I Phonologie und Phonetik - PD Dr. Wolfgang Schindler

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I Phonologie und Phonetik - PD Dr. Wolfgang Schindler
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 1
I Phonologie und Phonetik
1 Grundlegendes
Die PHONETIK befasst sich mit konkreten Sprachschallereignissen. Phonetisch-physikalische Darstellungen lautsprachlicher Ereignisse zeigen einen kontinuierlichen, nicht-diskreten (ganzheitlichen) Charakter. Dagegen beschäftigt sich die PHONOLOGIE mit dem Abstrakten, dem Funktionalen (wie der Bedeutungsunterscheidung) und diskretisiert zu diesem Zweck. Allerdings ist auch
die Phonetik eine Abstraktion, da naturwissenschaftliche Schallereigniserfassungen (Sonogramme etc.) abstrahieren und nie „alles“ darstellen können.
Eine andere Sichtweise unterscheidet nicht zwischen Phonetik und Phonologie, sondern innerhalb der Phonologie zwischen Realisationsphonologie ([…]) und theoretischer Phonologie (/…/).
Die PHONETIK befasst sich mit den Sprechvorgängen bzw. Sprechereignissen, die man dann beobachten (eventuell auch messen) und beschreiben kann, wenn Menschen in einer Sprache
miteinander kommunizieren. Meist werden dabei drei Phasen unterschieden:
(i) Artikulation (Arbeitsweise der Sprechorgane wie die Zunge oder die Lippen),
(ii) Übertragung (akustische Eigenschaften des Schallereignisses) und
(iii) Rezeption (Aufnahme im Gehör, Verarbeitung Gehör/Gehirn).
In neuerer Zeit erweitert sich die Perspektive der phonetischen Forschung auch auf die MASCHINELLE SPRACHVERARBEITUNG und die lautsprachliche Mensch-Maschine-Kommunikation.
Die Phonetik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich mit der Biologie, den Kognitionswissenschaften, der Medizin (v. a. der Anatomie und Neurologie), der Physik, aber auch mit der
Mathematik und der Informatik in Verbindung steht.
Die Phonologie arbeitet mit einer DISKRETISIERUNG des Sprachschallkontinuums und setzt unter
anderem Einheiten wie das Phonem oder die Silbe an. Man nimmt an, dass solch eine Diskretisierung während der Sprachverarbeitung auch in unserem Gehirn stattfindet. Nebenbei: Die
geschriebene Sprache ist ebenfalls eine diskretisierende Bearbeitung des holistischen Schallereignisses. Bei dieser Abstraktion geht es darum, die funktional relevanten Eigenschaften einer
Lautsprache herauszuarbeiten. Funktional ist beispielsweise die Bedeutungsunterscheidung, die
man auf Phonemkontraste wie /p/ und /b/, vgl. Pass und Bass, zurückführt bzw. in diesem Fall
auf die Kontrastbildung von [– stimmhaft] und [+ stimmhaft].
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Die Phonologie entwickelt ihre eigenen phonologischen Theorien, hier etwa die Teiltheorie der
phonologischen Merkmale2 und der Phoneme. Weitere Theoriebildungsebenen, die wir im Se-
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Einflussreiche Theorien sind u. a. die STRUKTURALISTISCHE PHONOLOGIE (z. B. die Prager Schule, s. Trubetzkoys
„Grundzüge der Phonologie“ von 1939), die GENERATIVE PHONOLOGIE (The Sound Pattern of English (SPE) =
Chomsky/Halle 1968), die METRISCHE PHONOLOGIE (Liberman, M. Y & A. Prince 1977: On Stress and Linguistic
Rhythm, in: LI 8.3, 249-336), die AUTOSEGMENTALE PHONOLOGIE (John Goldsmith 1976, autosegmental phonology), die MERKMALSGEOMETRIE (Clements, G. N. (1985): The Geometry of Phonological Features, Phonology Yearbook 2, 225-252) und die OPTIMALITÄTSTHEORIE (Prince, Alan & Paul Smolensky. 1993. Optimality Theory: Constraint Interaction in Generative Grammar. RuCCS-TR-2. 262 pp. ROA-537), abgekürzt: OT.
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minar näher ansehen werden, betreffen die Silbe (abgekürzt σ = Sigma wegen Silbe), den Fuß
(vgl. trochäisch ˈO.pa vs. jambisch O.ˈpal, abgekürzt: F) und das phonologische Wort (abgekürzt
ω = Omega, sieht wie „w“ in Wort aus, vgl. (er)ω (ˈblich)ω versus (ˈerb)ω (lich)ω). (Vgl. auch
Handout Kap. 10!) Weitere Phänomene bzw. Domänen, die wir im Seminar nicht behandeln,
sind: die phonologische Phrase (die mit syntaktischen Grenzen zusammenfallen soll und mit ϕ
= Phi, vgl. Phrase, abgekürzt wird), die Intonationsphrase (jeder Abschnitt einer Äußerung, der
eine eigene Intonationskontur aufweist, abgekürzt IP (Intonationsphrase) oder ι = Jota, vgl. Intonation) und die Äußerungsphrase (gelegentlich als UP (utterance phrase) abgekürzt).
Werfen wir zuerst einen Blick auf die Elementareinheiten, die PHONEME, die wir zu komplexeren
Einheiten (wie die Silben) zusammenfügen. Die Phoneme ermittelt man durch Prozeduren wie
die Prüfung, ob in Minimalpaaren bei Austausch eines Segments ein Bedeutungsunterschied
hervorgerufen wird oder nicht. Eine Bedeutungsunterscheidung nehmen wir z. B. bei [taə],
[kaə], [gaə], [maə] und bei [bʀu:t] und [blu:t] wahr. Bei [bʀu:t] versus [bru:t] empfinden
wir keinen Bedeutungsunterschied. Wir werten den uvularen und den alveolaren Vibranten als
Allophone und nehmen hier Aussprachevarianten desselben Wortes wahr.
Die Phoneme werden als Mengen phonologischer Merkmale beschrieben, was ich in (2) andeute und später genauer ausführe. Letztendlich sind diese Merkmalsmengen unsere Elementareinheiten und die Einheiten, auf denen z. B. phonologische Regeln operieren. Die Phonemsymbole dienen uns als Abkürzungen für die Merkmalsmengen. So sind es also Merkmalskontraste, die einer sprachspezifischen Bedeutungsunterscheidung zugrunde liegen, vgl. (1):
(1) [pas] versus [bas] =
3
4
[-sth] versus [+sth]
[mi:tə] vs. [mɪtə]
=
/i/ vs. /ɪ/
=
[+gesp] (oder [+lang]) vs. [-gesp] (oder [-lang])
[das] vs. [nas]
=
/d/ vs. /n/
=
[plosiv] vs. [nasal]
(2) Phonem
2
/p/ versus /b/ =
3
Merkmale, erweitert
Merkmale, traditionell
/g/
[dorsal, -son, -kont, +sth]
[+sth, vel, plos]
/e/
[-hoch, -tief, -hinten, -rund, +gespannt]
[halbgeschl, vorn, -rund, + gesp]
/b/
[labial, -son, -kont, +sth]
[+sth, bilab, plos]
4
/ə/
[-hoch, -tief, -hinten, -rund, -gespannt]
[-hoch, -tief, -vorn, -hint, -rund, -gesp]
/n/
[koronal, +son, nasal]
[+sth, alv, nas]
Im Deutschen ist die Aspiration (Behauchung) nicht funktional relevant, so dass etwas wie [t] und [tʰ] bei uns
keine Bedeutungsunterscheidung herbeiführt. Im Deutschen ist [tʰ] ein Allophon von /t/! Im Thai liegen dagegen zwei Phoneme vor: vgl. [tam] ‚to pound‘ versus [tʰam] ‚to do‘.
Wer mit einem „moderneren“ Merkmalssatz arbeiten möchte, möge sich das Kapitel zu den phonologischen
Merkmalen in Hall (2000) oder Hall (2011) zu Gemüte führen!
Eine andere Charakterisierung des Schwa arbeitet mit [+vok, -akz] = nicht-akzentuierbarer Vokal. Das e-Schwa
ist hinsichtlich aller Werte negativ charakterisiert (allenfalls etwas wie [+zentral] wäre formulierbar), wogegen
das a-Schwa (vokalisiert aus (Schwa plus) /r/, vgl. Uhr, Lehrer) den Wert [halboffen] aufweist, da es zentral,
aber unterhalb des e-Schwa (das weder halb geschlossen noch halb offen ist) positioniert ist.
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Nachfolgend sehen Sie eine ungefähre Skizze dessen, was eine Phonologie darstellen bzw. ableiten können sollte. Ausgehend von den segmentalen Grundrepräsentationen kommen wir
einerseits über die Phonem-Graphem-Korrespondenzen (über das phonographische Modul) zur
graphematischen Grundrepräsentation, sofern wir diese ableiten und nicht einfach in einen
Speicher, ins Lexikon hineinschreiben wollen. Andererseits können wir aufgrund der segmentalen Repräsentation die Silbifizierung und die Akzentuierung ermitteln und phonologische Prozesse durchführen, indem die Merkmalsmengen entsprechend bearbeitet werden und das bis
hin zu der Komponente (nennen wir sie „phonetisch“ oder „Motorprogramm“), die dann die
Anweisungen an die Artikulatoren gibt.
(3) Phonematische
/gebən/
bzw. {[sth, vel, plos] [gesp, vorn, …} (Merkmalsmengen)
Grundrepräsentation
PGK-Umsetzung
Phonem-Graphem-
<geben>
(wegen /g/ → <g>, /e/ → <e> etc.)
/ʀɔbən/ → <roben>
Korrespondenzen
/ʀɔḅən/ → <robben> (silbisch)
Silbifizierung
/ge.bən/
Akzentuierung
/'ge:.bən/
(gespannter Vokal wird unter Akzent lang)
Phonologische
Schwa-Tilgung
/ə/ → 0 / [+kons, -son] __ [+kons, +son]
5
Prozesse
Nasalassimilation
/ge:.bm/
[lab, -son, -kont, +sth]
[kor lab, +son, nasal]
/b/-Totalassimilation
/ge:m/
Ausspracheanweisungen
6
[ge:.bn̝] oder [ge:.bm̝] oder [ge:m] oder sogar(?) [gεm]
2 Notation
/…/ phonologische Transkription (Schreibweise)
[…] phonetische Transkription (Schreibweise)
<…> graphematische Schreibweise
+
morphologische Grenze
<.> Silbengrenze
5
6
7
[ɪn+ak͡tsɛpt+ɑbil+itɛ:t]
{In} {akzept} {abil}7 {ität}
[ʃv͡ai.nə.ʀ͡ai]; [ʃv͡ai.n+ə.ʀ+͡ai] Schwein-er-ei8
Der Akzent kann nur auf die vorletzte Silbe fallen, da die letzte Silbe eine Schwa- bzw. Reduktionssilbe ist.
Standardaussprache mit Schwa-Tilgung, aber ohne Assimilation etc.
-abil ist ein Allomorph zu -abel.
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Diphthonge und Affrikaten: [͡pf͡ail] (Bogen über beide Teile), [͡pfa̯l] (Halbbogen unter dem unsilbischen Vokal), [͡pfajl] (seltener: unsilbischer Vokal als Gleitlaut)
Griech. Sigma <> beginnt wie Silbe mit „s“ (kleines Sigma, das große ist <Σ>)
Griech. My <μ> beginnt wie Morphem mit „m“
Griech. kleines Omega <ω> sieht wie ein <w> (für „phonologisches Wort“) aus
Griech. kleines Phi <φ> klingt wie „f“ in (phonologischem) Fuß (Trochäus etc.)
3 Die Standardlautung
Analog zur Orthographie („normgemäß schreiben“, Standardschreibung) gibt es eine normierte
STANDARDLAUTUNG des Deutschen („normgemäß sprechen“), die Sie in einem Aussprachewörterbuch nachschlagen können, z. B. im Band Nr. 6 der Duden-Reihe (Das Aussprachewörterbuch, 6.
Aufl. 2005). Hinweis: Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (http://www.dwds.de/)
bietet die Standardaussprachen zu vielen Wörtern als anhörbare Audiodateien!
Die Standardlautung ist wie die Standardschreibung Grundlage des Schulunterrichts (Grundschule etc.) und des Deutschunterrichts im Bereich Deutsch als Zweit-/Fremdsprache. Im Gegensatz zur Orthographie ist sie in öffentlichen Behörden (meines Wissens) nicht verbindlich.
Die STANDARDLAUTUNG ist
- überregional (weitgehend ohne regionale Aussprachebesonderheiten)
- einheitlich (Varianten werden vermieden bzw. stark beschränkt)
- schriftnah und
- deutlich (auf klare Lautunterscheidung abzielend).
Die Standardlautung liegt zwischen der heute kaum mehr verwendeten BÜHNENAUSSPRACHE (z. B.
Siebs 1898; auch: REINE HOCHLAUTUNG nach Siebs 1969; evtl. noch bei sehr feierlichen Anlässen
oder Inszenierungen klassischer Dramen) und der UMGANGSLAUTUNG (nach Siebs: GEMÄßIGTE HOCHLAUTUNG). In der normierten Bühnenaussprache wird eine extrem deutliche Aussprache angestrebt, z. B. wird auf die Schwa-Tilgung verzichtet, die im Standard gängig ist.
In der Umgangslautung finden sich vor allem REGIONALE Einflüsse sowie Assimilationen (fünf >
fümf) und Verkürzungen (Hast Du mal … > Haste mal …). Typische Veränderungen: der stimmlose alveolare Sibilant wird durch den postalveolaren ersetzt („inschpirieren“ oder „Schemie“),
Langvokale werden z. B. in norddt. Varianten kurz ausgesprochen ([at], [bat]), es kommt zu
Verschleifungen wie bei Tust du es? > Tust dus? > Tuastas?, Haben Sie nicht … > Habn Se nich >
Hamse nich …? etc.
Die Grenzziehung zwischen UMGANGSSPRACHE, REGIONALSPRACHE (REGIOLEKT) und DIALEKT/MUNDART
möchte ich nicht näher diskutieren.
8
Bei E.sel+ei, plau.der+ei ist die Suffixbasis trochäisch mit Schwa-Silbe, bei Schwein oder red ist sie einsilbig,
daher nicht *Schweinei, *Redei (jambisch), sondern mit Fuge -er Schweinerei, Rederei. Das System verfügt
über Strukturinformationen der Pluralbildung: -ei führt zu Nfem mit -en-Plural, so dass ˌSchwei.ne.'rei.en im
Gegensatz zu *Schwei.'n+ei.+en einen Doppeltrochäus ergeben. Vgl. auch Diskutiererei! – Die Aufteilung von
erei in er+ei wird nicht immer angesetzt, manche werten –ei und –erei als Allomorphe.
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Im Folgenden finden Sie eine unvollständige Übersicht:
(1)
Genormte Lautungen
Ungenormte Lautung
Bühnenaussprache
Standardlautung
Umgangslautung
China
[i:n]
[i:n]
[ki:na], [i:na]
# /z.../
stimmhaft [z]
stimmhaft [z]
auch stimmlos [z/s]

<er>
[b, b]
[b, b ]
[b]
//
erhalten
eher getilgt („Gabl“)
i. d. R. getilgt
/g/
[le:g]
[le:g]
[le:j, le:, le:]
/͡pf/
[͡pfe:ʀt]
[͡pfe:ɐt]
[fe͡:ɐt]
<ig>
[pre:d]
[pre:d]
[pre:dk]
Langvokale lang gesprochen [bt]
lang gesprochen
ggf. gekürzt [bat]
/n/ vor Labial [anpas, ainbau]
[anpas, ainbau]
[ampas, aimbau]
Nasalvokale gesprochen [:]
gesprochen [:()])
ersetzt [()]
/sp, st/
[]
[]
[]
Stimmhaftigkeit voll [apzt]
Verschleifung
nein
Hast du...
voll – schwach [apz/t] schwach/nicht [ap/st]
nein
Hast du...
ja Haste...
 Charakteristika der Standardlautung bieten Altmann/Ziegenhain (2002: Kap. 2.5., v.a. 2.5.2.). Zudem kann man heranziehen: das Aussprachewörterbuch der Duden-Reihe (Bd. 6).
4 Laut(um)schrift
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Wir verwenden das IPA, das Internationale Phonetische Alphabet. Diese Umschrift können wir
mit Sonderzeichen (Diakritika etc.) anreichern, um mehr Details des Schallereignisses abzubilden. Wir können auch weniger Details notieren und (etwa in der phonologischen Umschrift) nur
noch die segmentalen und eventuell einige suprasegmentale (wie Akzent oder Silbifizierung)
Eigenschaften notieren. Die phonologische Umschrift bildet auch die Verbindung mit der Graphematik (Umsetzung der Phoneme in Grapheme, Verschriftung des Silbengelenks etc.).
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(2) Enge Umschrift („näher am Konkreten“):
[de͡:ɐ̯] [ˈʰt͡s.̰͡:ɐ̰]
Breite/Weite Umschrift („eher funktional“):
[de͡:ɐ] [ˈt͡s.͡:ɐ] (Standardlautung)
Phonologische Umschrift:
/deʀ/
Graphematische Grundrepräsentation (PGK):
<der> <tanzbär>
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11
11
/ts.bæʀ/
Webseite der internationalen phonetischen Vereinigung: https://www.internationalphoneticassociation.org/
Die stimmhaften Plosive werden nicht-stimmhaft artikuliert (kleiner Kreis unter Plosiv). Das [t] wird behaucht
(hochgestelltes h). Geknarrte Aussprache der letzten beiden Vokale (Tilde als Subskript).
Einige (z. B. Peter Eisenberg) unterscheiden das ungespannte (/ɛ/) und das gespannte (/æ/) „ä“, was ich auch
empfehle- Andere verwendet nur das /ɛ/ und differenzieren eventuell per Länge (/ɛ/ vs. /ɛ:/).
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Für das Arbeiten in unserem Seminar und für viele linguistische Zwecke sollte man vor allem
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wissen: (i) Was charakterisiert eine phonologische Umschrift? (ii) Wie stellt man eine (breite)
Umschrift des sog. Standarddeutschen her? Hierzu sollte man die Charakteristika der Standardlautung kennen (wie die Schwa-Tilgung, die r-Vokalisierung). Dazu später mehr.
Aufgabe
1) Verschriften Sie in Standardlautung und direkt darunter phonologisch:
Haben Sie die Hakenkappen zerschneiden wollen? Weiter lassen wir Susis Seereise los! Unwegsame Strecken mit Handgas unwuselig fahren! Auf Bänken keine Angeber angeln! Zitronenelegante Komitees in Kommission nehmen!
Beispiel:
beleidigter
[b ə l a i ̯d ɪ ç t ɐ]
Standardaussprache
/b ə l a i ̯d ɪ g t ə ʀ/
phonologisch
2) Transkribieren Sie phonetisch (Standardlautung mit Silbenstruktur u. Hauptakzenten)! Gibt
es hier eine „affrikatenverdächtige“ Lautfolge?
lustig schöner grübeln und sozial in Asien auf Dschunken schunkeln
5 Segmentale und suprasegmentale Phonologie
Die Phonologie lässt sich grob in einen SEGMENTALEN (Phoneme und Phonotaktik) und eine SUPRASEGMENTALEN Bereich aufteilen. Suprasegmentale Eigenschaften sind beispielsweise:
- AKZENT: die relative Prominenz einer Silbe gegenüber benachbarten Silben, vorwiegend im
Sinne größerer Lautheit und/oder stärkerer Längung. Der Akzent wird nicht als segmentale Eigenschaft (etwa: [+ voc, + akz, …]), sondern als silbenbezogene angesehen. Zur Darstellung relativer Prominenzverhältnisse werden u. a. metrische Bäume oder Gitter verwendet. Die Kürzel
„s“ und „w“ bedeuten „strong“ (Akzent) und „weak“:
ω
(3)
*
*
*
* * * *
Stra ßen bah nen
METRISCHES GITTER
Fs
σs
σw
Stra ßen
/. .
Phonolog. Wort
Fw
σs
bah
.
σw
nen
/
Füße
Silben
ME TR IS C HE R B A U M
Aufgabe: Zeichnen Sie die metrischen Bäume von Blumenkästen, Bücherregal, Bananenstauden, Weltnichtrauchertag und verschriften Sie die vier Wörter mit Silbenpunkt sowie Hauptund Nebenakzent!
