Aufführung wird das Olympische Feuer in den
Himmel geblasen, verlischt, und während alle Beteiligten tot zu Boden sinken, erklingt das
Gebimmel von Dorfglocken. Wer das nicht begreift, dem ist nicht mehr zu helfen!
Mokka, typisch Araber, will absolut sicher gehen und verteilt auch hier nach jeder
Aufführung seine verbrezelte Schluckimpfung.
Gegen Abend gibt es keinen einzigen Dorfbewohner mehr, der die Vorstellung nicht gesehen
hätte und keinen Bauernhof, in dem nicht wenigstens eine Olympiabrezel von Mund zu Mund
gegangen wäre. Die Folgen dieser ideellen und materiellen Einverleibung von geballter „Enttäuschung“ sind durch keine Macht der Welt mehr aufzuhalten.
Noch am gleichen Abend wird das Unvorstellbare wirklich. Ein Angestellter der
Stadtverwaltung bittet die Kinder ins Rathaus, wo ihnen der Bürgermeister einen versiegelten
Brief überreicht: Das Dorf kapituliert!
Aus Dank für die Befreiung vom Größenwahn löst die Gemeinde ihr bereits im Bau
befindliches Olympiadorf auf und überreicht es den Befreiern: zwölf nagelneue Zelte, pinkschwarz, Modell „Beckenbauer de lux“. Darüber hinaus werden alle zu einem Gala-Empfang
in die hiesige Gaststätte zum ‘Grünen Baum’ geladen. Die Feier dauert bis tief in die Nacht.
N
och ist der Weg nicht zu Ende. Zwei weitere, gefährliche Fallen harren ihrer
Lösung. Zunächst die Falle vier, die Langeweile. Wo könnte sie zu finden sein? In
einem selbst, im Wald oder wo sonst? Die größten Langeweiler der Gruppe,
Spezialisten auf ihrem Gebiet, übernehmen die Führung. Das Rudel stößt auf Felder voll
Spinnweben, Schnecken und anderer Indizien, die möglicherweise auf Verlangsamung Langeweile - schließen lassen. Die Spuren werden aufgenommen und verfolgt. Bei einem
Einsiedlerhof verdichtet sich das Ganze. Schleim kommt hinzu.
An einem Telegraphenmast entdecken vier Mädchen zwei kleine Emallieschildchen mit den
Nummern vier und fünf. Eine davon, die Nummer vier, ist schon halb heruntergefallen.
Gehören die beiden Fallen, vier und fünf, zusammen, gehört die Langeweile zum
Schweinehund?
Bei der Untersuchung des Schleims kommt Britta Gitter versehentlich damit in Berührung.
Kurz darauf verlangsamen sich ihre Bewegungen bis zum Stillstand. Erst das Abwaschen der
betroffenen Stellen mit Wasser bringt ihrem Körper die Lebendigkeit wieder zurück.
Anschließende, genauere Untersuchungen ergeben, dass es sich bei dem Schleim um einen
tierischen Auswurf handeln muss. Dem des Schweinehunds?
Am nächsten Tag, das Rudel kehrt von einem Erkundigungsgang zurück, bricht Panik aus.
Alle Zelte, die Kleidung, das gesamte achtlos herumliegende Material ist mit einer
schleimigen Flüssigkeit überzogen. Der Schweinehund war da - mitten im Lager! Viele haben
Angst. Es muss etwas unternommen werden, so schnell wie möglich!
„Ein Schweinehund“, hatte der Müller gesagt „ tanzt wie ein Bär. Gelingt es, diese Falle zu
lösen, wird euch ein Teil davon nach Querenbach zurückführen.“
Ein Teil? Besteht denn ein Schweinehund aus Teilen?
