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Inhalt 1. Einleitung. Krieg der Welten und die Ausweitung der Experimentierzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Das Radio und sein Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Die experimentelle Poetologie des Radios . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Drei Szenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Live-Katastrophen im ›ätherischen Ozean‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 »Marémoto« – Die Produktivität des Rauschens . . . . . . . . . . . . Ätherfischer, Radioschiffer und der Tod im Schweigen . . . . . . . . Vorgängermedium Seefunk: »Entdeckungsfahrten in den elektrischen Ozean« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Äther als Raum der Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Meer und seine Kerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der »Radioruf« und die zerstreute Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . Le radioamateur rusé – eine französische Radiogeschichte . . . . . Irische Gesänge und Deutsche Weihnacht – das ›Als-ob‹ der Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ereignis und Serie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 38 43 47 56 59 66 74 80 3. »Danger« – Ein Hörspiel als Psychotest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Randzonen des Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ohr im Dienste des Luftschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der »thrill« der Ohrenzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Krieg als Laboratorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radio-Experimente und britische Rundfunkpolitik . . . . . . . . . . . »Danger« als Reaktionstest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die hohe Kunst des Testens: Assessment Center . . . . . . . . . . . . . Theater, Test und Radio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brechts ›staatliche‹ Übungen unter Beteiligung der Hörer . . . . . . »Regime der Aufmerksamkeit« und das Experiment . . . . . . . . . 98 105 115 120 128 135 140 147 151 155 4. »Zauberei auf dem Sender« – experimentelle Suche nach einer neuen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Zaubern auf dem Sender – die Okkupation des Ohres . . . . . . . . Die Revolte der klingenden Apparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Spuren der Sirenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Musik, die ›nirgends gespielt wird‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Experimentalmagie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mächte aus dem ›Brotkasten‹: Die Elektronenröhre . . . . . . . . . . Die Haltung des Experimentalwissenschaftlers . . . . . . . . . . . . . . Normalisierung und Experimentalsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 172 176 181 190 200 209 213 5. »Welcome Ladies and Gentlemen to the ›Weltuntergang‹«: Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 6. Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Tondokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hörspieltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendete Senderabkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 226 226 227 7. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Monographien, Aufsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Sammelbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 8. Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Einleitung. Krieg der Welten und die Ausweitung der Experimentierzonen Am 30. Oktober 1938, dem Vorabend zu Halloween, war um 20.00 Uhr auf CBS (Columbia Broadcasting System) folgende Geschichte zu hören: We know now that in the early years of the twentieth century this world was being watched closely by intelligences greater than man’s and yet as mortal as his own. We know now that as human beings busied themselves about their various concerns they were scrutinized and studied, perhaps almost as narrowly as a man with a microscope might scrutinize the transient creatures that swarm and multiply in a drop of water. With infinite complacence people went to and fro over the earth about their little affairs, serene in the assurance of their dominion over this small spinning fragment of solar driftwood which by chance or design man has inherited out of the dark mystery of Time and Space. Yet across an immense ethereal gulf, minds that are to our minds as ours are to the beasts in the jungle, intellects vast, cool and unsympathetic regarded this earth with envious eyes and slowly and surely drew their plans against us. In the thirtyninth year of the twentieth century came the great disillusionment.1 Das wohl berühmteste Hörspiel, »The War of the Worlds« von Orson Welles, beginnt mit der Lesung aus dem gleichnamigen und von Howard Koch für das Radio adaptierten Roman von H. G. Wells (1898). Hier erfahren die geneigten Hörer und Hörerinnen, dass sie inmitten ihrer alltäglichen Verrichtungen über den »ethereal gulf« hinweg von einer außerirdischen, 1 Zitiert nach der Online-Version des Transkripts der Originalsendung vom 30.10.2008. http://www.americanrhetoric.com/speeches/orsonwellswaroftheworlds.htm. Letzter Down load 25.5.2008. Text: Der Text wurde bald nach der Ursendung veröffentlicht in New York Times. 1.11.1938, S. 26 und Radio Guide. 19. 11. 1938. Spätere Veröffentlichung in: Handley Cantril, Howard Koch: The Invasion from Mars. A Study in the Psychology of Panic (1940). New York 1966, S. 4−43; außerdem in Howard Koch: The Panic Broadcast: Portrait of an Event. Boston, Massachusetts 1970, S. 33−80. Tondokument: »The War of the Worlds«, CBS 30.10.1938, Regie: Orson Welles, Skript: Howard Koch, Sprecher: Orson Welles u. a. In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Original u. a. auch am 6. 6. 