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Sie können die phonologische Umschrift aus der Schreibung „zurückrechnen“. Es lautet standardsprachlich
[ʃæ:fɐhʊnt], man schreibt Schäferhund und folglich rechnen Sie vom a-Schwa auf e-Schwa + /r/ und abzüglich
Auslautverhärtung auf /d/ zurück, also phonologisch auf /ʃæfəʀhʊnd/.
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- INTONATION: Die Veränderung der Tonhöhe, des TONHÖHENVERLAUFs, z.B. steigender Verlauf am
Satzende bei ‚Frage’, fallender Verlauf bei ‚Feststellung’.
- PHRASIERUNG: Pausenstruktur, Bildung von Intonationseinheiten; man vgl. etwa (Computer),
(Tastatur) (und Bildschirm) versus (Computertastatur) (und Bildschirm).
- SANDHI-Lehre:13 Beschreibung phonologischer Erscheinungen, die bei der Zusammenfügung
von Wörtern zu Wortgruppen (v. a. an Wortgrenzen) vorkommen, z. B.
(4) (a) engl. a cat, an apple
(b) frz. allez les bleu = [aleleblø] und allez y = [alezi]
(5) Hast du … = [hast.du …]  [has.tu …]
- TON: In einigen afrikanischen (Yoruba, Shona) und asiatischen Sprachen (China, Thai, Vietnam)
können wortüberlagernde Tonhöhenmuster bedeutungsunterscheidend wirken, wenn man sie
mit der gleichen Segmentfolge assoziiert. So gibt es „geraden“ Ton wie H(och) oder T(ief) oder
Kombinationen aus H und T, etwa HT (fallend) oder TH (steigend). Mandarin (China) besitzt
wortüberlagernde Toneme und liefert das vielleicht prominenteste Beispiel, die Segmentfolge
ma, die je nach überlagerndem Ton bedeuten kann: ‚Mutter‘, ‚Hanf‘, ‚Pferd‘ oder ‚schimpfen‘.
Im Deutschen spielt lexikalischer bzw. Wortton (fast) keine Rolle. Nur im Bereich der Interjektionen finden sich im Ansatz bedeutungsdifferenzierende Toneme. Ehlich (Ehlich, Konrad, 1986,
Interjektionen, Tübingen) beschreibt, wie eine unterschiedliche Ton(muster)zuweisung bei Interjektionen wie (m)hm und aha zu unterschiedliche Funktionsmarkierungen wie ‚Zustimmung‘
oder ‚Divergenz, Zweifel‘ führt.
14
Die AUTOSEGMENTALE PHONOLOGIE bietet die Möglichkeit, phonologische Informationen wie segmentale, silbische oder eben tonale Informationen in eine eigene Ebene bzw. Schicht zu verlagern. Diese Schichten werden dann gemäß Assoziationsprinzipen durch Assoziationslinien aufeinander bezogen:
(6)
σ
σ
σ
σ
V
C V
V
C V
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CV-Schicht
ɑ. h ɑ
ɑ. h ɑ
Segmentschicht
T
H
Tonschicht
H
‚Überraschung‘
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Silbenschicht
T
‚Zustimmung‘
Sandhi ist ein Sanskrit-Wort und bedeutet ‚Verbindung’.
Die autosegmentale Phonologie verteilt phonologische Erscheinungen bzw. Informationen auf mehrere Ebenen/Schichten, die für sich sind und dann nach gewissen Assoziationsprinzipien durch Assoziationslinien in
Beziehung zueinander gesetzt werden.
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6 Die phonologischen Merkmale
Die Menge der Sprachlaute lässt sich in Subklassen wie „die Obstruenten“ oder „die hinteren
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Vokale“ aufteilen, über die sich Generalisierungen, Regeln etc. formulieren lassen. Diese Subklassen werden über gemeinsame Merkmale wie [+hinten] gebildet. Als lautsprachliche Grundeinheiten setzen wir somit nicht die Laute, sondern deren Merkmale an. Ein Laut ist als Menge
der ihn definierenden Merkmale aufzufassen! Im folgenden Versprecher wirkt das dem /b/ eigene Ortsmerkmal [bilabial] auf das Merkmal [velar] des späteren /k/ ein (Perseveration), welches das /k/ in Becker und überschreibt quasi velar durch (bi)labial, so dass /p/ artikuliert wird.
(7)
Auch Boris Bepper, da sag‘ ich Bepper – Boris Becker hat keine Schwierigkeiten
Auch Boris
Be [b]
[bilabial]
[plosiv, stimmhaft]
ck [k]
er
[velar]
[plosiv, stimmlos]
Be pp [p] er
[bilabial]
[plosiv, stimmlos]
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hat (...)
Solche Merkmalsbeschreibungen sind nützlich, um phonologische Regeln zu formulieren. Stellen Sie sich die Auslautverhärtungsregel vor, die wir aus folgenden Daten ermitteln:
(8)
Plosive
Frikative
[+ sth]
[– sth]
[+ sth]
[– sth]
[kɛl.bɐ]
[kalp]
[bʀɑ:.və]
[bʀɑ:f]
[vɛl.dɐ]
[valt]
[gɑ:.zə]
[gɑ:s]
[bɛl.gɐ]
[balk]
[o.ʀaŋ.ʒə]
[o.ʀaŋʃ]
Zweisilbler
Einsilbler
Zweisilbler
Einsilbler
Regel vielleicht so, aber unelegant: /b d g v z ʒ/ → [p t k f s ʃ] / __ σ
Vielleicht so: „Am Silbenende werden die Laute b, d …. zu den Lauten p, t …!“
Fragen wir, was den betroffenen Lauten im Zweisilbler gemeinsam ist: (a) [+ stimmhaft] und (b)
[– sonorant] und (c) ihre Position im Silbenanfangsrand. Und was geschieht mit ihnen: Sie werden im Einsilbler in den Silbenendrand versetzt und entstimmlicht.
Treffend und elegant aber erst so: [– sonorant] → [– sth] / __ ] σ
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„Wenn ein Laut ein Obstruent ist, dann ist er im Silbenendrand stimmlos“!
15
16
17
Z. B. „Stimmhafte Obstruenten werden im Silbenendrand stimmlos“ oder „das Phonem / ç/ wird nach hinteren
Vokal als Allophon [x] realisiert“.
Studierenswerte Versprechersammlungen und -analysen legte Helen Leuninger vor mit „Reden ist Schweigen,
Silber ist Gold“, Zürich 1993 und mit „Danke und Tschüss fürs Mitnehmen“, Zürich 1996.
Wenn ein Segment grundständig stimmlos ist (wie in bunt gegenüber Hund), interessiert das diese Regel
nicht, da diese nur auf Merkmalsmatritzen reagiert, die wie bei /d/ [+ sth] enthalten.
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(9)
ER σ
Oder so:
[– son] → [– sth] / ___
/jɑ:
g
–son
+sth
–kont
dorsal
(vgl. z. B. /jɑ:gd/ → [jɑ:kt])
d/
–son
+sth
→ –sth (= [k, t])
–kont
koronal
/ g ɑ:
z/
–son
+sth
→ –sth (=[s])
+kont
koronal
+ant
Ein Standardmerkmalssatz existiert nicht. Die folgende Übersicht ist orientierend, aber unvollständig und schließt nicht aus, dass Sie bei Bedarf weitere Merkmale hinzuziehen sollten.
Die traditionelle Merkmalsbeschreibung arbeitet bei Konsonanten mit drei, bei Vokalen mit vier
Parametern:
Stimmhaftigkeit
Artikulatoren (Ort)
Artikulationsart
[-sth]
stimmloser
[bilabial]
bilabialer
[plosiv]
Plosiv
/v/
[+sth]
[labiodental]
[frikativ]
/ʀ/
[+sth]
[uvular]
[vibrant]
/p/
/o(:)/
/ɪ/
(Merkmale)
(Versprachlichung)
Zunge horizontal Lippenrundung
Kieferöffnung Gespanntheit (oder: Länge)
[hinten]
[+rund]
[halbgeschl]
hinterer
gerundeter
[vorn] ([-hinten]) [-rund]
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[+gesp] (+lang)
halbgeschlossener gespannter (langer) Vokal
[geschl]
[-gesp] ([-lang])
Modernere Phonologien arbeiten mit verfeinerten Merkmalssätzen, da man mit den traditionellen Merkmalen nicht immer eine beschreibungsadäquate Genauigkeit erreicht. Ich folge im
Wesentlichen Hall (Phonologie, 2. Aufl. 2011, Kap. 4) und übernehme die für das Deutsche relevanten Merkmale überwiegend von ihm. Kleinere Abweichungen sind von mir zu verantworten.
Die folgenden Merkmalsbeschreibungen deutscher Laute sind skizzenhaft und unvollständig.
Ich möchte auf Detaildiskussionen verzichten. Merkmalsbeschreibungen verfeinern sich bei
dem Formulieren von phonologischen Regeln, weil es dann um eine genaue Fassung von Lautklassen geht. Die Konsonanten weisen alle [+kons] auf, die Vokale [–kons] und [+son]:
18
In der Regel wird entweder Gespanntheit oder Länge (eventuell alternativ: Zentralisiertheit) angegeben. Ich
gehe von Gespanntheit aus, weil ich denen folge, die die Länge aus der Akzentuierung gespannter Vokale ableiten, vgl. /jɑpɑn/  ['jɑ:.pɑn], [jɑ.'pɑ:.nɪʃ].
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(10)
[l a b i a l] [k o r o n a l]
[–sth]
p
f
[+sth]
b
m v
[kons]
+
+
[son]
–
[kont]
[nas]
ʃ
[d o r s a l]
[glottal]
ç
k
h
(ʔ)
t
s
l
d
z
n
ʒ (j)
ʝ
g
ŋ
ʀ
+
+
+
+
+
+
–
+
+
+
+
–
–
+
–
+
–
–
+
–
+
–
–
+
+
–
–
–
–
+
–
–
+
–
+
+
+
–
–
+
+
–
–
+
–
–
–
–
+
–
–
–
–
+
–
–
–
ɑ
a
+
+
–
[anterior]
+
19
–
Die Vokalphoneme sind alle [–kons] und [+son]:
20
(11)
i
ɪ
y
ʏ
u
ʊ e
ø
œ o
ɔ
ε/æ
ε
ə
[hinten]
–
–
–
–
+
+
–
–
–
+
+
–
–
–
[lab]/[rund]
–
–
+
+
+
+
–
+
+
+
+
–
–
–
–
[gesp]
+
–
+
–
+
–
+
+
–
+
–
+/?
–
–
+/? –
tief
21
+
+
1) Oberklassenmerkmale
[konsonantisch], [kons]: Verengung im Ansatzrohr (oberhalb Glottis bis Lippen)
[– kons]: Vokale, Gleitlaute /j, ʋ/w/, Glottale wie /h, ʔ/
[+ kons]: Plosive, Frikative, Affrikaten, Lateral /l/, Vibrant /r/, Nasale
[sonorant], [son]: Sonorante Laute sind spontan stimmhaft, weil die Artikulationskonfiguration,
die den Kehlkopf und das nicht verengte Ansatzrohr betrifft, quasi automatisch zur Stimmbandvibration führt.
[– son] sind Plosive und Frikative, die typischerweise in Stimmhaft-stimmlos-Paaren vorkommen. Affrikaten (pf, ts) zählen auch hierzu.
[+ son] sind Nasale, Laterale, Vibranten, Gleitlaute (j, ʋ/w) und die Vokale
19
20
21
Es wird diskutiert, ob dem <j> im deutschen Phonemsystem ein Approximant (eine Art „konsonantisches i“)
oder ein Frikativ entspricht. Während der Approximant /j/ teils als koronal, teils als dorsal (palatal) eingestuft
wird, gilt mindestens der Frikativ /ʝ/ (mit Schleifchen) als dorsal (und palatal).
Wenn man, wie es die Phonetiker häufig tun, bei /ɛ/und bei /a/ einen Gespanntheitsunterschied verneint,
wird nur durch [lang] (mit <:>) und [kurz] (ohne <:>) unterschieden. Wenn man als grundlegend [+/– gespannt] ansetzt – mit der Annahme, dass nur gespannte Vokale unter Akzent lang werden, vgl. ['ʀɑ:.tə] Rate
und ['ʀaə] Ratte) –, dann arbeitet man mit ε/æ(:) und a/ɑ(:).
Hall (2011: 131) vergibt an Schwa [+hint]. Dem folge ich nicht, Schwa ist bzgl. aller Werte unmarkiert, da Zentralvokal. Der Test wäre, dass die Kombination /ə/ + /ç/ dann [əx] ergäbe, was m. E. nicht der Fall wäre (es
gibt die Kombination aber real wohl kaum?).
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[stimmhaft], [sth]: mit Stimmbandvibration. [+ sth] sind in der Regel Vokale, Gleitlaute, Nasale,
Laterale und Vibranten sowie die stimmhaften Obstruenten.
[kontinuierlich], [kont]: [- kont] liegt vor, wenn ein Verschluss vorliegt; ein solcher kommt vor
bei Plosiven, Affrikaten, Nasalen und Lateralen. [+ kont] sind Laute ohne (vollständige) Verschlüsse: Frikative, Vibranten, Gleitlaute und Vokale
[nasal], [nas]: Velum nicht gesenkt (– nasal) oder gesenkt.
[+ nas]: /m, n, ŋ, ã, õ/
[– nas]: alle Oralvokale mit gehobenem Velum, Plosive, Frikative, Laterale
[plosiv], [plos] (= [– son, – kont]): /b, p, t, d, g, k/
[frikativ], [frik] (= [– son, + kont]): /f, v, s, z/ etc.
[sibilantisch], [sibil]
[+ sibil] sind Laute mit intensivem hochfrequentem Geräuschanteil, im Dt. /s, z, ʃ, ʒ/
[labial], [lab]: mit (+)/ohne (–) Lippenbeteiligung
[+ lab] sind /f, v, p, b, m/ und die mit Lippenrundung artikulierten Vokale.
[+ rund] sind die Labiale, die mit Lippenrundung gebildet werden, also /ʏ, y, ʊ, u, ø, œ, ɔ, o/
[koronal], [kor]: [+ kor] sind apikale und laminale Laute wie /t, d, s, z, n, l, r, ʃ, ʒ/
[anterior], [ant]
[+ ant] sind alveolare (/t, d, s, z, n/) und dentale (engl. „th“) Laute, [–ant] sind z. B. die postalveolaren Laute /ʃ, ʒ/. Das Merkmal ist im Dt. eine Möglichkeit, um die Sibilanten (fett) weiter zu
differenzieren.
[dorsal], [dors]: [+ dors] werden mit dem Zungenrücken artikuliert wie /ç, x, k, g, ŋ, ʀ/
[hinten], [hint]: Dorsum vorverlagert oder zurückgezogen
[+ hint] sind velare und uvulare Konsonanten wie /k, g, ŋ, ʀ/ und die Vokale /a, o, u/, [- hint] die
palatalen /ç, ʝ/.
(12)
kons
son
sth
Vokale
–
+
+
Sonorkonsonanten
+
+
+
Konsonanten
+
+/–
+/–
Glottale [ʔ, h]
–
–
–
[–kont]: Plosiv, [+kont]: Frikativ
Aufgaben:
1) Welche Phoneme mit dem Merkmal [alveolar] bzw. [koronal] (ohne Berücksichtigung postalveolarer/laminaler Konsonanten) gibt es im Deutschen? Beschreiben Sie die Laute auch nach
Artikulationsart und Stimmhaftigkeit!
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2) Welchen Lauten entsprechen folgende Merkmalsmatrizen?
[labial, frikativ, + sth]
[vorn, halbgeschlossen, + rund, – gespannt]
[hinten, geschlossen, + rund, + gespannt]
[glottal, frikativ, + sth]
7 Vokal- und Konsonantenphoneme des Deutschen
(a) Konsonanten verbinden sich mit der komplementären Klasse der Vokale, wobei sie einzelsprachlichen Abfolgerestriktionen unterliegen, z. B. dt. plV (platt), klV (klein), *tlV (*tl…). Im
Ansatzrohr erfolgen vor allem Enge- oder Verschlussbildungen. Friktionsengen entsprechen
auditiv Geräuschen, Verschlüsse Schlaggeräuschen. Stimmhafte Sonorkonsonanten weisen keine Geräuschanteile nach Art der Frikative auf. So bilden beispielsweise bei /m/ beide Lippen
einen oralen Verschluss, aber dem Luftstrom ist bei vibrierenden Stimmbändern eine freie Passage durch den Nasenraum möglich, da das Velum gesenkt ist. Eine differenzierte Beschreibung
von Konsonanten sollte beinhalten: (a) Stimmhaftigkeit, (b) Artikulationsort (Artikulatoren) und
(c) Artikulationsart. Zu einer noch detaillierteren Beschreibung vgl. oben 0. Beispiele:
(13)
Stimmhaftigkeit
Ort/Artikulatoren
Art
/p/
stimmloser
bilabialer
Plosiv
/g/
stimmhafter
(dorso-)velarer
Plosiv
/s/
stimmloser
(koronal-)alveolarer
Frikativ
/ʃ/
stimmloser
(koronal-)postalveolarer
Frikativ
/m/
stimmhafter
bilabialer
Nasal
(b) Vokale weisen Stimmton auf, der Phonationsstrom versetzt die Stimmbänder in Vibrationen
und passiert das offene (engelose) Ansatzrohr. Die Vokaldifferenzierung geschieht mittels (a)
horizontaler Zungenbewegung (vorn wie /i/, /e/; hinten wie /u/, /o/), (b) mittels – je nach Beschreibungsansatz – vertikaler Zungenbewegung bzw. relativer Kieferöffnung (hoch/geschlossen wie /i/, halbhoch/halbgeschlossen wie /e/, halbtief/halboffen wie /ɛ/, tief/offen wie /a/),
(c) Rundung (/i/ [- rund] vs. /y/ [+ rund]) und (d) Länge oder Gespanntheit (vgl. Mie[i:]te und
Mi[ɪ]tte). Beispiele:
(14)
Z. horizontal Z. vertikal
Rundung
Gespanntheit
Länge
(Kieferöffnung)
/i:/
vorderer
hoher (geschl.)
ungerundeter gespannter
Langvokal
/œ/ nicht-hinterer halbhoher (halbgeschl.) gerundeter
ungespannter Kurzvokal
/a/
hinterer
tiefer (offener)
ungerundeter ungespannter Kurzvokal
(c) GLEITLAUTE wie /j/ (engl. yes, yet, wohl auch in Uni[j]on) oder /w/ bzw. // (engl. water, well)
weisen eine sehr geringe Engebildung auf, stehen artikulatorisch den Vokalen nahe und werden
bisweilen auch als HALBVOKALE bezeichnet (z. B. auch der mhd. /w/-Laut in lewe, frouwen). Im
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Deutschen sind /ja/ oder /mai/, /maj/, eventuell auch /au/, /aw/ (Haus) diskutierte Kandidaten.
Es ist umstritten, ob man für das Deutsche Gleitlaute (als Phoneme oder als Allophone?) ansetzen soll. Anstelle solcher Gleitlaute wird öfters angenommen, es handle sich um die Vokalphoneme /i/ bzw. /u/, nur dass diese nicht im Silbennukleus stehen. (Das beträfe etwa national, in
anderen Fällen wie ja ist ein Frikativ /ʝ/ diskutabel.) Damit ersparte man Phoneme und könnte
das Lautverhalten über die Platzierung in der Silbe erklären.
7.1 Die Vokale des Deutschen
Pompino-Marschall (2003: 266, 271) – obere Reihe – stellt die deutschen Monophthonge, die
schließenden und die öffnenden Diphthonge wie folgt dar (er lehnt sich an Kohler 1999 an). In
der unteren Reihe (16) zum Vergleich das System von Hall (2000: 68):
(15)
(16)
Lang- und Kurzvokal: Verteilung und Variation
- Länge: Beispiel: Gespannte Vokale werden unter Akzent lang:22
(17) /muzik/ > [mu.zi:k], [mu:.zi.k], [mu.zi.kant], [mu.zi.k:.l], [mu.zi.k.li.t:t]
- In offenen Silben ist ein Vokal in nativen Wörtern und in Lehnwörtern in der Regel gespanntlang, wenn die Silbe akzentuiert ist: [hɑ:.zə], Chi[i:].na, ele[e:].gisch. In Fremdwörtern liegt in
offenen Silben, die nicht akzentuiert sind, in der Regel ein gespannt-kurzer Vokal vor:
22
Über die Frage, ob Länge, Gespanntheit oder Zentralisierung (oder was sonst) im Vokalbereich bedeutungsunterscheidend wirkt, vgl. /kim/ > [ki:.m] Kieme und /k/ > [k] Kimme, ist schon länger eine intensive
Diskussion im Gange, die bis heute keine Entscheidung hat herbeiführen können. Nach meiner Beobachtung
folgt man derzeit tendenziell dem Merkmal [ gespannt], vgl. etwa Duden-Grammatik (2005). Für praktische
Zwecke (Deutsch als Fremdsprache) kann man mit [ lang] arbeiten. – Das „a“ in Musikant und musikalisch ist
nicht das gleiche! /ant/ mit ungespanntem Vokal ist ein Derivationssuffix (n. agentis), das Element // kann
als Fuge oder als Suffixerweiterung gewertet werden und enthält einen gespannten Vokal.