„Natürlich“, wirft Ehrliches Auge ein, „aus einem Schwein und einem Hund!“
„Und wie teilt man die???“
Plan zur Spaltung des Schweinehundes
1. Bau einer Schweinehundfalle: 6m lang, 5m breit, 3m hoch.
2. Bewaffnung der Gruppe mit Trommeln.
3. Eröffnung des Trommelfeuers: Treibjagd!
4. Der Schweinehund wird in die Falle getrieben, beginnt zu den Trommeln zu
tanzen, dreht sich um seine eigene Achse.
5. Das Trommelfeuer wird beschleunigt, der Rhythmus gesteigert. Als Folge davon
nimmt die Drehgeschwindigkeit de Schweinehundes zu.
6. Das Tier zerreißt, durch die sich auf diese weise ständig vergrößernde
Zentrifugalkraft, in zwei Teile: Schwein und Hund.
Lilly Brand ist Fachfrau für Feuer & Flamme und damit zuständig für Einfeuern, Verfeuern,
Abfeuern, Anfeuern, Rausfeuern, aber auch für jenes Feuer das man anderen unter den
Hintern zu legen pflegt und, in diesem Fall, für das Aufstellen eines TrommelfeuerBataillons. Alles was klingt und kracht, hohle Stämme, Plastikeimer, Kochtöpfe, Öltonnen
werden zusammengetragen, die besten und lautesten Instrumente auf den Wagen geladen.
Dann bricht das Rudel auf. Lautlos ziehen die Jäger in die hereinbrechende Nacht. Einziger
Hinweis, der zum möglichen Aufenthaltsort des Schweinehundes führen könnte, ist eine in
größeren Abständen auf dem Waldboden auftauchende Spur aus Schleim.
Noch klingen jedem die Worte des Müllers im Ohr: Vor dem Schweinehund ist nur der
Schlafende sicher. Die Wachen aber befällt er, je näher er ihm kommt. Auch ein
Schweinehund muss schlafen und das macht er aller Regel nach, wenn es Mensch und Tier
auch tun, d.h. bei Dunkelheit. Ein professioneller Schweinehundjäger stellt also die Zeit auf
den Kopf, vertauscht Tag und Nacht; tagsüber wird geschlafen, nachts gejagt.
Gegen vier Uhr morgens schiebt sich das erste Sonnenlicht zaghaft durch den nächtlichen,
nach wolkenverhangenem Himmel und mit ihm verschwinden die erschöpften Körper der
Jäger in ihren Schlafsäcken. Nur die Eisenzähne, der Trupp, der sich den Bau der großen Falle
zur Aufgabe gemacht hat, arbeitet noch bis in den frühen Morgen hinein.
Weithin sichtbar, auf der Spitze eines kleinen Hügels steht ein halbverfallener Schuppen.
Seine Stirnseite bildet eine gewaltige Wand aus alten, zusammengenagelten Brettern. Schnell
ist eine provisorische Leiter gezimmert. Und so, wie es die Jäger vor tausenden von Jahren
machten, wenn sie das zu erjagende Wild auf die Wände ihrer Felsenhöhlen malten, um
dessen Seele zu besänftigen, beginnen die besten Zeichner des Rudels den Schweinehund mit
weißer Kreide, riesig und furchterrregend, auf jene Holzwand zu bannen.
Als die Sonne gegen Mittag ihren Zenit erreicht, ist die Falle gebaut, das Bild fertig gestellt
und die letzten Aktivisten des Rudels sind, an schattigen Plätzen verkrochen, in den
verdienten Schlaf gefallen.
Erst gegen Spätnachmittag regen sie sich wieder, entschlüpfen mit ihren von den Strapazen
der letzten Nacht noch zerschundenen Gliedern, den Schlafsäcken. Die Schleimspur, die letzte
Nacht aufgenommen und verfolgt wurde, ist noch frisch - verdammt frisch. So weit entfernt
kann der Schweinehund nicht mehr sein.
„Schweinehunde stellt man am besten in der Zeit zwischen der schon eingetretenen Stille der
Vögel und der noch nicht eingetretenen Dunkelheit der Nacht.“ - auch ein Satz des Müllers.