1975 vom Bayrischen Rundfunk (dt. kommentiert von Dieter Hasselblatt), am 12. 10./19. 10. 1975 in 2 Teilen vom AFRTS in der Reihe »The Golden Days of Radio« und außerdem nochmals in englischer Sprache vom Hessischen Rundfunk gesendet. Diese Sendungen variieren die Originalübertragung nur geringfügig. Eine deutschsprachige Fassung präsentierte Klaus Schöning mit: »Krieg der Welten«, WDR 3, 18.4.1977 (unter Verwendung der Originalsendung), Übersetzung von Robert Schnorr. Nachhören kann man das Hörspiel in der Originalfassung auf CD: War of the Worlds. Der Hörverlag 2005. Es ist aber auch online nachzuhören u. a.: http: / / www.archive.org/details/WAROFTHEWORLDS2. Letzter Download 6.5.2008. 8 Einleitung überlegenen Macht beobachtet werden. Nach dieser beängstigenden Lektüre geht das Stück in die Jetztzeit über und zwar über eine Selbstreferenz: »On this particular evening, October 30, the Crossley service estimated that thirty-two million people were listening in on radios.« Alles, was folgt, klingt nach einer Live-Übertragung, nach der Live-Reportage des Reporters Carl Phillips über die Landung kriegerischer Außerirdischer auf einer Farm in Grovers Hill, New Jersey: REPORTER CARL PHILLIPS: Look out there! Stand back! Ladies and gentlemen, this is the most terrifying thing I have ever witnessed … Wait a minute! Someone’s crawling out of the hollow top. Some one or … something. I can see peering out of that black hole two luminous disks … are they eyes ? It might be a face. It might be. … (shout of awe from the crowd) Good heavens, something’s wriggling out of the shadow like a grey snake. Now it’s another one, and another. They look like tentacles to me. There, I can see the thing’s body. It’s large as a bear and it glistens like wet leather. But that face. It … it’s indescribable. […] Hold on, will you please, I’ll be back in a minute. (fade into piano) ANNOUNCER TWO: We are bringing you an eyewitness account of what’s happening on the Wilmuth farm, Grovers Mill, New Jersey. (more piano) We now return you to Carl Phillips at Grovers Mill.2 Das Hörspiel imitiert die Programmstruktur des US-amerikanischen Radios, eine Mischung aus Interviews mit Experten und Augenzeugen, SoapOpera-Elementen, Musik, Meldungen, damals hauptsächlich von den faschistischen Umtrieben in Europa. Im Frühjahr 1938 waren die Nazis in Österreich einmarschiert und hatten in Bezug auf ihre Ansprüche in der Tschechoslowakischen Republik, einen Monat bevor »The War of the Worlds« gesendet wurde, das Münchner Abkommen erwirkt. Das Thema der Invasion war allerorts im Radio an der Tagesordnung. Orson Welles nimmt aber auch Anleihe an den damals beliebten LiveReportagen. Er orientiert sich bei der Gestaltung der Reportage von Carl Phillips an einer tatsächlichen Reportage von Herbert Morrison über die Brandkatastrophe des Luftschiffes LZ 129 Hindenburg in Lakehurst bei New York am 6.5.1937, also nur knapp ein Jahr vor der Ausstrahlung des Hörspiels. Morrison ging damals von einem professionellen Erzählton in ein Stocken und Schluchzen über. Eben diese Dramaturgie findet man auch in der oben zitierten Szene aus »The War of the Worlds«. Morrison hatte anlässlich der geplanten Ankunft des Luftschiffes erstmals ein neues Aufnahmegerät benutzt, weshalb die bald legendäre Reportage archiviert wurde und so Material für Welles werden konnte.3 2 3 Onlineversion, Kap. 1, S. 3, Anmerkung 1. Morrisons Reportage ist nachzuhören auf: Der Zeppelin in Deutschland 1900 bis 1937. Reihe Stimmen des 20. Jahrhunderts. Hg. von DHM, DRA und Zeppelin Museum. Frankfurt a. M. 1997. Krieg der Welten 9 Welles ahmt die Programmstruktur nach und inszeniert gleichzeitig seine Störung: Stimmengewirr, Schreie, versagendes Sprechen, Rauschen, Stille, Störgeräusche der Apparatur steigern sich mit der Invasion der Marsianer. Welles setzt das Ende des Radios in Szene und zwar ganz wörtlich: Am Ende des Dramas werden die Columbia Broadcasting Studios zerstört. Gerade diese Störungen schienen für die Hörer und Hörerinnen Zeichen der ›Authentizität‹ des Geschehens, für seinen Live-Charakter. Doch dass Welles’ Hörspiel so überzeugend wirkte, lag auch an einem Zufall: Zum Zeitpunkt der Ausstrahlung verzeichnete der Sender CBS einen enormen Zuwachs an Hörern und Hörerinnen, die von dessen schärfstem Konkurrenten, der NBC (National Broadcasting Company), herüberschalteten. Grund war Dorothy Lamour, die in einer Pause der Charlie McCarthy Show den müden Song »Two Sleepy People« sang, der offenbar für Verdruss sorgte und so Orson Welles mit seinem Mercury Theatre on the Air enormen Zulauf verschaffte.4 Doch die Abgewanderten waren eine Viertelstunde zu spät und verpassten den Beginn. Sie schalteten mitten hinein in das dramatische Geschehen rund um die Landung der Marsianer und deren katastrophale Konsequenzen. Die Folge war, dass die Hörer aus dem Raum New York, New Jersey verstört die CBS, die Polizei oder die Feuerwehr anriefen und sich beunruhigt auf den Straßen versammelten.5 Die New York Times vom Folgetag titelte: »Radio Listeners in Panic. Taking War Drama as Fact«.6 »The War of the Worlds« wurde das berühmteste Katastrophenhörspiel aller Zeiten, erfuhr mehrere Neuinszenierungen und wurde auch ins Kino gebracht. Aber das Hörspiel war nicht nur enorm erfolgreich, sondern forcierte außerdem den ersten öffentlichkeitswirksamen ›Auftritt‹ der wissenschaftlichen Umfrageforschung, der Demoskopie.7 Hadley Cantril, Mitarbeiter am Princeton Radio Research Project unter Paul Lazarsfeld, legte 1940 4 5 6 7 Der Ventriloquist Edgar Bergen hatte auf NBC mit seiner sprechenden Puppe Charlie McCarthy ein Millionenpublikum – eine paradoxe Situation: Die Hörer hörten im Radio einem Bauchredner zu, den sie gar nicht sehen konnten. Wolfgang Hagen: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA. München 2005, S. 230−236. Orson Welles war im Juni 1938 vom CBS-Chef William Paley engagiert worden, um der NBC mit seiner Show The Mercury Theatre on the Air dieses Publikum abzuringen. Dazu auch Cantril 1966, S. 47 ff. Anonym: »Radio Listeners in Panic, Taking War Drama as Fact«. In: New York Times. 