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23
A[ɑ].na[ɑ].kon.da,(und nicht „A[a]nnakonda“ etc.) ele[e]. gant, [bi. ki:ni]). In nativen Wörtern
sind offene Schwa-Silben (Reduktionssilben) häufig; diese sind jedoch nicht akzentuiert (Hase,
sagen). Lässt sich im Paradigma eine geschlossene Silbe in Beziehung zu einer offenen Langvokalsilbe setzen, wird der Vokal lang realisiert: [zɑ:kt] wegen [zɑ:.gən], [fu:s] wegen [fy:.se].
- Ist der Endrand mit CC(C) besetzt, ohne dass in einer anderen Paradigmenform eine offene
Silbe vorkommt, so ist der Vokal kurz: Land (Län.der), bunt (bun.te). Bei den relativ seltenen
Ausnahmen liegt öfters eine frühere Mehrsilbigkeit vor wie bei Mond (mhd. mōne, vermischt
mit mhd. mānōt ‚Monat‘), Kre:bs < mhd. krebes, Ja:gd < jaget.
- Folgt ein Konsonant im Stammmorphem, so wird die Länge/Kürze öfters durch entsprechende
Graphien gekennzeichnet: Kahn (wobei Käh.ne auch den Hinweis gibt), Beet (vgl. Bee.te); vgl.
auch Kahn (Käh.ne), kam (ka.men) und kann (kön.nen)
Das Diphthongproblem: mono- oder bisegmental?
Zu unterscheiden sind zunächst silbische und unsilbische Vokale:
(18) [.] (von /e.əʀ/)
eher
versus
[] (von /eʀ/)
er
Nebenbei: Im Deutschen ist die Mehrheit der Konsonanten unsilbisch, nur die Sonoranten können silbisch werden: [n], [] oder [].
Deutsche Diphthonge zeigen eine erhebliche Variationsbreite (König 1989): <au> als [, , ,
aw, , ] oder <ei> als [, , , , aj, ] oder <eu> als [, , , oj, oʏ, ]. Lassen Sie sich
nicht beirren und folgen Sie einem Gebrauch aus einem etablierten Werk!
Vielfältig ist die Realisierung der Lautkombinationen mit <r> (z. B. Ulbrich 1998, König 1999)!
Die Resultate sind schwer auf einen Nenner zu bringen! Die Präfixe er-, ver-, zer- scheinen weniger diphthongisch als monophthongisch vokalisiert zu werden: erfahren eher [.:...] statt
[.f:...]. Nach KV (wirken) – mit Ausnahme von Affixen! – scheint etwa gleich häufig frikative Realisierung (v) oder Diphthongierung (v) vorzukommen; r-Tilgung ist jedoch häufiger
(ca. die Hälfte der Fälle) festzustellen. Nach LV (Bier) wird mit ca. 60% überwiegend diphthongiert (), andererseits zu ca. 40% das /r/ getilgt, vgl. [..] vs. [..]. Nach langem
[] wird überwiegend elidiert, meist mit Über-Längung des a-Vokals; in ca. einem Viertel der
Fälle erfolgt frikative Realisierung. Also müssen wir bei den /ʀ/-Realisierungen im Silbenendrand genau hinhören! Zugrunde liegt /Vʀ/ wie in /uʀ/ Uhr, /u.fəʀ/ Ufer, doch die Realisationen
können differieren, etwa [u:ʁ] oder [u:ɐ]. Kritik an den Ergebnissen äußert Becker (1998: 8.5.),
der darauf hinweist, dass die Aufnahmesituation „wohl [...] Überlautungen begünstigte“.
Diphthonge sind Vokalkombinationen, die innerhalb einer Silbe auftreten, vgl. Laib (tautosyllabisch) versus na.iv (heterosyllabische Vokale). Man unterscheidet fallende und steigende Diphthonge nach dem Energie- bzw- Lautheitsverlauf (der „Druckstärke“).
23
Realisationsphonologisch kommen durchaus „laxe“ Aussprachen wie [e.lə.gant] vor! Dieses „EntspannungsPhänomen“ kommt nicht selten vor (aber wir wollen ja zunächst einmal darauf hinaus, was zugrunde liegt):
/mɑteʀiɑl/ > [matɛʀjɑ:l] oder Aspi[i]rin > Aspi[ɪ]rin > Aspi[ə]rin.
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(19)
fallend:
Haus
Schnur
steigend: Nation
[hs]
[nu:]
[ntso:n]
schließender Falldiphthong
sekundärer öffnender Falldiphthong (vgl. [ny:.r])
öffnender Steigdiphthong24
Die öffnenden Diphthonge, die infolge einer /r/-Vokalisierung im Endrand zustande kommen,
sind quasi „sekundäre Diphthonge. Sie werden nicht ausnahmslos als Diphthonge gewertet,
aber überwiegend (z.B. in Becker 1998: 8.5.).
Aufgabe: Beurteilen Sie den Reim in folgendem Gedichtausschnitt:
(20) … wenn dein Fahrrad vorne quakt,
hast du᾽s auf ᾽nem Frosch geparkt!
monosegmental
1. Wegen der allophonischen Streubreite der Diphthongrealisierungen lassen sich Diphthongteile nicht ohne weiteres Phonemen zuordnen (dazu: Becker 1998: 138).
2. Ein interessantes Argument: Der Wortausgang <-ig>-/g/ in einig, lustig, König, weinig etc.
wird standarddeutsch als [] realisiert, <Zweig> allerdings nicht als *[tsva͡ ], sondern ohne gSpirantisierung mit [k], ebenso Teig /ta͡g/ und [ta͡k], *[ta] (vgl. Teich). Möglicherweise unterbleibt die g-Spirantisierung, weil das zweite Segment im Diphthong /a͡/ nicht-silbisch ist, was
man auch als Argument gegen Monosegmentalität ausbauen könnte!
bisegmental
1. Diphthongsegmente wirken in Minimalpaaren wie Greis, Graus, Eile, Eule und läuten, leiten,
lauten bedeutungsunterscheidend!
2. Die Umlautregel erfasst nur das zweite Segment des Diphthongs: [has]  [.]. Nach
Wiese (1996: 161) hat die Veränderung des ersten Segments nichts mit der Umlautregel zu tun,
sondern mit einer Rundungsassimilation (umstritten, vgl. Becker 1998: 8.4.).
3. Versprecher wie Und dass du dann um droi – drei dort bist! (das o wird antizipiert) deuten auf
zwei Segmente hin. Ob es auch Versprecher gibt wie drau Laute anstelle drei Laute?
Vokal-Probleme
(21) e-Laute
nativ/fremd
beides
v. a. fremd
beides
v. a. nativ
beides
/e:/
/e/
/:/
//
//
Leitformen und Beeren
Genetik
Bären
Bett
beliebt
Graphien
wehren
Begonie
währen
lässt
leben
leben
elegant
Welt
Beruf
Requiem
Dekade
Menthol
Dekade
Thema
Trochäus
Trophäe
er-, ver-, zer-
24
25
Dieser Typ wird für das Deutsche nicht so oft angesetzt.
Z. B. [ɛɐ.le:.gn], [fɛɐ.le:.gn], [tsɛɐ.le:.gn] oder auch [ɐ.le:.gn], [tsɐ.le:.gn].
25
Trophäe
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Zwischen dem standarddeutschen und dem „norddeutschen“ Lautsystem besteht der Unterschied, dass in letzterem kein Kontrast /e:/ versus /:/ wie in Beeren [] vs. Bären []
besteht; es heißt hier beide Male [] (oder [] statt []).
7.2 Konsonanten
Pompino-Marschall (2003: 265) notiert folgendes System, wobei er die eingeklammerten Einheiten (x, ) als Allophone von // ansieht bzw. wegen ihrer Vorhersagbarkeit ausschließt.
(22)
Bei Hall (2000: 62) sieht das System ähnlich aus, man beachte aber die feinen Unterschiede:
(23)
Affrikatenproblem: mono- oder bisegmental?
Unter Affrikate versteht man eine „homorgane“ Plosiv-Frikativ-Sequenz, in der beide Laute enger (verdichtet) artikuliert werden. Dabei muss mindestens ein Artikulator (der aktive) gemeinsam sein, z.B. Lippen, Zungenspitze/-kranz oder der Zungenrücken.
Erstes Problem: Was wird als Affrikate gewertet?
(24) unumstritten:
teilweise umstritten:
[pf], [ts]
[t] tschilpen
umstritten (entlehnt?):
Deutsch in der Schweiz:
[] Dschungel
[kx] [kxɑˈri:bɪkx]
Zweitens: Sind Affrikaten phonetisch oder phonologisch oder auf beiden Ebenen anzusetzen?
monosegmental:
1. Wenn CCVCC das maximale Silbenschema des Deutschen darstellt, dann verletzt ein Wort
wie Pflug wegen CCC = /pfl/ dieses Schema. Als Affrikate wäre /pf/ mit einem C der Skelettschicht verbunden, das /l/ mit der zweiten C-Position, so dass CCVCC befolgt würde.
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σ
(25)
C
/p
C
f l
Silbenschicht
V
C
C
CV-/Skelettschicht
g/
Segmentschicht
u
2. Wenn K1+K2 im AR möglich ist, ist spiegelbildliches K2+K1 im ER möglich, vgl. Kran, Werk;
Kloß, Schalk; aber: Pfote, *Tofp (es geht nur: Topf K1+K2).
3. Im Spracherwerb ersetzen manche Kinder Affrikaten durch Plosiv oder Frikativ, aber nie
durch Lautkombinationen.
4. Statt [pf] wird regional [f] artikuliert: pflügen [fly:gn].
bisegmental:
1. Wenn es die Einzelsegmente der Affrikaten, also z.B. /p/ und /f/, ohnehin im Phonemsystem
gibt, warum sollte man das System um zusätzliche Phoneme erweitern?
2. Minimalpaare wie Hopfen und hopsen?
3. Versprecher wie Afpel (Apfel) oder Nets (statt Nest) weisen auf zwei Phoneme hin.
Zur //-Variation: Das Zungenspitzen-r gilt heute meist als dialektal oder als überkommene
Bühnenlautung (Eisenberg 2004: 90). Das anlautende Zäpfchen-r [] schwankt in seiner Realisierung zwischen Vibrant und Frikativ (statistisch überwiegend), doch weil sich das deutsche „r“
insgesamt wie ein Sonorant verhalte, wird öfters // als Phonem angesetzt. Das Phonem nimmt
in bikonsonantischen Anfangsrändern an der Restriktion Obstruent > Sonorant (p, b, f etc.)
teil, Folgen wie *[l], vgl. [pl, fl], finden sich nicht.
(26) [// e:.], [k// e:.]
Regel, kregel
Variation im Anfangsrand
(27) Meer [m]
Meere [me:.]
Endrand vs. Anfangsrand
Lehrer [:.]
Lehrerin [le:..]
(28) irren [, , , ]
Silbengelenk
(29) [, ; , ; , ]
ver-, zer-, er-
Verbpräfixe
(30) [.], []
klettere, kletterst
<er> hetero- bzw. tautosyllabisch
(31) /t/ > [tm] > [u:]
// > [] > []
postvokalisch kann // vokalisiert
oder gar elidiert werden
Die Übersicht zeigt, dass die nicht-vokalisierte r-Variante im AR und in der Gelenkposition (die
ja auch mit einem AR assoziiert ist), also postvokalisch, vorkommt.
Der velare Nasal: Phonem oder Allophon?
Man kann den velaren Nasal /ŋ/ wegen bedeutungsunterscheidender Kontrastbildungen wie
/vamə/ ‚Hautfalte mit Fettgewebe bei Tieren‘, /vanə/ und /vaŋə/ als Phonem eingeordnen.
Allerdings zeigt /ŋ/ einige Auffälligkeiten:
Er kommt im Deutschen (im Unterschied zu anderen Sprachen, vgl. vietnamesisch ɑ.ŋan
‚Schwan‘) nur im Silbenendrand und dort nur nach ungespanntem Vokal (vgl. lahm, Lahn ‚Flussname‘ versus lang) vor; somit „verhält er sich wie ein komplexer Endrand aus zwei Konsonan-
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26
ten“ (Eisenberg 2013: 119), was auch die auffällige Verschriftung <ng> nahelegt. Der einzige
Plosiv, der auf /ŋ/ folgt, ist das dorsale (velare) /k/ (Dank, Fink, flink)! Im Anfangsrand kann /ŋ/
nicht mit /m/ oder /n/ kontrastieren (vgl. Macht/Nacht/*Ng…).
Manche leiten den dorsovelaren aus dem koronal-alveolaren Nasal /n/ in der Folge /n + g/ über
eine Assimilationsregel ab und sparen ein Phonem ein. Dafür sprächen auch Diphthong und
diphthongieren, Triangel und triangulär.
Historisch wird eine vorgängige Kombination /ng/ (daher <ng>) rekonstruiert, wobei der velare
Plosiv eine regressive Nasalassimilation auslöst (Ortsassimilation von [alveolar] zu [velar] oder
[dorsal]) und danach getilgt wird. Historisch ist [ŋ] zunächst ein velares Allophon zum alveolaren Nasal /n/ und dieses Allophon hat inzwischen Phonemstatus erlangt (Minimalpaartests).
Assimiliert wird im Morphem! An Morphemgrenzen kann Assimilation eintreten, vgl. Un[]garn
und un[n,]+gern.
//: Sind [] und [x] einem Phonem (Allophonie) oder zwei Phonemen zuzuordnen? Die Minimalpaare vom Typ Kuchen – Kuhchen oder tauchen – Tauchen werden kritisiert, weil Simplizia
mit morphologisch komplexen Formen (-chen, //) verglichen werden. Die Morphemgrenze
steht der kombinatorischen Anpassung des Frikativs entgegen! Die systematische Variation bei
Umlautung etwa in /bu/: [bu:x], [by:.] spricht ebenfalls für eine Allophonie.
Die komplementäre Distribution von [] und [x] stellt sich so dar (die Morphemklammern {…}
sollen klarstellen, dass sich keine Morphemgrenze zwischen Vokal und // befinden darf):
(32) Regel der //-Velarisierung: //  [x] / { [+ voc, + hinten] __ }
Die s-Laute
Die Angaben beschreiben die Verhältnisse in der Standardlautung!
- Im einfachen Anfangsrand liegt in nativen Wörtern /z/, [z] vor (Graphem: <s>)! Beispiele:
s[z]agen, satt, Sinn, sicher, Sonne, suchen. In assimilierten Lehnwörtern kann die Aussprache
zwischen ursprünglich [s] und assimiliert [z] schwanken oder sie wurde bereits voll assimiliert,
vgl. Sex (engl. /s/, dt. [z] oder noch [s]). Folgt dem Sibilant ein weiterer Konsonant ([+sibil]CV),
wird nie stimmhaft gesprochen, sondern [s] wie in Sbirre ‚ital. Gerichtsdiener (früher)‘, Skelett,
Sklave, Skonto, Slalom, Smaragd, Sphinx. Liegen die Kombinationen <sp> und <st> vor, dann
liegt in der Regel /ʃ/ zugrunde. Ab und zu mag die Aussprache schwanken wie bei (engl. > dt.)
Sticker ‚Anstecker‘ mit [s] und [ʃ] (bei nativ Sticker ‚jmd., der stickt‘ liegt /ʃ/ zugrunde)!
Im Endrand wird ebenfalls <s> für /z/ geschrieben, aber wegen der Auslautverhärtung stets [s]
artikuliert. Das Phonem kommt in verwandten mehrsilbigen Formen zum Vorschein, wenn der
Laut in den Anfangsrand wandert: Gas[s], aber Ga.s/z/e! Wenn wir z. B. Fuß/Füße/*Fus und
26
Nicht wenige arbeiten für das Deutsche mit dem kanonischen Silbenschema XXXXX (5 Zeitpositionen) bzw.
genauer CCVCC (V = Silbennukleusposition), wobei der Reim VCC durch Langvokal (der Langvokal verbraucht
zwei Zeitpositionen, also XX bzw. VC) oder Diphthong (/au/ etc. verbraucht V (/a/) und C (/u/)) plus C oder
durch ungespannten Kurzvokal plus CC besetzbar ist, vgl. /ʀɑ:m/, /ʀaum/, /ʀand/. Auffällig ist, dass /ŋ/ nicht
nach gespanntem Langvokal erscheint, obwohl eigentlich noch eine C-Position übrig sein sollte; Formen wie
*/ʀɑ:ŋ/ analog zu /ʀɑ:m/ sind offenbar ungrammatisch.
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Gas/Gase/*Gaß vergleichen, so wissen wir bei Gas, dass /z/ zugrunde liegt, da nach Langvokal
und Diphthong <ß> für /s/ (wie bei /fu:s/) geschrieben wird!
Im Wort kann man am Schreibungsunterschied rei.s/z/en vs. rei.ß/s/en die Phoneme /s/ und
/z/ unterscheiden, vgl. auch kreise [z], kreiße [s] (kreißen ‚(veraltend) gebären‘), kreische [].
- Das Phonem // wird in nativen Wörtern im Anfangs- und im Endrand meist mit dem Graphem
<sch> verschriftet: Schal, schnell, Schwein, Schuh, Pschorr (Bierfirma), rasch, falsch; nur vor den
Plosiven /p, t/ (Spiel, Stiel) wird, möglicherweise, um den Anfangsrand der Schreibsilbe nicht zu
lang werden zu lassen (*<schpitz>, <spitz>), einfaches <s> geschrieben.
- Das Phonem /s/ kommt am Wortanfang im Silbenanfangsrand vor Vokal im Standarddeutschen nicht vor, denn dies ist die Domäne von /z/; vor weiterem C wie in Skala, Skelett, Slalom,
Slawe, Sphinx kommt es in Lehnwörtern vor. Postvokalisch (bzw. intervokalisch) kommt /s/ im
Silbengelenk vor und wird dann <ss> verschriftet wie in Flüsse, nasse, was gemäß morphologischer Schreibung auch in den Einsilbler übernommen wird (Fluss, nass), obwohl hier kein Silbengelenk vorliegt. In nichterster Wortsilbe wie in Füße kann /s/ im Silbenanfangsrand vorkommen. Post- bzw. intervokalisch unterscheiden wir graphematisch /s/-<ß> und /z/-<s> wie in
reisen, reißen; Gase (vgl. Gasse) und Füße (vgl. Küsse).
Bei „kleinen“ Wörtern, v. a. bei Funktionswörtern und bei Fremdwörtern wird im Silbenendrand
<s> geschrieben: falls/s/, indes (aber: indessen), des, bis bzw. Ananas, Bus, Zirkus.
Aufgabe: Beschreiben und kommentieren Sie die s-Lautungen und Schreibungen von Blase,
blasse; Muse, Muße; Hindernis, Hindernisse; Bus, Boss; Gase, Gaze ‚Gewebe‘.
[]: Es ist beim Glottisplosiv strittig, ob ihn alle Sprecher/innen realisieren (starke regionale und
ideolektale Variation). Die Nichtrealisierung führt offenbar nicht zur Ungrammatikalität!
- Vorkommen vorhersagbar, der Glottisplosiv [] tritt wortinitial im AR vor Vokal sowie intervokalisch vor betontem V auf. Im Deutschen scheint diese Glottisplosiv-Epenthese eine Art obligatorische (automatische) konsonantische Füllung eines leeren Anfangsrandes zu sein, vgl.
[i:.g], [i.de:], [te.'ɑ:.tɐ]. Er tritt, wie der Glottisfrikativ /h/, nicht im Endrand einer Silbe auf.
Regel der []-Epenthese: 0  []
(33)
/
ω[__V
Wortbeginn vor Vokal ([]Eklat) oder
V _ V
intervokalisch vor Akzent (The[]'ater)
- [] ist/wäre der einzige Plosiv des Deutschen, für den es keine GPK-Verschriftung gibt!