Bis dahin muss sich das Rudel soweit wie möglich an das Tier herangearbeitet haben. Eile ist
geboten. Je weiter man in den Wald eindringt, umso frischer wird die Spur.
Längst hat die Nacht die Landschaft in Dunkelheit gebettet. Schwaches, fahles Mondlicht fällt
durch die Wipfel des Hochwaldes und lässt die nähere Umgebung in vagen Umrissen
hervortreten. Hin und wieder geben die Spurensucher Zeichen zum Anhalten. Die
Schweinehundfährte riecht intensiv und streng. Bei einigen kommt mulmiges Gefühl auf.
Bloß nicht über das Tier stolpern, vielleicht schläft es noch.
Plötzlich taucht er auf, hundert Meter entfernt, schattenhaft im Unterholz - der Schweinehund.
Diejenigen die vorne bei den Spurensuchern sind, können ihn genau erkennen, arbeiten sich
vorsichtig näher. Andere riechen ihn. Er ist auf Sichtweite.
„Trommeln raus!“ Lilly Brand gibt das Kommando für das Trommelbataillon: „Feuer frei!“
Ein ohrenbetäubender Lärm zerreißt die Stille des Waldes. Trommel-Feuer. Treibjagd. Das
Tier wird aus dem Dickicht gescheucht, vor dem Rudel hergetrieben, umzingelt, in die Falle
gedrängt... Der Lärm steigert sich, schnelleres Trommeln. Jetzt richtet sich der riesige Körper
auf, beginnt sich zu drehen. Er tanzt! Je rasender der Rhythmus, umso rasender wirbelt der
Körper des Schweinehundes um die eigene Achse. Strauchwerk, Äste, ja Bäume zersplittern.
Das Tier tanzt und tanzt, gepeitscht vom Trommeln des Perkussionsorchesters. Da, die Falle
glüht! Wie ein Blitz in Zeitlupe, eine in zwei, drei Sekunden sich bis zu den Wipfeln der
Bäume emporzüngelnde, karminrote Flamme. Dann Stille. Entsetzliche Stille!
Als sich die Jäger, unendlich vorsichtig, der Falle zu nähern beginnen, finden sie in ihrem
Inneren einen noch lebenden, unversehrten Hund. Daneben, in der gegenüberliegenden Ecke
liegt der andere Teil des Tieres; tot, von der Hitze der Drehung beinahe verkohlt - ein
Schwein. Es ist noch warm und bei genauerer Betrachtung eher als gebraten zu bezeichnen.
Also entschließt sich das Rudel diese, noch warme Hälfte des Schweinehundes auf der Stelle
zu verspeisen. Der Hund aber wird an die Leine gelegt. Schließlich soll ja, laut Angabe des
Müllers, ein Teil des Schweinehundes den Weg nach Querenbach weisen.
Ein Pferd mit Wagen, eine Ziege, zwölf Erwachsene, fünfzig Kinder und allen voran ein
Hund. Bergauf, bergab, durch Felder und Wiesen, und hin und wieder auch ein Stück Straße
entlang. Stunde um Stunde Der Hund bestimmt die Richtung und die Gruppe hat Mühe mit
seiner Geschwindigkeit Schritt zu halten.
„Vielleicht ist das Tier ja bei der Spaltung meschugge geworden.“ Dem Alten Fritz kommt
das Ganze spanisch vor. Schließlich sind sie seit sechs Stunden unterwegs, ohne große
Pausen, die Dämmerung setzt ein und der Hund zieht immer noch.
„Seht doch! Dort!“ Ein Mädchen zeigt zu einem größeren hellen Punkt in der Ferne: „Feuer!“
Tatsächlich. Da der Hund in die gleiche Richtung zieht und man ihm folgt, nähert sich das
Rudel zwei Stunden später einem riesigen Lagerfeuer, dessen Flammen baumhoch in den
Nachthimmel lodern. Daneben stehen lange, gedeckte Tafeln mit Essen und Trinken in Hülle
und Fülle - und keine Menschenseele in Sicht.