31.10.1938. Online unter http: / / www.war-of-the-worlds.org/Radio/Newspapers/Oct31/ NYT.html. Letzter Download 5.5.2008. Hagen 2005, S. 244. Es gab auch schon vorher Forschungen, allerdings nicht so detaillierte und wissenschaftlich fundierte. Siehe Hagen 2005, S. 247. Außerdem: Wolfgang Hagen: »Lazarsfeld ›Soziale Physik‹. Für eine Archäologie der Demoskopie«. In: Ders.: Gegenwarts‑ vergessenheit. Lazarsfeld, Adorno, Innis, Luhmann. Berlin 2003, S. 23−36. Zur Demoskopie siehe außerdem Felix Keller: Archäologie der Meinungsforschung. Mathematik und die Erzählbarkeit des Politischen. Konstanz 2001. 10 Einleitung mit The Invasion from Mars. A Study in the Psychology of Panic, die er zusammen mit Herta Herzog verfasste, eine erste Studie zur Suggestibilität elektronischer Medien vor.8 Cantril untersuchte jenseits pauschaler Werturteile auf der Basis empirischer Daten, die er aus Umfragen erhielt, die ›Panik‹ der Hörer nach dem Katastrophenhörspiel, beispielsweise in Abhängigkeit zu ihrem sozialen Status, aber auch die rhetorischen Strategien des Hörspiels und ihren möglichen Einfluss auf das Verhalten der Masse.9 Auch Paul Lazarsfeld interessierte sich für die Erforschung dessen, »was Leute aufgrund des Einflusses, den das Radio auf sie ausübt, tun oder fühlen«.10 Dabei ging er streng statistisch vor, nahm probabilistische Stichproben, machte Repräsentativerhebungen und kartierte so den ›Durchschnittshörer‹. Diese empirische Datenerhebung wiederum bezog er auf psychologische Fragen. Um die subjektiven Effekte des Radioprogramms zu untersuchen, entwickelte er zusammen mit Frank Stanton den LazarsfeldStanton Program Analyzer (erstmals 1940 beim CBS eingesetzt), der neben der Erforschung der Publikumsstruktur, den Test der Programme auf Beliebtheit und daraufhin ihre Verbesserungen auf der Grundlage quantitativer Ergebnisse ermöglichte. 1940 schrieb Lazarsfeld in der zweiten von ihm betreuten Ausgabe des Journal of Applied Psychology, dass durch das Radio nunmehr aus den »›unnatürlichen‹ Bedingungen des Laboratoriums« herausgegangen und die als »zentral für alle Untersuchungen menschlicher Wesen« angesehene Methode von »Reiz und Reaktion« jetzt auf die Gesellschaft angewendet werden könne:11 »Das Radio hat nun die ganze Nation in eine Experimentalsituation verwandelt.«12 Katastrophenhörspiele wie »The War of the Worlds« weiteten gerade mit theatralen Inszenierungen ihres eigenen Scheiterns die ›Experimentierzonen‹ aus. Auf Orson Welles’ Hörspiel beispielsweise konnte die Demoskopie, die mittels wissenschaftlich bewährter Technologien Zugriff auf die Zuhörer und ihre ›Psyche‹ verspricht, im Feld der Hörerreaktionen angewendet werden. Das Publikum und sein Verhalten wurden zum Terrain der Forschung, indem sie als ›mediale Öffentlichkeit‹ des statistisch generierten Normalisierungsraums entworfen wurden.13 Das vorliegende 8 9 10 11 12 13 Hagen 2005, S. 247. Katherine Pandora: »›Mapping the New Mental World Created by Radio‹: Media Messages, Cultural Politics, and Cantril and Allport’s ›The Psychology of Radio‹«. In: Journal of So‑ cial Issues. Spring/1998. Unter: http: / / findarticles.com/p/articles/mi_m0341/is_n1_v54/ ai_21107566. Letzter Download 1.5.2008. Zitiert nach Dominik Schrage: Psychotechnik und Radiophonie. Subjektkonstruktionen in artifiziellen Wirklichkeiten 1918−1932. München 2001, S. 310. Zitiert nach Schrage 2001, S. 310. Paul F. Lazarsfeld: »Introduction by the Guest Editor«. In: The Journal of Applied Psycho‑ logy. Jg. 24, H. 6/1940, S. 661. Hagen 2003a, S. 35. Das Radio und sein Wissen 11 Buch geht dieser frühen und bisher nicht erforschten Geschichte der radiophonen Katastrophen in Europa nach und kommt dabei zu der Diagnose, dass das Radio mit seinem Ende begann: Es inszenierte an den Grenzen, an den offenen Wunden der symbolischen Ordnung Katastrophen, Störungen, Zusammenbrüche. Doch eben jene spektakuläre Szene der Katastrophe war, so die These, gleichzeitig Ort einer experimentellen Annäherung an das Radio und seine Hörer. Das Radio stellte sich einerseits als unbekanntes epistemisches Ding zur Disposition, andererseits schuf es eine experimentelle Anordnung, die einen Umgang mit den radiophonen Katastrophen und Störungen ermöglichte. Das Radio und sein Wissen Das europäische Radio konstituierte sich Anfang der 1920er Jahre innerhalb eines Feldes sehr heterogener Diskurse, die die verschiedenen Wissensformen des Mediums gemeinsam hervorbrachten.14 Im Dispositiv Radio trafen sich technische Erfindungen, wissenschaftliche Forschungsarbeit und ästhetische Praktiken.15 Es geht in diesem Buch um die Rekonstruktion der Wissensgeschichte des Radios in ihrer diskursiven Vielfalt und technologischen Materialität, aber auch in ihrer regierungstechnologischen Ausprägung. Die Katastropheninszenierungen des frühen europäischen Radios markieren dabei einen brisanten Kreuzungspunkt zwischen den unterschiedlichen Wissensformen: die Generierung von Wissen durch aufmerksame Beobachtung und durch Technologien der Beobachtung, wie beispielsweise dem Experiment. Michel Foucault hat diese Überkreuzung von Wissen, Beobachtung und Technologie in der Architektur des »Panopticons« als 14 15 Das Radio in Europa etabliert sich im Wettbewerb zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Andere europäische Länder ziehen bald nach. Siehe dazu Edgar Lersch, Helmut Schanze (Hg.): Die Idee des Radios. Von den Anfängen in Europa und den USA bis 1933. Konstanz 2004. Ich beziehe mich auf Foucault, der das Dispositiv als »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft ist«. Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Aus dem Französischen von Hans-Joachim Metzger, Elke Wehr, Ulrich Raulff, Jutta Kranz, Monika Metzger und Walter Seitter. Berlin 1978, S. 119 f. Zum Dispositiv Kino u. a. siehe Knut Hickethier: »Dispositiv Fernsehen, Programm und Programmstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland«. In: Ders. (Hg.): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Bd. 1: Institution, Technik und Programm. München 1993, S. 171−243. Dazu auch Markus Stauff: ›Das neue Fernsehen‹. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien. Münster 2005, S. 109−179. 12 Einleitung Disziplinarmacht analysiert.16 Ich betrachte die Katastropheninszenierungen ebenfalls als eine Verräumlichung von Machtwissen, wenn auch der Raum dieser Inszenierungen kein Repräsentationsraum des ›großen Anderen‹ ist und das Wissen hier nicht als vorgefertigte, durchzusetzende Norm zur Verfügung steht, sondern in der ›Begehung‹ der Katastrophen architektur erst generiert wird. Insofern ist hier nicht (beziehungsweise nicht nur) die Disziplinarmacht am Werk. Die Katastropheninszenierungen fallen vielmehr in den Bereich von Sicherheitstechnologien, die normalisierende Zugriffe auf solche Ereignisräume und ihre Akteure operativperformativ gewähren.17 Und tatsächlich steht im frühen Radio auch nicht so sehr der einzelne Hörer in seiner psychischen und physischen Existenz zur Disposition (Disziplinarmacht), sondern wird das Verhalten der ›zerstreuten‹ Masse der vielen, anonymen Einzelnen verhandelt (Biomacht). Die zerstreute Masse rückte bereits Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem durch die Medialisierung der Gesellschaft ins Zentrum des Interesses.18 Diese ›Masse‹ ist nicht mehr ›Masse‹ im Sinne der Massenpsychologie eines Gustave Le Bons, keine präsentische Masse, die als ›untere‹ Schicht im Gegensatz zum bürgerlichen Individualitätsideal steht. Vielmehr ist die zerstreute Masse eine medial vermittelte, räumlich kaum begrenzte und zeitlich sehr dynamische ›Öffentlichkeit‹, die aus vielen verstreuten Einzelnen besteht. Michael Gamper definiert diese medialisierte ›Masse‹ als fluktuierende, unstetige Erscheinung, die sich nicht – wie etwa die ›Nation‹ – in ihrer Repräsentation zu erkennen gibt.19 Sie erscheint vielmehr nur in der Performance ihres Auftretens, wenn sie nicht Ereignis ist, ist sie immer nur virtuelle bzw. potenzielle Masse. In diesem Sinne ist auch das Radiopublikum eine zerstreute Masse einzelner Hörer, was der Soziologe Leopold von Wiese bereits 1930 in seinen Überlegungen zum Rundfunk feststellt, wenn er das 16 17 18 19 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1976. Knut Hickethier spricht ebenfalls davon, dass die mediale Inszenierung von Katastrophen »Normalisierungsagenturen« sind, die als »Bewältigungsprogramm zur Herstellung von Sicherheit« funktionierten. Er bezieht sich auf das heutige Fernsehen und stellt vor allem die »anthropologische Funktion von Kommunikation« – die »Überlebenssicherung« – ins Zentrum seiner Überlegungen. Dem anthropologischen A priori schließe ich mich nicht an. Knut Hickethier: »Katastrophenmelder, Skandalisierungsinstrument und Normalisierungsagentur. Die Risiken und die Medien«. In: Ästhetik und Kommunikation. 33.Jg, H. 116/2002, S. 41−46, hier S. 41, 44. Vgl. beispielsweise Gabriel Tardes Überlegungen zur Öffentlichkeit. Gabriel Tarde: Le public et la foule. Paris 1898. Dazu Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs‑ und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765−1930. München 2007, S. 476−484. Gamper 2007. Das Radio und sein Wissen 13 Radiopublikum als »großen Anonymus«20 beschreibt, dynamisch und von wechselnden Personen konstituiert, passiv und doch auch aktiv.21 Doch diese zerstreute Masse der Hörer ist »nur in Form von Repräsentation zugänglich«.22 In den Katastrophenhörspielen tauchen darum verschiedene ›Hörertypen‹ auf, beispielsweise der Hörer als Funker, als Nachrichtenoffizier, als Proband, als Rundfunkexperte. Die Inszenierungen werden also über die Figur des ›Hörers‹ zum ›Schauplatz‹ der Wissensproduktion, wobei diese Figur zu diesem Zeitpunkt in fast ausschließlich männlicher Form auftaucht. Allein der französische Hörspielerstling bietet die Gestalt der zerstreuten Unterhaltungskonsumentin an, eine Figur, die in dem Stück nur skizziert und letztlich verworfen wird. Erst mit dem Einzug des ›Möbelstücks‹ Radio in die Wohnzimmer und Küchen der Hausfrauen wird der Apparat zum Begleitmedium auch der weiblichen Hörerin.23 Die Figurationen zerstreuter Hörerschaft wiederum werden innerhalb katastrophaler Szenarien isoliert und ›getestet‹. Sie werden in eine experimentelle Anordnung eingespannt,24 Störungen ausgesetzt und bei deren 20 21 22 23 24 Leopold von Wiese: »Die Auswirkungen des Rundfunks auf die soziologische Struktur unserer Zeit« (1930). In: Hans Bredow (Hg.): Aus meinem Archiv. Probleme des Rundfunks. Heidelberg 1950, S. 98−111, hier S. 104. Dazu auch: Dominik Schrage: »›Anonymus Publikum‹. Massenkonstruktion und die Politiken des Radios«. In: Daniel Gethmann, Markus Stauff (Hg.): Politiken der Medien. Zürich, Berlin 2005, S. 173−194. Wiese 1950, S. 106−107. Stauff 2005, S. 95, 105. Ich verzichte darauf, in der gesamten Arbeit den Begriff ›Hörer‹ mit einfachen Anführungszeichen zu kennzeichnen. Nichtsdestotrotz möchte ich die Rede vom ›Hörer‹ im hier ausgeführten Sinne als Rede von der Wissensfigur des ›Hörers‹, die nicht mit dem ›tatsächlichen‹ Hörer zu verwechseln ist, verstanden wissen. Da das solchermaßen konstruierte Gegenüber ›Hörer‹ in den vorliegenden Quellen ausschließlich männlich gedacht wird, werde ich in der Arbeit nicht von Hörern und Hörerinnen, sondern nur vom ›Hörer‹ sprechen. Dazu Uta C. Schmidt: »Vom ›Spielzeug‹ über den ›Hausfreund‹ zur ›Goebbels-Schnauze‹. Das Radio als häusliches Kommunikationsmedium im Deutschen Reich (1923−45)«. In: Tech‑ nikgeschichte. Bd. 65, H. 4/1998, S. 313−327; Uta C. Schmidt, Monika Pater: »›Adriennes Hochantenne‹. Geschlechtsspezifische Aspekte medialer Durchsetzungsprozesse am Beispiel des Rundfunks«. In: Feministische Studien. 