"Freigeistige Fotografin", MAZ, 13.08.2011

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"Freigeistige Fotografin", MAZ, 13.08.2011
20 | Neue Oranienburger Zeitung
Freigeistige Fotografin
Leute, Leute!
PORTRÄT Julia
KOLUMNE
Nix Droschke, nix Schilder
Martina Rellin, in Bergfelde
lebende Autorin, gönnt
Taxifahrern Pizza
M
ittwochabend hatten
wir in kleiner Runde
dem Rotwein bereits fröhlich zugesprochen, als ich
plötzlich eine rigorose
Forderung aus dem Munde
meiner lieben Nachbarin A.
vernahm: „Die sollen das
Schild da wegnehmen –
oder Taxis hinstellen.“ Wen
meinte sie mit „die“, welches Schild, und wo war
„da“? Nachfrage ergab, sie
meinte eigentlich zwei
Schilder: Das hübsche
blaue mit dem schrägen
roten Kreuz (Vorschriftzeichen 283-50 der Straßenverkehrsordnung: Haltverbot),
darunter ein weißes mit der
schwarzen Aufschrift Taxi, in
dieser Kombination stehen die
Schilder vor dem
italienischen
Lokal dicht am
Hohen Neuendorfer S-Bahnhof. Die
Autofahrer halten
sich brav dran,
hier ist der Fahrbahnrand
immer frei.
Warum aber sollte sich
ein Taxifahrer freiwillig
dorthin stellen und warten,
dass vielleicht am Sanktnimmerleinstag mal jemand
aus dem Bahnhof purzelt,
der plötzlich eine schwere
Kiste nach Hause zu schleppen oder den Autoschlüssel
verloren hat und darum
nach einem Taxi lechzt? So
was kommt in Hohen Neuendorf doch nicht vor!
Wenn hier mal jemand Taxi
fahren will, zum Bahnhof,
zum Flughafen oder weiß
der Geier wohin, dann ruft
der an und bestellt sich
seine Droschke auf Termin.
„Genau“, sagt A., „dann
können die Schilder doch
weg.“
Hm, es gibt Sachen, die
gehen einem nicht aus dem
Kopf. Rufe ich also gestern
Vormittag eine heimische
Taxitelefonnummer an und
frage: „Stehen Sie eigentlich
manchmal an diesem, äh,
Taxistand?“ – „Ja klar“,
schallt es fröhlich aus dem
Hörer – wenn die Taxifahrerkollegen mal gepflegt in
Ruhe Pizza essen wollen.
Dass Fahrgäste sie ungeduldig von Calzone und Capricciosa aufscheuchen, müssen sie ja nicht befürchten.
Angeblich legt eine ominöse Taxiordnung fest, dass
ein Taxiunternehmen während einer Schicht
sechs Stunden
lang ein Taxi am
Taxistand bereit
zu stellen habe –
Mensch, was man
in der Zeit an
Pizza verdrücken
könnte. Nun haben wir in Hohen
Neuendorf aber
gar keine Taxiordnung, und die für
den Landkreis wird wohl
gerade überarbeitet – egal,
einen richtig echten Taxistand haben wir auch nicht:
Der hätte wohl nämlich ein
schönes großes hochrechteckiges blau-rotes Schild
(StVO Zeichen 229...).
Übrigens stand vor dem
italienischen Lokal sehr
lange eine Rufsäule mit
Telefon für – genau, Taxiruf.
Diese Einrichtung wurde
mittlerweile stillschweigend abgebaut. Ob da wohl
zu viele Fahrgäste telefonisch beim Spaghettiessen
gestört hatten?
Re l l i n s
Wo c h e
www www.martinarellin.de
Was machen Sie
heute, Herr Comteße?
