Palliative Care als gesellschaftliche Aufgabe INHALT Grundlagen
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Palliative Care als gesellschaftliche Aufgabe INHALT Grundlagen
Duale Hochschule Villingen – Schwenningen Bereich Sozialwirtschaft Unit: Wahlpflichtseminare II – Einführung in Palliative Care als gesellschaftliche Aufgabe Studienhalbjahr: 2. Quartal 2016 (Termine 10., 12. und 23. Mai) Zeitdauer: 11 Stunden (medizinischer Teil) Dozent: Dr. Wolfgang Ruf-Ballauf INHALT Medizinischer Teil: Grundlagen der Palliativmedizin und Palliativpflege I. Ethik und Grenzen der Medizin 1 Historischer Überblick und Entwicklung der Medizin • Holismus vs. Reduktionismus • Meilensteine der Medizin • Versorgungsformen und Ziele der Medizin 2 Grenzen der wissenschaftlichen Medizin • Lebenserwartung • Lebensqualität 3 Ethik in der Medizin • Grundlagen und Prinzipien • Ethik-Kommissionen in Deutschland • Richtlinien für ethische Entscheidungen in der Palliativmedizin 3 3 6 8 Fallbeispiel 1 II. Das Selbstbestimmungsrecht des schwer kranken Menschen 1 Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung 2 Die Entscheidungsfähigkeit des schwer kranken Menschen 3 Umgang mit eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit 11 11 12 13 III. Medizin und Sterbehilfe 1 Arten der Sterbehilfe, rechtliche Situation in Deutschland • Aktive Sterbehilfe (Euthanasie) • Passive Sterbehilfe • Indirekte Sterbehilfe • Sonderformen z.B. (ärztlich) assistierter Suizid • Rechtliche Würdigung 2 Formen der Sterbehilfe in Europa Innereuropäischer Vergleich Erfahrung in den Niederlanden mit Euthanasie Assistierter Suizid in der Schweiz 3 Der Wille des Patienten • Patientenverfügung • Vorsorgevollmacht • Betreuungsverfügung 14 14 17 20 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Fallbeispiel 2 IV. Palliativmedizin 1 Definition und Grundsätze des Fachgebietes 2 Schwere Erkrankungen im Endstadium 3 Ziele und Grundsätze der Palliativmedizin 4 Palliative Versorgungsstrukturen und Vernetzung 22 22 22 25 25 V. Palliativpflege als Teil der Palliativversorgung 1 Pflegeversicherung, Pflegestufen 2 Grundlagen der Palliativpflege 3 Pflegeplanung und Ziele 4 Finanzierung – gesetzliche Grundelage 27 27 29 29 30 Fallbeispiel 3 Literaturempfehlungen 32 Anhang Fallbeispiele 33 2 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Medizinischer Teil: Grundlagen der Palliativmedizin und Palliativpflege I. Ethik und Grenzen der Medizin 1 Historischer Überblick und Entwicklung der Medizin • Holismus vs. Reduktionismus (Ganzheitlichkeit und Spezialistentum) Der traditionelle Ansatz der Medizin war ein holistischer, d.h. ganzheitlicher Ansatz (Holismus = Ganzheitlichkeitslehre). Dies geht weit zurück und lässt sich schon in der Medizin des antiken Griechenland nachweisen. Grundlage ist die Auffassung, dass das System als Ganzes die (Struktur-)Beziehungen der einzelnen Teile vollständig bestimmt. Mit der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Medizin wird diese Betrachtungsweise verlassen. Die reduktionistische Betrachtungsweise geht davon aus, dass ein System durch die Eigenschaften seiner Teile bestimmt wird. Durch die Entdeckung des Mikroskops war es beispielsweise möglich, Zellen als Grundbausteine von Organen oder Organsystemen zu beschreiben. Im Elektronenmikroskop konnten innerhalb der Zellen weitere Strukturen (Subsysteme) entdeckt werden, deren Funktionen durch die Entwicklung der Biochemie (molekulare Ebene) weiter aufgeklärt wurde. Grundlage des Reduktionismus ist die Überzeugung, dass alle Vorgänge, also auch Krankheiten, erklärt werden können, wenn man nur tief genug in die Subsysteme und kleinsten Einheiten eindringt (Prinzip der Rückführbarkeit). Diese Vorgehensweise hat zu wesentlichen Fortschritten der Medizin beigetragen, birgt aber die Gefahr, dass der Blick für das Ganze verloren geht. In der modernen Medizin besteht zunehmend die Tendenz, sich wieder auf die traditionelle ganzheitliche Sichtweise zu besinnen und die zweifellos wichtigen Erkenntnisse der reduktionistischen Forschung zum ganzheitlichen Verständnis zu nutzen (diesen Prozess nennt man Paradigmenwandel – Paradigma ist ein Lehrsatz). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Diese Definition spiegelt die ganzheitliche Sichtweise wider und ist weitgehend mit dem Konstrukt von Lebensqualität identisch (s.u.). Die Grundlage der Palliativmedizin ist eine ganzheitliche Sichtweise. • Meilensteine der Medizin Ein kurzer historischer Überblick über Fortschritte der Medizin aus den letzten Jahrhunderten: 1316: Erstes Lehrbuch der Anatomie. Verfasser ist der Mediziner Mondino dei Liucci aus Bologna. 1726: Erste Blutdruckmessung durch den englischen Naturforscher und Geistlichen Stephen Hales (1677-1761). 1804: Der deutsche Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner (1783-1841) entdeckt das Morphium. 1811: Der aus Schottland stammende Anatom Charles Bell (1774-1842) entdeckt, wie das Nervensystem funktioniert. 1846: Erste Operation unter Betäubung (Anästhesie) durch den amerikanischen Zahnarzt William Morton (1819-1868) 1846: 1851: Der deutsche Physiker und Physiologe Hermann Helmholtz (1821-1894) erfindet den Augenspiegel, mit dem man erstmals die Netzhaut im Augenhintergrund untersuchen kann. 1865: Der österreichische Augustinermönch und Botaniker Gregor Mendel (1822- 3 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care 1884) entdeckt die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung. 1882: Der deutsche Bakteriologe Robert Koch (1843-1910) entdeckt den Tuberkelbazillus. 1886: Der deutsche katholische Pfarrer und Naturheilkundige Sebastian Kneipp (1821-1897) veröffentlicht sein Buch Meine Wasserkur, das bis 1894 bereits 50 Auflagen erreicht. 1895: Der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) entdeckt die Röntgenstrahlen. 1901: Der österreichisch-amerikanische Hämatologe, Pathologe und Bakteriologe Karl Landsteiner (1868-1943) entdeckt die Blutgruppen. 1902: Die ersten Mischnarkosegeräte für Äther, Chloroform und Sauerstoff kommen zum Einsatz. 1902: Dem niederländischen Physiologe Willem Einthoven (1860-1927) glückt das erste Elektrokardiogramm (EKG). 1905: Der deutsche Zoologe Fritz Schaudinn (1871-1906) und der deutsche Dermatologe Erich Hoffmann (1868-1959) entdecken den Erreger der Syphilis. 1906: Karl Eduard Zirm (1863-1944) gelingt die erste erfolgreiche Hornhautübertragung. 1910: Die Internisten Georg Kelling (1886-1945) aus Dresden und Hans Christian Jacobeus (1879-1937) aus Stockholm führen die ersten Bauchspiegelungen (Laparoskopien) beim Menschen durch. 1910: Der New Yorker Internist Max Einhorn ernährt zum ersten Mal einen Patienten über eine Magensonde. 1913: Der deutsche Bakteriologe Emil von Behring (1854-1917) nimmt die erste Diphterie-Impfung vor. 1921: Frederik Grant Banting (1891-1941) und Charles Herbert Best (1899-1978) isolieren das Insulin. Die Diabetesforschung beginnt. 1924: Der Internist Georg Haas (1886-1971) nimmt in Gießen mit einer künstlichen Niere die erste Blutwäsche (Hämodialyse) vor. 1928: Der britische Bakteriologe Alexander Fleming (1881-1955) entdeckt die Wirkung von Penicillin. 1929: Der deutsche Psychiater und Neurophysiologe Hans Berger (1873-1941) schreibt das erste Elektro-Enzephalogramm (EEG) bei Epilepsie. 1929: Der deutsche Chirurg und Urologe Werner Forßmann (1904-1979) führt als Erster eine Herzkatheterisierung am Menschen im Selbstversuch durch. 1931: Der deutsche Physiker Ernst Ruska (1906-1988) entwickelt in Berlin das Elektronenmikroskop. 1932: Der deutsche Chirurg Rudolf Schindler (1888-1968) entwickelt einen Magenspiegel (Gastroskop). 1940: Karl Landsteiner (s.o.) und sein amerikanischer Kollege Alexander Solomon Wiener (1907-1976) entdecken den Rhesus-Faktor. 1944: Der amerikanische Herzchirurg Alfred Blalock (1899-1964) nimmt in Baltimore (Maryland) zum ersten Mal erfolgreich eine Operation bei einem Kind mit angeborenem Herzfehler vor. 1950: Der amerikanische Chirurg Richard H. Lawler nimmt in Chicago die erste Nierentransplantation vor. 1953: Der amerikanische Herzchirurg John Heysham Gibbon (1903-1973) setzt die Herz-Lungen-Maschine bei der Operation am offenen Herzen ein. 1954: Dem amerikanischen Bakteriologen Jonas Salk und seinem Landsmann, dem Kinderarzt und Virologen Albert Bruce Sabin, glückt die Herstellung von Impfstoffen gegen spinale Kinderlähmung (Poliomyelitis). 1958: Der schwedische Herzchirurg Åke Senning implantiert in Stockholm den ersten Herzschrittmacher. 1967: Der südafrikanische Chirurg Christiaan Barnard nimmt am 3. Dezember im Groote-Shuure-Hospital in Kapstadt (Südafrika) die erste Herztransplantation vor. Der Eingriff gelingt, doch der Patient stirbt 18 Tage später an einer Infektion. 1968: Dem amerikanischen Hämatologen Edward Donnall Thomas glückt die erste Knochenmarkstransplantation. Dafür erhält er 1990 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. 1976: Der britische Elektroingenieur Godfrey Newbold Hounsfield entwickelt die erste Computertomographie. 1978: In Oldham (England) wird das erste durch Befruchtung außerhalb des Körpers entstandene Retorten-Baby geboren. 1981: Die Immunschwäche AIDS wird in Kalifornien als neue Seuche erkannt. 4 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care • 1982 Stanley Prusiner entdeckt Prionen als infektiöse Eiweiß-Partikel, die z.B. BSE oder doe Creutzfeld-Jakob-Krankheit auslösen können. 1983: Die Kernspintomographie (MRT) wird klinisch eingeführt. 1983 Bruchstücke von DNA können im Reagenzglas kopiert werden. 1990 erstmalige erfolgreiche Anwendung von Gentherapie 1992 Einführung der minimal-invasiven Chirurgie. 1996 Erstmaliges Klonen eines höheren Lebewesens (Klonschaf „Dolly“) 2000 Beginn der Stammzellforschung Zusammengefasst haben drei Bereiche die Entwicklung bestimmt: • Die Verfeinerung der manuellen Techniken (Operationsverfahren einschl. Narkose) und Hilfstechniken (z.B. optische Verfahren wie Endoskopie). • Die rasante Entwicklung der Bildgebung (Röntgen, Ultraschall, CT, MRT). • Die molekulare Medizin (DNA-Analyse, Immunologie, Antibiotika, Medikamente, Hormone etc.) • Versorgungsformen und Ziele der Medizin Die traditionellen Bereiche der Medizin sind: Prävention, Kuration und Rehabilitation. Prävention ist Krankheitsverhütung durch geeignete (präventive) Maßnahmen. Man unterscheidet Primärprävention (Vermeidung der Erstmanifestation einer Krankheit) und Sekundärprävention (Vermeidung des Wiederauftretens einer Erkrankung). Für Prävention wird (leider) extrem wenig Geld ausgegeben (s. Abb. S. 7). Kuration ist (heute) der Schwerpunkt unseres Gesundheitswesens: sie zielt auf die (vollständige oder teilweise) Heilung von Krankheiten ab. Dies gelingt nicht immer: die Mehrzahl der Krankheiten sind chronische Erkrankungen, bei denen eine Heilung nicht zu erwarten ist. Rehabilitation ist die Verringerung von Krankheitsfolgen von zumeist chronischen Erkrankungen durch Besserung z.B. von Funktionsdefiziten und damit Verbesserung der (gesellschaftlichen) Teilhabe. In der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) werden für Prävention und Rehabilitation nur ca. 1,6 % der Gesamtausgaben aufgewendet. Die Palliation kann als weiterer Versorgungsbereich der Medizin definiert werden, auch wenn Elemente der Kuration und Rehabilitation integriert sind. Dies lässt sich an folgendem Schaubild verdeutlichen: Quelle: Leitfaden Palliativmedizin / Palliative Care (s. Literaturempfehlungen) Die Rehabilitation lässt sich zwischen Kuration und Palliation einordnen. Palliation integriert Palliativmedizin und Palliativpflege einschl. terminal care und Sterbebegleitung. 