15. Jg., H. 1/1997, S. 21−33; Zum Frauenfunk siehe ausführlich Angela Dinghaus: Frauenfunk und Jungmädchenstunde. Ein Beitrag zur Programmgeschichte des Weimarer Rundfunks. Diss. Hannover 2002. Unter: http: / / deposit. ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=967349451. Letzter Download 15.5.2008. Bereits Walter Benjamin versteht den Film als experimentelle Anordnung. Er lotet das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Medium aus, indem der Film selbst als Test entworfen wird und somit »die Testleistung ausstellbar« macht. Benjamin GS. VII.1, S. 365. Ausführlicher dazu Astrid Deuber-Mankowsky: Praktiken der Illusion. Kant, Nietzsche, Cohen, Benjamin bis Donna J. Harraway. Berlin 2007, S. 221−231. Seine Überlegungen schließen an Siegfried Kracauers Studie zu den Angestellten an, einer Bevölkerungsgruppe, die sich dem »Kult der Zerstreuung« hingab, so Kracauer 1926 in seinem Essay. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1930). Frankfurt a. M. 2004; Gamper 2007, S. 484−507. Möglicherweise hatte aber auch Benjamins Rundfunkarbeit einen großen Einfluss auf seine Konzeption der Rezeption in der Zerstreuung. Es steht aber noch aus, die Rolle des Rundfunks für Benjamins Medienverständnis auszuloten. Sabine Schiller-Lerg legte bereits 1984 eine erste detaillierte Bestandsaufnahme vor. Sabine Schiller- 14 Einleitung Bewältigung beobachtet bzw. beim Beobachten anderer Akteure wiederum selbst beobachtet. In dieser Haltung des Beobachtens kreuzen sich auch die zerstreute Hörerschaft und die Programmverantwortlichen, die ihrerseits beobachtende Beobachtete sind: Den unzugänglichen Hörer und Hörerinnen sucht man mit Fragebögen beizukommen, die Programmverantwortlichen sind Objekt wachsender Sorge staatlicher Stellen. Diese Verflechtung von Beobachter und Beobachteten wird von den Hörspielen reflektiert, ja im Falle der »Zauberei auf den Sender« von Hans Flesch gar ironisiert. Das Zentrum der Macht scheint im Radio leer zu sein. Von dieser Leere allerdings gehen die Verstrickungen eines Verweissystems der Beobachtung aus. Die Frage nach der Macht der Beobachtung von einem souveränen Punkt wird zu einer Frage der Permanenz von Beobachtungstechnologien und der damit verbundenen Subjektivierung von Hörern und Hörerinnen. Auch Dominik Schrages Studie zu Psychotechnik und Radiophonie verknüpft die Medientechnik Radio mit Verfahren der Subjektivierung, also mit der Psychotechnik. Beide sieht er als »Wirklichkeitsmodelle […], in denen Selbstverhältnisse und Wirklichkeitsstruktur als kommensurabel erscheinen und technisch reguliert werden können«.25 Schrage zielt auf eine Geschichte der Normalisierung, die die Annäherung zwischen Psychotechnik und Radio darüber beschreibt, dass beide Zugriff auf eine statistisch erzeugte Figur des Durchschnitthörers suchen, was letztlich zur wissenschaftlichen Hörerforschung führt. Diese Verknüpfung von Medien‑ und Psychotechnik ist der Ausgangspunkt des Buches, von dem aus die theatralen Praktiken der Normalisierung in den Blick genommen werden. Dabei verstehe ich meine Studie als Parallelprojekt zu Nicolas Pethes’ Untersuchung spektakulärer Experimente in Film und Fernsehen.26 Pethes stellt eine den Experimenten der Sozialpsychologie und den Medien Film und Fernsehen gemeinsame Struktur fest: Es gibt aber einen generellen Trend, der moderne Medientechnologie und psychologische Diskurse verbindet. Dieser Trend basiert auf einer Struktur, die psychologischen Experimenten und audiovisuellen Medien gemeinsam ist: Film und Fernsehen unterstützen das methodische Prinzip, demzufolge Wissen auf Beobachtung beruht, durch eine tatsächliche Technologie der Beobachtung.27 25 26 27 Lerg: Walter Benjamin und der Rundfunk. Programmarbeit zwischen Theorie und Praxis. München, New York, London, Paris 1984. Zu den Hörmodellen siehe Schiller-Lerg 1984, S. 189−223. Schrage 2001, S. 9. Nicolas Pethes: Spektakuläre Experimente. Allianzen zwischen Massenmedien und Sozial‑ psychologie im 20. Jahrhundert. Weimar 2004. Pethes 2004, S. 8 f. Hervorhebungen im Original. Die experimentelle Poetologie des Radios 15 Pethes untersucht die Kreuzungspunkte zwischen Wissen, Beobachtung und medialen Inszenierungen allerdings ausschließlich im Bereich visueller Medien. Ich setze dagegen beim frühen Radio und seinen Katastropheninszenierungen an und untersuche Techniken der theatralen Wissensgenerierung im Modus der Normalisierung.28 Voraussetzung dafür ist, dass man Normalisierung nicht nur im Sinne eines statistischen Verfahrens der Datenerhebung und ‑bearbeitung und deren Darstellung in Normalitätsbereichen versteht.29 Vielmehr erinnere ich an Georges Canguilhem, Pierre Bourdieu und Michel Foucault, die die Konstitution von Normalität nicht ausschließlich auf Statistik zurückführen, sondern Normalisierung als serielle Abgrenzungsbewegung zum Anormalen beschreiben und zwar häufig in Form von spektakulären Inszenierungen.30 Das theatrale Moment ist zentraler Bestandteil der Katastrophenhörspiele in ihrem Versuch, auf die Figur des ›Hörers‹ zuzugreifen und sie so als Mediennutzer erst zu konstruieren. Die Inszenierungen der Katastrophen im frühen Radio sind ›Schauplätze‹ der Wissensgenerierung über das Radio und damit der Normalisierung seiner ›Hörer‹. Die experimentelle Poetologie des Radios Das Katastrophenhörspiel läutet die europäische Hörspielgeschichte ein, ist aber als solches bisher nur vereinzelt Gegenstand der Radioforschung geworden. Es bildet, obwohl bis heute im Hörspielprogramm präsent, kein eigenes Genre. Reinhard Döhl gibt immerhin einen historischen Überblick über das deutschsprachige »Sensationshörspiel«, wie er es nennt, begnügt sich hinsichtlich seiner Einordnung in und Bedeutung für die Radiogeschichte aber mit dem Verweis auf die »medium-gebundene[] 28 29 30 In diesem Sinne verstehe ich auch das Experiment als theatrale Technik. Das ist Jürgen Links Verständnis von Normalismus. Jürgen Link: Versuch über den Nor‑ malismus. Wie Normalität produziert wird. 3. Auflage. Göttingen 2006. Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische (Diss. Von 1943). Aus dem Französischen von Monika Noll und Rolf Schubert. München 1974; Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1982). Aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Achim Russer. Frankfurt a. M. 1987; Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesung am Collége de France (1974−1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott, Konrad Honsel. Frankfurt a. M. 2003. Ich schließe mich hier der Analyse von Christina Bartz und Marcus Krause an, die herausstellen, dass Foucault insbesondere in seinen Gouvernementalitätsvorlesungen das Konzept der Normalisierung (Normation) als theoretische Gelenkstelle zwischen der Beschreibung der Disziplinen und der Biomacht installiert. Norm und Normalität wären demnach die Zentren beider Machttechnologien, die zwar in historischer Abfolge stehen, aber sich nicht ablösen. Disziplinartechniken und Sicherheitstechnologien der Biomacht sind kompatibel. Christina Bartz, Marcus Krause: »Einleitung: Spektakel der Normalisierung«. In: Dies. (Hg.): Spektakel der Normalisierung. München 2007, S. 7−23, hier S. 13−16. 16 Einleitung Suggestionskraft«.31 Allein Orson Welles »The War of the Worlds« erfährt einige Aufmerksamkeit. So erarbeitet Werner Faulstich an diesem Hörspiel eine ganze Radiotheorie, die dezidiert medienspezifisch verfahren will. Faulstich versteht das US-amerikanische Hörspiel als Exempel für das Radio als »Medium des Jetzt«, das über die »Angst« die Manipulation der Hörer betreibe. Seine Analyse ist der Repressionshypothese verhaftet. Er geht davon aus, dass die Öffentlichkeit von den »Pseudo-events«, den scheinbaren Live-Katastrophen hinters Licht geführt und »mißbraucht« werde, dass die Grenzen zwischen »Phantasie und Realität« verwischt würden.32 Ich verstehe dagegen das Radio nicht einfach als bereits existierendes ›Device‹, dessen störungsfreies Funktionieren aufgrund seines strategischen Nutzens zur Debatte steht, sondern als klärungsbedürftigen und problematischen Gegenstandsbereich, zu dem auch die Größe ›Hörer‹ gehört. Ich folge hierbei dem Vorschlag von Lorenz Engell und Joseph Vogl, die im »Vorwort« des Kursbuches Medienkultur »Halt und Haltbarkeit« »einer elementaren Definition dessen« bezweifeln, »was ein Medium sein soll«. Sie schlagen deshalb vor: Vielleicht könnte ein erstes medientheoretisches Axiom daher lauten, daß es keine Medien gibt, keine Medien jedenfalls in einem substanziellen und historisch stabilen Sinn. […] In dieser Hinsicht hat es eine Medienwissenschaft nicht einfach mit Geräten und Codes, sondern mit Medienereignissen in einem doppelten Sinne zu tun: mit jenen Ereignissen, die sich durch Medien kommunizieren, indem diese sich selbst als spezifische Ereignisse mitkommunizieren. Medien machen lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit der Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden. Dieses doppelsinnige Medien-Werden von Apparaten, Techniken, Symboliken oder Institutionen, das nicht von vornherein präjudizierbar ist und sich von Fall zu Fall auf je unterschiedliche Weise aus einem Gefüge aus heterogenen Bedingungen und Elementen vollzieht, eröffnet eine medienkulturelle Perspektive im engeren Sinn und führt die Medienwissenschaft aus den Monopolen von Philologie, Technikgeschichte oder Kommunikationswissenschaft heraus.33 In diesem Sinne sind Katastrophenhörspiele »Medienereignisse« des Radios in jener doppelten Bedeutung: Das Radio »kommuniziert« in den 31 32 33 Reinhard Döhl: »Nichtliterarische Bedingungen des Hörspiels«. In: Wirkendes Wort. Jg. 32, H. 3/1982, S. 154−179, hier zitiert nach der Online-Version unter: http: / / www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/doehl_bedingungen/doehl_bedingungen.html. Letzter Download 12.5.2008. Werner Faulstich: Radiotheorie. Eine Studie zum Hörspiel ›The War of the Worlds‹ (1938) von Orson Welles. Tübingen 1981, S. 11, 90, 23 f. Lorenz Engell, Joseph Vogl: »Vorwort«. In: Claus Pias, Joseph Vogl, Lorenz Engell, Oliver Fahle, Britta Neitzel (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. 5. Aufl., Stuttgart 2004, S. 8−11, hier S. 10. Die experimentelle Poetologie des Radios 17 Hörspielen ein katastrophales (Live‑)Ereignis und gleichzeitig sich selbst als Ereignis der Übertragung. Das Radio ist also Teil und Effekt dieser Katastropheninszenierungen, die ja wiederum das Radio als problematische Frage zur Disposition stellen. Die ›Instabilität‹ der medialen Ereignishaftigkeit evoziert im Radio gleichzeitig eine bestimmte Technologie, mit diesen Unsicherheiten umzugehen: das Experiment.34 Die Sendungen haben nicht nur Experimente zum Inhalt, werden von Experimenten begleitet oder sind als Formen eines neuen Mediums sowieso experimentell. Das Experimentelle liegt vielmehr in jenem doppelte Charakter des Medienereignisses selbst begründet: Man sucht nach den Regeln, nach denen gleichzeitig während der Suche operiert wird.35 Die Suche ist also im höchsten Maße selbstreferenziell und bündelt ihre Fragen im Katastrophischen wie in einem Brennglas. Das Katastrophische scheint die experimentelle Umgebung zu sein, die das Fragen nach dem epistemischen Ding Radio einschränkt, fixiert, kontrolliert und in Serien organisiert. Dabei hat man von einem Begriff des Experimentes