NACHGEFRAGT Die B 96 sperren
N
MAZ | SONNABEND/SONNTAG, 13./14. AUGUST 2011
ormalerweise nutze ich
zur Gedenkveranstaltung der
meinen Samstagmorgen
CDU Oberhavel. Anschliezum Ausschlafen. Aber nicht
ßend wird es hektisch, denn
diesen Samstag, denn heute
ich muss schnell zur Berliner
geht es endlich los. Seit WoStraße auf Höhe der Shellchen planen wir eine GedenkTankstelle in Hohen Neuenveranstaltung für die Opfer
dorf zurück. Dort beginnt um
der Berliner Mauer. Der We16 Uhr unsere Gedenkverancker klingelt so um acht, der
staltung der Jungen Union.
erste Blick
Über 60
geht gen
Kartons
Himmel.
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Hoffentdafür von
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Dann wird
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Jahrestag
bauen
des Mauersymbobaus komlisch die
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Mauer für
mal Kaffee
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stück ma- Weiße Kartons für die Straßenblockade: auf. Für jechen. Wäh- Christian Comteße.
der
FOTO: PRIVAT des
rend des
mindesFrühstücks E-Mails checken,
tens 136 Maueropfer werden
Zeitung durchblättern – eine
wir einen Heliumballon steischlechte Angewohnheit, ich
gen lassen. Hoffentlich haben
weiß. Aber als politisch engadie wartenden Autofahrer Vergierter Mensch, will man wisständnis für unsere Gedenksen, was läuft. Die Zeit
aktion. Am Sonntag hieße es
drängt, viele Dinge sind auf
nach Wochen wieder ausspanden letzten Drücker noch zu
nen – wären da nicht die
erledigen. Helium und LuftSchwiegereltern zu Besuch.
ballons besorgen, mit den MitChristian Comteße, Hohen
gliedern und Helfern telefoNeuendorf, stellvertretender
nieren. Um 14 Uhr will ich
Kreisvorsitzender der Jungen
auch noch nach Hennigsdorf
Union Oberhavel
Tham aus Hohen Neuendorf lichtet gerne unverfälschtes Leben ab
Julia Tham bietet einen
ungewöhnlichen
Service: kostenlose
Umarmungen. Sie tun
einfach gut, findet sie.
Von Fritz Hermann Köser
HOHEN NEUENDORF | Sanft geschwungene Dünen schimmern still im Mondlicht, so
scheint es. Doch bei näherem
Hinsehen sind Bauchnabel
und Brustwarzen zu sehen.
„Ich mag die Ästhetik des
menschlichen Körpers“, sagt
Julia Tham und klappt das Fotoalbum zu.
Die 42-Jährige bildet am
liebsten Menschen ab. Akt
und Erotik zählen neben
Schwangerschafts-,
Babyund Familienfotos zu den Spezialgebieten der Hohen Neuendorferin, die 2005 in ihrem
Heimatort das Fotoatelier ihrer Eltern übernommen hat.
Solche Bilder hatte schon ihre
Mutter gemacht. Die Inhaberin sitzt im Kundenbereich
auf einem Sofa, das Geschäft
ist zu, Mittagspause.
Die Mutter zweier Töchter
hat ihre Stammkunden, man
empfiehlt sie weiter, die Konkurrenz im Ort lässt sie kalt.
„Die machen ohnehin andere
Sachen“, sagt sie. Nur Kinder
würden oft von Schulfotografen „abgeschöpft“, bedauert
sie.
Zwar kommen zunehmend
auch Männer und Paare,
doch posierten bei Akt und
Erotik bisher zu 98 Prozent
„Icke“ nennt Julia Tham ihr lebenslustiges Selbstporträt.
Frauen, „vielleicht, weil ich
auch weiblich bin“, mutmaßt
sie. Zwischen 30 und 50 seien
die Kundinnen meist, sie stehen mitten im Leben, sie wissen, was sie wollen. Viele plagen anfangs Schwellenängste, wenigstens etwas Wäsche wollen sie anbehalten.
„Dabei sehen sie nackt viel unschuldiger und natürlicher
aus“, meint Julia Tham.