- Doch andererseits: Liegt im Folgenden ein Minimalpaar, ein Bedeutungskontrast vor: [:]
Radler versus [:] Adler? Was folgt nun aus dem genannten Verhalten?
Aufgaben
1) Die folgenden Beispiele (Hall 2000) sind Wörter aus dem Südkongo:
[zenga]
[kunezulu]
[lolonʒi]
[nzwetu]
[kesoka]
[aʒimola]
[ʒima]
[nkoʃi]
[kasu]
[zevo]
Beschreiben Sie, in welchen Umgebungen die Frikative [s], [z], [ʃ] und [ʒ] hier auftreten! Deutet
das Verhalten auf Phonem- oder auf Allophonstatus hin?
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2) Wie sind im Griechischen [ç] und [x] verteilt? Spricht das eher für zwei Phoneme oder eher
für Allophonie (und welches Phonem läge dann zugrunde)?
[xanɔ] verlieren
[xali] Teppich
[xufta] Handvoll
[çinɔ]
[ɔçi]
[xrima]
gießen
nein
Geld
[katɛxɔ]
[xtipo]
[ixa]
besitzen
schlagen
hatte
8 Phonologische Prozesse
8.1 TILGUNG
- am Anfang: PROKOPE (altgr. episkopos > Bischof)
- im Inneren: SYNKOPE (z. B. dun.kel > dunkler)
27
- am Ende: APOKOPE (ugs. ich ha.be > ich hab)
Z. B. (i) Vokaltilgungen: Schwa-Synkope [le:.bən] > [le:.bn̩], Hafen oder lat. tabula > frz. table,
Schwa-Apokope (Auge > Aug, böse > bös)
(34) Schwa-Synkope:
(a) /ə/ → Ø / [+kons] __ [+son]
(b) /ə/ → Ø / [-son] __ [+son]
(a) und (b) sind Annäherungen an eine Regel, wobei (a) zu ungenau erscheint, da fraglich ist,
was geschieht, wenn im Anfangsrand und im Endrand Sonorkonsonanten auftreten wie in
Rahmen, dunklem (bleibt Schwa [dʊŋ.kləm] oder [dʊŋ.klm] mit [l] als Nukleus?). (b) trifft evtl.
eher zu, da links nur Obstruenten (haben, Hafen, Tafel, Haken, Besen) zugelassen sind und
rechts Sonorkonsonanten, die dann vom Endrand in die Nukleusposition wechseln.
(ii) Tilgung von wortfinalem <en> wie in Garten > Gärtlein, Wagen > Wäglein, Laden > Lädlein
(hier zum Zwecke der Derivationsstammbildung)
(iii) die frühahd. Tilgung/Prokope von /x/-<h> am Wortanfang in Konsonantenclustern: hloufan
> mhd. loufan > laufen, hruggi/hrucki > mhd. ruggi/rucki > Rücken.
8.2 EPENTHESE (trad. z. T. SPROßVOKAL, SPROßKONSONANT)]
- Anfang = PROTHESE wie in lat. scola > span. escuela, lat. spiritus > frz. esprit
- Im Inneren (und Oberbegriff): EPENTHESE (übrigens > übrigen[t]s, Senf > [zɛmf] > [zɛm[p]f])
- Ende: EPITHESE (nieman > niemand, mhd. ackes > Axt, sec > Sekt)
Sproßvokale: ahd. burg > burug, durh > duruh, senwa > senewa, Sehne;
Sproßkonsonanten: eigen+lich > eigentlich, hoffen+lich > hoffentlich
(35) Epentheseregel im Ansatz:
Ø → […] / x __ y
Ersetze „nix“ („Ø“) durch […] in der Umgebung zwischen x und y!
27
Will man Synkope und Apokope fachleutisch aussprechen, so betone man die Antepänultima und nicht, wie
bei Synkope (Musik), die Pänultima.
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Aufgabe: Die folgenden Daten zeigen einen fakultativen (umgangssprachlichen) phonologischen
Prozess. Wie beschreiben Sie diesen?
(36) Daten: Lexem SG (evtl. GEN)
Epenthese
PL
[ʀamʃ]
[ʀampʃ]
[ʀam.ʃə]
[gans]
[gants]
[gɛn.zə]
28
[fɛʀs]
-----
[fɛʀ.zə]
[vams]
[vamps]
[vɛm.zɐ]
[hals]
[halts]
[hɛl.zə]
[falʃ]
[faltʃ]
[fal.ʃə]
[bal.kɔŋ+s]
[bal.kɔŋks]
[bal.kɔŋ̝ə
̝ ]
[mɛnʃ]
[mɛntʃ]
[mɛn.ʃən]
[maʀʃ]
-----
[mɛʀ.ʃə]
[zɪms]
[zɪmps]
[zɪm.sə]
8.3 ASSIMILATIONen bewirken, dass zwei Laute (der auslösende Laut wird TRIGGER, der betroffene
TARGET genannt) ähnlicher werden; im Grenzfall werden Trigger und Ziellaut identisch.
- Betroffene Eigenschaft: z. B. Ortsassimilation in fümf ([labial]) oder die Stimmhaftigkeit bei der
Pluralbildung im Englischen (/kæt/ + /z/ > /kæts/ mit [- stimmhaft])
- Richtung: progressiv (geben > gebn > gebm) vs. regressiv (fünf > fümf)
- Grad: total (reg. Günter > Günner) vs. partiell (fünf > fümf)
- Distanz: Kontakt- (fünf > fümf) vs. Fernassimilation (ahd. lamb > lambir > lembir)
Beispiele: uncool [ˈʔʊn.+ku:l] → [ˈʔʊŋ.ku:l], wobei der alveolare Nasal /n/ trotz Morphemgrenze (<+>) einer durch den velaren Plosiv /k/ ausgelösten regressiven partiellen Kontaktassimilation unterliegt, die den Ort betrifft ([nasal] und [stimmhaft] sind nicht betroffen).
Trigger: /k/ (verschriftet <c>); Target: /n/
Eigenschaft: Ort ([alveolar] > [velar] Richtung: regressiv; Grad: partiell; Distanz: Kontakt
Gelegentlich kommt es auch zur Assimilation an den folgenden Labialplosiv, etwa in un[n >
m]besiegt, un[n > m]persönlich.
ineffektiv, impotent, imbezil, immateriell, illegal, irregulär: Das Negationspräfix {in-} weist Allomorphie auf. Der erste Stammkonsonant triggert die regressive Assimilation. Die von velaren
Plosiven getriggerte Assimilation ist umgangssprachlich: in[n > ŋ]kompetent, in[n > ŋ]gressiv,
die Standardlautung ist hier [n] (vgl. z. B. DWDS online: inkompetent).
29
Die kombinatorische Allophonie von /ç/ und [ç] bzw. [x] ist eine Assimilation an die voraufgehende Vokalklasse: Nur bei Vokale mit dem Merkmal [+ hinten] (a, o, u) – manche vergeben an
28
Es wird nicht etwas wie *[fɛʀts] artikuliert.
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/a/ auch [zentral] anstatt [hinten] – folgt [x], nach nicht-hinteren Vokalen erscheint der palatale
stimmlose Frikativ. Vgl. Sucht, Süchte; Tochter, Töchter.
Umlaut: ist ein sprachgeschichtlich relevanter, vom Ahd. ins Mhd. reichender Assimilationsprozess, der heute in der Morphologie als Mittel (Mutation: Umlaut) wirkt: z. B. beim PL Tochter >
Töchter oder beim K II (mit e-Epenthese): nahm+st > nähm+e+st (der Umlaut kommt auch als
Begleitumstand vor, z. B. bei Mann > Männ+chen (Mittel: Affigierung: Suffigierung). Beim sog.
PRIMÄRUMLAUT bewirkten /i/ oder /j/, die man als [vordere] Segmente einstufen kann, in der Folgesilbe eine FRONTIERUNG (hier zugleich mit einer Hebungsbewegung) des zugrunde liegenden
30
<a> zu <e>. Vermutlich kam es bereits in ahd. Zeit auch schon zum sogenannten RESTUMLAUT
(<o> --> <ö>, <u> --> <ü>), doch verfestigte sich dieser erst in mhd. Zeit (das kann man an Verschriftlichungen nachvollziehen, denn verschriftet werden primär Phoneme, keine Allophone).
Beispiele: ahd. lambir > lembir (Lämmer) (Primärumlaut); wahsit > wächst (SEKUNDÄRUMLAUT);
vorahd. satjan > (altsächs. settian >) ahd. sezzen > setzen.
Die standarddeutsche G-SPIRANTISIERUNG (g-Frikativierung) bei König oder lustig als [kØ:niç],
[lƱstɪç], ist auffällig, da im Silbenendrand die Auslautverhärtung /g/ →[k] zu erwarten wäre. Bei
könig[k]lich hören wir diese auch. König[k] gilt jedoch als regionale Aussprache. Die Regelfassung ist mit Problemen behaftet! Wenn wir /g/ nach /ɪ/in einem Frikativ umwandelten (den
nichtkontinuierlichen dorsalen Obstruenten, der auch das Merkmal [+ hinten] besitzt, umwandelten in einen kontinuierlichen dorsalen Obstruenten, leider auch [+ hinten]), dann kommt ja
[x] heraus und nicht [ç] (das ist [– hinten])! Technisch machbar wäre eine Lösung, die /g/ frikativiert, dann kommt ein stimmhafter kontinuierlicher dorsaler Obstruent heraus: /ʝ/! Und /ʝ/
würde dann von der Auslautverhärtungsregel erfasst, entstimmlicht, so dass [ç] herauskäme!
Ein interessanter Assimilationsvorgang liegt bei der sog. VOKALHARMONIE vor (z. B. Finnisch, Türkisch, Ungarisch). Ich gehe hier nicht ins Detail und demonstriere am Türkischen nur einen Aspekt der Vokalharmonie, nämliche denjenigen, dass nur vordere bzw. nur hintere Vokale in einer Wortform vorkommen (es ist in Wirklichkeit komplizierter): Türkiye+de ‚in der Türkei‘, Berlin+de ‚in Berlin‘ vs. Almanya+da ‚in Deutschland‘, Polonya+da ‚in Polen‘ etc. Für das Althochdeutsche werden auch vokalharmonische Prozesse diskutiert, etwa bei den Sproßvokalen: burg
31
> burug, swert > sweret, bifilhu > bifilihu.
29
30
31
Öfters wird als Phonem /x/ angesetzt, was sich jedoch als unpraktisch herausgestellt hat, da die palatale Variante weniger beschränkt vorkommt, etwa auch am Wortanfang (Chemie, China) oder nach Konsonant im ER
(Milch), während die velare Variante nur nach hinterem Vokal artikuliert wird.
Die Terminologie ist hier unterschiedlich. Traditionell werden unter SEKUNDÄRUMLAUT sowohl der später nachgeholte, zu den Zeiten von gasti > gesti etc. jedoch gehemmte Umlaut /a/ > /e/ (mahtig > mehtig zunächst
wegen /x/ verhindert oder faterlih > väterlich zunächst wegen übernächster Silbe verhindert) als auch <o> >
<ö> und <u> > <ü> zusammengefasst. Manche, auch ich, differenzieren in Primär- (lembir, gesti), Sekundär(mähtig) und Restumlaut (ö, ü, äu).
Vgl. etwa Szczepaniak, Renata: Der phonologisch-typologische Wandel des Deutschen von einer Silben- zu
einer Wortsprache. Berlin 2007, S. 107 ff.
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HEBUNG (e/i-Wechsel): Erscheinungen wie helfe, hilfst, hilft oder nehme, nimmst, nimmt gehen
zurück auf ahd. Hebungen bei i, u in der Folgesilbe (hier: Flexionssilbe), vgl. ahd. helf-an helfINF, hilf-u helf-1SG.IND, hilf-is, hilf-it oder neman, nim-u, nim-is, nim-it (PL: nema-mes/nememes, nem-et, nema-nt/neme-nt). Man beachte: Während gasti > gesti (Gäste) als Umlaut (plus
Hebung, denn auf der Stufe [tief] liegt kein Vokal vor dem /a/; erst auf der Stufe [halboffen]
liegt um eine Stufe frontiert (palatalisiert) das /ɛ/. Da /e/ und /i/ beide [vorn] sind, liegt nur
eine Hebung (und keine Frontierung = Umlautung) vor.
Aufgaben:
(37) Luganda (Bantusprache): Wann wird das Morphem (Präfix, 1SG) wie realisiert (Regel)?
[mbala]
[ɲɲumja]
[ɲcoppa]
[ŋkola]
[nneɲa]
[ntema]
‚ich
‚ich
‚ich
‚ich
‚ich
‚ich
zähle‘
unterhalte mich‘
werde mittellos‘
arbeite‘
tadle‘
schneide‘
[ɲɟagala]
[ndaga]
[nsika ]
[ŋgula]
[mpa]
‚ich
‚ich
‚ich
‚ich
‚ich
mag‘
zeige‘
ziehe‘
kaufe‘
gebe‘
Erläuterungen: [c] = stl. palataler Plosiv, [ɟ] = sth. palataler Plosiv, [ɲ] = palataler Nasal; [ŋ] =
velarer Nasal
(38) Substantivplural im Englischen: Wie sind die Realisations- bzw. Allomorphieregeln?
[hæts]
[weɪvz]
[fænz]
[mɪs]
hats
waves
fans
myths
[feɪsɪz]
[lɪps]
[sneɪks]
[feɪzɪz]
faces
lips
snakes
phases
[bi:z]
[dɪʃɪz]
[bɹɪd͡ʒɪz]
[si:dz]
bees
dishes
bridges
seeds
Progressive Nasalassimilation: Bei /n/ z. B. in /kɪpən/ kippen kann es nach, erstens, einer
Schwa-Tilgung und, zweitens, einer progressiven Kontaktassimilation zu der Aussprache [m]
vorkommen, desgleichen [ɔfm] offen, [ʀɔbm] robben bzw. [] schicken, [kɔxŋ] kochen,
[zɑgŋ] sagen sehen. Eine Regel hierfür sieht etwa so aus:
(39) [+nas, kor] → [α Ort] / [-son, α Ort] __
Ändere das Ortsmerkmal des koronalen Nasals (= /n/) im Einklang mit dem Ortsmerkmal des
folgenden nicht-sonoren Konsonanten an! Dabei ist [α Ort] eine abkürzende Schreibweise für
‚welches Ortsmerkmal auch immer (der betreffende Laut aufweist)“.
8.4 DISSIMILATIONen (lat. dissimilis ‚unähnlich, verschieden‘) vergrößern Unterschiede bei ähnlichen Lauten bzw. Lauten mit gleichen Merkmalen. Vgl. z. B. lat. arbor ‚Baum‘ und span. arbol,
wobei der zweite orale Sonorant /r/ ([vibrant]) zu /l/ ([lateral]) ferndissimiliert wird.
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 24
32
Eine dissimilatorische Allomorphie des Morphems {1SG.PRÄS} zeigt die Sprache (Ki-)Rundi
(Burundi, Afrika), bei der das Allomorph tu- nur vor Stämme gesetzt wird, die mit stimmhaften
Konsonanten anlauten, während das Allomorph du- nur vor solche gesetzt wird, die stimmlos
anlauten, vgl. [va] ‚stammen aus‘ > [tuva] ‚ich stamme aus‘ bzw. [te:ka] ‚kochen‘ > [dute:ka] ‚ich
koche‘. Der erste Konsonant des Präfixes und der erste Konsonant des Verbstamms müssen
hinsichtlich der Stimmhaftigkeit unterschiedlich markiert sein!
Aufgaben
1) Im Ungarischen gibt es ein Suffix mit der Bedeutung ‚über‘. Beschreiben Sie anhand der Daten, wie das Suffix in welcher Umgebung realisiert wird und welcher phonologische Prozess hier
seine Wirkung entfaltet!
[te:rke:prø:l]
[u:rro:l]
[yjrø:l]
[si:nrø:l]
Landkarte
Herr
Geschäft
Farbe
[lɑ:ɲro:l]
[føldrø:l]
[fogro:l]
Mädchen
Land
Zahn
2) Erläutern Sie den englischen Versprecher (Umschrift, Silbenposition, betroffene Merkmale)
pink slip → pick slimp!
9 Phonotaktik
Die PHONOTAKTIK befasst sich mit möglichen und unmöglichen Kombinationen von Segmenten.
Generell steuert die SONORITÄTSHIERARCHIE die Verteilung der Segmente über die Silbe (vgl. Eisenberg Kap. 4.2.). Als Korrelate von SONORITÄT werden angegeben: Schallfülle, Lautheit, Stimmhaftigkeit, Öffnungsgrad des Kiefers, Grad der Hindernisbildung (Enge/Weite der Passage).
(40)
Sonorität zunehmend >>>
Plosive Frikative Nasale Liquide
Maximum Sonorität abnehmend >>>
Vokale
Liquide Nasale Frikative Plosive
stl sth stl sth
k
v
ɪ
k
v
a
l
m
a
l
m
p
s
ɛ
k
n
a
r
ʀ
l
n
s
t
s
t
Phonotaktische Beschränkungen (CONSTRAINTS) kann man (vermutlich) teils universell, teils aber
nur einzelsprachlich formuliert werden. Uns interessieren vor allem die Restriktionen für das
Deutsche. Ein Beispiel: Im Anfangsrand der wortinitialen Silbe sind im Deutschen Segmentfol32
Die Sprache heißt Rundi, ki- ist ein sog. (bantusprachentypisches) Klassenpräfix. Nämliches finden wir bei (Ki)Swahili bzw. (Ki-)Suaheli.
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gen von Plosiv und /l/ überwiegend möglich (labiale Plosive: Platz, Block; velare Plosive: klein,
glatt), doch für die alveolaren Plosive sind diese ausgeschlossen, d. h. weder /tl…/ noch /dl…/
33
kommen im Anfangsrand einer wortinitialen Silbe vor. Das gilt nicht nur für lexikalisierte, das
gilt ebenso für potentielle Wörter wie Blip oder klatt. Neuwörter mit */tl/ (*Tlip) oder */dl/
bilden wir nicht! Die Umkehrung dieser Folgen, also /l/ + Plosiv findet sich im Anfangsrand
deutscher Silben prinzipiell nicht: *Lpatz oder *lgatt bewerteten wir als ungrammatisch. Diese
Lateral-Plosiv-Folgen verstoßen gegen die Sonoritätshierarchie! Ob die Restriktion *#/l/ + Plosiv
34
universal ist, entzieht sich meiner Kenntnis (möglicherweise – von mir noch nicht überprüft –
lässt das Russische Wortformen wie lba zu).
10 Phonologie oberhalb der Segmentebene
Man nimmt an, dass die phonologische Struktur hierarchisch organisiert ist und u. a. aus der
Silbe (σ), dem Fuß (F) und dem phonologischen Wort (ω) besteht:35

(41)
phonologisches Wort ( = Omega)
F
w
O
s
N
O
N
Fuß (hier: trochäisch = (s w))
w
C
O
Silbenschicht ( = „Sigma“)
N
Silbenkonstituentenschicht
(onset, nucleus, coda)
C
V
C
V
C
V
CV-Schicht (CV-tier, skeletal tier)
f
o
ʀ
ɛ
l
ə
Segmentschicht
Dieser Strukturdarstellung lassen sich Details entnehmen wie „/l/ist ein ambisyllabischer Konsonant“, /ʀɛl/ ist die relativ prominenteste Silbe“, „Pänultima und Ultima bilden einen trochäischen Fuß und die Antepänultima einen Auftakt“ etc.
33
34
35
Der Zusatz wortinitial ist insofern wichtig, als wortmediale Anfangsränder mit Alveolarplosiv + /l/ vorkommen
wie bei Han.dlung oder A.dler (und An.tlitz? Oder Ant.litz?).
Das „Gartenzaunsymbol“ <#> markiert in der Phonologie Grenzen, z. B. die linke oder die rechte Wortgrenze
und gelegentlich auch Silbengrenzen, die aber bevorzugt anstelle <#> mit <σ> (Sigma für ‚Silbe‘) angegeben
werden. Die Tilgung des „alten“ /g/ (in der Schrift erhalten) nach /ŋ/, vgl. <lang> und /laŋ/, kann man durch
die Regel /g/ → Ø / /ŋ/ __ # beschreiben („Überführe /g/ in nichts bzw. tilge /g/ in der Umgebung, wenn
/g/ nach velarem Nasal und vor einer folgenden Grenze steht.
Das Beispiel Forelle und der darauf folgende Text ist angelehnt an: http://www.ids-mannheim.de/gra/wortphonologie.html. Grundlegende Schriften zur prosodischen Phonologie sind z.B. Selkirk (1978), Booij (1983)
und Nespor/Vogel (1986).