auszugehen, der sich vom klassischen Konzept der Naturwissenschaften unterscheidet. Die Experimente im frühen Radio haben nicht die Funktion, eine klar definierte Hypothese oder Theorie zu bestätigen oder zu widerlegen. Sie sind auch keine einfachen Tests oder Detektoren verdeckten Wissens. Vielmehr muss man sie im Kontext einer in den 1920er und frühen 1930er Jahren sich vollziehenden Neudefinition des Experiments verorten: Das Experiment wurde mehr und mehr als gestalterische Tätigkeit, als aktives Handeln verstanden, das innovative Gegenstände der Forschung erst generiert. Hugo Dingler, als deutscher Mathematiker und Philosoph Vertreter der operativ-pragmatischen Erkenntnistheorie, entwarf 1928 das Experimentieren als geordnetes Herstellungshandeln,36 der polnische Bakteriologe Ludwik Fleck arbeitete 1935 die sozialen und begrifflichen Voraussetzungen jedes Experimentierens heraus,37 und der französische Wissenschaftstheoretiker Gaston Bachelard sprach 1934 mit dem Begriff der »Phänomenotechnik« vom Konstruktionscharakter des Experiments.38 Bruno Latour, Michel Serres und Hans-Jörg Rheinberger schlossen ab 34 35 36 37 38 Lorenz Engell beschreibt, dass auch das Fernsehen in diesem Sinne experimentell ist. Siehe Lorenz Engell: »Fernsehen mit Unbekannten. Überlegungen zur experimentellen Television«. In: Michael Grisko, Stefan Münker (Hg.): Fernsehexperimente. Stationen eines Mediums. Berlin 2009, S. 15−45. Jean-François Lyotard: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. Berlin 1987, S. 51−78. Dazu auch Engell 2009, S. 18. Hugo Dingler: Das Experiment. Sein Wesen und seine Geschichte. München 1928. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935). Frankfurt a. M. 1980. Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist (1934). Frankfurt a. M. 1988, S. 17 f. 18 Einleitung den 1970er an dieses Verständnis des Experiments als komplexes System, das technische und nicht-technische Dinge verbindet, das institutionelle und soziale Bedingungen einbezieht und Innovatives hervorbringt, an und führten es weiter. Ich verorte diesen gestalterischen Begriff des Experiments historisch in jener Zeit, in der er auftauchte, sucht ihn aber auf einem anderen Feld: auf dem Feld der medialen Katastropheninszenierungen. Die Katastrophenhörspiele werden als radiophone Experimentalanordnungen verstanden, die den Prozess der Wissensproduktion zum und im Radio als eine provisorische Bastelei eröffnen, deren unerwartete Ergebnisse das Radio erst begründen.39 Das Buch betont neben den eröffnenden Aspekt des Experiments auch dessen Status als Verfahren der Wahrheitsproduktion und Normalisierung. Das Experimentalsystem Katastrophenhörspiel stellt Wissen über das epistemische Ding Radio her, testet aber zugleich auch die Zugriffsweisen auf die Hörer aus. Wissensgenerierung und Verhaltensoptimierung verschränken sich, Technologien der Beobachtung und Techniken der Subjektivierungen fallen zusammen. Im Anschluss an Joseph Vogl kann man sagen, »dass jede Wissensordnung bestimmte Darstellungsoptionen ausbildet, dass in ihrem Inneren besondere Verfahren wirksam sind, die über die Möglichkeit, über die Sichtbarkeit, über die Konsistenz und die Korrelation ihrer Gegenstände entscheiden«.40 Als solch eine »Darstellungsoption« des Radios möchte ich das Katastrophenhörspiel beschreiben, das bestimmte Verfahren des Beobachtens – das Experimentalsystem – ausbildet, die auf die Normalisierung der Figur des Hörers unter Extrembedingungen zielen und damit zugleich an der »Herstellung hegemonialer Wissensordnungen« beteiligt sind.41 In diesem Sinne entfaltet das Buch eine auf das Radio bezogene »Poetologie des Wissens«.42 Im Buch werden dabei medienarchäologische und medienepistemologische Fragen verbunden: Fragen nach der Geschichte des Radios als technischen Artefakt, als Technologie und als Medienpraxis mit Fragen nach 39 40 41 42 Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001, v. a. S. 18−34; Auch Hans-Jörg Rheinberger: »Experimentalsysteme. Epistemische Dinge. Experimentalkulturen. Zu einer Epistemologie des Experiments«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. H. 42,3/1994, S. 405−418. Vogl 1999, S. 13. Joseph Vogl: »Zur Einführung. Formationen des Wissens«. In: Pias, Vogl, Engell, Fahle, Neitzel 2004, S. 485−487, hier S. 487. Joseph Vogl: »Einleitung«. In: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 7−16, hier S. 13. Drei Szenen 19 dem Radio als »›Realitätsgebungsverfahren‹«.43 Unter dieser Perspektive verstehe ich meine Studie zu den frühen Katastrophenhörspielen als einen Beitrag zu den gegenwärtigen Forschungen zum frühen Rundfunk. Dabei schließe ich an Wolfgang Hagens Untersuchung Das Radio. Zur Geschich‑ te und Theorie des Hörfunks an, die die Epistemologie des Radios aus dem Vergleich zwischen dem europäischen und dem US-amerikanischen Verständnis der Technologie und vor allem der Elektrizität herleitet.44 In Weiterführung von Hagens Argumenten nimmt das Buch das europäische Radio der 1920er Jahre in den Blick. Sein Gegenstand ist jedoch nicht die systematische Aufarbeitung und Darstellung der europäischen Radiogeschichte,45 sondern die exemplarische Untersuchung der medienarchäologischen Epistemologie des frühen europäischen Radios, wobei ich auf die jeweiligen Rundfunkentwicklungen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien vergleichend eingehe. Drei Szenen Das Material der Studie besteht hauptsächlich aus den ersten drei Hörspielen der europäischen Radiogeschichte: Gabriel Germinets und Pierre Cusys »Marémoto Radio-Drame de la Mer« (Radio Paris 1924), Richard Hughes’ »A Comedy of Danger« (BBC 1924) und Hans Fleschs »Zauberei auf dem Sender. Versuch einer Rundfunkgroteske« (SÜWRAG 1924).46 Alle drei Hörspiele wurden 1924 ausgestrahlt und inszenieren katastrophale Ereignisse der Störungen, Unterbrechungen und des Zusammenbruchs. Dieses Materialkorpus wird in diesem Buch erstmals in der Radioforschung zusammenhängend analysiert. 