5 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care 2 Grenzen der wissenschaftlichen Medizin • Lebenserwartung Das Ziel der (kurativen) Medizin im letzten Jahrhundert bestand im Wesentlichen darin, durch Heilung von Krankheiten die Lebenserwartung zu verbessern. Dies dokumentiert die nachstehende Abbildung eindrucksvoll. In der Zukunft wird es eine weitere Steigerung der Lebenserwartung geben. Quelle: statistisches Bundesamt Die Wissenschaftler des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden prognostizieren, dass die Lebenserwartung im Jahr 2050 von heute 77,2 auf dann 83,7 Jahre für Männer und von 82,7 auf 88,1 Jahre für Frauen steigt. Damit steigt die Lebenserwartung nicht mehr so stark im Vergleich zum letzten Jahrhundert. Dennoch ergibt sich, auch weil weniger Kinder geboren werden, eine charakteristische Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung. Quelle: statistisches Bundesamt Wegen dieses demographischen Wandels nimmt der Anteil der älteren Menschen in unserer Gesellschaft erheblich zu. Dies begründet u.a. den 6 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care steigenden Bedarf palliativer Versorgungsangebote. Die kurative Medizin stößt hier an eine Grenze. Gleichzeitig sind die Kosten für Gesundheit erheblich gestiegen – und steigen weiter. Ein 85-jähriger „kostet“ die Versichertengemeinschaft ca. 13.000 € pro Jahr, also zehnmal mehr als z.B. ein 25-jähriger. Lagen die Gesundheitskosten 1990 noch bei 8,7 % des BIP (Bruttoinlandsprodukt), waren es 2013 bereits 11,2 % (Spitzenwert innerhalb der EU; nur in den USA gibt man noch mehr aus: 16,4 %). Sind wir deshalb gesünder als unsere EU-Nachbarn? • Lebensqualität Auf Grund der oben dargestellten Zusammenhänge kann es nicht mehr das Ziel der Lebensverlängerung sein, welches vorrangige Aufgabe der Gesundheitsversorgung ist, es muss vielmehr die Lebensqualität im Vordergrund stehen. Lebensqualität ergibt sich aus Zufriedenheit mit körperlichen, seelischen und geistigen Funktionen sowie den materiellen Rahmenbedingungen. Ziel der Gesundheitsversorgung sollte sein, dass Menschen möglichst lange möglichst beschwerdefrei bleiben und die „Leidensphase“ vor dem Tod möglichst kurz ist. Dieses Ziel nennt man Morbiditätskompression (Morbidität = Krankheits-Wahrscheinlichkeit eines Individuums innerhalb einer Population). Es wird im Wesentlichen durch eine verbesserte Prävention und Gesundheitsförderung erreicht. Die kurative Medizin kann zu diesem Ziel nur begrenzt beitragen. Gestiegene Lebenserwartung: Expansion oder Kompression der Morbidität? 7 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Als Beispiel werden die Überlebenskurven um 1800, 1992 und zukünftig gezeigt. Lebensqualität bedeutet hierbei, die „Sterbephase“ möglichst lange hinauszuzögern (grüne Kurve) und die Phase der Beschwerden (Leidensphase) immer kürzer werden zu lassen. Unter ökonomischen Gesichtspunkten trägt diese Morbiditätskompression erheblich zu Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen bei. 1 100.000 M, 1800 50.000 W, 1800 M, 1992 W, 1992 Zukunft? 0 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Überlebenskurven (nach Gisinger, 2007) Aufgabe und Ziel palliativer Versorgungsangebote ist es, in dieser letzten Phase des Lebens, der Leidensphase, die bestmögliche Erhaltung der Lebensqualität zu bewirken (in der Abbildung gepunkteter Bereich). 3 Ethik in der Medizin Ethik ist die philosophische Lehre der sittlichen Normen und Gebräuche. • Grundlagen und Prinzipien Der Eid des Hippokrates (verfasst durch griechische Ärzte ca. 330 v. Chr.): „Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und Willkürlichem. Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten.“ Die moderne Form des hippokratischen Eids wurde im Genfer Ärztegelöbnis von 1947 neu formuliert: "Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich: mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus 1 Ein Sterbefall „kostet“ die Krankenkassen 40.000 € bei 65-Jährigen und 14.000 € bei 85-Jährigen 8 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care wahren. Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten. Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein. Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Dies alles verspreche ich feierlich und frei auf meine Ehre." Eine weitere ethische Grundlage resultiert aus der Philosophie Immanuel Kants (1724-1804 in Königsberg). In seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“ formuliert er den kategorischen Imperativ als höchstes ethisches Prinzip. An verschiedenen Stellen im Werk Kants finden sich formelhafte Beschreibungen dieses Prinzips; hier einige Beispiele: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ „Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.“ „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ „Handle so, dass dein Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne.“ Und in der sog. Selbstzweckformel: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ • Ethik-Kommissionen in Deutschland Im Bereich des Gesundheitswesens gibt es zahlreiche Kommissionen, die die Einhaltung der ethischen Grundsätze überwachen sollen. Eine übergeordnete Kommission ist seit 1995 bei der Bundesärztekammer (BÄK) angesiedelt. Sie hat zu folgenden Fragen Stellungnahmen herausgegeben: Forschung mit Minderjährigen, (Weiter-)Verwendung von menschlichen Körpermaterialien, Stammzellforschung, Schutz nichteinwilligungsfähiger Personen, Schutz persönlicher Daten in der medizinischen Forschung u.a. Eine für die Palliativmedizin wichtige Stellungnahme betrifft: „Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis (2007)“, einzusehen unter http://www.zentrale-ethikkommission.de -> Stellungnahmen -> Patientenverfügung. Ferner hat jede Landesärztekammer (LÄK) ihre eigene Kommission, die in der Arbeitsgemeinschaft der Ethikkommissionen zusammen arbeiten. Auch an jeder Universität sind entsprechende Gremien eingerichtet, die hauptsächlich ethische Fragen im Rahmen von Forschungsprojekten behandeln und ebenfalls mit den o.a. Institutionen kooperieren. Auch pharmazeutische Firmen müssen anwendungsorientierte Forschung (Einführung neuer Medikamente) durch Ethik-Kommissionen genehmigen lassen. • Richtlinien für ethische Entscheidungen in der Palliativmedizin In der Palliativmedizin sind ethische Fragen von herausragender Bedeutung. Hierbei gelten folgende Empfehlungen: 9 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care 1. Ethische Entscheidungen über das Nichteinleiten oder Abbrechen von lebensverlängernden Therapiemaßnahmen sowie über palliative Maßnahmen sollen vom Arzt in enger Kooperation mit Patient, Angehörigen und Pflegepersonal getroffen werden. 2. Wichtige Voraussetzungen für ethische Entscheidungen auf Seiten des Arztes sind gute Kenntnisse bezüglich der Krankheits- und Lebensgeschichte des Patienten und die fachliche Kompetenz, medizinische und ethische Herausforderungen beurteilen zu können. Falls notwendig, sollte der Arzt Rat bei einem erfahrenen Kollegen einholen. 3. Bei Patienten, die selbst kompetente Entscheidungen treffen können, ist der Arzt immer verpflichtet, ein informiertes Einverständnis einzuholen bzw. herzustellen. 4. Bei diesen Gesprächen sollten nach Möglichkeit zusätzlich zum Patienten die nahen Angehörigen und ein Vertreter des Pflegepersonals anwesend sein. 5. Falls die Erhebung und Dokumentation des informierten Einverständnisses auf G rund von eingeschränktem Bewusstsein, Verwirrtheit, Delirium, Demenz oder B ewusstlosigkeit des Patienten nicht möglich ist, muss der Arzt den mutmaßlichen Patientenwillen nach Einholen entsprechender Information (Angehörige, Pflegepersonal, Hausarzt, Patientenverfügung, Gesundheitsbevollmächtigter, etc.) ermitteln und als Grundlage für seine Behandlungsentscheidungen nehmen und dies hinreichend dokumentieren. 6. Alle wichtigen Therapieentscheidungen, die ein medizinethisches Problem betreffen, sollten in der Krankenakte dokumentiert und begründet werden - mit Blick auf das informierte Einverständnis oder den mutmaßlichen Patientenwillen. 7. Diese Entscheidungen sollten, falls möglich, in der normalen Arbeitszeit und in den entsprechend zuständigen Gremien (Team- oder Stationsbesprechung, Ärzte- und Pflegekompetenz, Patienten und Angehörige) getroffen werden. 8. Sollten die Grundlagen für das erteilte informierte Einverständnis oder den ermittelten mutmaßlichen Patientenwillens sich unerwartet ändern, z.B. bei Veränderungen im Gesundheitszustand, müssen die Entscheidungen neu überprüft werden. 9. Von zentraler Bedeutung ist es, den Patienten (falls möglich), die Angehörigen und das Pflegepersonal laufend über Änderungen des Gesundheitszustands und Veränderungen der ethischen Fragestellung und Entscheidung zu informieren. 10. Optimal sind offene, mutige, vorbereitende ethische Gespräche mit Patient, Angehörigen und Pflegepersonal - möglichst gemeinsam, möglichst zeitnah zu Aufnahme, Diagnose, Veränderung des Zustandes etc., damit die wichtigen Bezugspersonen sich vorbereiten können und die Möglichkeit bekommen, wichtige Fragen zu stellen und gehört zu werden. 11. Wenn der Arzt oder das Pflegepersonal erkennen, dass der Patient sterbend ist, sollen die Angehörigen darüber unverzüglich informiert werden, um ihnen die Möglichkeit zur Vorbereitung und zur Anwesenheit beim Sterben zu geben. 12. Spätestens wenn das Sterben sich nähert oder unmittelbar bevorsteht, soll der Arzt sofort gemeinsam mit dem Pflegepersonal einen Plan für Palliative Care und Symptomlinderung erstellen, wobei alle unnötigen, belastenden oder unnötig sterbensverlängernden Therapiemaßnahmen einzustellen sind. 13. Falls das Pflegepersonal oder andere erkennen, dass der Sterbende an Schmerzen oder anderen belastenden Symptomen leidet, soll unverzüglich Kontakt mit dem zuständigen Arzt aufgenommen werden. 14. Bei nicht erwartetem Todesfall sollen Arzt und Angehörige sofort informiert werden. 15. Den Angehörigen muss reichlich Zeit und Gelegenheit geboten werden, um Abschied von dem Toten nehmen zu können. Dies bedeutet auch, falls erwünscht, Gelegenheit zu bekommen, andere Angehörige, Kinder oder Enkelkinder usw. holen zu können, beim Waschen, Kleiden und Herrichten des oder der Verstorbenen teilzunehmen und später oder am nächsten Tag zurückzukommen. Entnommen aus: „Palliativmedizin – Grundlagen und Praxis“ – s. Literaturempfehlungen. Informiertes Einverständnis bedeutet, dass der Patient über seinen aktuellen Gesundheitszustand, d. h. Diagnose, Krankheitsbild, weitere diagnostische und therapeutische Möglichkeiten sowie Alternativen, Risiken und Prognose informiert wird, und zwar auf eine Weise, die er versteht und, falls nötig, wiederholte Male. Nachdem der Patient die Information verstanden hat und seine Fragen kommentiert und beantwortet wurden, gibt er seine Zustimmung - informiertes Einverständnis - 10 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care oder er gibt sie nicht, oder er entzieht sie. Falls der Gesundheitszustand sich ändert, muss der zur Erteilung eines informierten Einverständnisses notwendige Prozess erneut durchlaufen werden. Bei bewusstseinsklaren Patienten darf keine diagnostische oder therapeutische Maßnahme ohne das ausdrückliche, informierte Einverständnis durchgeführt werden. Mutmaßlicher Patientenwille bedeutet, dass wir bei Patienten, die aufgrund ihrer Erkrankung oder ihres Zustands selbst nicht die Situation erfassen oder Entscheidungen treffen können (bewusstlose, kognitiv eingeschränkte, verwirrte, psychotische oder demente Patienten), erhebliche Anstrengungen aufwenden müssen, um zu erfassen, welche Entscheidung sie in ihrer aktuellen Situation getroffen hätten. Quellen der Information für diesen Prozess sind folgende Personen: Angehörige, betreuendes Personal, Hausarzt oder andere Menschen, die dem Patienten nahe standen, und zusätzliche Informationen wie: Lebensgeschichte, Krankengeschichte, Patientenverfügung, frühere Gespräche, Lebenseinstellung oder Religion. Fallbeispiel I: „Ein 23-jähriger Student, schlank und groß gewachsen, spielt in der Basketballmannschaft der Universität. Bei einem Punktspiel …“ (Das Fallbeispiel ist im Anhang enthalten). II. Das Selbstbestimmungsrecht des schwer kranken Menschen 1 Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung Das Grundgesetz sagt: Artikel l: (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Artikel 2: (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Das Grundgesetz garantiert das Recht auf Leben und das Recht auf Selbstbestimmung. Hieraus leitet sich das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die Wahrung der Menschenwürde bei jeder ärztlichen Maßnahme ab. Das Recht zur Behandlung kann der Arzt nur vom Patienten erteilt bekommen (§ 226 a StGB). Jeder Patient hat Anspruch auf angemessene Behandlung, wenn er diese wünscht. Zwischen Arzt und Patient besteht ein (mündlicher oder schriftlicher) Behandlungsvertrag. Er verpflichtet den Arzt zu Beratung, Diagnose und Therapie. Jeder Eingriff in den Körper braucht die doppelte Legitimation: • Medizinische Indikation. • Einwilligung des (aufgeklärten) Patienten („informed consent"). In Notfallsituationen muss die „erforderliche" Hilfe sofort geleistet werden. Das Einverständnis des Patienten bzw. sein Wunsch auf lebenserhaltende und –verlängernde Maßnahmen - auch ohne Aufklärung - werden unterstellt. Andernfalls würde der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB) vorliegen. In der Palliativmedizin sollte der behandelnde Arzt mit dem Patienten für den Fall einer akuten Notfallsituation konkrete Behandlungsmöglichkeiten 11 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care vereinbaren. Dies sollte in Form einer „Ergänzung zur Patientenverfügung im Fall schwerer Krankheit" als schriftlicher „Notfallplan" mit möglichst detaillierten Handlungsanweisungen (einschließlich Medikamentenplan) für die vorliegende Diagnose erfolgen. Ein notfallmäßig hinzugezogener Arzt, der den Patienten oft nicht kennt, kann diese Behandlungswünsche als mutmaßlichen Willen übernehmen, falls der Patient zu diesem Zeitpunkt nicht einwilligungsfähig ist. Typische Akutsituationen sind bspw. Tumorblutung, akute Atemnot und Vigilanzstörungen (Bewusstlosigkeit, Dämmerzustand). Der Patient kann eine Behandlung abbrechen: • • Wenn er eine Fortsetzung der Behandlung nicht wünscht, d.h. Entzug des Einverständnisses (ohne Angabe von Gründen jederzeit möglich). Ein Grund für die Kündigung des Behandlungsvertrages von Seiten des Patienten ist z.B. wenn das Vertrauensverhältnis zum Arzt gestört ist. Dies trifft theoretisch für jede Art von Behandlung zu. In der Praxis treten Schwierigkeiten oft bei der Frage des Abbruchs lebensverlängernder Maßnahmen auf. Der geäußerte Wille (Behandlungsabbruch, Behandlungsverzicht) ist absolut bindend (Behandlungsvertrag). Voraussetzung ist ein vollständig aufgeklärter Patient. Anders als bei Eingriffen bedürfen zumindest Verbote des Patienten, ihn weiter zu behandeln keiner Rechtfertigung und keiner Aufklärung. Der Arzt muss allerdings (auch zu seiner eigenen Absicherung) Aufklärung anbieten, die der Patient auch ablehnen kann. Dies sollte der Arzt dokumentieren oder sich schriftlich bestätigen lassen. Die Aufklärungspflicht besteht für alle Situationen (außer Notfälle), also auch in der Palliativmedizin. Die Aufklärung dient dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und damit seinem Persönlichkeitsrecht. Ohne Aufklärung ist jede Einwilligung unwirksam. Unterlassene ärztliche Aufklärung macht die gesamte ärztliche Maßnahme/Behandlung rechtswidrig. Die Form der Aufklärung (schriftlich, mündlich, standardisiert, individuell) liegt im Ermessen des Arztes. Sie muss verständlich sein und der Arzt muss sich vergewissern, dass der Patient sie verstanden hat (evtl. Dolmetscher!). Die Aufklärung sollte zu folgenden Punkten erfolgen: • Befund- und Diagnoseaufklärung • Aufklärung über die geplanten Therapiemaßnahmen • Sicherungsaufklärung Information über notwendige Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Interesse des Patienten, z.B. Dosierung, Nebenwirkung und Unverträglichkeiten von Medikamenten, Gefahren bei unterlassenen Therapiemaßnahmen bzw. Behandlungsabbruch • Risiko- und Eingriffsaufklärung • Aufklärung über Behandlungsalternativen Falls ein Patient wünscht, nicht aufgeklärt zu werden, sollte dies akzeptiert werden, solange keine Entscheidungen anstehen, die eine Information des Patienten voraussetzen. Aber auch dann ist zu akzeptieren, wenn der Patient ausdrücklich keine Aufklärung wünscht und seine Entscheidungsfähigkeit nicht eingeschränkt ist. 2 Die Entscheidungsfähigkeit des schwer kranken Menschen Patienten mit weit fortgeschrittener, unheilbarer Erkrankung befinden sich oft in einer psychischen Ausnahmesituation. Falls eine Aufklärung bisher nicht oder nicht ausreichend stattgefunden hat, ist es Aufgabe des Arztes, zu klären, ob, wann und wie der Patient informiert werden soll. Dazu muss vorab geklärt werden, wie viel Information und Offenheit der Patient wünscht. In der Regel wünschen Patienten ein offenes Gespräch (bzw. 12 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care mehrere Gespräche), sofern ihnen Gesprächsbereitschaft und Begleitung signalisiert wird, sie ihre Gefühle zeigen dürfen und sich nicht alleine gelassen fühlen. Eine vollständige und „schonungslose“ Aufklärung kann allerdings auch Schaden anrichten und jeden Lebensmut nehmen. Insoweit kann die Offenlegung hoffnungsloser Befunde oder nicht mehr möglicher Behandlungen auch Schaden anrichten. Es gibt Menschen, die kritische Situationen besser bewältigen, wenn sie nicht alles wissen. Soweit ein Patient voll entscheidungsfähig ist, kann dies im Gespräch in Erfahrung gebracht werden. Ist die Entscheidungsfähigkeit –wie so oft – im Endstadium einer schweren Krankheit eingeschränkt, kommt es wiederum auf den mutmaßlichen Willen an. In dieser Erkrankungsphase ist der Betroffene oft gar nicht mehr in der Lage, (längere) Erklärungen des Arztes zu verstehen. In diesem Fall würde lückenlose Aufklärung mit umständlichen Erklärungen nur verwirren und nicht hilfreich sein. In keinem Fall dürfen falsche Versprechungen, etwa auf Heilung, gemacht werden. Im Übrigen gilt die ärztliche Schweigepflicht uneingeschränkt auch in dieser Situation – auch gegenüber Angehörigen, wenn der Arzt nicht ausdrücklich entbunden wurde. Dies bedeutet auch, dass die Angehörigen nicht an Stelle des Patienten Entscheidungen treffen dürfen – es sei denn, dies ist einer Vorsorgevollmacht (s.u.) so festgelegt. 3 Umgang mit eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit Die Entscheidungsfähigkeit des schwer kranken Menschen kann eingeschränkt sein wegen: • Mangelnder Aufklärung (weil sie nicht stattfand oder der Betreffende die Erklärungen nicht mehr verstehen kann) • Einschränkung des Bewusstseins (z.B. nach Schlaganfall, z.B. bei hohem Fieber, z.B. bei Flüssigkeitsverlust (Austrocknung)) • Kognitive Funktionsstörungen(z.B. Demenz) • Seelische Funktionsstörungen (z.B. Depression) • Körperliche Funktionsstörungen (z.B. eingeschränkte Nieren- oder Leberfunktion mit „Vergiftung“) Der behandelnde Arzt ist verpflichtet, den mutmaßlichen Willen des Patienten bezogen auf die aktuelle Situation zu erfragen. Dabei sind frühere (mündliche oder schriftliche) Äußerungen des Patienten, Einschätzung naher Angehöriger und allgemein gültige ethische Normen zu berücksichtigen. Liegt eine Patientenverfügung (s.u.) vor, muss der Arzt prüfen, ob diese den aktuellen mutmaßlichen Willen widerspiegelt und sie dann entsprechend berücksichtigen. Der mutmaßliche Wille bindet den Arzt genauso, wie der geäußerte Wille. Bestehen keine konkreten Anhaltspunkte, dass ein Patient mutmaßlich an einer früheren Patientenverfügung nicht mehr festhalten will, so behält diese absolute Gültigkeit. Bestehen trotz aller Bemühungen und Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen Zweifel an dem geäußerten oder mutmaßlichen Willen, so muss nach allgemeinen Wertvorstellungen zur konkreten Situation des Patienten verfahren werden. Existieren solche nicht, so gehört es zur Pflicht des Arztes, Leben zu erhalten. Daher wird er im Zweifelsfall lebenserhaltende Maßnahmen einleiten, um sich nicht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig zu machen. 13 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care III. Medizin und Sterbehilfe 1 Arten der Sterbehilfe, rechtliche Situation in Deutschland Der Begriff Sterbehilfe umfasst sämtliche Handlungen und Unterlassungen, die darauf zielen, im Interesse eines schwerstkranken Patienten dessen Tod herbeizuführen. • Aktive Sterbehilfe (Euthanasie) Definition: … ist das aktive, bewusste ärztliche Eingreifen zur Beendigung des Lebens auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten. Ziel der Handlung ist es, den schnellen Tod des Patienten herbeizuführen. Historisch betrachtet, hat der Begriff »Euthanasie« eine andere Bedeutung als aktive Sterbehilfe. Euthanasie bedeutet »ein guter Tod« (griechisch: euthanatein »einen leichten, schönen Tod haben«). In Deutschland ist die Diskussion um Euthanasie durch die missbräuchliche Verwendung in der Zeit des Nationalsozialismus belastet. Heute werden auf internationaler Ebene die Begriffe »aktive Sterbehilfe« und »Euthanasie« synonym verwandt. In England wird die aktive Sterbehilfe »mercy killing« - »Töten aus Barmherzigkeit« - genannt. Nach Meinungsumfragen hat in Deutschland die Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen: sie stieg von 1974 mit 54% bis zum Jahr 1994 auf über 80%. Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland wie in allen westlichen Ländern ein Straftatbestand, in den Niederlanden und Belgien allerdings nur dann, wenn eine Verletzung der gesetzlich vorgeschriebenen Regelungen vorliegt (s.u.). Argumente, die für eine aktive Sterbehilfe sprechen: • Das Recht des Patienten auf Autonomie (s.o.). • Unerträgliche Schmerzen und andere gravierende physische und psychische Probleme. • Die Aufgabe der Ärzte ist es, das »Beste« für ihre Patienten zu tun – ist ein gnädiger Tod nicht besser als langes Leiden? • Die Ärzte bestimmen in anderen Feldern der Medizin schon längst über Leben und Tod. Argumente, die gegen aktive Sterbehilfe sprechen • Aktive Sterbehilfe ist verboten und strafbar. • Berufsethische Aspekte (Hippokratischer Eid). • Menschen werden vorzeitig sterben, weil durch Fehlentscheidungen der Zeitpunkt zu früh festgelegt wird (s. Niederlande). • Menschen können es als ihre »Pflicht« ansehen, aus dem Leben zu scheiden, um anderen nicht zur Last zu fallen. • Schmerzen, andere Symptome, Angst und Not können durch gute Palliativmedizin gelindert werden. • Durch Euthanasie zeigen wir diesen Patienten, dass sie für uns nichts mehr wert sind. Finden Sie weitere Argumente – pro oder contra! • Passive Sterbehilfe Passive Sterbehilfe ist der Verzicht auf bzw. Abbruch von lebensverlängernden Maßnahmen entweder weil sie (in der unmittelbaren Sterbephase) medizinisch nicht mehr angezeigt sind oder weil der Patient solche Maßnahmen ablehnt. Im Unterschied zur aktiven Sterbehilfe wird hier also kein neuer Kausalverlauf (durch Gabe eines tötenden Mittels) gesetzt, sondern man lässt vielmehr nur den natürlichen Sterbeprozess geschehen, d.h. man verlängert ihn nicht. 14 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Fall der Betroffene aktuell nicht mehr einwilligungsfähig ist, kommt es auf seinen früher geäußerten Willen (Patientenverfügung) an. Fehlt eine solche, muss der mutmaßliche Wille festgestellt werden. In solchen Fällen entscheidet der Vorsorgebevollmächtigte bzw. (falls der Patient keinen Bevollmächtigten benannt hat) der gerichtlich bestellte Betreuer; ggf. benötigt dieser für die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts. Die passive Sterbehilfe ist also der Anwendungsbereich für Patientenverfügungen (s.u.). Selbstverständlich ist passive Sterbehilfe nicht strafbar, sondern Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Das häufigste Missverständnis ist, dass Ärzte eine zulässige passive Sterbehilfe für strafbare aktive Sterbehilfe halten. Grund: Auch die passive Sterbehilfe ist oft mit einer Handlung verbunden, z.B. Abschalten des Beatmungsgerätes oder Entfernen der Ernährungssonde. Der Arzt denkt also (irrtümlich): Ich tue etwas und der Patient verstirbt, also ist dies “aktive Sterbehilfe”. In Wirklichkeit kommt es aber - wie oben erläutert - darauf an, ob der Patient am natürlichen Verlauf seiner Erkrankung stirbt und das Sterben nun nicht länger durch Apparatemedizin aufgehalten wird (dann erlaubte passive Sterbehilfe) oder ob durch Gabe tödlich wirkender Präparate eine neue Ursache gesetzt wird (dann strafbare aktive Sterbehilfe). • Indirekte Sterbehilfe Unter indirekter (aktiver) Sterbehilfe versteht man bei hoffnungslos Schwerstkranken den Einsatz von Mitteln zur Leidenslinderung, welche als Nebenwirkung die Überlebensdauer herabsetzen können – fast immer sind damit hohe Dosen von Opiaten (stärkste Schmerzmittel z.B. Morphium) gemeint. Eine sich steigernde Dosis Morphium lindert zwar die Schmerzen, birgt aber das Risiko eines frühzeitigeren Todes. Diese indirekte, auch echte Sterbehilfe genannt, ist nicht strafbar, da sie unter die Behandlung fällt, bei der die Lebensverkürzung als unbeabsichtigte Nebenfolge auftritt. Es herrscht in Deutschland weitgehend Einigkeit, dass die indirekte Sterbehilfe auf Wunsch des Patienten zulässig ist. Schließlich darf eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation bei einem tödlich Kranken nicht dadurch unzulässig werden, dass sie als unbeabsichtigte, aber unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann. Die in Art. 1 GG verankerte Würde des Menschen und die in Art. 2 GG geschützte Freiheit der Person erklären die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem Willen des Patienten als ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht unter schwersten “Vernichtungsschmerzen” noch kurze Zeit länger leben zu müssen. Vgl. hierzu den Artikel im Anhang auf S. 37! • Sonderformen z.B. (ärztlich) assistierter Suizid Es ist zu unterscheiden zwischen Beihilfe zum Suizid und Hilfe zum Suizid. Der Unterschied ist nicht immer eindeutig. Da Suizid in Deutschland nicht strafbar ist, ist auch die Beihilfe dazu nicht strafbar. Beihilfe wird definiert als vorsätzliche Hilfe zu einer Handlung (im Strafrecht: Straftat). Beihilfe ist noch nicht durch die bloße Anwesenheit erfüllt. Eine Hilfeleistung liegt in jedem Beitrag, der die Handlung fördert oder erleichtert. Der Beihilfe Leistende billigt die Handlung und bringt dies dem Handelnden gegenüber zum Ausdruck. 