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 26
11 Die Silbe
1. Eine Silbe ist durch genau einen Öffnungs- und Schließungsprozess gekennzeichnet:
(42)
f
a
n
Öffnung
Anlaut
t
Schließung
o:
Öffnung
Silbengrenze
Auslaut
Anlaut
Gipfel
m
Schließung
Gipfel
Auslaut
Besonders leicht fallen uns beim Artikulieren Silben wie dada, gugu, mama, papa, also CV.CV,
also die Öffnungsbewegung Anlaut > Gipfel, da die ersten Silben, die kleine Kinder produzieren,
vom Typ CV sind. In nicht wenigen Sprachen ist dies der bevorzugte/dominante Silbentyp.
2. Jede Silbe weist in ihrem Zentralbereich Stimmton auf. Mindestens der Silbenkern, ggf. aber
auch ein kleiner Block stimmtoniger Laute wie oben /n/ und /m/, ist dort vorzufinden.
3. Die Silbe () besitzt eine innere Struktur, die mehrheitlich wie folgt angegeben wird (Kürzel:
R(eim), On(set)/Anfangsrand, Nu(kleus)/K(ern), Co(da)/Endrand):

(43)
R
On/AR
C
k
k
Nu/K
C
R
R
R
Co/ER
V
a
a
C
f
u
ɑ:
C
t
t
t
Kraft
Kraut
Rat
Weitere Beschreibungsbegriffe für die Silbe liegen vor mit:

(44)
AR
Kraft
K
ER
KÖRPER
Kr
SCHALE
NACKTE SILBE: ohne AR
ft
Kra
REIM
OFFENE SILBE: ohne ER
a
Kr
da
Ass
GESCHLOSSENE SILBE:
BEDECKTE SILBE:
aft
ft
mit ER dass
mit AR dass
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(45)
offen
geschlossen
nackt
oh, Ei
ob, Eis
bedeckt
so, Mai
Sohn, Mais
12 Silbifizierung (Zuweisung/Ermitteln von Silbengrenzen)
Gehen wir davon aus, dass die zugrunde liegende phonologische Repräsentation im Lexikon
nur nicht-vorhersagbare Informationen enthält (nur die Folge der Phoneme, z. B. /hauz/)! Nur
wenn ein Wort unvorhersagbare Eigenschaften besitzt, muss man diese im Lexikon vermerken.
So sollte das Wort August wegen der schweren Ultima Ultimaakzent aufweisen wie beim Sommermonat; doch wenn August ‚Clown‘ bedeutet, hat es eine abweichende Pänultimabetonung.
Sonst gilt, dass die weiteren phonologischen Operationen (wie Silbifizierung, Akzentuierung,
Tilgung oder Assimilation) aus Regeln bzw. Prinzipien abgeleitet (oder wie man auch sagt: „errechnet“) werden. Im Deutschen lässt sich die Silbifizierung folgenderweise ableiten:
1. Assoziiere die Vokale mit der Komponente Nukleus! Wenn zwei Vokalsegmente einen Diph36
thong bilden, beide mit einem Nukleus assoziieren wie bei Laib! Liegt kein Diphthong vor, so
assoziiere zwei benachbarte Vokalsegmente hetrosyllabisch (wie bei na.iv)!
2. MAXIMUM ONSET PRINCIPLE (MOP): Assoziiere die Konsonanten links der Nuklei mit der Konstituente Onset (Anfangsrand), nehme so viele C wie möglich, wobei die phonotaktische Regelhaftigkeit gewahrt sein muss! Beispiel: Bei Filtrat kann man links des Nukleus „a“ die Onsets „r“
oder „tr“ oder „ltr“ bilden, aber *ltr widerspricht den Wohlgeformtheitsbedingungen des Deutschen (und der Sonoritätshierarchie auch), also hört man bei „tr“ auf!
3. Assoziiere die verbleibenden Konsonanten mit der Konstituente Coda (Endrand)!
σ
(46)
σ
R
N
N
f ɪ l t ʀ ɑ: t
ON
O N
f ɪ l t ʀ ɑ: t
R
ON C
O
N C
f ɪ l
t ʀ
ɑ: t
Bei V[+gesp]CV erfolgt im Deutschen die Silbifizierung in der Regel als V.CV (gemäß dem MOP).
Bei V[–gesp]CV wird C AMBISYLLABIFIZIERT (vgl. entlehnt e[+gesp].legant und nativ E[–gesp]l.le).
4. Bei der Silbifizierung von Komposita sind morphologische Grenzen wichtiger als das Maximum Onset Principle (MOP)! Daher je nach den Morphemgrenzen Wach.traum (diese Silbifizierung wäre MOP-gemäß) oder Wacht.raum oder ver.senden vs. Vers.enden!
Das zentrale Prinzip ist das MOP: Platziere von intervokalischen Konsonanten so viele wie möglich im Anfangsrand der Folgesilbe, höre aber auf, wenn der AR den phonotaktischen Regulari36
Ein bisegmentaler Nukleus (N = VV) stellt nur eine der beiden diskutierten Möglichkeiten dar. Eine andere
Möglichkeit ist es, mit nur einer V-Position zu arbeiten und das zweite Diphthongsegment unter einer CPosition im Endrand zu positionieren!
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täten der Sprache widerspricht, vgl. Mo:n.de vs. *Mo:.nde. Die Besetzung des linken Nukleus ist
von Bedeutung: Im Standardneuhochdeutschen wird eine Silbe mit einem ungespannten Vokal
mittels eines Gelenkkonsonanten geschlossen, vgl. mhd. [ga.tə] und nhd. [gaṭə]. Man sollte das
MOP gegebenenfalls mit einem weiteren Prinzip überprüfen:
Ein weiteres Silbifizierungsprinzip besagt, dass bei intervokalischen Konsonanten die Silbengrenze vor dem Konsonanten mit der geringsten Sonorität liegt, was auch zu Fil.trat führt. So
stimmen die Ergebnisse beider Prinzipien zwar oft, aber nicht immer überein. Ziehen wir ruhig
beide Prinzipien zur Beurteilung heran! Zum Beispiel, wenn die Grammatikalität des Anfangsrandes unklar ist wie bei Händler, das nach dem MOP Hän.dler zu silbifizieren ist. Allerdings
stellen wir fest, dass Wortanfänge mit /dl/ im Deutschen nicht existieren! Wenn, dann kommt
/dl/ nur wortmedial vor! Dennoch wird Hän.d[d]ler ohrenscheinlich zwischen Nasal und Plosiv
silbifiziert (z. B. Aussprache im DWDS). Es klingt nicht nach ?Händ[t].ler!
Beziehen wir noch das SILBENKONTAKTGESETZ mit ein: Innerhalb eines Wortes gilt, dass ein Silbenkontakt (eine Grenze zwischen zwei Silben) von zwei Konsonanten desto unmarkierter ist, je
höher die Sonorität des letzten Lautes der ersten Silbe und je niedriger die Sonorität des ersten
Lautes der zweiten Silbe ausfällt. Vgl. Hän.dler mit hoher Sonorität bei /n/ und niedriger bei /d/;
bei ?Händ.ler wäre der Silbenkontakt deutlich schlechter! Vgl. auch Al.pen vs. At.las. Das be37
deutet allerdings nicht, dass schlechte Silbenkontakte niemals vorkommen!
Aufgaben
1) Verlautschriften Sie die folgenden Wörter (Standardlautung) und geben Sie an: (i) die Vollund die Reduktionssilben, (ii) die nackten und die bedeckten Silben und (iii) die offenen und die
geschlossenen Silben!
(a) elegantes
(d) Nationalisten
(b) Eierschachtel
(e) Problembären
(c) Aspirin
2) Erläutern Sie den folgenden Versprecher über die Vokal-Merkmalsmatrizen!
Mysterium
Mistörium
[mʏs.te:.Ri.ʊm]
[mɪs.tø:.Ri.ʊm]
3) Erläutern Sie den Versprecher Nun, liebe Lina, schlammere sunft!
4) Erläutern Sie den Versprecher nass vor Bleid!
5) Sind die folgenden Repräsentationen mögliche phonologische Wörter des Deutschen? Wenn
nicht, bitte begründen, wo der Fehler liegt!
(a) [sɔnə]
(b) [liːɡ]
(c) [ʃplɪnt]
(d) [ʃŋɛkə]
37
Bisweilen werden schlechte Silbenkontakte durch phonologischen Wandel verbessert, vgl. diachron span.
ve.ni.rá > (Tilgung des Pänultimavokals) ven.rá > (Konsonantenepenthese) ven.drá ‚er wird kommen‘.
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13 Akzentzuweisung: der Simplexakzent
Simplizia wie Schokolade oder Holunder haben keine morphologische Struktur. Die ähnlich klingenden Wortformen Schieb(+)e+lad(+)e oder Heul+end+er sind keine Simplizia. Bei der Akzentvergabe ist strikt zwischen Simplexakzent und morphologischem Akzent zu unterscheiden!
Nach der Silbifizierung einer Phonemkette kann man den SIMPLEXAKZENT ermitteln.
Das Deutsche ist eine (i) AKZENTSPRACHE. Für (ii) TONSPRACHEN wie Chinesisch sind wortüberlagernde Tonmuster wie steigend-fallend oder fallend-steigend charakteristisch.38 (iii) TONHÖHENAKZENTSPRACHEN wie Japanisch besitzen sowohl Tonmuster als auch Akzente.
In SPRACHEN MIT FREIEM WORTAKZENT ist die Akzentlage nicht aus der Folge und Struktur der phonologischen Segmente und Silben vorhersagbar. Solche Sprachen bilden phonemische Akzentunterschiede aus, die im Deutschen (mit Wortakzent innerhalb eines Dreisilbenfensters) sehr selten vorkommen, s. ˈAu.gust ‚Clown‘ und Au.ˈgust ‚Monat‘. Die rekonstruierte indoeuropäische
Grundsprache gilt als Sprache mit freiem Akzent, unter heutigen Sprachen z. B. das Russische.
SPRACHEN MIT FESTEM WORTAKZENT legen die Hauptbetonung entweder auf eine bestimmte Wortsilbe fest (z. B. Ungarisch: Erstsilbenbetonung) oder die Akzentvergabe erfolgt innerhalb eines
Fensters. Im Deutschen umfasst dieses Fenster, vom rechten Wortrand aus betrachtet, die letzten drei Silben. Die Akzentfestlegung erfolgt nach Kriterien wie (es ist nicht ganz so einfach,
Genaueres folgt!): Betone die schwerste Silbe des Wortes! Eine schwere Silbe sei für das Deutsche bestimmt als Silbe mit Diphthong (Ba.la.lai.ka), mit VC (A.na.kon.da) oder mit Langvokal
39
(To.re.ro), also mindestens mit einem XX-Reim. – Latein beispielsweise geht vom rechten
Wortrand aus und betont die Pänultima, wenn diese schwer ist (rek.ˈsis.tis ‚ihr herrschtet‘). Ist
die Pänultima leicht, dann wird die Antepänultima betont (ˈin.su.la). Bei lateinischen Zweisilbenwörtern wird ungeachtet des Silbengewichtes die Pänultima betont, vgl. ˈca.pe! ‚Nimm!‘
Im Deutschen sind, vom rechts nach links betrachtet, in Simplizia nur die letzten drei Silben akzentuierbar sind. Das Beispiel Schokolade zeigt auch, dass für das Deutsche in längeren Wörtern
ein HAUPTAKZENT (la) und ggf. NEBENAKZENTE (Scho) typisch sind (dazu mehr bei der Fußbildung).
Um über Akzent präziser sprechen zu können, bedient man sich der folgenden Terminologie:
ω
PHONOLOGISCHES WORT
Fw
σs
[ ˌʃ o.
Fs
σw
σs
σw
k o.
ˈl ɑ:.
də]
ULTIMA
ANTEPÄNULTIMA
38
39
zwei trochäische FÜße
PÄNULTIMA
SILBEn
Nicht systematisch (wie es scheint) liegen überlagernde Tonhöhenmuster im Bereich der Interjektionen vor,
vgl. Sie aha mit hoch-tief (zur Kenntnis nehmend) oder mit tief-hoch (hier schwingt Überraschung, Skepsis
oder Ähnliches mit).
Die Frage, ob Langvokalsilben im Deutschen als schwer oder nicht schwer zu gelten haben, ist umstritten und
Gegenstand einer bereits längeren Diskussion.
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 30
Diskussionen gab bzw. gibt es zu den Fragen:
- Beschreibt man native und nicht native Simplizia mit dem gleichen Regelsatz oder benötigt
man separate Regelsätze? In der Tendenz: ein Regelsatz für beide Lexik-Schichten.
- Rechnen offene Langvokalsilben im Deutschen als schwer oder als nicht schwer? Normalerweise: Eine offene LV-Silbe ist schwer. Aber was ist, wenn man die Länge vom Akzent abhängig
macht (gespannter Vokal unter Akzent wird lang)? Man handelt sich ein Ableitungsproblem ein,
denn man wüsste ja erst nach erfolgter Akzentuierung, ob der gespannte Vokal lang ist. Man
kann den Langvokal ja nicht als zugrundeliegend ansetzen (bei Diphthongen und VC entsteht
dieses Problem nicht), so dass er vor der Akzentvergabe mitberechnet würde.
Ich stelle nun vor, wie Vennemann (1991)40 die Simplexakzentzuweisung darstellt:
Regel 1: Nur Vollsilben können akzentuiert werden! (= Schwa-Silben tragen keinen Akzent!)
Regel 2: Eine bedeckte reduzierte Ultima führt zur Akzentuierung der Pänultima. Nur (in den
seltenen Fällen) wenn die Pänultima eine Schwa-Silbe ist, dann akzentuierte man die An41
tepänultima! Beispiele: Helene, Banane, Aprikose, Granate, Kaliber, Lavendel, Banause.
Warum verstößt 'Hebamme anscheinend, aber nicht tatsächlich hiergegen? Es handelt sich um
ein synchron nicht mehr deutlich erkennbares Kompositum aus heben und Amme und nicht um
ein Simplex. Determinativkomposita werden auf dem Determinans akzentuiert.
Eine Schwa-Ultima ist eine gute Voraussetzung für einen vom phonologischen/metrischen
Wortdesign her angestrebten trochäischen Wortausgang. Man beachte, dass bei den genannten Substantiven keine Plurale gebildet werden, die eine weitere Silbe erforderten, damit der
Trochäus gewahrt bleibt (Ba.nau.sen, Gra.na.ten)
Regel 3: Nur die letzten drei Vollsilben eines Simplex können akzentuiert werden:
To.hu.wa.BO.hu/*To.HU.wa.bohu/*TO.hu.wa.bo.hu; Me.THU.sa.lem
Regel 4: Der Akzent geht nicht über eine schwere Pänultima zurück: Veranda, Balalaika, Andorra, Inferno, Suleika. – Auch hier ist ein trochäischer Wortausgang erreicht, der bei Substantiven
erhalten wird, indem keine silbischen Plurale verwendet werden, vgl. Balalaikas, Veranden (seltener: Verandas).
Normalitätsbeziehung 1: Simplizia mit schwerer Ultima werden auf der Ultima akzentuiert, insbesondere wenn diese mehrfach geschlossen ist: Radau, Taifun, Labyrinth, Katarakt, korrupt,
Prozess. – Hier finden sich dann häufig silbische Plurale, um den Trochäus rechts zu sichern:
Taifune, Katarakte, Prozesse.
Normalitätsbeziehung 2: Simplizia mit leichter Ultima werden nicht auf der Ultima akzentuiert
(Kilo, Emu, Bikini)
Normalitätsbeziehung 3: Simplizia mit nackter Ultima und mit einer auf hohen Vokal ausgehenden Pänultima werden nicht auf der Pänultima akzentuiert: Pavian, Jaguar, Akazie, Arie, Statue;
40
41
Vennemann, Theo (1991): Skizze der deutschen Wortprosodie. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 10,
1991:1, 86-111.
Bei dem ursprünglich antepänultimabetonten ['bεʀzεʀkɐ] kann man eine Akzentverschiebung nach Regel 2
beobachten (vgl. Aussprachevarianten DWDS online), nämlich [bεʀ'zεʀkɐ].
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anders Oboe, Trophäe. – Möglicherweise hat das damit zu tun, dass die hohen Vokale /i/ und
/u/ in bestimmten Umgebungen zu sogenannten Gleitlauten (die man mit [j], [w] wiedergeben
könnte) werden, wenn eine Silbenreduktion stattfindet und dann Pänultima-Akzent vorliegt.
Normalitätsbeziehung 4: Ist keine andere Normalitätsbeziehung (und keine Regel) einschlägig,
so wird die Pänultima akzentuiert (Bikini).
Das letzte Wort scheint mit Blick auf die Akzentzuweisung im Deutschen noch nicht gesprochen, so dass wir weitere empirische und theoretische Untersuchungen durchführen sollten!
Arbeiten wie die von Ulrike Janßen (Untersuchungen zum Wortakzent im Deutschen und Niederländischen, Diss. Univ. Düsseldorf 2003, online: http://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-2911/911.pdf) zeigen nicht bei allen Silbenstrukturkombinationen (sehr) deutliche Präferenzen. Wenn wir Fälle betrachten, bei denen Ultima und Pänultima
bezüglich Gewicht gleich sind, dann gibt es Fälle wie ˈKo.li.bri oder Bi.ˈki.ni und (interessante)
Schwankungen wie Gi.ˈbral.tar versus Gi.bral.ˈtar und ˈMar.zi.pan versus Mar.zi.‘pan!
Aufgabe: Erläutern Sie die Akzentuierungen von
(a) Odessa
(b) Ballast
(c) Taifun
(d) Reifung
(e) Marzipan
14 Skizze zum Akzent bei Komposita und bei Suffixderivaten
KOMPOSITIONSAKZENT: In determinativen Komposita befindet sich der Akzent in zweigliedrigen
Bildungen auf der linken Konstituente (BW). Bei Kopulativkomposita im engeren Sinn ist die
rechte Konstituente akzentuiert (Österreich-'Ungarn, süß'sauer). So liegt bei 'blau.grün ein Determinativkompositum vor, nämlich wenn das Grün ins Blaue spielt bzw. Blauanteile aufweist,
wogegen blau.'weiß (z. B. der bayerische Himmel) kopulativ zu interpretieren ist (ein Nebeneinander von Blau und Weiß).
Steigerungsbildungen des Typs Steigerungsglied + Adjektiv wie brunz'dumm, sau'heiß,
scheiß'freundlich (die man heutzutage wohl wieder überwiegend als Komposita einstuft, andererseits ist das nicht unumstritten, vgl. die Affixoid-Debatte) werden in der Tendenz auch (eher)
rechts akzentuiert. Vergleichen Sie auch 'stein.reich ‚reich an Steinen, viele Steine aufweisend‘
und stein.'reich ‚sehr reich‘.
Bei mehrgliedrigen Determinativkomposita wird die Akzentvergabe durch die COMPOUND STRESS
RULE geregelt: In einem Kompositum [ A B ] ist B genau dann akzentuiert, wenn B verzweigt. 42
Ganz zuverlässig ist diese Regel nicht, was etwa folgende Betrachtungen zeigen: Weltraumflugzeug (oder Weltraumbahnhof) sollte eigentlich auf flug (bzw. bahn) betont sein, da B verzweigt.
Es liegt möglicherweise an der Lexikalisierung bzw. der Idiomatisierung von Flugzeug, dass es
nicht als verzweigend gesehen wird. Allerdings sind Lexikalisierung oder Idiomatisierung nicht
einfach zu bestimmende Charakteristika. Somit sollte die Korrelation von Akzentuierung und
kompositionaler Verzweigungsstruktur empirisch noch genauer untersucht werden.
42
In den Bäumen wird relative PROMINENZ durch die Etiketten „s“ (strong) bzw. „w“ (weak) angezeigt.
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(47)
s
s
A
B
s
w
w
(a) Fi'nanz minister wahl
A
B
w
s
w
(b) Bundes fi'nanz minister
‚Wahl des Finanzministers’
‚Finanzminister des Bundes’
s
B
A
s
A
w
B
s
w
s
(c) 'Welt raum flug
s
A
w
zeug
‚Flugzeug für den Weltraum’
w
s
Welt 'nicht
B
w
w
raucher tag (d)
‚Nichtrauchertag bezüglich der Welt’
Falls das Determinans kein Wort ist, sondern eine Wortgruppe, dann liegt der Akzent dieser
kompositionalen Determinationsstruktur so wie in der Wortgruppe, vgl. Unter'wasserbilder
‚Bilder, die unter Wasser [PP!] aufgenommen wurden‘ und 'Hochwasserbilder ‚Bilder von einem
Hochwasser‘.