Noch in den 90ern räkelten
sich die Damen meist für
Freund oder Ehemann vor
der weißen Studiowand, nun
machen sie das zunehmend
für sich selbst. Aus purer Lust
am eigenen Körper, das eine
oder andere Fältchen oder
Fettpölsterchen stört da nicht
weiter.
Im Gegenteil. Julia Tham
will unverfälschtes Leben zeigen, nicht diese wie „mit
Wachs überzogenen“ ausAktaufnahme – Julia Tham.
druckslosen Hochglanz-Blondinen der TV-Zeitschriftencoschwärmt von der HerzensbeHirschhausens und Co.
sie ihr, im Westen sind doch
ver.
gegnung, dem Innehalten für
Einige Straßen weiter hat
alle arbeitslos. Gut, dann BeEtwas Außergewöhnliches,
einen Augenblick, von Enersie gebaut, dort lebt sie mit ihrufsschullehrerin, für LebensUnkonventionelles strahlt die
gieströmen, die hin- und herrer Familie. Sie selbst wuchs
mitteltechnologie, wie man
jung gebliebene Brünette mit
fließen: „Es tut einfach gut.“
in dem Haus, in dem sie ihr
ihr empfahl. Das und Politikdem Pferdeschwanz und den
Jeder will geliebt werden, sagt
Fotoatelier betreibt, auf. 1965
wissenschaften studierte sie
braun-grünen Augen aus.
sie. Doch selber aktiv lieben,
hatten es ihre Eltern gegrünan der Berliner TU. Die GeÜber grün-gestreiften Hosen
das erst mache die Leute froh
det.
burt der ersten Tochter
trägt sie ein rotes Kleid, die
und glücklich.
Das Studio, in dem sie die
machte ihr einen Strich durch
nackten Füße stecken in flauSie herzt jeden, wirklich jeKunden ablichtet, war früher
die Examensrechnung.
schig-orangen Puschen.
den. Als ein Obdachloser, er
das Wohnzimmer, das Büro,
In den Oberschulen in HoAn ihrem Hals glitzert das
verkaufte in der Berliner
wo sie Buchführung macht
hen Neuendorf und, später,
weiß-schwarze
Yin-YangU-Bahn
die
Zeitschrift
oder Fotos bearbeitet, die Küin Hennigsdorf, war sie lebSymbol. Sie sieht sich als spiri„Motz“, um Geld bat, bot sie
che. Privates war
haft, meldete sich
tuellen Menschen,
ihm
stattdessen
durch
Vorhänge
dauernd. Aber nicht
„Umaber nicht als Esoteeine
Umarmung
an.
vom
damals
viel
kleinach dem Motto
„Ich folge
armungen „Herr Lehrer, ich
rikerin. „Ich folge
Er akzeptierte, ohne
neren Kundenbekeinem
keinem Dogma, keizu zögern.
reich abgetrennt,
weiß was“, versitun
ner Religion“, be- Dogma, kei„Ich mache das
gerne linste die
chert sie. Sondern
tont Julia Tham. Sie
auch, wenn die total
kleine Julia durch einfach gut“ aus reinem Integlaube nicht an ner Religion“ stinken“, versichert
den Stoff.
resse am UnterHeilslehren, jeder
sie. Auf die Idee
Zur Jugendweihe bekommt
richt: „Vielleicht war ich für
müsse seinen Weg für sich hebrachten sie ihre Elsie eine Exa-Kamanche Mitschüler deshalb
rausfinden, sagt sie. Positiv,
tern. Die hatten An- „Tanzen setzt mera. Die Ausbileine Nervensäge.“
spontan und offen wirkt sie,
hänger der „Free
dung zur Fotografin
Nach dem Studium arbeitet
positive
anders geht es wohl auch
Hugs“-Kampagne
absolviert sie viel
sie als Maskenbildnerin, bei
nicht, wenn man die ganze
bei der Schweriner Energie frei“ später bei ihren Elfreien Theatergruppen, aber
Welt umarmen möchte.
Bundesgartenschau
tern, mit 30.
auch beim Film. Für „Die UnBietet sie doch außer Fotos
beobachtet.