15 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Der ärztlich assistierte Suizid ist eine aktive Hilfe zum Suizid. Hierbei händigt der Arzt z.B. das tödliche Medikament aus oder er legt die Infusionsnadel in die Vene. Die tödliche Infusion muss der Suizidant jedoch selbst starten. Kein Arzt darf zur Beihilfe gezwungen werden. Der Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient beinhaltet keine Verpflichtung des Arztes zur Beihilfe. Die deutschen Ärztekammern und ihre Ethikkommissionen lehnen den ärztlich assistierten Suizid ab. Über die konkreten Regelungen in der Schweiz informiert 2c. • Rechtliche Würdigung Jede Form der aktiven Sterbehilfe gilt als Tötung und ist strafbar. Besonders auch die „Tötung auf Verlangen“ ist aktive Sterbehilfe (Beispiel: der Arzt verabreicht das tödliche Medikament einem Suizidanten). Selbst in einer noch so belastenden Leidenssituation darf der Arzt den Patienten nicht „erlösen“. Es hat eine Reihe von Strafprozessen deshalb gegeben, die ausnahmslos mit Verurteilungen (zu teilweise milden Strafen) geendet haben. Auch in Pflegeheimen kommt es immer wieder zum (aktiv herbeigeführten) „Gnadentod“ durch Pflegerinnen und Pfleger. Dies ist immer strafbar. Auch wenn das Leiden nicht mit angesehen werden kann, darf sich niemand zum Herrn über Leben und Tod erheben. Passive Sterbehilfe indessen bleibt immer straffrei, wenn eine entsprechende Willensäußerung des Sterbenden vorliegt oder sein mutmaßlicher Wille bekannt ist oder die Personen, die in einer Vorsorgevollmacht genannt sind, entsprechend entscheiden. Empfohlen wird die Abfassung einer Patientenverfügung, Vorsorge- und Betreuungsvollmacht. Dies kann im übrigen Jede(r) veranlassen, der volljährig ist. Über die Abfassung solcher Verfügungen wird im Seminar ein Video gezeigt. Wenn der (mutmaßliche) Wille des Betroffenen nicht bekannt ist, kann passive Sterbehilfe aus juristischer Sicht als unterlassene Hilfeleistung gewertet werden. Strafprozesse aus diesem Anlass kommen jedoch kaum vor. Indirekte Sterbehilfe ist dann straffrei, wenn tatsächlich nachgewiesen werden kann, dass eine entsprechende Maßnahme (z.B. die Gabe von steigenden Dosen Morphium) zur Behandlung unerträglicher Symptome notwendig sind. Die Inkaufnahme einer möglicherweise lebensverkürzenden Nebenwirkung (z.B. Atemlähmung) ist zu akzeptieren, wenn keine andere Möglichkeit der Behandlung besteht. Könnte man nachweisen, dass die genannte Nebenwirkung primär das Ziel des Medikation ist, wäre der Tatbestand der aktiven Sterbehilfe erfüllt. Dies ist im Einzelfall schwierig bis unmöglich. Die indirekte Sterbehilfe ist eine „Grauzone“, positiv ausgedrückt: auf der Basis des Patientenwillens kann der Arzt die Indikation zur Medikation nach seinem Gewissen und im Interesse des Patienten auch „großzügig“ stellen. Die Beihilfe zum Suizid ist nicht strafbar, wie bereits dargestellt. Der (ärztlich) assistierte Suizid wird von den Standesethikern abgelehnt. Die deutschen Ärzte würden gegen ihre Berufsordnung verstoßen und müssten zwar nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen, jedoch mit Sanktionen standesrechtlicher Art bis hin zum Entzug der Approbation (Berufserlaubnis) rechnen. Es gibt jedoch eine im Fluss befindliche Diskussion darüber in Deutschland. Im Bundestag wurden im Juli 2015 vier Gesetzentwürfe in erster Le16 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care sung diskutiert: (1) Verbot jeder kommerziellen, "gewerbsmäßigen" Suizidbeihilfe. Beihilfe zur Selbsttötung soll im Einzelfall jedoch straffrei bleiben. Auf Wiederholung angelegte Suizidassistenz ist verboten und strafbar. Hier sehen Rechtsexperten mögliche Probleme für Palliativmediziner in Hospizen und Ärzte auf Intensivstationen (dafür: 216 Abgeordnete). (2) Ärzte sollen unheilbar Kranken beim Suizid helfen dürfen. Der Patientenautonomie wird Vorrang eingeräumt. Bedingung: deutliche Einwilligung des Patienten, Volljährigkeit und umfassende Beratung vor Suizidhilfe in schwerwiegenden Fällen, die von mehreren Ärzten eingestuft werden muss (Vier-Augen-Prinzip) (dafür:109 Abgeordnete). (3) Verbot nur für gewinnorientierte Sterbehilfe - "selbstlose" Vereine und Ärzte sollen beim Suizid assistieren und Kostenerstattung erhalten dürfen. Patienten sollen Angebote zur Suizidhilfe straffrei annehmen dürfen, allerdings nur unter Einhaltung klarer Regeln: suizidpräventive Beratung, 14 Tage Frist zwischen Beratung und endgültiger Entscheidung (dafür: 54 Abgeordnete). (4) Totalverbot jeder assistierter Suizidbeihilfe. Anstiftung und Beihilfe zum Suizid sind verboten. Schon der Versuch der Suizidassistenz soll strafbar sein. Nur passive Sterbehilfe wie zum Beispiel der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen sollen weiterhin erlaubt sein und straffrei bleiben (dafür: 35 Abgeordnete). Aus ärztlicher Sicht ist immer zu prüfen, ob ein Suizidwunsch – auch bei schwerer Krankheit – nicht Folge einer Depression oder depressiven Verarbeitung der Lebenssituation ist. In diesem Fall wäre Beihilfe zum Suizid oder Suizidassistenz ein Behandlungsfehler. 2 Formen der Sterbehilfe in Europa • Innereuropäischer Vergleich Die nachfolgende Tabelle (Stand November 2015) gibt eine Übersicht über die Regelungen zur Sterbehilfe in den einzelnen europäischen Staaten. Bis auf Holland, Belgien und Luxemburg haben alle Staaten die aktive Sterbehilfe unter Strafe gestellt. Auch die Beihilfe zum Suizid, welche in Deutschland straffrei ist, ist in vielen europäischen Ländern nicht legal. Land Aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) Beihilfe zur Selbsttötung (assistierter Suizid) Belgien legal (seit 2002) legal Dänemark verboten verboten Deutschland verboten (bis zu 5 Jahren Haft) Finnland verboten Frankreich verboten (gleichgesetzt mit fahrlässiger Tötung, bis zu 5 Jahre Haft) nur legal, wenn der Helfer nicht geschäftsmäßig tätig ist (sonst bis zu 3 Jahren Haft), bei Ärzten weitere Einschränkungen durch das Standesrecht keine näheren Angaben verboten Indirekte Sterbehilfe (Lebensverkürzung durch palliative Therapie) legal keine näheren Angaben Passive Sterbehilfe (sterben lassen) legal legal legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt legal legal legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt 17 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care verboten legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt keine näheren Angaben verboten (gleichgesetzt mit Mord) verboten legal keine näheren Angaben verboten keine näheren Angaben rechtlich unklar keine näheren Angaben legal, wenn Schmerzlinderung das primäre Ziel legal legal, gilt als natürlicher Tod legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt legal Griechenland verboten (gleichgesetzt mit Mord) Großbritannien Italien Luxemburg verboten (bis zu 14 Jahren Haft) legal (seit 2009) Niederlande legal (seit 2002) legal Norwegen verboten verboten Irland Österreich Polen Portugal verboten (bis zu 14 Jahren Haft) legal verboten (bis zu 5 Jahren Haft) verboten verboten (bis zu 3 Jahren Haft) legal, gilt als natürlicher Tod rechtlich unklar legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt verboten verboten (bis zu 5 Jahren Haft) legal verboten verboten verboten (bis zu 3 Jahren Haft) keine näheren Angaben keine näheren Angaben legal, wenn Helfer eine Privatperson legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt legal legal legal keine näheren Angaben legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt Schweden verboten Schweiz verboten Slowenien verboten (mindest. 5 Jahre Haft) legal, soweit keine selbstsüchtigen Beweggründe vorliegen verboten (6 Monate bis zu 5 Jahren Haft) Spanien verboten verboten Ungarn verboten verboten legal, wenn medizinisch korrekt durchgeführt legal, wenn Willensäußerung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt rechtlich unklar rechtlich unklar Quelle: http://www.cdl-rlp.de/Unsere_Arbeit/Sterbehilfe/Sterbehilfe-in-Europa.html • Erfahrung in den Niederlanden mit Euthanasie In den Niederlanden ist die aktive Sterbehilfe nicht etwa legalisiert, d. h. dass derjenige, der eine aktive Sterbehilfe durchführt, sich theoretisch strafbar macht. In der Praxis verzichtet man aber in den letzten 20 Jahren auf eine Strafverfolgung, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen bzw. Bedingungen eingehalten werden: o o Dem Arzt muss ein ausdrückliches, freies und beständiges Verlangen des über seinen Zustand vollständig unterrichteten Patienten nach Tötung vorliegen. Es muss die Rede, sein von einem untragbaren Leiden des Patienten. 18 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care o o o Der Patient muss sich in einem irreversiblen, unheilbaren Zustand befinden. Der Arzt muss einen weiteren, unabhängigen Mediziner zu Rate ziehen. Allein der behandelnde Arzt oder ein Arzt, der mit diesem gemeinsam beratschlagt hat, darf dem Gesuch des Patienten nach Sterbehilfe Folge leisten. Auf all sein Handeln muss der Arzt die größtmögliche Sorgfalt legen. Der Arzt hat einen ausführlichen Bericht über den gesamten Fall zu erstatten. 1983 handelte es sich um 10, 1989 waren es 338 und 1994 bereits 1427 Fälle. Strafrechtlich verfolgt wurden 1994 zehn Fälle. Es wird angenommen, dass nicht alle Fälle gemeldet werden. 88 % der niederländischen Ärzte akzeptieren diese Art der Sterbehilfe. Nach einer Umfrage unter niederländischen (Haus-)Ärzten ergab sich 1995 folgendes Bild: 9.700 mal wurde der Wunsch nach Euthanasie ausgesprochen (das waren 7 % aller Sterbefälle), die o.a. Kriterien trafen auf 3.200 Patienten zu, durchgeführt wurden 1.995 Tötungen auf Verlangen bzw. assistierte Suizide. Von den Patienten wurde folgende Gründe genannt (in %) Aussichtsloses und unerträgliches Leiden Vermeidung von Entwürdigung Vermeidung von stärkerem bzw. weiterem Leiden Sinnloses Leiden Schmerz Lebensmüdigkeit Vermeidung von Ersticken Wunsch, der Familie nicht mehr zur Last zu fallen Vermeidung von Schmerz • 74 56 47 44 32 18 18 13 10 In Belgien und Luxemburg gibt es ähnliche Regelungen: siehe http://www.dglive.be/PortalData/2/Resources/downloads/familie/Sterbehilfe_layou t_2009_dglive.pdf • Assistierter Suizid in der Schweiz Der ärztlich assistierte Suizid ist in der Schweiz unter bestimmten Umständen erlaubt. Die Assistenz der Ärzte bezieht sich hierbei auf die Aushändigung des tödlichen Medikaments und die Anwesenheit bis zum Versterben, um anschließend den Tod festzustellen. Den Totenschein muss jedoch ein anderer, nicht involvierter Arzt ausstellen. Folgende Bedingungen stellen diese Form der Sterbehilfe nach § 115 des Schweizer Strafgesetzbuches nicht unter Strafe: • • • Dieser Vorgang der Selbsttötung kann nur von Patienten im Wachzustand ausgeführt werden, da die Einnahme eines Medikaments auf oralem Weg geschieht oder parenteral unter Zuhilfenahme einer Infusion, deren Einlaufen vom Patienten initialisiert werden muss. Es müssen die medizinisch-ethischen Richtlinien für die Euthanasie und den assistierten Suizid der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) eingehalten werden (2004). Inhalt ist unter anderem das Verbot von Seiten des Arztes Suizidhilfe (kommerziell) anzubieten. Auch sind die Ärzte verpflichtet, jede andere palliativmedizinische Möglichkeit soweit möglich anzuwenden. Wenn ein Arzt aus individuell-moralischen Gründen die Selbsttötung nicht begleiten will, hat er das Recht, den Fall abzulehnen. Es gibt in der Schweiz vor allem zwei Vereinigungen, die den assistierten Suizid vermitteln (Dignitas und Exit). Nicht verschwiegen werden soll, dass es auch eine Gegenbewegung gibt (z.B. Save Life). Mehrere Meinungsumfragen der letzten 25 Jahre unter der Schweizer 19 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Bevölkerung zur Akzeptanz von Sterbehilfe zeigen ziemlich konstant, dass jeweils etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Befragten der Meinung sind, dass Sterbehilfe auf Verlangen für unheilbar Kranke erlaubt sein solle. Durch eine Grundsatzentscheidung der Bundesärztekammer verbietet es die Berufsordnung den deutschen Ärzten, Hilfe zu Suizid zu leisten (s.o.). 