Bei der Suffixderivation kommt es darauf an, ob ein Suffix des akzentanziehenden oder des akzentneutralen Typs beteiligt ist: 'kafka+mäßig und kafka+'esk, 'schwei.n+isch und schwei.'n+ös.
Aufgabe: Bestimmen und erläutern Sie die Akzente in
(a) Bundesbahngesetz
(b) Bundesabfallgesetz
(c) Ministrand
(d) Ministrant
(e) Minister
(f) Wenn dir kalt ist: Saunieren!
(g) Isst du etwa Saunieren?
14 FUSS
Der Fuß ist eine phonologische Strukturkomponente oberhalb der Silbenebene. In einem Fuß
werden eine akzentuierte (betonte) und ein bis zwei unbetonte Silben zusammengefasst. Die
phonologische Teildisziplin, die sich mit dem Fuß (wie auch mit dem Akzent) befasst, ist die
METRISCHE PHONOLOGIE (METRIK: ‚die Lehre vom Versmaß‘).
Bekannte Fußtypen im Deutschen sind:
- linksköpfig:
Trochäus (Xx): ˈTep.pich, ˈTe.nor (‚Essenz‘)
Daktylus (Xxx): ˈschö.ne.re, ˈWan.de.rer
- rechtsköpfig: Jambus (xX): Skan.ˈdal, Te.ˈnor (‚Sänger‘)
(Der Anapäst (xxX) wird nicht als für das Deutsche relevanter Fuß angesehen.)
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DEGENERIERTER FUß: Ein Fuß, der eine einzige Silbe dominiert, heißt degenerierter Fuß. Im deutschen beachte man hierzu vor allem Wörter mit unbetonten Präfixen: er.ˈle.ben, be.ˈgrei.fen,
Fo.ˈrel.le, Ge.ˈhu.pe, ge.ˈle.sen.
Würde man hier den Amphibrachys (xXx) zuweisen, verkomplizierte man die Beschreibung des
Deutschen, das hauptsächlich als trochäisch und teilweise daktylisch zu beschreiben ist! Systematischer wird es, wenn man hier annimmt, dass ein Trochäus mit unbetontem Auftakt vorliegt
und dass die Antepänultima von einem degenerierten Fuß dominiert wird.
Alternativ verfolgen hier einige das Konzept der EXTRAMETRISCHEN SILBE, wonach etwa PräfixSilben generell (?) als extrametrisch (bei Akzentuierung und Fußbildung nicht zu berücksichtigen) gewertet werden. Wenn das Deutsche die im nächsten Abschnitt beschriebene Parametrisierung hat, würde man bei Ba.la.lai.ka den Trochäus zweimal von rechts nach links (mit dem
starken Fuß am rechten Wortrand) gewichtssensitiv zuweisen, bei Fo.rel.le einmal mit dem
Überbleibsel Fo , das man als degenerierten Fuß oder als extrametrische Silbe werten kann.
15 Fußzuweisung
Eine Fußzuweisung enthält die Parameter
- (i) Fuß (z. B. Trochäus oder Jambus)
- (ii) Richtung (von rechts nach links (RTL) oder von links nach rechts (LTR))
- (iii) Wort: erster Fuß ist stark oder letzter Fuß ist stark
- (iv) Quantität: quantitätssensitiv oder nicht quantitätssensitiv
Man könnte hier auch „gewichtssensitiv“ sagen, d. h. die Alternative besteht darin, ob bei der
Zuweisung das Silbengewicht berücksichtigt wird oder nicht. Leichte Silben sind Schwa-Silben
oder offene Kurzvokalsilben wie die drei in Scho.ko.la.de; als schwere Silben gelten offene
Langvokalsilben (Scho.ko.la.de), Diphthongsilben (Ba.la.lai.ka) und geschlossene Silben
(A.na.kon.da, Pri.mat, al.lein, Ka.ta.rakt)
Für das Deutsche können wir, z. B. anhand von Schokolade oder Balalaika, folgende Parameterwerte ermitteln: (i) Trochäus, (ii) RTL (right to left), (iii) letzter Fuß ist stark (Hauptakzent: la,
lai) und (iv) quantitätssensitiv (da lai mit ai = VC die schwerste Silbe ist).
In welchem Verhältnis Fußzuweisung und Akzentzuweisung stehen, müsste noch geklärt werden. Zunächst soll die Fußzuweisung hier nur kurz angesprochen werden, um zu zeigen, wie
man in formalisierter Weise vorgehen kann. Denkbar ist, dass die Prozessreihenfolge Akzent >
Fuß eingehalten wird, so dass zunächst der Hauptakzent und dann der Fuß zuzuweisen wäre.
Der Fuß könnte sich nach dem Hauptakzent richten. Bei Pänultimaakzent wie in Schokolade,
Veranda, Terrasse entsteht kein Problem, da die Ultima-Schwasilbe die unbetonte Silbe des
angesetzten Trochäus rechts ausfüllt. Und bei Kro.ko.DIL, Ka.ta.RAKT, Au.GUST mit Ultimabetonung? Hier ist wohl die Flexion einzubeziehen, die im Plural die unbetonte rechte Trochäussilbe
liefert: Kroko.DI.le, Kata.RAK.te, Au.GUS.te. Im Singular bleibt diese Position offen. Bei Antepänultimaakzent wie in KA.ka.du (PL Kakadus), (der) SEL.le.rie (PL die Selleries), LE.xi.kon (PL
Lexika) läge dann daktylischer Fuß vor und es scheint so zu sein, als ob es dann nur nichtsilbische Plurale gäbe.
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16 Die Optimalitätstheorie (OT)
Die regelabarbeitende (generative) Phonologie beschreibt, wie an einem Input (A) an bestimmter Stelle (X __ Y, nach X bzw. vor Y bzw. zwischen X und Y) etwas verändert wird (z. B. ein
Merkmal), so dass ein Output (B) erzeugt wird:
(48) Regelformat: A → B / X __ Y
Beispiel: /ç/ → [x] / [+vok, +hint] __
(49) Ausführlich: [– sth, palatal, frikativ] → [– sth, velar, frikativ] / [+vok, +hint] __
Versprachlicht: „Realisiere das Phonem /ç/ nach hinterem Vokal velar!“
Die OT geht anders vor! Das OT-Modell besteht aus zwei Komponenten, dem Generator (Gen)
und dem Evaluator (Eval). Der Generator erzeugt eine Kandidatenmenge, die dann den Evaluator passiert. Dieser Evaluator enthält eine Menge gerankter (stärkehierarchisierter) Constraints
(Beschränkungen), mittels derer die generierten Kandidaten bewertet wird. Diese Beschränkungen sollten idealerweise universalgrammatisch verwendbar sein bzw. aus sprachvergleichenden Untersuchungen heraus begründbar sein.
Vergleichen wir dt. /hʊnd/ und e. /haʊnd/ und lassen wir den Generator nur die beiden möglichen Realisierungen [hʊnd], [hʊnt] und [haʊnd], [haʊnt] erzeugen und vom Evaluator bewerten. Blenden wir die meisten Beschränkungen aus und vergleichen wir nur diese beiden:
*Voiced-Coda: No (Asterisk = NEG) voiced coda, d. h. Obstruenten sind in der Silbencoda (uni43
versalgrammatisch präferiert) stimmlos, d. h. auslautverhärtet!
Ident-IO: Identität von Input und Output, d. h. es dürfen keine phonologischen Merkmale verändert werden (wie etwa [stimmhaft])!
Offensichtlich konfligieren beide Beschränkungen! Nun kommt es also darauf an, wie sie gerankt bzw. hierarchisiert sind. Es muss so sein, dass die die Rangfolge im Deutschen anders ist
44
als im Englischen. Tableaus wie das folgende sind für die OT typisch:
Kandidaten
[hʊnd]
☞ [hʊnt]
*Voiced-Coda Ident-IO
Kandidaten
Ident-IO
☞ [haʊnd]
*!
*
[haʊnt]
*Voiced-Coda
*
*!
Mit Ident-IO und *Voiced-Coda sehen wir je ein Beispiel für eine Treue- und eine Markiertheitsbeschränkung. Treueconstraints verlangen die Identität von Input und Output. Das Verän45
dern phonologischer Merkmale (etwa beim Plural Tochter > Töchter) sowie Hinzufügungen
und Tilgungen von Segmenten verletzen Treuebeschränkungen. Beispiele:
43
44
45
Die Auslautverhärtung (final devoicing) kommt möglicherweise in relativ vielen Sprachen vor. Zahlenverhältnisse habe ich leider (z. B. bei WALS online) nicht finden können.
<*> besagt: Diese Beschränkung wird verletzt. Das Ausrufezeichen steht bei Verletzungen, die zum Ausscheiden des/der Kandidaten führen. Die zeigende Hand steht vor dem optimalen Kandidaten (das Erzeugnis, das
im Wettbewerb am wenigsten Beschränkungen verletzt).
Insofern würde /hʊnd/  [hʊnəd] eine Treuebeschränkung (keine Hinzufügungen!) verletzen, andererseits
aber der Markiertheitsbeschränkung genügen, dass es keine komplexen Silbenränder wie nd geben soll.
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Max: Keine Tilgung von Segmenten oder Merkmalen
DEP: Keine Epenthesis von Segmenten oder Merkmalen
IDENT(F): Keine Veränderung in den Merkmalen
CONTIGUITY: Adjazente Segmente im Input sind im Output ebenfalls adjazent.
Markiertheitsconstraints verlangen die Unmarkiertheit des Outputs und werden aus der
Sprachtypologie (und dem Spracherwerb) heraus begründet. Beispiele:
ONSET: Silben haben Ansätze
NOCODA: Silben haben keine Koda
NO COMPLEX ONSET: Ansätze sind nicht komplex
NO COMPLEX CODA: Kodas sind nicht komplex
NO VOICED OBSTRUENT: Obstruenten sind stimmlos.
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II Graphematik
1 Der Aufbau des deutschen Schriftsystems (Ebenen der Schreibung)
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
(13
GRAPHETIK (Buchstabensegmente, z. B. zwei Striche bei <t>?)
Buchstabe
GRAPHEM im Sinne von ‚Lautabbild‘ (also auch <<sch>>)
Segmentale Ebene: phonographische Schreibung bzw. Phonem-Graphem-Korrespondenzen
GRAPHOTAKTIK (besondere Graphemkombinationen wie /i:/ → <ie> → <ih> in Pron, ihnen)
Minimale Schreibsilbe (Ei-er) und minimales Wort (ah, da, ei, in, zu; nicht-nativ: Präp à)
Silbische Schreibung (Wahl, Wahlen; Wall, Wälle)
Morphologische Schreibung (Mann)
Wortschreibung (10-Euro-Schein, See-Elefant/Seeelefant)
Wortgruppenschreibung (Syntax, z. B. Kuno, ein Gitarrist(,) und Pia)
Satzschreibung (Syntax)
Text
Stilistische Schreibungen wie Schööön!)
2 Graphembegriff und Phonem-Graphem-Korrespondenzen (PGK)
Die Termini BUCHSTABE und GRAPHEM (dazu später) sind nicht einfach in eins zu setzen. Das Verhältnis hängt von der Graphemdefinition ab!
a) In der AUTONOMIEKONZEPTION bestimmt man das Graphem ohne Phonembezug als die kleinste
bedeutungsunterscheidende Einheit in der Schrift (auch GRAPHOGRAPHEM genannt). Man ermittelt die Grapheme rein schriftsprachlich durch Minimalpaare wie
(50) <Esche>/<Eiche>, <Hefe/Hexe>, <reisen>/<reißen>, <Quelle>/<Duelle>, <Reihen>/ <Rechen>, <Bache>/<Backe>, <Arm>/<arm>, <Yoga>/<Toga>, <5%-Grenze>/<5°-Grenze>, <Es
regnet!>/<Es regnet?> etc.
Hierbei entspricht „im Extremfall“ (vgl. Rezec 2009) jedem Buchstaben ein Graphem, also repräsentiert <Schwund> 7 Buchstaben bzw. 7 (Grapho-)Grapheme. Bei <Chemie> können wir
sagen, man schreibe den Anfangsbuchstaben bzw. das erste Graphem groß.
Im Rahmen der schwächeren Korrespondenzhypothese kann man einerseits die Grapheme im
Sinne von Einzelbuchstaben (vgl. <lochen> und <locken>  Grapheme <h> versus <k>, so dass
<ch> und <ck> aufgelöst werden) zunächst autonom ermitteln, andererseits eine zweite Ebene
ansetzen, in der Grapheme bzw. Graphemkombinationen wie <ch> als LAUTABBILDER auf die
Phoneme bezogen werden, dann z. B. /ç/  <ch> als PGK.
b) In der REPRÄSENTANZ- bzw. DEPENDENZKONZEPTION (und in einigen Versionen der Korrespondenzkonzeption als zweite Ebene, nach den autonom ermittelten Graphographemen) werden Grapheme als Repräsentationen von Phonemen angesehen (und gelegentlich PHONOGRAPHEME genannt). Rezec (2009) nennt diese Repräsentanten PHONEMABBILDER. <Schwund> bestünde also
aus 7 Buchstaben, andererseits aus nur 5 (Phono-)Graphemen wegen des <sch>! Bei <Chemie>
schreibt man folglich den ersten Buchstaben groß, nicht das erste (Phono-)Graphem <ch>.
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Rezec trennt Majuskeln und Minuskeln als Grapheme mit dem Argument, dass deren Austausch
zu Bedeutungsunterschieden führen kann, vgl. Laut : laut, Arm : arm, buche : Buche etc. Zudem
zeigt er, dass auch Einheiten wie <%> Graphemstatus besitzen.
Nachfolgend sehen Sie das Modell von Rezec (2009):
/n/
/ŋ/
<n>
<ng>
<N>
<N>
<N> <N>
/g/
<g>
<n>
Phonemabbilder
<g>
<n>
<n>
Phoneme
<G>
<g>
<n>
<g>
<%>
<%> Grundformen46
<g>
<g>
<g>
Grapheme
<g>
<%>
<%>
Graphe
Andere Vorgehensweisen fassen die Majuskeln als schreibgrammatische Varianten der primären Kleingrapheme auf. Das <L> in Laut wird dann als eine syntaktische Schreibvariante
(Substantivgroßschreibung bzw. Großschreibung des Nominalphrasenkopfes) angesehen.
Ein Beispiel zur Illustration: Schreibung von /man/ als Pronomen oder als Substantiv/Nomen
Bei der Schreibung des Pronomens benötigt man nur die PGK-Zuweisungen
(51) /m/  <m>, /a/  <a> und /n/  <n> = <man>.
1. PGK
phonographisch
2. Silbisch
Phonolog. Form
Pronomen
/man/
<man>
---
Substantiv
*<man>47
Man.nes Männer (Silbengelenk)
*<mannes> *<menner>
3. Morphologisch
4. Syntaktisch
---
*<mann>
der *man/*Man der Mann
 <man>
<Mann>
*<männ>
junge Männer (NP-Kopf)
<Männ(er)>
Die korrekte Schreibung des Pronomens ergibt sich bereits aus der phonographischen Verschriftung. Die PGK-Schreibung des Substantivs ergibt zunächst ebenfalls *<man>. Aufgrund
zweisilbiger Wortformen wie Mannes, Männer, in denen /n/ als Silbengelenk fungiert, ist in
diesen Formen zu verdoppeln: <nn>. Das Prinzip der MORPHEMKONSTANZ erfordert, dass diese
Mehrsilblerform in Einsilbler übernommen wird (*<mannes> etc.  *<mann>). Die Morphem46
47
Die GRUNDFORMEN (<g> und <g>, vgl. <a>, <ɑ> oder <„ “>, <» «>) sind rein schriftsprachliche (graphetische)
Einheiten, die Prototypen der visuell-figürlichen Gestalt von Graphen eines Graphems darstellen. Ein Graphem ist rein durch seine bedeutungsunterscheidende Funktion definiert und nicht durch visuelle Aspekte.
Der Asterisk bei *<man> für das Ziel Mann bedeutet einerseits, dass diese Form ungrammatisch ist. Zugleich
markiert er in der stufenweisen Ableitung, dass die Form noch nicht endgültig ist, d. h. noch nicht alle Schreibungs-Teilmodule durchlaufen hat, die zur Herstellung der grammatisch korrekten Schreibform heranzuziehen sind. Erst Formen ohne Asterisk dürfen geschrieben (getippt) werden.
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konstanz ist auch der Grund, den umgelauteten „Pluralstamm“ nicht mit /ɛ/  /e/ (wie in Bett),
sondern mit der Umlautgraphie <ä> zu verschriften. Da *<mann> syntaktisch als Kopf einer
Nominalphrase (NP) auftritt, vgl. Der (junge) Mann, schreibt man *<mann> als <Mann> groß.
Man schreibt jedoch Ehemann und nicht *EheMann, obwohl das Grundwort des Kompositums
kategorial ein Substantiv ist. NP-Kopf ist das Kompositum Ehemann, nicht das Grundwort
*Mann/mann!
3 Phonographische Schreibungen (Phonem-Graphem-Korrespondenzen)
Phonographische Schreibungen sind Zuordnungen von Graphemen zu Phonemen (PGK): Eine
lautliche Einheit (Phonem) wird durch ein schriftsprachliches Segment (Graphem im Sinne von
Phonemabbild) abgebildet, vgl. /f/  <f>, /k/  <k>, /ʃ/  <sch>. Wenn man die Blickrichtung
umkehrt, kommt man zu (leserorientierten) Graphem-Phonem-Beziehungen (GPK) wie <f> 
/f/ oder <x>  /k/ + /s/.
Die nachfolgenden Tabellen (Eisenberg 2013, Bd. 1 Das Wort, folgend) listen die kontextfreien
Normal-Umsetzungen von nativen Phonemen in Grapheme auf.48
Vokalische PGK (Monophthonge und Diphthonge)
(52) /i/ (/i:/)49
/ɪ/
/y/, /ʏ/
/u/, /ʊ/
/e/ (/e:/)
/ə/
/ø/, /œ/
/o/, /ɔ/
51
/æ/ (/ɛ:/)
/ɛ/
/ɑ/, /a/
48
49
50
51











<ie>
<i>
<ü>
<u>
<e>
<e>
<ö>
<o>
<ä>
<e>
<a>
<miete>50
<mitte>
<hüte>, hütte>
<gut>, <kund>
<leben>
<pute>
<lösen>, <köstlich>
<rote>, <rotte>
<bär>
<welt>
<wal>, <wall>
Normal: Die häufigste bzw. unmarkierte (unmarkiert: ohne Zusatzbedingungen wie bei <s> vor <p> und <t>
anstelle <sch>) Umsetzung bei nativen Wörtern! Die Verschriftung entlehnter bzw. fremder Wörter ist weniger systematisch, teils auch unsystematisch, und so kann man diese nicht mittels einfacher Zuordnungen behandeln.
Ich verzichte auf die Angabe der Länge. Es handelt sich um gespannte Vokale, die unter Akzent lang werden.
Ab und zu verdeutliche ich das zur Erinnerung durch Hinzusetzen in Klammern.
Ich verzichte auf die Großschreibung, die erst nach dem phonographischen Schreiben beim syntaktischen
Schreiben hinzugefügt würde. – Wir werden später sehen, dass man auf /i:/  <ie> verzichten könnte, wenn
man <ie> als silbische (also postphonographische) Schreibung rekonstruiert.
Zur IPA-Zeichenwahl: /æ/ soll einen gespannten halboffenen vorderen Vokal bezeichnen, das Epsilon ohne
bzw. mit <:> bezeichnet den Kurz- bzw. den Langvokal. So bezeichnet auch /ɑ/ den gespannten tiefen hinteren Vokal, wogegen bei /a/ und /a:/ nur die Länge als distinktiv aufgefasst würde. Bei beiden Lauten ist strittig, ob es einen Gespanntheitsunterschied analog zu den hohen und mittleren Vokalen gibt. Die Frage ist theoretisch relevant: Gespanntheit oder Länge. Bei einem Gespanntheitsunterschied würde die Länge durch die
Regel „Unter Akzent wird ein gespannter Vokal lang“ entschieden.