Früher war sie reberührbare“ kümmerte sie
seit einem Jahr einen weiteJulia Tham liest gerade
bellisch, wollte sich von den
sich unter anderem um Hanren Service, völlig anders,
Erich Fromm „Die Kunst des
Eltern abgrenzen. Die Mutter
nelore Elsner. Sie selber stand
und völlig ohne Geld: inniges
Liebens“. In jedem Satz
schmeißt die renitente Tochals Kind bei der SchauspielKnuddeln. „Free Hugs –
stecke Wahrheit, sagt sie.
ter raus, als die 20 ist: „Lebe
gruppe im Stahlwerk HennigsGratisumarmungen“
steht
Auch über die Industriedein eigenes Leben.“ Das tat
dorf auf der Bühne. Schon imauf dem weißen Schild auf
gesellschaft, die so sehr auf
sie, im Berliner Prenzlauer
mer war sie ein Freigeist mit
der Ladentheke. „Aus rein huFunktionieren und Leistung
Berg, wo sie 1989 alleine eine
einem Hang zum Darstellerimanitären Gründen“, sagt
ausgerichtet sei. Das sollte
leere Wohnung besetzte.
schen: „Ich wollte mich aussie. Nur wenigen Kunden sei
Schulstoff sein, findet sie, es
Zwar war sie flügge, doch
drücken.“
diese recht ungewöhnliche
sei schließlich so völlig anegal war sie in der UmbruchsSich auszudrücken, das
Dienstleistung zu intim.
ders als das übliche Glückszeit den Eltern noch lange
lernte sie auch bei der DynaDie
Menschenfreundin
Ratgeber-Gewäsch der von
nicht. Werde Beamtin, rieten
mischen Meditation. Die war
FOTOS (2): JULIA TAMM
Kurzurlaub in der
Schwitzhütte
K Julia Tham wurde 1969 in
Hohen Neuendorf geboren.
Vater Alfred und Mutter
Brigitte sind inzwischen im
Ruhestand. Sie hat noch
einen Bruder.
K Freizeit: Im Sommer radelt
sie zum Mühlenbecker See
oder zum Boddensee in
Birkenwerder. Ihre beiden
kleinen Töchter zieht es in
den Germendorfer Tierpark.
Friseurin: In Birkenwerder
absolvierte sie von 1987 bis
1989 im Salon Schöbel eine
Friseurausbildung, als Grundlage für eine Ausbildung zur
Maskenbildnerin.
K Maskenbildnerin: 1989
bis 1990 absolvierte sie ein
Volontariat im Maxim-GorkiTheater.
K Über 70 war eine Kundin,
die sich als Akt fotografieren
ließ. Schönheit sei vor allem,
so Julia Tham, eine Frage der
Ausstrahlung des „Sich-seinerselbst-bewusst-Seins“.
K Die Free-Hugs-Kampagne,
gegründet 2004 von dem
Australier Juan Mann, hat
weltweit Anhänger.
Schwitzhütte und ekstatisches Tanzen standen als
K Kurzurlaub im August bei
Eberswalde an: „Man lernt
sich zu spüren.“
Teil des körperorientierten
Selbsterfahrungstrainings,
das sie von 2005 bis 2008 an
zehn Wochenenden im Jahr
im Schloss Tornow absolvierte. Wegen einer Beziehungskrise.
„Tanzen setzt positive Energie frei“, sagt sie. Abends
zieht es sie in spezielle Berliner Clubs, ins „M 33“ in Kreuzberg oder ins „Vor Atlantis“ in
Schöneberg. Alle dürfen rein,
nur die Schuhe bleiben am
Eingang. Die Gäste bewegen
sich barfuß oder auf Socken,
und „schauen sich in die Augen“, wie sie erzählt. Statt
Cocktails oder Drogen gibt es
Bio-Säfte oder Kuschelpartys.
Julia Tham: „Pseudo-cooles
Szene-Getue
interessiert
mich nicht.“
www www.foto-tham.de