3 Der Wille des Patienten Eine vollständige eigene Vorsorge besteht aus drei Teilen. • Patientenverfügung Für eine (ärztliche) Behandlung ist im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes die Einwilligung des Betroffenen unerlässlich. Die früher als „Patiententestament“ bezeichnete Patientenverfügung stellt eine Willenserklärung dar für den Fall, dass die eigene Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt ist. Eine solche Willenserklärung kann (und sollte) im Prinzip jeder Mensch verfassen, sobald er volljährig ist. Die Patientenverfügung sollte stets schriftlich und an zugänglichem Ort aufbewahrt werden und in regelmäßigen Abständen (schriftlich) bestätigt werden. Inzwischen gibt es zahlreich Muster, die auch aus dem Internet heruntergeladen werden können. Die Verfügung sollte Angaben zu Art und Umfang der medizinischen Behandlung in bestimmten Situationen enthalten. Adressat der Verfügung ist nicht nur der behandelnde Arzt, sondern jeder (z. B. Pflegepersonal), der an der Behandlung und Betreuung teilnimmt. Der in der Patientenverfügung geäußerte Wille ist, sofern die Wirksamkeit der Erklärung gegeben ist und keine Anhaltspunkte für eine Veränderung des Willens vorliegen, zu beachten. Schwierigkeiten treten dann auf, wenn die konkrete Situation in der Verfügung nicht genannt wurde, weil nicht sämtliche Eventualfälle aufgezählt werden können. Folgende Checkpunkte werden bei Abfassung von Verfügungen und Vollmacht empfohlen (in Anlehnung an die Deutsche Hospiz-Stiftung): 1. 2. Welche Dokumente brauche ich, um für den Krankheitsfall vorzusorgen? Mache ich in meiner Patientenverfügung deutlich, aus welcher individuellen Motivation heraus ich diese erstellt habe? 3. Vermeide ich schwammige Formulierungen und unbestimmte Begriffe in meiner Patientenverfügung? 4. Bezieht sich der Text meiner Patientenverfügung auf konkrete Krankheitszustände und wird deutlich, dass ich ihn nach ausreichender Information wohlüberlegt verfasst habe? 5. Vermeide ich voreilige generelle Festlegungen oder Verzichtserklärungen in meiner Patientenverfügung? 6. Fordere ich als "Mindestbestandteil" meiner Patientenverfügung moderne Formen der Sterbebegleitung ein? 7. Bin ich über die Risiken und das Verbot aktiver Sterbehilfe informiert? 8. Regelt meine Vorsorgevollmacht alle relevanten Vollmachtsbereiche? (Die wichtigsten Vollmachtsbereiche wie Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über freiheitsentziehende Maßnahmen und Abbruchentscheidungen müssen in der Vorsorgevollmacht explizit aufgeführt werden, wenn der Bevollmächtigter über diese Fragen entscheiden soll. Außerdem sollte die Möglichkeit bestehen, mehrere Bevollmächtigte einzusetzen. Wichtig ist auch der Hinweis darauf, dass diese im Besitz von Originalvollmachten sein müssen.) 9. Sind meine Dokumente formal richtig erstellt? 10. Habe ich eine individuelle fachkundige Beratung in Anspruch genommen? 11. Habe ich Vertrauenspersonen einbezogen? 12. Habe ich die Möglichkeit genutzt, den Text überprüfen und registrieren zu lassen? 20 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care In diesem Zusammenhang wird auf die Information des Justizministeriums verwiesen (http://www.bmj.de/enid/5b398a3a2d3476dedbf32d0fc33420cd,0/Ratge ber/Patientenverfuegung_oe.html), wo auch das Muster einer Verfügung herunter geladen werden kann unter http://www.bmj.de/files/-/1512/Patvfg._160108.pdf. • Vorsorgevollmacht Mit einer Vorsorgevollmacht bevollmächtigt nach deutschem Recht eine Person eine andere Person, im Falle einer Notsituation alle oder bestimmte Aufgaben für den Vollmachtgeber zu erledigen. Mit der Vorsorgevollmacht wird der Bevollmächtigte zum Vertreter im Willen, d. h., er entscheidet an Stelle des nicht mehr entscheidungsfähigen Vollmachtgebers. Deshalb setzt eine Vorsorgevollmacht unbedingtes und uneingeschränktes persönliches Vertrauen zum Bevollmächtigten voraus und sollte nicht leichtfertig erteilt werden. Die Rechtsgrundlage für das Handeln des Bevollmächtigten findet sich in § 164 ff. BGB, das Verhältnis zwischen Vollmachtgeber und Bevollmächtigten (sog. Auftrag) in § 662 ff. BGB. (aus: Wikipedia). Die Vollmachstbereiche sind oben (III.3.a.8) genannt. Die Erteilung einer Vorsorgevollmacht ohne Patientenverfügung ist nicht sinnvoll und umgekehrt, beides ist jedoch möglich. Eine Vorsorgevollmacht setzt sehr großes Vertrauen in die Person(en) voraus, der sie gegeben wird. Missbrauchsmöglichkeiten sind dann ausgeschlossen, wenn gleichzeitig eine eindeutige Patientenverfügung vorliegt und in der Betreuungsvollmacht darauf hingewiesen wird und wenn die Vollmacht mehreren Personen erteilt wird. Mustererklärungen können von der website des Justizministeriums bezogen werden: http://www.bmj.bund.de/media/archive/953.pdf • Betreuungsverfügung Eine vollständige eigene Vorsorge umfasst auch die Betreuungsverfügung. Hier wird für den Bedarfsfall ein Betreuer vorgeschlagen. Die Abgrenzung von Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung liegt vor allem darin, dass die Betreuungsverfügung erst dann Wirkung entfaltet, wenn das Vormundschaftsgericht entsprechend der gesundheitlichen Situation es für erforderlich hält, dass die Handlungsbefugnis dem Vorgeschlagenen übertragen wird und diese Befugnis dann unter gerichtlicher Kontrolle steht. Das Vormundschaftsgericht wacht also über die Einhaltung der Verfügung z.B. auch über die Konten des Verfügenden. Gerichtlich bestellte bzw. professionelle Betreuer werden bezahlt (z.Zt. 44 € pro Stunde), ehrenamtliche Betreuer (Freunde, Familienangehörige …) erhalten eine geringe Aufwandsentschädigung. Auch hier stellt das Justizministerium Mustererklärungen zur Verfügung: http://www.bmj.bund.de/media/archive/1045.pdf Fallbeispiel II: Kündigung des Pflegeheimplatzes bei einem Wach-Koma-Patienten. Badische Zeitung vom 11. März 2009 (Das Fallbeispiel ist im Anhang enthalten). 21 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care IV. Palliativmedizin 1 Definition und Grundsätze des Fachgebietes Gegenstand der Palliativmedizin ist die Behandlung und Begleitung von Patienten mit einer nicht heilbaren, progredienten (fortschreitenden) und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung. Die Palliativmedizin bejaht das Leben und sieht Sterben als einen natürlichen Prozess. Sie lehnt aktive Sterbehilfe in jeder Form ab. Die Palliativmedizin arbeitet multidisziplinär und basiert auf der Kooperation der Ärzte verschiedener Disziplinen, des Krankenpflegepersonals und anderer Berufsgruppen, die mit der ambulanten und stationären Betreuung unheilbar Kranker befasst sind. Durch eine ganzheitliche Behandlung soll Leiden umfassend gelindert werden, um dem Patienten und seinen Angehörigen bei der Krankheitsbewältigung zu helfen und ihm eine Verbesserung der Lebensqualität zu ermöglichen (nach der Satzung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, gegründet 1994). Palliativmedizin versteht sich demnach ausdrücklich als Gegenpol zur (aktiven) Sterbehilfe. Das Ziel der Palliativmedizin ist nicht die Verkürzung des Lebens, sondern das „Sterben lassen“ in Würde und Ruhe und unter optimaler Kontrolle der Symptome. Palliativmedizin schließt eingreifende Behandlungen wie Chemotherapie, Strahlentherapie und/oder Operationen nicht aus. Voraussetzung ist aber, dass die Vorteile dieser Maßnahmen größer sind als deren potentielle Nachteile. Die Inhalte des Gesamtkonzepts der Palliativmedizin lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Bestmögliche Schmerz- und Symptomkontrolle. • Integration der psychischen, sozialen und seelsorgerischen Bedürfnisse der Patienten, der Angehörigen und des Behandlungsteams sowohl während der Erkrankung des Patienten als auch bei seinem Sterben und in der Zeit danach. • Akzeptanz des Sterbens als Teil des Lebens. Sterben ist ein natürlicher Prozess, und der Tod soll weder beschleunigt noch hinausgezögert werden. • Palliativmedizin ist eine eindeutige Absage an aktive Sterbehilfe. • Kompetenz in Kommunikation und Ethik. • Aufgabe und Ziel der Palliativmedizin ist es, die individuell notwendige Unterstützung anzubieten, damit der Patient die bestmögliche Lebensqualität in seiner ihm verbleibenden Lebenszeit erreichen kann. Dies wird ermöglicht durch die Kooperation kompetenter Einrichtungen mit Hausärzten, Sozialstationen und Krankenhausstationen, sodass eine optimale Behandlung rund um die Uhr überall dort gesichert werden kann, wo diese Patienten betreut werden. Der Patient soll selbst entscheiden können, ob er zu Hause oder in stationären Einrichtungen versorgt werden will. In Deutschland hat sich die Palliativmedizin in den 80-ger Jahren entwickelt. Gab es 1990 noch 3 Palliativstationen und 3 Hospize in Deutschland, waren es 2005 bereits 116 Palliativstationen und 131 Hospize. 2 Schwere Erkrankungen im Endstadium Der Verlauf einer schweren Krankheit im Endstadium kann mit und ohne (Palliativ-)Therapie sehr unterschiedlich sein (s. Abbildung nächste Seite). 22 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Der Zugewinn an Lebensqualität ergibt sich aus der Fläche zwischen den Kurven 1 und 4 (im günstigsten Fall auch Kurve 3, falls durch Palliativmedizinische Maßnahmen eine Lebensverlängerung erreicht wird). aus: Leitfaden Palliativmedizin (s. Literaturempfehlungen) Die häufigsten, in der Palliativmedizin vorkommenden Erkrankungen sind: • Tumorleiden (Krebs) im Endstadium diese umfassen ca. 90 % der palliativmedizinischen Maßnahmen • Neurologische Erkrankungen • Erbliche Muskellähmungen - am häufigsten ist die sog. amyotrophe Lateralsklerose (ALS) – s. Fallbeispiel 3! • Fortgeschrittene Demenz (z.B. Alzheimer-Erkrankung) • Parkinson-Erkrankung im Endstadium • Multiple Sklerose (MS) im Endstadium • Schädelhirntrauma mit gravierenden Folgen (z.B. sog. Wachkoma) • Andere Erkrankungen sind sehr selten Anlass für Palliativmaßnahmen, weil die Abschätzung der Prognose (eine aussichtlose Prognose ist ja eine Grundvoraussetzung, Palliativmedizin anzuwenden) hier schwieriger ist, als bei den o.a. Erkrankungen. Neben AIDS handelt es sich meist um das Endstadium schwerer Herz-, Lungen-, Leber- und Nierenerkrankungen. Die genannten Erkrankungen gehen im Endstadium häufig mit quälenden Symptomen einher, deren Behandlung dann im Vordergrund steht. a. Schmerzen sind das häufigste Symptom in der palliativmedizinischen Behandlung. Meistens ist eine Krebserkrankung die Ursache. Es ist zu unterscheiden in • Tumorbedingte Schmerzen bei 60-90% der Tumorpatienten • Therapiebedingte Schmerzen bei 10-25 % (z.B. durch Nervenschädigung, Narbenbildung, Muskelverspannungen, Folge von Bestrahlung und Chemotherapie) • Schmerzen durch Komplikationen bei 10-20% (z.B. durch Gürtelrose, Wundliegen, Thrombosen u.a.) Die Behandlung richtet sich nach der Ursache, umfasst Medikamente (Schmerzmittel nach dem sog. WHO-Stufenschema), psychotherapeutische und physiotherapeutische Unterstützung, physikalische Verfahren (z.B. Elektrostimulation), chirurgische Eingriffe, 23 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care b. c. d. e. f. g. Schmerzbestrahlungen. Nicht ausreichende Schmerzbeseitigung liegt oft in der falschen Medikation bzw. ungünstigen Kombination begründet, aber auch in Anwendungsproblemen. Spezielle Anwendungsformen (z.B. Schmerzmittelpumpe) sind zu prüfen. Luftnot tritt bei ca. der Hälfte aller fortgeschrittenen Tumorerkrankungen auf, aber auch bei Lungen- und Herzerkrankungen sowie neurologischen Krankheiten. Die Behandlung sollte soweit möglich ursächlich erfolgen (z.B. Verschleimung beseitigen, Lungenwasser entfernen …), andernfalls symptomatisch (Medikamente, Gabe von Sauerstoff). Eine künstliche Beatmung ist selten angezeigt, allenfalls besteht das Problem, eine seit längerer Zeit stattfindende künstliche Beatmung zu beenden. Neben Luftnot kann quälender Husten ein therapeutisches Problem sein. Magen-Darm-Symptome Ungenügende Nahrungsaufnahme mit der Folge extremer Abmagerung ist am häufigsten (sog. Kachexie). Oft versuchen gerade Angehörige den Betroffenen zur Nahrungsaufnahme zu zwingen (s. Fallbeispiel 2!). Eine Sondenernährung kann hilfreich sein, stellt jedoch keine längerfristige Lösung dar. Ferner sind Übelkeit und Erbrechen entweder krankheitsbedingt oder als Nebenwirkung starker Medikamente oft ein Problem. Auch häufiges Verschlucken und quälender Schluckauf sind nicht selten. Ferner treten Durchfall (z.B. durch spezielle Sondennahrung oder als Antibiotika-Nebenwirkung) sowie Verstopfung (z.B. durch Morphium-Nebenwirkung und Immobilität) häufig auf. Harntrakt Urin- (und Stuhl-)Inkontinenz sind für den Betroffenen sehr unangenehm und stellen ein pflegerisches Problem dar. In der Folge kommt es häufiger zu Harnwegsinfekten, evtl. auch durch Blasenkatheter ausgelöst, mit schmerzhaften Symptomen. Haut Symptome und Komplikationen sind oft: Wundliegen (Dekubitus), Geschwüre durch Tumoren, anhaltender Juckreiz, starkes Schwitzen, Schwellungen z.B. durch Lymphstau. In der Abwehr geschwächte Menschen erkranken oft an Gürtelrose mit entsprechenden Hauterscheinungen und in der Folge sehr starken Nervenschmerzen. Die Behandlung richtet sich nach der Ursache und stellt fast immer ein pflegerisches Problem dar. Neurologische Symptome Symptome treten von Seiten des peripheren Nervensystems, z.B. (spastische) Lähmungen mit Kontrakturen (d.h. schmerzhafte Muskelverkürzungen, Muskelkrämpfen und –zuckungen) und von Seiten des Zentralnervensystems auf. Zu letzteren zählen bspw. Schwindel, Bewusstseinsstörungen, epileptische Krämpfe und Hirndruckerscheinungen (Beschwerden wie Kopfschmerzen, Sehstörungen, Erbrechen durch eine Abflussstörung des Hirnwassers bei Hirntumoren oder Hirnmetastasen). Psychische Symptome Menschen im Endstadium einer schweren Erkrankung befinden sich stets in einem seelischen Ausnahmezustand. Oft bestehen Schlafstörungen, starke Unruhe, Ängste und Depressionen. Suizidalität ist nicht selten die Folge. Die Behandlung geschieht durch eine ärzt24 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care lich-psychotherapeutische Begleitung und verständnisvolle Pflege und Einsatz der Angehörigen. Bei starker Unruhe, Angst und Depression sind Medikamente angezeigt. Die Symptomkontrolle ist eines der Hauptziele der Palliativmedizin (s.u.). Darunter versteht man die bestmöglichste Beseitigung bzw. Unterdrückung quälender Symptome, die die Lebensqualität erheblich einschränken. 