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 39
/ɑɪ ̯/
/ɑʊ̯ /
/oɪ ̯/, /oʏ̯/



<ei>
<au>
<eu>
<klein>
<blau>
<heute>
Die PGK bei den Monophthongen sind unproblematisch, da Lang- wie Kurzvokal durch das gleiche Monographem abgebildet werden, vgl. /ɑ/ bzw. /ɑ:/ und /a/  <a>. Wir können die Korrespondenzen umgekehrt als GPK lesen (<ie>  /i:/) und müssen nur darauf achtgeben, dass
Unterschiede wie Länge versus Kürze nicht segmental/phonographisch, sondern suprasegmental/silbisch ausgedrückt werden, vgl. <hüt(t)e>.
Die einzige Ausnahme stellt /i:/  <ie> dar, was historisch mit der Monophthongierung des
mhd. Diphthongs /ie̯/  <ie> (z. B. liep > lieb) zusammenhängt.52 Später wurde die Schreibung
auf andere Fälle übertragen, etwa auf rise, Riese und vil, viel, bei denen keine Monophthongierung vorlag, sondern eine Dehnung. Da am Wortanfang die PGK /i:/  <ie> blockiert ist, vgl.
<*ienen>, *<iegel> oder *<iele>, kommen dort nur Verschriftungen wie <ihnen>, <igel> oder
<ihle> ‚minderwertiger Hering‘ vor.
Wörter wie Bibel/*Biebel (< lat. biblia, gr. biblion) oder Tiger/*Tieger (< lat. tigris) weisen die
PGK /i:/  <ie> nicht auf. Es handelt sich um Entlehnungen.
Bei /ɛ/ wird per PGK <e> geschrieben, außer wenn wegen eine morphologisch basierte Umlautschreibung <a>  <ä> vorliegt, vgl. Fell  Felle und Fall  Fälle.
Von den beiden Schwa-Vokalen [ə] (e-Schwa oder kurz Schwa) und [ɐ] (a-Schwa) wird nur /ə/
nach PGK durch <e> verschriftet. Das a-Schwa ist kein Phonem, da es postvokalisch aus /(ə)R/
entsteht und durch einen Vokalisierungsprozess /R/  [ɐ] vorhersagbar ist. Man verschriftet
das zugrunde liegende Phonem /R/.53
Die Diphthongverschriftung bei /ɑɪ ̭/, /ɑʊ̭ / und /ɔɪ ̭/ (Seite, Saite; Haut; heute, Häute):
- Die Normal-PGK ist /ɑɪ ̭/ → <ei> wie in Seite und Leib. Schreibungen wie Saite oder Laib sind
selten und dienen häufig der homonymendifferenzierung (vgl. Seite/Saite, Leib/Laib). Ohne
Differenzierung ist z. B. Kaiser/*Keiser. Historisch bezieht sich der Schreibdiphthong <ai> auf
den mhd. Diphthong /ei/, der sich infolge des Diphthongwandels veränderte, vgl. keiser > Kaiser, mei > Mai. Dagegen bezieht sich <ei> auf diphthongiertes mhd. /i:/, vgl. rif(e) > reif.
- Die Normal-GPK ist /ɑʊ̭ / → <au>. Nur nicht-native Wörter wie Couch weisen ggf. andere Verschriftungen auf.
- Die Normal-GPK ist /ɔɪ ̭/ → <eu> wie bei heute. Häute, also <äu>, ist die morphologische
Schreibung des Umlauts bzgl. Haut. Die Verschriftung <oi> ist sehr selten, die Wörter gehören
ursprünglich nicht zum nativen Wortschatz (Boiler, Loipe).
52
53
Ab und zu finden sich andere Dehnungs-e-Vorkommen, etwa im Ortsnamen Soest mit [o:], das <e> ist stumm.
Ob das e-Schwa Phonemstatus besitzt, was Minimalpaare wie rosa/Rose und Liga/Liege nahelegen, oder ob
es ähnlich dem a-Schwa ebenfalls vorhersagbar ist oder ein Allophon eines e-Lautes darstellt, ist umstritten.
Außerdem sehen manche das e-Schwa als Epenthesevokal (z. B. Wiese 1996: 7.4.2), der in zugrundeliegende
Repräsentationen eingefügt werden kann (/hɪ.ml/ → [hɪṃəl]). Ich nehme es als Phonem wegen der Minimalpaarfähigkeit und weil es eine eigene Verschriftung per PGK (<e>) besitzt. Einen Überblick über die diskutierten Kriterien und Phänomene bietet Staffeldt (2010).
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 40
Konsonantische PGK
(53) /p/ 
/b/
/t/
/d/
/k/
/g/
/f/
/v/
/s/
/z/
/ʃ/
/ç/54
/j/
/h/
/ts/
/m/
/n/
/ŋ/
/l/
/r/
<p>



















<b>
<t>
<d>
<k>
<g>
<f>
<w>
<ß>
<s>
<sch>
<ch>
<j>
<h>
<z>
<m>
<n>
<ng>
<l>
<r>
<pasta>
<basta>, <trab>
<torf>
<dorf>, <rad>
<kasse>
<gasse>, <zwerg>
<fach>
<wach>,
<groß>, <reißen>
<samt>, <gas>, <reisen>
<rasch>
<frech>
<jung>
<hase, oho> (nicht mit stummem <h> ohne verwechseln!)
<zwerg>
(Affrikate)
<mut>
<nut>
<jung>
<lump>
<rose>, <uhr>
Bis hierher können wir die Zuordnungen (meist) auch umgekehrt als GPK lesen wie bei <g> 
/g/ oder bei <r>  /r/, d. h., wenn ich ein <r> lese, kann ich auf ein zugrunde liegendes Phonem
/r/ schließen. Nun kehren wir die Sicht auf GPK um, damit wir weitere wichtige Zusammenhänge sehen:
<c>

/?/
<q>
<qu>
<v>
<x>
<y>





/?/
/k/ + /v/
/f/
/k/ + /s/
/?/
vgl. Celle (Ortsname), Cello, Comic (Lehnwörter!); kommt
sonst nur als Teil von Mehrgraphen (<ch>, <ck>, <sch>) vor
nur in der Kombination <qu>, vgl. nachstehend
quer, Quark, quaken, antiquiert
ver-, von, Vater, Vogel (/v/ ist seltener: Vase, Veranda)
Xanten (Ortsname), Hexe, lax, Axt
nur in Lehnwörtern (Baby, Hockey, Mythos, Typ)
Überwiegend Monographeme. Aber: Bei /ç/ (bzw. /x/) schreibt man <ch>, bei /ŋ/  <ng>55 und
bei /ʃ/  <sch>. Die Affrikate /ts/ wird im Silbenanfangsrand nach PGK als <z> (Zahn) verschriftet, im Silbengelenk schreibt man <tz> (Katze).
54
Öfters wird für den hinteren Frikativ das Phonemzeichen /x/ verwendet. Ich verwende /ç/, weil [ç] das häufigere Allophon ist und man [x] davon ableiten kann, denn [x] folgt hinteren Vokalen.
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Die Buchstabenverbindung <qu> ist kein Graphem/Lautabbild, sondern eine alte Verschriftungstradition für die Kombination /k/ + /v/ (Quelle), evtl. auch halbvokalisch /k/ + /ṷ/  <qu>.
Nach PGK wäre *Kwelle, evtl. *Kuelle zu erwarten.56
Die Schreibung der s-Laute ist folgenderweise beschreibbar:
- /z/
- /ʃ/
- /s/





<s>
<sch>
<s>
<ß>
<s>

<ss>
(PGK) daher Gas, Gras; vgl. rei.s/z/en, rei.ß/s/en
(PGK) z. B. Schal, Schlag, schmatzen, schrill, Schwein; Putsch
(silbisch) nur vor /p/ und /t/ (Plosiv)
(PGK) häufigster Fall: nach Langvokal und Diphthong
(nach Kurzvokal + C) Gips, Klops, Murks, Schnaps
(Fuge und Suffix) Zeitungsartikel, abends
(silbisch, Gelenk) müssen, Kasse, nasses
Etwas verzwickt sind die Verhältnisse bei /k/ + /s/, denn nach PGK müsste <k> + <s> herauskommen, man findet jedoch
(54) Lachs/*Laks, Fuchs, Wachs, wechsel(n)
(55) Axiom, boxen, Jux, lax, Hexe/*Hechse/*Hekse, Index, relaxen
(56) Keks, Koks, Murks, Schlaks
Zu (54): Vergleicht man Dachs ‚Marder’ (*Daks) und Dach-s ‚dach-GEN.SG’, so sieht man, dass
dieses <ch> einem /x/, jenes einem /k/ entspricht. Dachs, Fuchs etc. sind in (vor)althochdeutscher Zeit mit „Ach-Laut“ [x] gesprochen worden, ahd. geschrieben vuhs, lahs,
wahs mit <h> für /x/. Der logische nhd. Nachfolger für /x/  <h> wäre /x/  <ch>. Aber warum
artikuliert man heute statt [x] ein [k]? Die mhd. Grammatik (H. Paul 2007, 25. Aufl., Tübingen:
Niemeyer, S. 160, 162) schreibt hierzu, dass mhd. <ch> bei germanisch ererbtem [x] im Endrand
vor s steht, so dass z. B. vuhs  mhd. vuchs  nhd. Fuchs. Des Weiteren liest man dort, dass
mhd. /xs/ (<hs, chs>) vornehmlich im Ostoberdeutschen zu nhd. [ks] wird, z. B. vuhs  vuchs 
Fuchs mit [ks]. Es sieht so aus, als ob der Wandel /x/  /k/ in der Schrift nicht nachvollzogen
wurde.
Zu (55): Hier finden sich Fremdschreibungen (vgl. z. B. gr. axioma, Jux zu lat. iocus ‚Scherz’, lat.
laxus, engl. to relax). – Hexe (alte Schreibungen: hecse, hexse, heckse) ist allerdings ein germanisches Wort, so dass *Hechse zu erwarten wäre.
Zu (56): Die Verschriftung /k/-<k> + /s/-<s> wäre nach den PGK zu erwarten. Sie ist allerdings
eher selten und findet sich bei Lehnwörtern und regionalen (niederdt.) Ausdrücken.
g-Spirantisierung und Auslautverhärtung: Standardsprachlich ist König /kønɪg/ als [kø:.nɪç] mit
g-Spirantisierung zu realisieren. Im süddeutschen Raum herrscht die Aussprache [kø:nɪk] vor
55
56
Die Schreibung <ng> ist „historisch“, da phonologisch früher /n/ + /g/ vorlag. Der alveolare Nasal /n/ wurde
an das velare /g/ (orts)assimiliert als velarer Nasal [ŋ] (was man bei /n/ + /k/ heute noch sieht, vgl. [baŋk]);
zudem wurde /g/ getilgt, aber in der Schreibung bewahrt, weil <n> auf den alveolaren Nasal /n/ bezogen ist.
Im Phönizischen hatte der Vorgänger des <q>, genannt Qoph/Kof, den Lautwert /q/ (ein stimmloser uvularer
Plosiv). Die Griechen kannten keinen Laut /q/, verwendeten aber Qoppa (so nannten sie Qoph) für /k/ vor /o/
und /u/, sonst schrieben sie Kappa <κ>. Im Latein unterschied man cui ‚wem’ [kui] (<c> für /k/) und qui für
[kʷi].
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 42
mit der systematischen Auslautverhärtung /g/  [k]. Standarddeutsch finden sich Varianten
wie König[ç], König[g]e, könig[k]lich, die identisch mit <g> geschrieben werden (*<Könich>,
*<köniklich>). Die Schreibung ist phonographisch /g/  <g>; zugleich ist die Morphemkonstanz
der Varianten von {KÖNIG} gewahrt. Im Mhd. schrieb man König u. a. <künic> und <künige> und
erfasste die Auslautverhärtung in der Schreibung <c> ([k] im Silbenendrand).
Aufgaben:
1) Warum ist das <y> im Deutschen „auffällig“? Ist es ein Graphem?
2) Ordnen Sie bei Sphinx die entsprechenden Phoneme zu. Was fällt Ihnen auf?
4 Silbische Schreibungen
Die logisch auf das phonographische Schreiben folgende Stufe ist die der silbischen Schreibungen vgl. /εlə/ zu *<ele>  <elle>, /e:.ə/ zu *<ee>  <ehe> und *<ere>  <ehre>. Zudem
werden hier die Eigenschaften der graphematischen Silbe besprochen.
Die segmentale Besetzung einer Schreibsilbe
Was die Segmente/Buchstaben betrifft, fällt auf, dass es in Analogie zur phonologischen Sonoritätshierarchie Unterschiede bei den Buchstabengestalten und ihrer Verteilung über die Schreibsilbe (Kern, Ränder) gibt: Die Kerngrapheme wie <a, e, i, o, u> sind kompakt und besitzen weder
Ober- noch Unterlängen. Buchstaben, die sich auf sonore Konsonanten beziehen, also <m, n, l,
r>, weisen einen geraden Kopf auf und befinden sich ebenfalls nur im Mittelband der Lineatur.57 Die Randbuchstaben an den Außenpositionen der Schreibsilbe, die den nicht-sonoren
Plosiven und Frikativen entsprechen, besitzen einen langen Kopf und haben eine Ober- oder
Unterlänge, vgl. <p, q, b, d, t, k, g, f, j, ß>. Dadurch erhalten Silben in der Tendenz eine visuell
charakteristische Grundgestalt, vgl. <trinkt>, <drift>, <genf>, bei der die Randsegmente öfters
(aber nicht immer) vertikal länger sind als die kompakten und mittelbandbeschränkten medialen Segmente. Auch das <h> (gleichgültig, ob gesprochen oder stumm) spielt hier mit: <haushalt>, bohne>, <gehen>.
Die graphematische Silbe und der Schreibsilbennukleus58
Für die graphematische Silbe schlägt Primus (2010; i. E.) folgende Struktur vor:
57
58
Das ebenfalls sonore <l> (zu /l/) wird als redupliziert aufgefasst. Es sei eigentlich ein „i“ ohne Punkt, das in der
Vertikalen „verdoppelt“ wird. Ob das eine problematische Analyse darstellt oder eine tiefere Einsicht, lasse
ich dahingestellt.
Die meisten in Kap. 11, v. a. die in Kap. 11.2 präsentierten Einsichten verdanke ich den Arbeiten von Beatrice
Primus, übernommen aus Primus (2010) und Primus (i. E.).
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(57)
(i)
(ii)
(iii)
(iv)
(v)
<Silbe>
N
AR
G
g
S
M
S
f
F
H
T
V
a
e
a
o
i
a
a
a
a
X
u
i
a
o
e
h
l
l
--
<Silbe 1>
N
ER
l
l
l
r
g
l
l
s
l
AR
G
g
S
M
S
f
F
H
T
V
ä
e
ä
o
i
a
ä
ä
ä
X
u
i
(*ä)
o
e
h
l
l
--
<Silbe 2>
ER
l e
l e
l e
r e
ge
l e
l e
se
l e r
Primus hebt die Relevanz des Schreibsilbennukleus für das Deutsche hervor und nimmt als Konstituenten des Nukleus (N) ein vokalisches (V) und ein unterschiedlich besetzbares zweites
Segment (X) an. Die obligatorische V-Position des Schreibsilbennukleus besetzt ein stets zu artikulierendes Segment aus der Menge {<a, e, i, o, u, ä, ö, ü>}. Nach dem Nukleus ist (ggf.) ein rein
konsonantisch besetzter Endrand (ER) anzusetzen (Hal+s, Saa+l, Sie+g).
Als Besetzung der X-Position können auftreten:
(i) nicht-stumme Vokalbuchstaben aus der Menge {(<i, u>)} bei Silben, deren Nukleus (V + X) als
Diphthong auszusprechen wäre, vgl. Feile, Main, faule, Fäule, feurig. Wir sehen hier eine komplementäre Verteilung: V = {<a, ä, e>} (rundköpfig), X = {<i, u>} (geradköpfig)
(ii) stumme (rundköpfige) Dehnungszeichen aus der Menge X = {(<a, e, o>)} (rundköpfig) wie in
Saal, Meer (oder Soest), Sieg (iii), Moor. Es handelt sich um die silbischen Schreibungen der Vokalverdoppelung (ii) und des „Dehnungs-<e>“ bei /i:/--<ie> (iii).59 Die Dehnungszeichen stehen
nach langem gespanntem Vokal. Da die geradköpfigen Buchstaben {<i, u>} als Dehnungszeichen
ausgeschlossen sind, sind *<ii>, *<uu> und infolgedessen auch *<üü> nicht realisierbar!
Nebenbei: Da es nur zwei Vokalpositionen in N gibt, folgt, dass zwischen drei aufeinander folgenden Vokalgraphemen eine Schreibsilbengrenze liegt, vgl. kre-ieren, schrei-en.
(iii) das stumme DEHNUNGS-<H> wie in fahle, kehren, Sohnes, Ruhmes, Mähne, Söhne, Sühne.
Dieses <h> wird nur vor den Endrand-Sonorkonsonanten <l, m, n, r> eingefügt. Auch dieses
Dehnungszeichen steht nach langem gespanntem Vokal.60
(iv) nicht-stumme Konsonantenbuchstaben wie in Fal(l) (v) oder Hal(s) (vi). (v) zeigt die Konsonantenbuchstabenverdoppelung nach ungespanntem Kurzvokal, wobei der gedoppelte Buchstabe im Endrand steht und ggf. in den Anfangsrand der Folgesilbe wechselt.
59
60
Regional, etwa im Westfälischen, ist das „Dehnung-e“ (im Standard nur <ie>) weiter verbreitet, vgl. die Namen Kevelae[a:]r und Soe[o:]st.
Bitte nicht verwechseln: Das DEHNUNGS-<H> vor Sonorkonsonant ist im Unterschied zu einem (intervokalischen) SILBENINITIALEN <H> ein „(schreib)silbenfinales <h>“, vgl. buh-len versus bu-hen.
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 44
(v) Wenn die X-Position leer ist, wird der Vokal in V als gespannt-lang interpretiert, denn anderenfalls stünde ein konsonantisches Segment in X, vgl. Ko[o:]-ma, Ko[ɔ]m-ma und Wal, Wall.
Die Besetzung des Nukleus (N = V + X) lässt den Leser schnell erfassen, ob ein Kurzvokal (V + C)
ein Diphthong (X: <i, u>, vgl.) oder ob ein Langvokal (V allein oder V + Dehnungszeichen) vorliegt:61
(58) minne meine
mine
miene
mahne
muhe
saiten
saaten
satten
sorten
heer
hehr
herr
herb
Da die Konsonantenverdoppelung bei Silbengelenk ziemlich regelmäßig durchgeführt wird,
kann man aus deren Abwesenheit darauf schließen, dass ein Langvokal vorliegt, vgl. Mine, Minne. (Ab und zu gibt es Ausnahmen wie He[e:]rd vs. Held mit Langvokal trotz VCC.)
Für die Position X gilt ein Verbot komplexer Grapheme. Vokalbuchstaben dürfen keine Diakritika aufweisen, vgl. das Trema bei *{<ä, ö, ü>}, vgl. unten (i). Auch der Umlaut von /aṷ/, phonologisch /aṷ/  /ɔʏ̭/, kann nicht schriftlich dargestellt werden (s. (ii)), da der Umlaut am zweiten Diphthongsegment realisiert wird, jedoch *<ü> ünzülässig, pardon: unzulässig ist (daher
*<aü> bzw *<oü>, sondern <äu>). Die Umlautung wird schriftsprachlich auf dem ersten Segment markiert, obwohl es phonologisch als Ergebnis einer Rundungsassimilation zu werten ist.
Wie unten (iii) zeigt, können in Position X keine komplexen konsonantischen Lautabbilder wie
<ch, ck, sch> vorkommen. Diese Kombinationen stehen im Endrand der Schreibsilbe und werden bei der Worttrennung in den Anfangsrand der Folgeschreibsilbe genommen, vgl. Ma-cke,
Fä-cher und Bü-sche. Anders verhält es sich z. B. bei lang, lan-ge.62
Zu (iv): Da das „Eszett“ bzw. <ß> ebenfalls ein komplexes Graphem (eine Ligatur aus <ɾ> und
<ʒ>) darstellt und nach Kurzvokal in Position X nicht „passt“, wurde während der letzten Orthographiereform folgerichtig das <ß> nach Kurzvokal und mit Bezug auf ein Silbengelenk (vgl. Fluß
<> Flüsse) durch die Schreibung <ss> ersetzt.