43 44 45 46 »Realitätsgebungsverfahren« verstanden als »Technik, Welt als Welt von Objekten zu konstituieren, die von einem Subjekt vorgestellt werden«, die »operativ, differenzbildend« ist und »auf die Beherrschbarkeit des von ihm Erfassten« zielt. Bernhard Siegert: »(Nicht) Am Ort. Zum Raster als Kulturtechnik«. In: Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der BauhausUniversität Weimar. H. 3/2003b, S. 93−104, S. 93. Zum Begriff Medienepistemologie siehe Siegfried J. Schmidt: »Blickwechsel. Umrisse einer Medienepistemologie«. In: Gebhard Rusch, Siegfried J. Schmidt (Hg.): Konstruktivismus in der Medien‑ und Kommunikations‑ wissenschaft. Frankfurt a. M. 1999, S. 119−145. Zur Medienarchäologie siehe Wolfgang Ernst: M.edium F.oucault. Weimarer Vorlesungen über Archive, Archäologie, Monumente und Medien. Weimar 2000; Siehe auch Siegfried Zielinski: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Reinbek 2002. Hagen 2005. Pionierarbeit leisten hier die Textsammlungen von Edgar Lersch und Helmut Schanze sowie von Irmela Schneider und Christian W. Thomsen. Lersch, Schanze 2004; Christian W. Thomsen, Irmela Schneider (Hg.): Grundzüge der Geschichte des europäischen Hörspiels. Darmstadt 1985. Allerdings bleibt diese Aufarbeitung Desiderat. Im Anhang der Arbeit findet sich eine Tabelle zu den Abkürzungen der Sender. 20 Einleitung Die drei ersten Hörspiele der europäischen Hörspielgeschichte sind Ausgangspunkt und Bezugsrahmen einer Suchbewegung durch das Wissen vom Radio und des Radios, die immer wieder auf das konkrete Material rekurriert und die methodischen Zugänge daran erprobt. Sie bilden drei Szenen, die in den jeweiligen Kapiteln eine Poetologie des Radiowissens entfalten. Dabei greife ich jeweils auf die frühesten Textfassungen zurück. Die Originalhörspiele sind nicht als akustische Dokumente erhalten, da zu diesem Zeitpunkt Hörspiele Live-Aufführungen waren. Ich orientiere mich aber an Neueinspielungen, die sich möglichst genau an der Ursendung orientieren und deshalb eine gewisse Nähe zum Original beanspruchen. Dieser Anspruch ist natürlich nicht erfüllbar, denn allein die Hörsituation vor Geräten, die von aller Art Störungen, Frequenzschwankungen, Überlagerungen und Feedback heimgesucht wurden, ist kaum mehr nachzuvollziehen. Solche Einschränkungen in der Bewertung des Tonmaterials muss jede Studie zum frühen Hörspiel akzeptieren. Das frühe Radio als Übertragungsmedium initiiert in der Aktualisierung seiner Ereignisstruktur die eigene Löschung.47 Ich versuche zwar, zeitgenössische Berichte zu den Sendungen anzuführen, ein Ersatz für die Originalaufführungen sind sie jedoch nicht. Jedes Buch zum frühen Radio muss deshalb sein Material in Neueinspielungen, schriftlichen Quellen, Fotografien, also in gespeicherten Zeugnissen suchen, so auch das vorliegende. Diese historisch bedingten Darstellungsgrenzen des Radios fordert einmal mehr dazu heraus, das Medium als komplexe und heterogene Konstellation nicht nur von Technologien, semiotischen Prozessen, Institutionen und spezifischen Darstellungsformen, sondern auch von unterschiedlichen ›Medien‹ zu verstehen, eine Konstellation, die erst im Nachhinein zu rekonstruieren ist. Meine Studie operiert so in einem interdisziplinären Zwischenraum, in dem die Präsentation einer stringenten und eindeutigen Narration nicht möglich ist. Eine solche am ›authentischen Zeugnis‹ orientierte Geschichtsschreibung ist aber auch nicht Ziel des Buches, das am Beispiel des Katastrophenhörspiels an der Rekonstruktion der vielfältigen Praktiken interessiert ist, in denen das frühe Radio eingebunden war, Praktiken, die das Radio konfigurierten und konstitutiv hervorbrachten. Deshalb rekurriere ich kontextualisierend auch auf andere Katastrophenhörspiele48 wie auch andere 47 48 Hagen 2005, S. XVII; Engell, Vogl 2004, S. 10. Gegenstand der Analyse sind: Friedrich Wolfs »SOS … Rao rao … Foyn ›Krassin rettet Italia‹« (RRG 1929), Fritz Walter Bischoffs »Hallo! Hier Welle Erdball!« (SLF 1928), Ernst Johannsens »Brigadevermittlung« (DSB 1929) und Bertold Brechts »Der Lindberghflug« (BEFU 1929). Drei Szenen 21 Formate radiophoner Inszenierungen, wie beispielsweise der Reportage.49 Ich beziehe mich auf die Entwicklung der Institution Rundfunk und auf Darstellungen und Diskursivierungen der Rundfunkpraxis, wie sie in den Rundfunkzeitschriften, aber auch in den Handbüchern der Ingenieure zu finden sind.50 Diese das Radio direkt thematisierenden Diskurse werde ich in einem breiteren wissenschaftsgeschichtlichen Feld situieren. Dabei werden die Wissenstransfers zwischen den Bereichen der Physik und der Elektrotechnik, der Psychophysik, der Physiologie und der Sozialpsychologie sowie den Wissensbereichen des Militärs, der Schifffahrt und ästhetischen Praktiken wie der Neuen Musik skizziert. Strukturiert und gebündelt wird dieses weite diskursive Feld von den drei um die ersten europäischen Hörspiele gebildeten Szenarien. Die drei als Szenen konzipierten Kapitel können und wollen dabei ihren theatralen Charakter nicht leugnen: Das Buch erzählt keine fortschreitende, lineare Geschichte des Radios, sondern ist der Versuch einer »Poetologie des Wissens«. 49 50 Ich beziehe mich z. B. auf Reportagen von Alfred Braun vom Tempelhofer Feld und auf die letzten Minuten der Weihnachtsringsendung von 1942. Hier sind die Zukunftsvision einer technisch aufgerüsteten Welt von Robert Sloss »Das drahtlose Jahrhundert« und die ingenieurstechnische Abhandlung »Glückliche Stunden. Entdeckungsfahrten in den elektrischen Ozean« von Adolf Slaby zu nennen. Die Darstellungen und Diskursivierungen der Rundfunkpraxis entnehme ich den gängigen Rundfunkzeitschriften, v. a. Funk und Der Deutsche Rundfunk.