3 Ziele und Grundsätze von Palliative Care Oben (IV.1) wurden bereits die grundlegenden Ziele der Palliativmedizinbesprochen. Palliative Care umfasst wesentlich mehr als nur den traditionellen medizinischen und pflegerischen Aspekt. Das Leid des Betroffenen wird in allen vier Dimensionen (körperlich, psychisch, sozial, spirituell) ganzheitlich gesehen. Daraus leiten sich weitere Ziele und Grundsätze ab: • Behandlung des Patienten in der Umgebung seiner Wahl (ambulant, stationär, zu Hause, Pflegeheim etc.). • Beachtung der physischen, psychischen, sozialen und seelsorgerlichen Bedürfnisse von Patient, Angehörigen und Behandlungsteam. • „High person low technology" (wobei heute auch gilt: High technology, wenn sinnvoll, z.B. transdermale Applikation, Stents). • Individuelle Behandlung jedes Patienten im multidisziplinären Team rund um die Uhr. • Offenheit und Wahrhaftigkeit als Grundlage des Vertrauensverhältnisses unter allen Beteiligten. • Symptomkontrolle (Schmerzen und andere Symptome) durch den Spezialisten (intensive med. Betreuung). • Fachliche Pflege durch speziell geschulte Pflegekräfte. • Integration von Ehrenamtlichen. • Zentrale Koordination des Teams. • Kontinuierliche Betreuung (24-h-Bereitschaft) des Patienten und seiner Angehörigen bis zum Tod bzw. in der Trauerzeit. • Bejahung des Lebens. Akzeptanz von Sterben und Tod als Teil des Lebens. Der Tod wird weder beschleunigt noch hinausgezögert. Aktive Sterbehilfe wird strikt abgelehnt. • Forschung, Dokumentation und Auswertung der Behandlungsergebnisse. • Unterricht und Ausbildung von Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern, Seelsorgern und Ehrenamtlichen. 4 Palliative Versorgungsstrukturen und Vernetzung Die ambulanten Versorgungmöglichkeiten gliedern sich in • Hausärztliche Versorgung (wobei eine spezielle palliativmedizinische Weiterbildung wünschenswert ist – inzwischen auch angeboten wird) • Gemeindeschwester • Hausbetreuungsdienste • Ambulante Hospizgruppen Mittlerweile gibt es eine Reihe von spezialisierten Hausbetreuungsdiensten, die regional unterschiedlich vertreten sind (z.B. ambulanter Hospizund Palliativpflegedienst – AHPP, ambulanter Palliativdienst – APD und andere). Diese Dienste rekrutieren sich aus einem professionellen und spezialisierten Kernteam und einer Reihe ehrenamtlicher Helfer. In der Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz (BAG) und der Deutschen Gesell- 25 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care schaft für Palliativmedizin (DGP) sind die Anforderungen an solche Dienste definiert worden. 5 Als teilstationäre Möglichkeit ist die Tagesklinik (Tageshospiz) zu nennen, welche auf der einen Seite eine kompetente Behandlung ermöglich, auf der anderen Seite den Patienten möglichst lange in seiner gewohnten Umgebung (teilweise) belässt und daher die Unabhängigkeit des Betroffenen möglichst lange erhält. Die stationären Versorgungsstrukturen umfassen: • Palliativstationen, die in Krankenhäusern integriert oder diesen angeschlossen sind. Die Einrichtung solcher Stationen ist sinnvoll, weil die Alternative (Hospiz) nicht immer zur Verfügung steht und die Kooperation mit einem Akutkrankenhaus medizinisch sinnvoll ist. • Hospize, die als stationäre Einrichtungen aus der Hospizbewegung hervorgegangen sind. Die Idee ist, Menschen in der letzten Phase einer unheilbaren Erkrankung zu unterstützen und zu pflegen. Die Hospizbewegung hat in einzelnen Ländern einen sehr unterschiedlichen Stand erreicht. Hospizarbeit in Deutschland und deren Grundlage im System der Sozialversicherung. In Deutschland wurde eine Rahmenvereinbarung am 09.02.1999 nach § 39a Satz 4 SGB V zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz sowie einigen karitativen Organisationen wie z. B. dem Arbeiterwohlfahrtsverband und dem Deutschen Roten Kreuz und anderen abgeschlossen. In dieser Vereinbarung wird festgelegt, was ein stationäres Hospiz ist, wer Anspruch auf die Leistungen eines Hospizes hat, welcher Versorgungsumfang zu erbringen ist, welche Qualitätsanforderungen zu erfüllen sind und welche Vergütungsgrundsätze und Krankenleistungen zu gewährleisten sind. Nach dieser Vereinbarung sind stationäre Hospize selbstständige Einrichtungen mit eigenständigem Versorgungsauftrag für Patienten mit unheilbaren Krankheiten in der letzten Lebensphase, bei denen palliativmedizinische Behandlung erbracht wird. Grundvoraussetzung für die Aufnahme in eine stationäre Hospizeinrichtung ist, dass der Patient an einer Erkrankung leidet, • die progredient verläuft und bereits ein fortgeschrittenes Stadium erreicht • hat und 26 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care • bei der eine Heilung ausgeschlossen und eine palliativmedizinische Behandlung notwendig oder vom Patienten erwünscht • und die lediglich eine begrenzte Lebenserwartung von Wochen oder wenigen Monaten zu erwarten lässt und • eine Krankenhausbehandlung im Sinne des § 39 SGB V nicht erforderlich ist. Folgende Krankheitsbilder kommen für eine palliativmedizinische Behandlung in einem stationären Hospiz in Betracht: • fortgeschrittene Krebserkrankung; • Vollbild der Infektionskrankheit AIDS; • Erkrankungen des Nervensystems mit unaufhaltsam fortschreitenden • Lähmungen; • Endzustände einer chronischen Nieren-, Herz-, Verdauungstrakt- oder • Lungenerkrankung. Die Tageskosten für ein Hospiz betrugen 2005 zwischen 190 und 240 Euro, der Krankenkassensatz nach obiger Vereinbarung betrug 150 Euro, hinzu kommt ein Zuschuss aus der Pflegekasse. 5 % der Kosten müssen die Einrichtungen selbst tragen (vor 2015 waren es 10 %). Insgesamt ist trotz der erwähnten Regelung dieser Bereich der Gesundheitsversorgung unterfinanziert (s.u. und Artikel im Anhang). „Hospiz ist eine Idee und kein Gebäude.“ V. Palliativpflege als Teil der Palliativversorgung Ein begriffliche Klärung (Palliative Care, Palliativpflege und Palliativmedizin) ist nicht ganz einfach. Palliative Care als englische Bezeichnung meint am ehesten Palliativ-Versorgung, die Palliativmedizin und Palliativpflege einschließt. Die WHO definiert Palliativpflege so: "Palliativversorgung ist die aktive totale Pflege von Patienten, deren Krankheit nicht auf eine kurative Behandlung anspricht. Die Kontrolle des Schmerzes, von anderen Symptomen und von psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen hat höchste Priorität. Das Ziel von Palliativpflege ist die Erreichung der bestmöglichen Lebensqualität für Patienten und ihre Familien. Viele Aspekte der Palliativpflege sind auch schon in frühen Stadien einer Krankheit, etwa in Verbindung mit einer Krebstherapie anwendbar.“ Und die Grundsätze der Palliativversorgung wie folgt: • • • • • • • 1 Palliativversorgung bestätigt das Leben und versteht den Tod als normalen Prozess will den Tod weder beschleunigen noch verschieben; liefert Linderung von Schmerz und anderen bedrückenden Symptomen; integriert die psychologischen und geistlichen Aspekte der Patientenzentrierten Pflege bietet ein Unterstützungssystem an, um dem Patienten zu helfen, so aktiv und selbstbestimmt wie möglich bis zum Tode zu leben; bietet ein Unterstützungssystem an, um der Familie während der Krankheit des Patienten und in ihrem eigenen Trauerfall zu helfen. Strahlentherapie, Chemotherapie und Operationen haben einen festen Platz innerhalb der Palliativpflege, vorausgesetzt, dass die symptomatischen Nutzen der Behandlung die Nachteile eindeutig überwiegen . Enthüllende Verfahren sind auf ein Minimum zu beschränken. Pflegeversicherung: Pflegestufen und ab 2017 Pflegegrade Nicht alle Menschen, die der palliativmedizinischen Versorgung bedürfen sind pflegebedürftig und umgekehrt. Sehr häufig ist jedoch Pflegebedürftigkeit im Endstadium einer schweren Erkrankung vorhanden. Da die Finanzierung von Palliative Care, wie oben dargestellt, unbefriedigend ist, sollten Leistungen aus der Pflegekasse zur Mitfinanzierung in Anspruch genommen werden. Daher ist die Kenntnis der Pflegestufen (ab 2017 fünf Pflegegrade) und Leistungen wichtig. Die Einteilung richtet sich nach dem 27 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Hilfsbedarf bei den Verrichtungen in den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Mobilität (Grundpflege), Hilfsbedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung und dem insgesamt notwendigen Zeitaufwand (einer nicht ausgebildeten Pflegeperson, z.B. Angehörige). Über die Geld- und Sachleistungen der Pflegeversicherungen informiert z.B. Neu ist die sog. Pflegestufe 0 bei Demenzkranken. • Pflegestufe I: Erheblich pflegebedürftig Erheblicher Pflegebedürftigkeit gilt, wenn mindestens einmal täglich Hilfe bei mindestens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen der Grundpflege (z.B. Körperpflege und Ernährung) erforderlich ist und mehrfach in der Woche eine Haushaltshilfe benötigt wird. Auf die Woche gerechnet muss der Zeitaufwand täglich mindestens 90 Minuten betragen, wovon mindestens 45 Minuten auf die Grundpflege entfallen müssen. • Pflegestufe II: Schwer-pflegebedürftig Schwerpflegebedürftigkeit liegt vor, wenn der Pflegebedürftige mindestens dreimal am Tag zu unterschiedlichen Tageszeiten grundpflegerischer Versorgung und mehrmals in der Woche hauswirtschaftlicher Unterstützung bedarf. Der wöchentliche Zeitaufwand muss im Tagesdurchschnitt bei mindestens drei Stunden liegen, wovon mindestens zwei Stunden auf die Grundpflege entfallen müssen. • Pflegestufe III: Schwerst-pflegebedürftig Von Schwerstpflegebedürftigkeit spricht man, wenn die betroffene Person ständiger "Rund-um-die-Uhr"-Pflege bedarf und mehrmals in der Woche auf hauswirtschaftliche Unterstützung angewiesen ist. Der Zeitaufwand muss mindestens fünf Stunden im Tagesdurchschnitt betragen, wovon für die Grundpflege mindestens vier Stunden aufgewendet werden müssen. In Pflegestufe III gibt es noch sog. Härtefallregelungen mit höheren Geldleistungen bei besonderem Pflegeaufwand. Die Pflegebedürftigkeit hängt nicht von der Diagnose oder der Prognose der Erkrankung ab, sondern ausschließlich vom Pflegeaufwand. Die soziale Absicherung pflegender Angehöriger wurde in den letzten Jahren verbessert (Sozialversicherungsbeiträge). Die Änderungen ab 1.1.2017 im Überblick: 1 bis Ende 2016 ab 2017 Pflegestufe 1 (ohne Demenz) Pflegestufe 2 (ohne Demenz) Pflegestufe 3 (ohne Demenz) Pflegestufe 0 (mit Demenz) Pflegestufe 1 (mit Demenz) Pflegestufe 2 (mit Demenz) Pflegestufe 3 (mit Demenz) Härtefall (mit Demenz) Pflegegrad 2 Pflegegrad 3 Pflegegrad 4 Pflegegrad 2 Pflegegrad 3 Pflegegrad 4 Pflegegrad 5 Pflegegrad 5 Leistungen ab 2017 (Pflegegeld/Pflegedienst) 316 € / 689 € 545 € / 1.298 € 728 € / 1.612 € 316 € / 689 € 545 € / 1.298 € 728 € / 1.612 € 901 € / 1.995 € 901 € / 1.995 € 28 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care 2 Grundlagen der Palliativpflege Krankenpflege bei chronisch Kranken kann durch Angehörige bei entsprechender Kenntnis und durch Pflegedienste – ambulant oder stationär - geleistet werden. Palliativpflege im Sinne von Palliative Care ist jedoch umfassender als „reine“ Krankenpflege und erfordert eine Zusatzqualifikation und die Integration in ein multiprofessionelles Team. Palliative Care umfasst unter anderem: • In der körperlichen Dimension ⇒ die konventionelle Krankenpflege ⇒ die Erfassung der Symptome (quantitativ und qualitativ), ggf. durch Anwendung bestimmter Erfassungssysteme (Assessement-Verfahren) ⇒ Symptomlinderung durch spezielle pflegerische Maßnahmen (Lagerung, Mundpflege, Einreibungen, Mobilisation usw.) • In der psychischen Dimension ⇒ Sensibles Eingehen auf die Bedürfnisse und Wünsche des Patienten ⇒ verständnisvolle Begleitung ⇒ Kommunikation(sbereitschaft) ⇒ Erfassung seelischen Leids bzw. seelischer Symptome • In der sozialen Dimension ⇒ Ansprechpartnerin für die Angehörigen ⇒ Auffangen emotionaler Nöte ⇒ Unterstützung bei der Bewältigung (Coping) ⇒ Integration von Angehörigen in den Pflegeprozess • In der spirituellen Dimension ⇒ Gesprächsbereitschaft über Spiritualität und Sinnhaftigkeit ⇒ Hilfe bei der Bewältigung von Abschieds- und Verlustsituationen, ⇒ Beachtung der individuellen kulturellen und religiösen Werte In allen Dimensionen ist die Kompetenz erforderlich zu erkennen, wann andere Mitglieder des Teams (Arzt, Therapeut, Seelsorger …) hinzugezogen werden sollten. Die Betreuung von Angehörigen ist elementarer Bestandteil der Palliativpflege. Die Vorbereitung auf die Sterbephase ist eine wichtige Aufgabe, da viele Menschen durch die körperlichen und psychischen Veränderungen während der Terminalphase irritiert und belastet werden. Palliative Care endet nicht mit dem Sterben. Die Betreuung von Angehörigen setzt sich über den Tod hinaus fort und hat das Ziel, die erste Phase der Trauer zu bewältigen. 