61
62
Eisenberg (2004a: 311) formuliert dies so: „Im Geschriebenen ist silbische Information vor allem für das Auge
als Schreibsilbe kodiert. Es kommt darauf an, dem Auge die Einzelsilbe und die Silbenfolge von Wortformen
effektiv zugänglich zu machen“.
Bei der PGK /k/  <k> wird bei Silbengelenk nicht *<kk>, sondern <ck> verschriftet, vgl. lecker/*lekker (anders Lehnwörter wie Mokka, Sakko). Historisch stand <c> für [k] im Endrand der Silbe; <k> stand im Anfangsrand (mhd. künic). Das <ck> wird als Einheit aufgefasst und nicht getrennt, vgl. le-cker analog Be-cher. Die
alt
Trennschreibung lek-ker und die Grundform lecker widersprachen der Morphemkonstanz. – Man kann überlegen, ob die analoge Unmöglichkeit, <c> unter Pos. X und <k> unter ER einzusetzen, wie bei <ch>), schon
deshalb auszuschließen ist, weil <c> nicht dem nativen Grapheminventar angehört? Die Sache mit <ck> ist
verwickelt. So gab es Reformvorschläge, wegen der Morphemkonstanz packen, Päckchen und auch *Packet zu
schreiben. Aber: <Paket> ist ein Lehnwort (frz. paquet) und keine „Ableitung“ zu packen; das /a/ ist kurz, aber
gespannt, so dass kein Gelenkkonsonant folgen kann. Andererseits liegt es semantisch nahe, Päckchen und
Paket aufeinander zu beziehen.
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 45
(59)
<Silbe>
N
AR
B
f
F
F
Fl
V
o
a
a
u
u
X
o
u
*ch
-s/*altß
<Silbe 1>
N
ER
t
l
ch
ß
s
AR
B
F
F
F
Fl
V
ö
ä
ä
ü
ü
X
*ö
u/*ü
--s
<Silbe 2>
ER
t
-----
ch
l
ch
ß
s
e n
e
e r
e
e
Historisches zum DEHNUNGS-<h>: An mhd. gemah[h]el > Gemahl und mhd. zehen ‚10’ > zehn sehen wir, wie durch Schwa-Tilgung ein Dehnungs-<h> entstand. Die intervokalischen [h] verstummten und das entsprechende Graphem <h> wurde uminterpretiert als Dehnungszeichen.
Das Dehnungs-<h> wurde später auf Fälle übertragen, bei denen diachron gar kein Hauchlaut
vorgelegen hatte, etwa mhd. sun (*suhen) > Sohn/*Son, sen(e)we, sene > Sehne. Da den Sonorkonsonanten (/l, m, n, r/) in komplexen Silbenendrändern Obstruenten folgen können und
doppelt/mehrfach geschlossene Schreibsilben normalerweise auf kurz ausgesprochene ungespannte Vokale hinweisen, verdeutlicht das <h> vor dem Sonoranten, zunächst silbisch abgeleitet von deh.nen und dann morphologisch zu dehnst, eine Langvokalaussprache, vgl. dehnst und
*denst.63
Anfangsrand und Endrand der Schreibsilbe
Im Anfangsrand (AR) der Schreibsilbe wird im Wesentlichen rein phonographisch verschriftet,
vgl. pl(att), br(aun), zw(ei). In nativen Wörtern finden wir meist ein oder zwei, seltener auch
drei Buchstabensegmente, mehr aber nicht.
Aus dem Rahmen fallen die Anfangsränder mit /ʃ/ wie in <sprung>/*<schprung> und
<strunk>/*<schtrunk>. Da die PGK fünfbuchstabige Anfangsrand-Überlängen erzeugen würden,
wird zur Überlängenvermeidung die silbische (Anfangsrand-)Schreibung mit <s> (<spr, str>) gewählt (vgl. Eisenberg 2013, Bd. 1, S. 298). Ossner (2010) verweist auf die Extrasilbizität des /ʃ/
vor Plosiv, da ein homogener Sonoritätsverlauf im AR nur mit Plosiv > Frikativ, vgl. Pschorr-Bräu,
gegeben wäre. Bei <schl, schm, ..., schw> ist der Sonoritätsverlauf ungestört.
Die Besetzung des Anfangsrandes ist auch für das Vorkommen eines Dehnungs-<h> von Bedeutung. Ich nenne zwei Zusammenhänge:
63
Unsere Nachbarsprache Niederländisch verfährt bei der Vokallängenmarkierung folgenderweise: Offene Silben sind assoziiert mit vokalischer Länge (nl. wonen mit [o:]/wo-nen, ne-men, dt. woh-nen, neh-men), woraus
im Nl., folgt, dass in Flexionsformen, in denen die Silbe geschlossen ist, der Schreibvokal verdoppelt wird: ik
woon (1SG.PRÄS, [o:]); bei ik won wäre [ɔ] auszusprechen). Da umgekehrt bei ik ren ‚ich renne‘ ein kurzes e
vorliegt, ist dann nicht *renen (das erste e wäre ja lang: re-nen), sondern rennen (ren-nen) zu schreiben. Offene Schreibsilbe: Langvokal, geschlossene: Kurzvokal. Leider konnte ich auf die Schnelle nicht herausbekommen, ob bzw. wie viel <nn> mit Gelenkkonsonanz zu tun hat.
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 46
-
Bei mehr als einem Anfangsrandsegment wird kein Dehnungs-<h> geschrieben, vgl. *klahr
(aber: wahr), *Schehre (Lehre). Es gibt allerdings Ausnahmen: Drohne, dröhnen, empfehlen,
Pfahl, Pfuhl, prahlen, Stahl, stehlen, stöhnen, Strahl, Strähne, Stuhl.
- Bei <t> im Anfangsrand wird kein Dehnungs-<h> gesetzt, daher *Tohn (Sohn), *Tohr (Rohr),
und das trotz möglicher Homonymendifferenzierung Ton/*Tohn (‚Klang‘ vs. ‚Lehm‘) und
Tor/Tohr (‚Durchgang‘ vs. ‚Narr‘). Hier wirkt möglicherweise ein anderes Dehnungszeichen
nach, das mit der Orthographiereform von 1901 abgeschafft wurde (aber in Thron überlebte), und zwar das <th> im Anfangsrand, vgl. Thon (so wurde ‚Lehm‘ bis dato geschrieben),
Thür, Thor.
Wenn der Endrand (ER) besetzt ist, wechselt bei Worttrennung die einzige bzw. die letzte EREinheit bei einer Erweiterung zum Mehrsilbler in den Anfangsrand der nächsten Schreibsilbe,
vgl. faul > fau-le, Wit-ze, en-ge, Wulst > Wüls-te, ernst > erns-te. Beispiel: Der ER ist bei Wulst
zweifach besetzt, bei mechanischer Trennung wechselt nur der letzte Schreibkonsonant in den
Anfangsrand des nachfolgenden Trennsegments (vgl. Fürth und Für-ther wg. <th>).
Das SILBENINITIALE <h>
Das silbeninitiale <h> in <sehen>, <nahe>, <rohe>, <ruhe> und <weihe> gehört auch zu den
silbischen Dehnungsgraphien. Allerdings besetzt das stumme <h> nicht die Position X, sondern
den AR einer Folgesilbe (<na-he>) oder nach Reduktion ( nah) den ER. Das silbeninitiale <h>
steht schriftsprachlich zwischen zwei Vokalbuchstaben, die ohne das <h> aufeinanderträfen
(*seen, *nae, *roe, *rue). Phonologisch ist die linke Silbe eine offene Langvokalsilbe, die rechte
eine nackte Schwa-Silbe. Die Verwendung dieses <h> verhindert das Zusammentreffen mehrerer Schreibvokale (*ween/we-hen) und bietet eine visuelle Segmentierungshilfe, vgl. *<rue>
(allenfalls für frz. rue ‚Straße’), *<ausruen>, <rute> und <ruhe>.
Von den silbeninitialen <h> kann man auf vorausgehende Langvokale schließen. Historisch gehen mhd. intervokalische Glottalfrikative voraus wie in mhd. se.h[h]en. Dieses [h] verstummte,
das <h> wurde beibehalten, fungiert seitdem als Längenmarkierung und gliedert die Schreibsilbe, vgl. *see/sehe, *leien/lei-hen, *naen/na-hen, *roe/ro-he (evtl. könnte man ae und oe als
Umlautschreibung missdeuten). Das silbeninitiale <h> besetzt den Anfangsrand der zweiten
Schreibsilbe. Phonologisch ist diese zweite Silbe eine nackte Schwa-Silbe.
Übersicht für so manche Prüfungspraxis (Staatsexamen)
Explizite Schreibungen, die vokalische Länge/Kürze anzeigen sind:64
Kürze:
- Konsonantengraphemverdoppelung: Deppen, Ebbe, Kette, Kladde, Muffe, Knarre
- Analoge Bigrapheme (Decke/*Dekke, Katze/*Kazze, Städte, vgl. Stätte)
- Überdies <pf> klopfe, <ng> Menge (wohl auch <sch>, Ausnahme duschen?)
64
In starker Tendenz gilt: Ein Konsonant nach Vokal = lang, zwei oder mehr = kurz (Spaten, spalten); es stimmt
aber nicht immer: Mond; Drama und dramatisch. Nur bei den o. g. expliziten Markierungen/Schreibungen
kann man sicher auf die Vokalquantität schließen.
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Länge:
- Silbeninitiales <h>: Ehe, ehe, gehen, drohen
- Dehnungs-<h> vor Sonorkonsonant: nehmen, nahm, Lehre, Kohle, Kähne
- Verdoppelung: Saal, See, Meer, Moor
- <ie> (PGK < /i:/), Miene (bei Mine ist die Länge nicht explizit, nur wahrscheinlich)
- Post(mono)vokalisches <ß>: Straße, aber: Strauße kein langes /u/; Stoß
Aufgaben
1) Erläutern Sie die Schreibungen von /ts/ (und stellen Sie bzgl. der unorthodoxen Schreibung
eine Hypothese auf bzw. forschen Sie nach!) in
(a) Katzen
(b) Lotsen
(c) duzen
2) Haben wir in <Kühe> und <kühle> das gleiche <h>? Schreibbedingungen?
3) Warum schreiben wir <spielt> und <stiehlt>?
5 Morphologische Schreibungen
Hier sind vor allem morphemidentifizierende Schreibungen zu behandeln, die eine optische
Morphemkonstanz herbeiführen. Die wohl häufigsten Fälle sehen Sie hier:
(60) Männer
Mann
Gelenkschreibung auch im Einsilbler
(61) dehnen
dehnt
Dehnungs-<h> auch im Einsilbler
(*Man)
(PGK)
(*dent)
Mann
Männer (Menner)
Umlaut durch Trema, nicht PGK (Nenner)
ruhen
ruht (*rut)
Silbeninitiales <h> auch im Einsilbler
Einem phonologischen Silbengelenk entspricht im silbischen Schreiben die Verdoppelung des
Konsonantenmonographems. Die verdoppelten Schreibkonsonanten bleiben in allen Formen
eines Lexems (oder einer Konversion wie bei pfiff > Pfiff) erhalten, selbst wenn keine Gelenkkonsonanz vorliegt: müssen > muss, musst, musste; gepfiffen > pfiff, Pfiff. Nur bei innerparadigmatischen Widersprüchen, wie bei den starken Verben, wird auf eine morphologische Angleichung verzichtet, z. B. bei Diphthong (*pfeifft) oder Kurzvokal (hier konsequent: genommen  nimmt) und Langvokal (bei Widerspruch nicht *ne/e:/mmt oder *nehmmt, sondern
nehmt).
Bei einigen „kleinen Wörtern“ wie dass (dazu später bei dem Abschnitt zur Homonymendifferenzierung), dann, denn, wann und wenn ist eine morphologische Schreibung synchron nicht
oder nicht mehr zu begründen. Die Schreibungen sind historisch bezogen auf alte Zweisilbler
wie danne, wanne oder wenne. Möglicherweise stabilisiert eine synchron differenzierende Wirkung bei denn – den, wenn – wen die synchron unmotivierten Morphemkonstanzschreibungen.
Im Unterschied zu tippen und Tipp (alte Schreibung: *Tip) ist bei den folgenden Entlehnungen
die Assimilation durch morphologisches Schreiben nicht vollzogen:
(62) Busse, Bus/*Buss, jobben, Job/*Jobb und poppig, Pop/*Popp
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 48
Bei den Suffixen -in und -nis wird das Konstanzprinzip nicht befolgt und die silbische Schreibung
wird nicht in den Einsilbler kopiert:
(63) Hindernisse, aber Hindernis/*Hinderniss; Zauberinnen, aber Zauberin/*Zauberinn
Morphologische Umlautgraphien wie <a/ä>, <o/ö> und <u/ü> sind auf eine regelhafte Lautveränderung bezogen: auf den Umlaut eines Lexems mit hinterem Stammvokal. Der Umlaut ist
eine Vokalfrontierung und das Diakritikon TREMA indiziert [- hinten] bzw. die Veränderung von [+
hinten] zu [- hinten]. Die Leserfreundlichkeit dieses Prinzips sehen Sie im Vergleich von mhd.
hant, hende und nhd. Hand, Hände. Vgl. auch phonographisch Fell/Felle und morphologisch
Fall/Fälle oder Apfel/Äpfel (*Epfel).
Dehnungsgraphien, die auf zweisilbigen Wortformen basieren, werden auch in entsprechende
Einsilbler übernommen: deh-nen, dehnt/*dent; se-hen > Sieh genau hin!, sieht/*siet, sah. Raffiniert sind drehen > Draht ‚der Gedrehte’ und nähen > Naht.
Bei der Dehnungsgraphie Doppelvokal ist das Morphemkonstanzprinzip eingeschränkt: Während bei Paare und Paar das Morphem konstant verschriftet wird, entfällt beim Umlaut Saal
und Säle (*Sääle) oder Boot und Bötchen (*Böötchen) die Vokalverdoppelung. Wir haben beim
silbischen Schreiben gesehen, dass die Struktur der Schreibsilbe in Position X kein komplexes
Graphem (z. B. kein Graphem mit Trema) zulässt!
Morphologische (Wortfeld-)Beziehungen: Bei der letzten Orthographiereform wurde der
Schreibung aufwendig (Bezug zu aufwenden ‚Eigenschaft, wenn man bei etw. viel aufwenden
muss’) die Neuschreibung aufwändig gleichwertig zur Seite gestellt, weil Schreiber öfters einen
morphologischen Bezug zu Aufwand herstellen im Sinne von: ‚Eigenschaft, wenn etw. viel Aufwand erfordert’.
Zudem wurden noch einige Morphemkonstanzschreibungen wie Stängel (< Stange, Stang-el
‚stange-DIMINUTIV’, was auch etymologisch vertretbar ist, vgl. Kluge 1999: sub verbo) für alt
*Stengel eingeführt, ebenso belämmert ‚verdutzt, betreten’ (< Lamm) für alt *belemmert (das
von niederdt. belemen ‚lähmen’ und letztlich von lahm abstammt, vgl. Kluge 1999: sub verbo).
Eine konsonantische Morphemkonstanzschreibung seit 2006 ist Tollpatsch anstelle früher Tolpatsch. Offenbar wird der undurchsichtige Ausdruck, der etymologisch auf talpas (ungarisch
‚Breitfuß, breitfüßig – für einen ungeschickten einfachen Soldaten’) zu beziehen ist, heute im
Sinne einer Sekundärmotivation auf toll (< tolle) bezogen.
An Morphemgrenzen bleiben in der aktuellen Schreibung alle Grapheme erhalten.
(64) alt:
neu:
Balletttruppe
Balletttruppe
Ballettheater
Balletttheater, Ballett-Theater
Tee-Ei
Teeei, Tee-Ei
Die alte Schreibung *Ballettheater (aber bei Worttrennung Ballett-theater) wurde 2006 durch
die Schreibungen Balletttheater bzw. Ballett-Theater ersetzt. *Ballettheater verstieß gegen die
Treuebeschränkung, die fordert, dass die normale und die am Zeilenende getrennte Wortform
identische Segmente aufweisen soll, vgl. alt lecker, lek-ker mit neu und mit Morphemkonstanz:
lecker, le-cker. Die Schreibung Balletttruppe hat sich nicht verändert. Damals kam es darauf an,
dass das <r> in Truppe gesprochen wird, das <h> in Theater jedoch nicht, so dass nach /t/ ein
Vokal folgte. Die fugenlose Zusammenschreibung Teeei ist neu, aber konsequent. Dieses Re-
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 49
formdetail zeigt das zunehmende Gewicht des morphologischen Prinzips (Ballett(-)theater, lecker) und die Einsicht, dass das Dekodierungsproblem bei Teeei (beim ebenfalls zulässigen TeeEi markiert) als nicht so gravierend empfunden wird.
Wenn Verben konjugiert werden, gibt es Abweichungen von der Morphemkonstanzschreibung,
vor allem bei variierender Aussprache oder beim Aneinanderreihen gleicher/ähnlicher Laute
(wie Sibilanten/Zischlaute): Ich trödle/trödele (beides möglich, morphemkonstant ist trödeln)
gerne herum; beim K II in der 2PL optionale <e>- bzw. gesprochen Schwa-Tilgung: flöget/flögt
ihr nach Hawaii ... Sofern bei 2SG zwei /s/ aufeinanderträfen, wird vereinfacht: du lies+st 
liest, du verhext/*verhexst die Leute und du geizst,  geizt (das zum Flexionssuffix gehörige s
entfällt).
Fremdmorpheme: Im Sinne der Morphemkonstanz werden immer wieder vordem inhomogene
Schreibungen ausgeglichen, vgl. altTip, dann wegen tippen (silbisch) analog Tipp. Das Adjektiv
essenziell (alt nur essentiell, heute Nebenvariante) hat man morphologisch an Essenz angeglichen.
Teilweise werden Fälle wie die Vermeidung der Auslautverhärtung, vgl. mhd, tac/tages und
nhd. Tag/Tages, oder die Vermeidung der /r/-Vokalisierung, vgl. Opa und Oper/*Opa oder
Leuchte und *Leuchta/Leuchter oder die der /g/-Frikativierung (König/*Könich, *lustich/lustig,
lustige) als Auswirkungen des morphologischen Prinzips behandelt. Zweifelsohne ist die Morphemkonstanz hier gewahrt, doch stellt bereits die phonographische Verschriftung (/g/  <g>,
/r/  <r> etc.) die Schreibungen sicher.
Seltener und eher unregelmäßig finden sich MORPHEMDIFFERENZIERENDE SCHREIBUNGEN wie Seite <>
Saite, Lid <> Lied, malen <> mahlen. Hier werden HOMOPHONE Wörter (Unterschied zur Polysemie: keine semantische Brücke!) graphisch differenziert. Das vielleicht prominenteste Beispiel
ist wohl dass (subord. Konj) versus das (Relativpronomen); zur Differenzierung beider Wörter
gibt es ein schönes Beispiel aus Fuhrhop/Peters (2013: ebd.):
(65) Sie informierten [das Gremium, das sie gewählt hatten] – Welches Gremium? (ATTR)
Sie informierten das Gremium, [dass sie gewählt hatten] – Wovon/Worüber? (PO)
Aufgaben
1) Erläutern Sie, warum man /kantə/ über die phonographische Verschriftung hinaus als <kannte> bzw. <Kante> verschriftet!
2) Warum schreiben wir /ts/ unterschiedlich in (a) Grazer, (b) Kratzer, (c) Pizza?
3) Warum schreiben wir <Eule>, aber <äußerst>? Inwiefern ist <Säule> doppeldeutig und dabei
einmal auffällig?
Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München, Deutsche Philologie. Winter 2015/2016. S. 50
65
Abschließende Aufgabe:
Beschreiben Sie die PGK und die Schreibregeln, die der Schreibgrammatik des Vorschlags von
Vennemann/Jacobs (1982) zugrunde liegen!
Vir glauben tsvar nict, dass dises süstem sicc fonn hoite auf morgen durcsetsen
virt, mainen aber docc, dass saine chancen nict šlecter sint als di irgentaines anderen, da ess oiserst
͘
süstematišš unt špilent laict tsu lernen ist. Jedenfals sint vir der
ansict, dass lerer unt šüler jetst fil mer tsait auf di ortografí fervenden, als si
ferdnt.
Bibliographie
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Dürscheid, Christa (2004): Einführung in die Schriftlinguistik. 2., überarb. Aufl. Wiesbaden:
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DWDS ONLINE = Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache. Herausgeber: BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften. Link: http://www.dwds.de/ (mit Audiodateien zur standarddeutschen Aussprache!)
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