1 Halleluja Präludien einer religionspädagogischen Hymnologie
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1 Halleluja Präludien einer religionspädagogischen Hymnologie
1 Halleluja Präludien einer religionspädagogischen Hymnologie1 (Harald Schroeter-Wittke) (zuerst publiziert in Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 46 (2007), 143-159) 1. Hallelu-Jah In seiner Gottesdiensteinführung "Der Weg in das Leben" stellt Manfred Josuttis zum Themenkomplex Singen lapidar fest: "Religion gibt es kaum ohne Musik."2 Diese Festellung trifft insbesondere auf die drei abrahamitischen Religionen zu. Während hier eine textfreie Musik immer auch ihre Schwierigkeiten hatte,3 wird der Gesang in allen drei Religionen rundweg hochgeschätzt.4 Für das Judentum und das Christentum verdichtet sich diese Einsicht in vielen Psalmen in der Aufforderung zum Lobe Gottes: "Hallelu-Jah". Manchmal ist das Jah dabei am Ende abgesetzt (z.B: Ps 111,1), manchmal durch einen Bindestrich verbunden (z.B. Ps 135,3), manchmal aber auch direkt an das Hallelu angehängt (z.B. Ps 106,1). Dass das Hallelu fast dem Lallen gleichkommt, welches freudetrunken, 1 Um Anmerkungen und einige Forschungsergebnisse erweiterte Fassung eines Gastvortrages auf Einladung der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 13.12.2006. Gekürzt sind die performativen Bestandteile, mit denen ich mein Konzept einer performativen Religionspädagogik leibhaftig werden ließ: EG 181.7 (zwischen 1. und 2.) sowie die Klangperformance "Resonanzraum Klangkörper - Resonanzkörper Klangraum: "... dass ihr nicht euch selbst gehört" (1. Kor 6,19) (zwischen 3. und 4.), da sich beides schriftlich nicht gut dokumentieren lässt. Vgl. dazu Harald Schroeter-Wittke: Performance als religionsdidaktische Kategorie. Prospekt einer performativen Religionspädagogik; in: Thomas Klie / Silke Leonhard (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, Leipzig 2003, 47-66; sowie ders.: Religionspädagogische Topologie. Versuch einer performativen Retourkutsche; in: theo-web 5 (2006), Heft 2, 44-56. 2 Manfred Josuttis: Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, München 1991, 179. Dass mit dieser Bemerkung auch jede Menge Konfliktstoff angesprochen ist, zeigen Annette Landau / Sandra Koch (Hg.): Lieder jenseits der Menschen. Das Konfliktfeld Musik - Religion Glaube, Zürich 2002. 3 Vgl. dazu Max Peter Baumann: Musik; in: Christoph Wulf (Hg): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, 974-984, der inbesondere für alle fundamentalistisch orientierten Strömungen von Kultur- und Glaubensauffassungen bemerkt, dass hier "sowohl die »neue« und abweichende Musik als auch die übermütig-weltliche Belustigung bei »Wein, Weib und Gesang« in den unterschiedlichen Kulturen der religiösen und politischen Obrigkeit oft ein Dorn im Auge [ist], da man in ihr die Erschütterung des »richtigen« Lebens oder die Verführung der Seele sieht" (981). 4 Für den Islam vgl. z.B. Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999. Für das Judentum vgl. z.B. Eckhard Tramsen: Nicht Stimmung, sondern Stimmen. Zur Geschichte des Synagogengesangs, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.): Musik und Religion, Darmstadt 22003, 35-45; Hans Bloemendal / Joppe Poolman van Beusekom (Hg.): Amsterdams Chazzanoet. Synagogale muziek van de Ashkenazische Gemeente, 2 Bände Buren 1990. Für das Christentum vgl. Christian Palmer: Evangelische Hymnologie, Stuttgart 1865; Alfred Stier: Kirchliches Singen, Berlin 1953; Oskar Söhngen: Theologie der Musik, Kassel 1967; Jürgen Henkys: Das Kirchenlied in seiner Zeit, Berlin 1980; Okko Herlyn: Singen unter den Zweigen, Zürich 1986; Christoph Krummacher: Musik als praxis pietatis, Göttingen 1994; Christoph Albrecht: Einführung in die