3 Pflegeplanung und Ziele Insbesondere bei Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen verändern sich die Symptombilder in rasch aufeinanderfolgenden Zeitabständen. Der fortschreitende Krankheitsverlauf verhindert oft die Bewahrung einer stabilen Lebenssituation, das Anknüpfen an bekannte Fähigkeiten ist kaum möglich. Daher sollte regelmäßig eine Situationseinschätzung vorgenommen werden, aus der die Patientenprobleme sowie die noch vorhandenen Ressourcen hervorgehen. Auch die festgesetzten Ziele der Pflegeplanung müssen aus dem gleichen Grunde ständig überprüft und ggf. angepasst werden. Somit erhält der Pflegeprozess eine ganz eigene, dem Krank- 29 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care heitsverlauf angepasste Dynamik. Es ist wichtig, den Patienten in allen Phasen des Pflegeprozesses einzubeziehen. Dadurch erhält der Patient das Gefühl, aktiv in die aktuelle Situation eingreifen zu können, das Erleben eines Ausgeliefertseins gegenüber der Krankheit und dem Pflegepersonal wird reduziert. So wird die Autonomie des Kranken gestärkt. Der Einbezug des Patienten ist nur im direkten Gespräch möglich. Dies bedeutet, wichtige Kommunikationsregeln zu beherrschen. Nach der Zustandserfassung müssen die Ziele festgelegt werden. Diese sollten möglichst konkret definiert und nach Prioritäten geordnet werden. Aussagen wie "Wohlbefinden herstellen" helfen nicht weiter. Die Ziele sollen kurzfristig gesteckt und so realistisch wie möglich sein. Stellt sich z.B. heraus, dass ein Symptom nicht gelindert werden kann, kann als Ziel die Akzeptanz dieses Symptoms definiert werden. Enttäuschungen des Patienten sollten möglichst vermieden werden. Bei der Pflegeplanung ist der Patient ebenso mit einzubeziehen wie auch schon bei der Zielabsprache, da er in der Regel sehr gut weiß, welche Interventionen ihm gut getan haben und welche nicht. Pflegende sollten darüber hinaus versuchen, möglichst viele verschiedene Techniken auszuprobieren, um festzustellen, welche Form der Intervention die beste Wirkung auf den Patienten hat. Bei der Umsetzung von Zielen im Rahmen der Pflegeplanung sind die Grenzen der Behandlung mit dem Patienten durchzusprechen, so dass ihm das erleben eben dieser Grenzen erspart bleibt. Die Umsetzung der Pflegeplanung sollte so zeitnah wie möglich erfolgen, da schon kurze Zeit später aufgrund eines Fortschreitens der Krankheit einige Ziele gar nicht mehr relevant sind und die Linderung z.B. neu aufgetretener Symptome höchste Priorität für den Patienten besitzt. 4 Finanzierung – gesetzliche Grundlage Die Finanzierung von Palliative Care erfolgt aus Mitteln der Kranken- und Pflegeversicherung. Wie oben dargestellt, müssen Hospize einen Anteil von 5 % erbringen. Inzwischen wurde am 5.1.2015 das „Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung“ verabschiedet, welches seit 8.12.15 in Kraft ist, dessen Regelungen jedoch teilweise noch umgesetzt werden müssen. Zumindest steht damit die Finanzierung der Palliativversorgung und der Hospize auf einer gesicherten Grundlage. Die wichtigsten Regelungen beinhalten: • • • Die Palliativversorgung wird ausdrücklicher Bestandteil der Regelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Im vertragsärztlichen Bereich werden die Selbstverwaltungspartner zusätzlich vergütete Leistungen vereinbaren – zur Steigerung der Qualität der Palliativversorgung, zur Zusatzqualifikation der Haus- und Fachärzte sowie zur Förderung der Netzwerkarbeit. Die Palliativversorgung im Rahmen der häuslichen Krankenpflege wird gestärkt. Der Gemeinsame Bundesausschuss erhält den Auftrag, in seiner Richtlinie über die Verordnung häuslicher Krankenpflege die Leistungen der Palliativpflege zu konkretisieren und damit für die Pflegedienste abrechenbar zu machen. Um insbesondere in ländlichen Regionen den weiteren Ausbau der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) zu beschleunigen, wird ein Schiedsverfahren für entsprechende Versorgungsverträge eingeführt. Zudem wird klargestellt, dass allgemeine und spezialisierte ambulante Palliativversorgung auch in selektivvertraglichen Versorgungsformen gemeinsam verein- 30 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care • • • • • • bart werden können. Auch in diesen Verträgen gelten die hohen Qualitätsanforderungen der SAPV. Die finanzielle Ausstattung stationärer Kinder- und Erwachsenen-Hospize wird verbessert. Hierfür wurde der Mindestzuschuss der Krankenkassen erhöht. Hospize erhalten nun einen Tagessatz je betreutem Versicherten von rund 261 Euro. Die Krankenkassen tragen 95 Prozent der zuschussfähigen Kosten. Zusätzlich können für stationäre Kinderhospize eigenständige Rahmenvereinbarungen abgeschlossen werden. Bei den Zuschüssen für ambulante Hospizdienste werden neben den Personalkosten auch die Sachkosten berücksichtigt. Der Zuschuss der Krankenkassen je Leistung wird erhöht. Bei der Förderung ist zudem der besondere Aufwand für das hospizliche Erstgespräch zu beachten. Der steigende Zuschuss der GKV trägt insgesamt dazu bei, dass Hospizdienste mehr finanziellen Spielraum erhalten, auch um die Trauerbegleitung der Angehörigen mit zu unterstützen. Außerdem soll die ambulante Hospizarbeit in Pflegeheimen stärker berücksichtigt werden. Auch Krankenhäuser können nun Hospizdienste mit Sterbebegleitungen beauftragen. Die Sterbebegleitung wird ausdrücklicher Bestandteil des Versorgungsauftrages der sozialen Pflegeversicherung. Kooperationsverträge der Pflegeheime mit Haus- und Fachärzten müssen verpflichtend abgeschlossen werden. Ärztinnen und Ärzte, die sich daran beteiligen, erhalten eine zusätzliche Vergütung. Außerdem werden Pflegeheime zur Zusammenarbeit mit ambulanten Hospizdiensten verpflichtet und müssen die Kooperation mit vernetzten Hospiz- und Palliativangeboten künftig transparent machen. Darüber hinaus können Pflegeheime ihren Bewohnerinnen und Bewohnern eine Versorgungsplanung zur individuellen und umfassenden medizinischen, pflegerischen, psychosozialen und seelsorgerischen Betreuung in der letzten Lebensphase organisieren und anbieten können. Dieses besondere Beratungsangebot wird ebenfalls von den Krankenkassen finanziert. Zur Stärkung der Hospizkultur und Palliativversorgung in Krankenhäusern können für eigenständige Palliativstationen krankenhausindividuelle Entgelte mit den Kostenträgern vereinbart werden, wenn das Krankenhaus dies wünscht. Aber auch in Krankenhäusern, in denen keine Palliativstationen zur Verfügung stehen, wird die Palliativversorgung gestärkt: Ab 2017 können Krankenhäuser krankenhausindividuelle Zusatzentgelte für multiprofessionelle Palliativdienste vereinbaren, ab 2019 wird es auf entsprechender gesetzlicher Grundlage bundesweit einheitliche Zusatzentgelte hierfür geben. Die Krankenhäuser können dafür hauseigene Palliativ-Teams aufbauen oder mit externen Diensten kooperieren. Versicherte haben nun einen Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestellung durch die gesetzlichen Krankenkassen bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Leistungen der Palliativ- und Hospizversorgung. Dabei sollen Krankenkassen auch allgemein über Möglichkeiten persönlicher Vorsorge für die letzte Lebensphase informieren, insbesondere zu Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung. (Quelle: Bundesgesundheitsministerium) 31 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Literaturempfehlungen Das letzte Lebensjahr Zur körperlichen, psychischen und sozialen Situation des alten Menschen am Ende seines Lebens Andreas Kruse, Stuttgart 2007, Kohlhammer Urban-Taschenbücher, Grundriss Gerontologie Band 21, ISBN 3-17-018066-5, Preisinfo : € 19,80 Lebenserwartung, Morbidität und Gesundheitsausgaben Holger Cischinsky, Verlag: Peter Lang Frankfurt 2007 ISBN : 978-3-631-56165-2, Preisinfo : € 59,70 Grundlagen der Medizinethik Bettina Schöne-Seifert, Kröner Verlag 2007, ISBN 9783520503015, Preisinfo: € 10,90 Leitfaden Palliativmedizin - Palliative Care Claudia Bausewein, Susanne Roller, und Raymond Voltz Verlag Urban & Fischer München/Jena 2007 ISBN 978-437-23311-1, Preisinfo: € 39,95 Palliativmedizin: Grundlagen und Praxis. Stein Husebö und Eberhard Klaschik Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 ISBN 978-3-540-29888-5, Preisinfo: € 29,95 Das Euthanasieproblem im Licht der moraltheologischen Prinzipien Euthanasie und Palliativmedizin aus theologischer Perspektive Kazimierz Sekala Ludwig-Verlag 2007 ISBN : 978-3-937719-52-8, Preisinfo : € 24,90 Palliativpflege: Grundlagen für Praxis und Unterricht Sabine Pleschberger, Katharina Heimerl und Monika Wild (Herausgeber) Facultas Universitätsverlag 2005 ISBN-13: 978-3850767057, Preisinfo: € 29,90 Palliative Care: Handbuch für Pflege und Begleitung von Susanne Kränzle, Ulrike Schmid und Christa Seeger (Herausgeber) Springer-Verlag, Berlin 2007 ISBN: 978-3540723240, Preisinfo: € 29,95 Dem Sterben Leben geben: Die Begleitung sterbender und trauernder Menschen als spiritueller Weg Monika Müller Gütersloher Verlagshaus; Auflage, 2004 ISBN: 978-3579068022 Preisinfo :€ 14,95 (Es handelt sich um die ISBN-13 Nummern) 32 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Grundlagen der Palliativmedizin – Fallbeispiele Fallbeispiel I:2 Ein 23-jähriger Student, schlank und groß gewachsen, spielt in der Basketballmannschaft der Universität. Bei einem Punktspiel verspürt er Schmerzen in der Brust und Schwindel, weshalb er sich auswechseln lässt. Als die Beschwerden sich bessern, spielt er weiter. Kurz darauf bricht er zusammen und wird notfallmäßig ins Krankenhaus gebracht. In der Notaufnahme ist der junge Mann nicht mehr ansprechbar und der Blutdruck nicht messbar. Die sofort eingeleiteten Wiederbelebungsmaßnahmen führen erst nach fast einer Stunde zum Erfolg derart, dass der Kreislauf wieder hergestellt werden kann. Der Patient wird zunächst in ein medikamentöses Koma versetzt, beatmet und künstlich ernährt. Es fällt auf, dass die Pulsationen der Halsschlagadern wechselhaft und teilweise nicht tastbar sind. Als Grund wird vermutet, dass die innere Haut der Hauptschlagader (Aorta) oberhalb des Herzens eingerissen ist und Blut zwischen die Wandschichten der Aorta eingedrungen ist und die Blutzufuhr zum Gehirn (zeitweise) abgedrückt hat (im Fachjargon: Aortendissekation). Wahrscheinlich handelte es sich um eine angeborene Bindegewebsschwäche im Zusammenhang mit der sportlichen Betätigung. Dies war zuvor nicht bekannt gewesen. Man beschließt, ihn aus dem künstlichen Koma „aufwachen“ zu lassen, muss aber an drei aufeinander folgenden Tagen feststellen, dass keinerlei höhere Hirnfunktionen vorhanden sind. Ethische Fragen: 1. Die Diagnose eines Hirntods muss als sicher angenommen werden; was tun? 2. Wie darf/soll weiter behandelt werden? a. Volle Therapie wie bisher b. Weitere künstliche Beatmung c. Weitere künstliche Ernährung d. Weitere Medikamente zur Aufrechterhaltung der Kreislauffunktion 3. Können die Angehörigen (Eltern) Entscheidungen zu den Fragen 2a – d treffen? 4. Dürfen die Geräte abgestellt werden? 5. Dürfen Organe (z.B. die Nieren) zu Transplantationszwecken entnommen werden? 6. Weitere Fragen …. 2 Ein Fall, der sich 1982 tatsächlich ereignet hat. Der Dozent dieser Lehrveranstaltung hatte damals als die Intensivstation leitender Oberarzt die verantwortlichen Entscheidungen zu treffen. 