„Hallo! Ist da jemand?“
Keine Antwort. Wer hat das Feuer entzündet? Für wen sind die Tafeln gedeckt? Der Hund
liegt ausgestreckt im Gras, hat aufgehört an der Leine zu ziehen. Irgendetwas stimmt hier
nicht. Die hohen Birken um das Feuer, der alte Schuppen dort hinten, alles erscheint
irgendwie bekannt. Regenwolke bemerkt es als erste: „Natürlich! Wir sind in Querenbach!“
Doch für wen ist das Essen bestimmt? Im Hin und Her dieser Frage siegt der Hunger. Kaum,
dass die ersten zögernd zugreifen, stürzen sich schon alle anderen hinterher. Eine Schlacht
ums Büfett. Schließlich gibt es was zu feiern - und ob!
Irgendwann, zwischen Mitternacht und Morgengrauen kriechen die Letzten in ihre
Schlafsäcke. Zwei Jungs schütten noch Sand über die vor sich hin glimmende Glut und
keiner, keiner ahnt, dass der nächste Morgen noch einmal alles auf den Kopf stellen wird.
„Hey, Leute, das geht entschieden zu weit hier!“
Völlig übermüdet versuchen einige Kinder, unter Aufbietung aller Kräfte, ihre Augen zu
öffnen.
„Was ist denn los?“
„Jetzt aber hopp und raus aus den Schlafsäcken. Ich läute hier schon seit zehn Minuten zum
Frühstück und die Herrschaften liegen gemütlich im Freien rum!“
Wer es geschafft hat, mit halboffenen Augen dem Sonnenlicht entgegenzublinzeln, wird nun
schlagartig wach. Derjenige, der sich hier den noch schlaftrunkenen Augen präsentiert ist kein
Geringerer als - der Müller. Aber wozu hat er sich verkleidet?
„Inzwischen dürften es auch die Letzten von euch begriffen haben. Frühstück ist um 8.30
Uhr! Verdammt nochmal, bis jetzt hat das doch auch immer geklappt!“
Bis jetzt?! Soviel die Kinder dem Müller auch erzählen, er scheint keine Ahnung zu haben,
nichts von all ihren Abenteuern zu wissen; noch nicht einmal, dass er selbst der Müller war.
Oder tut er nur so?! Nein, er behauptet felsenfest, dass er der Hausmeister von Querenbach sei
und sie seit vierzehn Tagen hier wohnen, essen und schlafen würden.
Aber was wusste denn der Müller vorher? Wusste er, wer er gewesen war, vor dem Pakt?
Wenn der ehemalige Müller nun der jetzige Hausmeister ist und der jetzige Hausmeister der
ehemalige Müller war - und da beide gleich aussehen, kann daran eigentlich kein Zweifel
bestehen - heißt das nichts anderes, als: der Pakt ist gelöst und der Müller einfach wieder das
geworden, was er vorher auch war, Hausmeister.
Wo aber ist Nesto? Warum ist er verschwunden? Und mit wem hat der Müller den Pakt
eigentlich geschlossen? Mit ihm? Es gibt eine Unmenge zu erzählen, zu fragen,
nachzudenken. Die noch verbleibende Zeit, ist beinahe zu kurz dafür. Als drei Tage später ein
großer Reisebus in Querenbach vorfährt, um alle wieder zurück in ihre Alltäglichkeiten zu
fahren, steigen sie ein: der Alte Fritz, Regenwolke, Ehrliches Auge, Frankenstein Junior,
Witzboy, Dracula, MC Hammer... - fünfzig kleine Helden.
Und, verehrter Leser, Hand aufs Herz, wer kennt ihn nicht, den Schweinehund?! Und wer von
uns stinknormalen Erwachsenen hätte schon den Mut gehabt, ihm zu Leibe zu rücken?! Bleibt
nur zu hoffen, dass die Menschheit den Dienst, der ihr erwiesen wurde, auch zu schätzen
weiß.

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