33 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care Fallbeispiel II: Zeitungsartikel aus der Badischen Zeitung vom 11.03.2009 Aus dem Pflegebett gekündigt Ein Wachkomapatient zwischen besorgter Partnerin, verbitterten Pflegern und aufgebrachter Heimleitung / Gericht muss schlichten VON UNSERER MITARBEITERIN CHRISTINE KECK Es sind seine weit geöffneten Augen, die reden. Wo die Stimme sich zu einem Röcheln verabschiedet hat, wo die Hand sich zum Haken krümmt und keinen Stift mehr zu halten vermag, klagen die Pupillen an. Als ob Erik Pfister, der in Wirklichkeit anders heißt, über alles Bescheid wüsste. Den Prozess, die Reibereien mit der Heimleitung, die Sorgen seiner Familie. Nahezu bewegungslos blickt der Mann im Krankenbett in das Chaos um sich herum. Er kann sich nicht mehr abwenden, von dem, was kaum zu ertragen ist. Keine Vorboten kündigten jenen Moment an, als Erik Pfister kurz vor dem Mittagessen im Büro von seinem Schreibtischstuhl rutschte. Ein Herzinfarkt, ein Notfall, der auf der Intensivstation einer Klinik endet und jetzt in einer grotesken Situation gipfelt. Erik Pfister, Patient im Wachkoma und nicht imstande, auch nur einen einzigen Finger bewusst zu bewegen, ist nach vier Jahren Pflege im Stuttgarter Olgaheim dort nicht mehr willkommen. Die Kündigung des Heimvertrages kann der 61 -Jährige nicht selbst lesen, dazu ist er nicht mehr fähig. Die Geschichte dieses Eklats ist verworren. Sie ist gespickt mit Vorwürfen, Beschuldigungen und Missverständnissen, die zu klären unmöglich sind. Zu den Mitwirkenden gehört eine Richterin, die laut eigenen Angaben noch nie einen Wachkomapatienten besucht hat. Ein gesetzlicher Betreuer, der Dienst nach Vorschrift macht. Ein aufgebrachter Heimleiter und schließlich die Frau, mit der Erik Pfister die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat - Monika Ostertag. Zwei Töchter haben sie großgezogen, die Marketingagentur im Stuttgarter Westen aufgebaut und ihr Haus eingerichtet. Nur geheiratet haben der Raumfahrtingenieur und die Marketingfachfrau nie, der Gang vors Standesamt erschien ihnen überflüssig. „Ein Trauschein hätte vieles erleichtert", sagt Monika Ostertag und kann bis heute nicht fassen, dass ihr Lebensgefährte, mit dem sie seit mehr als vier Jahrzehnten liiert ist, auf Wunsch seines älteren Bruders einen gesetzlichen Betreuer vorgesetzt bekam. Einer, der das Sagen hat bei medizinischen oder rechtlichen Fragen, einer, der als Erster informiert wird, wenn es Erik Pfister schlechtgeht und er mal wieder wegen Austrocknung, Fieber oder Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Noch weniger verstehen kann Monika Ostertag, dass sie ihren Partner nur zwei Stunden im Januar und vier im Februar sehen darf. Jeweils von 16 bis 17 Uhr, an genau festgelegten Tagen. Bei ihren Besuchen ist es ihr gerichtlich untersagt, sein schütteres Haar zu kämmen. Sie muss untätig zusehen, wie die Fingernägel länger werden, wie der Schleim im Mund verklumpt. „Absaugen ist verboten", sagt Monika Ostertag, „Zähneputzen auch." Ihre Stimme wird schrill, wenn sie auf das Olgaheim zu sprechen kommt. Die 59-Jährige steht unter Spannung wie ein Ballon vor dem Platzen. Schwer auszuhalten. „Er könnte sterben, und ich werde nicht mal angerufen." Der Graben zwischen dem Olgaheim und Monika Ostertag ist tief, das Misstrauen groß. Längst zur medizinischen Laienexpertin geworden, schaut die Angehörige, die rechtlich nicht sogenannt wird, mit kritischem Blick ins Krankenzimmer. Warum magert Erik auf 57 Kilo ab? Weshalb fehlte anfangs das Desinfektionsmittel? Welche Therapien werden wann vorgenommen? „Ich habe nie lockergelassen", sagt Monika Ostertag, die getrieben ist von dem Gedanken, ihrem Lebensgefährten in seinen letzten Jahren beizustehen. Dabei rennt sie gegen Wände. Sie habe ihrem Partner, der mit einer Magensonde ernährt wird, unerlaubterweise bei einem Spaziergang im Roll! Speck zu essen gegeben, lautet einer der ungeklärten Vorwürfe vonseiten des Heims. Daran hätte er ersticken können. Kurz darauf beschließt das Olgaheim ein Ausfuhrverbot. Weder Monika Ostertag noch ihre beiden Töchter, die regelmäßig ihren Vater besuchen, dürfen den Patienten an die frische Luft bringen. Wie viel Erik Pfister riecht, fühlt, wahrnimmt, genießt, lässt sich nicht messen. Sein Gehirn ist durch den Sauerstoffmangel schwer geschädigt. Ob Inseln des Bewusstseins erhalten blieben, weiß keiner genau. „Er versteht alles", ist sich seine Partnerin sicher und verzweifelt daran, dass sie Erik nicht häufiger sehen darf. Seit Mai hat sie im Olgaheim Hausverbot. „Gefährliche Pflege" wird ihr vorgeworfen, sie habe Mitarbeiter beschimpft, Regeln missachtet. Zweimal ließ die Heimleitung sie von der Polizei abführen. Ein Harnwegsinfekt Ende Oktober ermöglicht ein Wiedersehen. Ein halbes Jahr haben sie sich nicht getroffen. „Du bist der Tapferste von uns allen", sagt Monika Ostertag und streicht ihrem Partner über den Handrü- 34 W. Ruf-Ballauf Einführung in Palliative Care cken. Erik Pfister liegt in einem Stuttgarter Krankenhaus, Einzelzimmer, mit Schutzkleidung für die Besucher gleich am Eingang. Eine Vorsichtsmaßnahme, um zu verhindern, dass Keime verschleppt werden. Hier hat Monika Ostertag kein Hausverbot. Sie schiebt den Mundschutz für ein Küsschen zur Seite, stellt Dahlien in eine Vase. „Dann werde ich dich mal rasieren, Schatz", sagt sie und greift zum Pinsel. Erik Pfister reagiert nicht, als sie den Schaum aufträgt, den Rasierer ansetzt und über die eingefallene Wange zieht. Er hat die Augen leicht geöffnet, scheint halb zu dösen. „Du siehst super aus", sagt Monika Ostertag. Sie hält ihm die Flasche Aftershave unter die Nase, trägt ein paar Tropfen auf. Im Kampf um das Beste für ihren Erik kennt Monika Ostertag keine Grenzen. Sie hat den Heimleiter wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung angezeigt. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Sie wandte sich an die staatliche Heimaufsicht, die ein halbes Dutzend Mal vor Ort die Zustände überprüft und für tadellos befunden hat. Und sie nörgelte trotz eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes vom März 2007 weiter. „Pflegerische Versäumnisse, die eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder eine Verzögerung des Rehabilitationsprozesses nach sich gezogen hätten, liegen nicht vor", steht dort geschrieben. Im Büro von Thomas Göbel füllt der Streit drei Aktenordner. Der Vorstandsvize beim Wohlfahrtswerk Baden-Württemberg, das fürs Olgaheim zuständig ist, klingt erschöpft, als er sagt: „Wir haben viel diskutiert, ob wir das tun sollen." Der Rauswurf eines Wachkomapatienten aus einem Pflegeheim ist einzigartig. Göbel ist kein vergleichbarer Fall bekannt, und dennoch hat er sich mit seinen Kollegen im Mai 2008 nach gründlicher Abwägung für die Kündigung entschieden. Letztlich ein Schritt, um die Angehörige loszuwerden. Das Sichkümmern der Frau Ostertag sei zu weit gegangen, sie habe sich oft im Ton vergriffen, drohte, Mitarbeiter anzuzeigen. „Ich habe Verständnis dafür, wenn die irgendwann sagen: Ich kann nicht mehr", zeigt sich Göbel solidarisch. Er wolle Personal und Patient schützen. „Sicherlich hat Frau Ostertag in bestimmten Bereichen sinnvolle Anregungen gegeben", sagt er. Doch inzwischen sieht er die Angehörige als Gefahr für den Schwerstkranken. Sie reiße ihm den Mund auf, um die Zähne zu putzen oder setzte ihn in Ruhephasen in den Rollstuhl. Von einem „fürchterlich eingetrübten Verhältnis" spricht Göbel, der allerdings noch nie mit der Betroffenen selbst geredet hat. Längst steckt der Streit in einer Sackgasse . Es kommunizieren vor allem die Juristen miteinander. Vor dem Stuttgarter Landgericht sollte Ende November eine gütliche Lösung wegen der Kündigung gefunden werden. Aber die Parteien verschanzen sich an den beiden Enden des Flures. Keines Blickes würdigen die als Zeugen geladenen Pflegekräfte ihre Kontrahentin. Monika Ostertag wiederum würde ihnen nie die Hand reichen. „Das sind keine Kinkerlitzchen, die Mitarbeiter sind von einem Berufsverbot bedroht", schimpft der Rechtsanwalt des Olgaheims und sträubt sich gegen Kompromisse. Die gegnerische Seite, der Rechtsanwalt des eingesetzten Betreuers, lässt die Kritik an sich abperlen. „Das Recht, Missstände zu monieren, hat jeder." Entsprechend kläglich ist das Ergebnis: Das Verfahren ruht, der Komapatient behält vorerst sein Bett, und Monika Ostertag darf ihn probeweise insgesamt sechs Stunden im Januar und Februar sehen. Die Richterin befürchtet, dass sich die Runde bald wieder treffen wird. Auf das Kitzeln am großen Zeh reagiert Erik Pfister mit einem Zucken des Fußes. An guten Tage bewegt er die Pupillen, schaut sich die Geranien auf dem Fensterbrett an oder blickt seinen Besuchern in die Augen. Die Zeit, als er Bälle fangen oder sogar lachen konnte, ist vorbei. Seine körperlichen Kräfte schwinden, seine geistigen kennt nur er selbst. Ihn zu fragen, was er will, können nicht mal die Hirnforscher. Ist es ihm recht, dass sich seine Partnerin für ihn einsetzt? In den Jahren vor dem Herzinfarkt teilten sie zwar noch ein Zuhause und eine Firma, aber hatten sich jeweils andere Lebensgefährten gesucht. Wäre es nicht besser, das Pflegeheim zu wechseln und die Farce zu beenden? Eine Überlegung, die Monika Ostertag widerstrebt. In Stuttgart sei das Olgaheim die einzige Facheinrichtung für Wachkomapatienten. Und schließlich sei einem Schwerstkranken eine Verlegung nicht zumutbar. Vielleicht bekommt der Wachkomapatient Erik Pfister von all dem gar nichts mehr mit. Vielleicht wäre das auch gut so. Ethische Fragen: 1. Wie würden Sie sich verhalten? a. Als Angehörige b. Als Mitarbeiter oder Heimleitung des Pflegeheimes c. Als Richter 2. Wie würden Sie selbst als Patient in einem solchen Fall behandelt werden wollen? 35 Seminar W. Ruf-Ballauf: Palliative Care als Gesellschaftliche Aufgabe Fallbeispiel III: Seit 10 Jahren ist bei dem 48-jährigen Ingenieur die Diagnose einer (erblichen) Muskeldystrophie bekannt. Diese Erkrankung führt zu fortschreitenden Lähmungen der Muskulatur, die aufsteigend von den Beinen verläuft und zuletzt die Atemmuskulatur betrifft. Ein qualvoller Erstickungstod wäre die Folge. Die Krankheit verläuft chronisch über einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren, derzeit ist der Mann bereits soweit gelähmt, dass er im Rollstuhl sitzt und die Hände kaum noch benutzen kann. Die Atmung ist noch intakt, jedoch häufen sich Atemwegsinfekte, da der Betroffen sich häufig verschluckt und schlecht abhusten kann, was ihn sehr belastet. Es besteht Pflegestufe zwei, ein Verschlimmerungsantrag ist gestellt. Der Mann ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Ein Sohn befindet sich noch in der Ausbildung, steht kurz vor dem Examen. Alle Angehörigen sind über die Erkrankung informiert. Der Betroffene selbst hat sich intensiv damit auseinander gesetzt. Er hat eine Patientenverfügung verfasst, in der lebensverlängernden Maßnahmen strikt abgelehnt werden. Ferner liegt eine auf die Ehefrau lautende Vorsorge- und Betreuungsvollmacht vor. Er hat in vertraulichen Gesprächen mit der Ehefrau erklärt, dass er einem qualvollen Erstickungstod durch Suizid zuvor kommen möchte. Die Ehefrau konnte ihm aus ethischmoralischen Gründen nicht versprechen, ihn dabei zu unterstützen. Sie versprach jedoch alles zu tun, um unnötiges Leiden zu ersparen. Nach einer Aspiration (heftiges Verschlucken) entwickelt sich eine Lungenentzündung, die mit hohem Fieber und Benommenheit einhergeht. Der betreuende Arzt erklärt, dass ohne vorübergehend intensive Therapiemaßnahmen (Antibiotikainfusionen, künstliche Ernährung) der Tod innerhalb weniger Tage eintreten wird. Mit Behandlung habe er die Chance, den zuvor bestehenden Zustand wieder zu erreichen. Ethische Fragen: 1. Ist der Betroffene entscheidungsfähig? 2. Welches ist – in dieser konkreten Situation – der mutmaßliche Wille? a. Möchte er im palliativmedizinischen Sinne „sterben gelassen“ werden? b. Möchte er diesmal vielleicht doch noch behandelt werden, z.B. um den Examensabschluss des Sohnes zu erleben? c. Möchte er vielleicht deswegen behandelt werden, weil er ja den vorherigen Zustand wieder erreichen kann und sich noch nicht im Endstadium der Erkrankung befand? d. Möchte er nicht behandelt werden, weil er ja jede lebensverlängernde Maßnahme abgelehnt hat? 3. Wenn der Betroffene sich nicht klar äußern kann, die Ärzte der Meinung sind, er solle behandelt werden und die Ehefrau als Betreuungsbevollmächtigte dies untersagt, wie soll verfahren werden? Dürfen die Ärzte trotzdem behandeln? 4. Darf die Ehefrau die Suizidabsichten mitteilen? 36