Hymnologie, Göttingen 41995; Christa Reich: Evangelium: klingendes Wort. Zur theologischen Bedeutung des Singens, Stuttgart 1997; Rüdiger Bartelmus: Theologische Klangrede, Zürich 1998; Jürgen Henkys: Singender und gesungener Glaube, Göttingen 1999; Martin Rößler: Liedermacher im Gesangbuch. Liedgeschichte in Lebensbildern, Stuttgart 2001; Hinrich Bergmeier (Hg.): Le Sacre. Musik - Ritus - Religiosität, Saarbrücken 2001; Johannes Block: Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie, Tübingen / Basel 2002; Walter Eller: Aus dem Hören leben. Hymnyologische und liturgische Vollzüge als Ästhetik des Wahrnehmens, Leipzig 2003; Christa Reich: Das Kirchenlied; in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber / Michael Meyer-Blanck / KarlHeinrich Bieritz (Hg.): Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 763-777; Michael Heymel: In der Nacht ist sein Lied bei mir. Seelsorge und Musik, Waltrop 2004; Bernhard Leube: Singen, in: Gotthard Fermor / Harald Schroeter-Wittke (Hg.): Kirchenmusik als religiöse Praxis, Leipzig 2005, 14-19. 1 selbstvergessen und ohne spezifischere Inhalte lobt, rühmt und jauchzt und damit das Singen von vornherein impliziert, ist ebenso bedeutsam wie die Tatsache, dass hier natürlich die Kurzform, fast könnte man sagen, die Koseform des unaussprechlichen Gottesnamen, gesungen wird: Jah, was zugleich aber auch nur eine Verstärkung des Hallelu sein könnte, wie bei jener unentscheidbaren Stelle im Canticum Canticorum 8,6, wo es bei der Flamme nicht auszumachen ist, ob es eine Flamme Gottes oder nur eine stark lodernde Flamme ist.5 Aber was heißt hier nur? Denn in dieser Doppeldeutigkeit gewinnt das Hallelu-Jah, das auch fester und festlicher Bestandteil unserer Gottesdienste außerhalb der Fastenzeiten ist6, Alltagsdignität bis in unsere Zeit. So werben base und e-plus für ihre diesjährige Weihnachtsflatrate mit einem Anklang an jenes alltägliche Halleluja, wenn dort eine Männergruppe auf die berühmte Melodie Händels singt: Hallo Julia. 2. Vom Leid des Lieds: Zum Forschungsstand einer Hymnologie in religionspädagogischer Absicht Ich beginne meine Erörterungen mit einer Definition von Hymnologie:7 Hymnologie ist die wissenschaftliche Reflexion desjenigen Singens, welches für Christinnen und Christen in Religion, Kirche und Gesellschaft von Bedeutung ist, und seiner durch wissenschaftliche Einsichten gestützten Förderung und Gestaltung. Mit ähnlicher Stoßrichtung definieren Markus Jenny und Walther Lipphardt in der neuen MGG: "Hymnologie ist die Wissenschaft, die sich mit der christlichen Hymnodie, d.h. mit dem geistlichen Singen in den verschiedenen Gruppen der Christenheit in Geschichte und Gegenwart beschäftigt."8 Mit meiner Definition verorte ich Hymnologie in einem dimensionalen Konzept Praktischer Theologie, wie es Gert Otto Mitte der 80er Jahre entwickelt hat.9 Dieses ist nämlich offen für die Reflexion von Tätigkeiten durch alle klassischen Handlungsfelder der Praktischen Theologie hindurch. In Ottos Praktischer Theologie wird jedoch das Singen gar nicht erwähnt. Anders bei Dietrich Rössler, in dessen Praktischer Theologie das Lied im Petit-Druck kurz auftaucht im Zusammenhang mit seiner Darstellung des Gottesdienstes.10 Diesen Ort hat die Hymnologie innerhalb der Praktischen Theologie seit Schleiermacher11. Er verhandelt die "Theorie des Gesanges im Cultus" (168-186) zwischen der "Theorie der Liturgie im Cultus" (157-167) und der "Theorie des Gebetes im Cultus" (187-201). Obwohl Feiern und Lernen bei Schleiermacher streng unterschieden werden, wird die Hymnologie dennoch auch pädagogisch verortet, wenn er schreibt: "Es ist die Sache der Volksschule das Volk zum Gesang anzuleiten." (184) Auch bei Carl Immanuel Nitzsch begegnen die hymnologischen Fragestellungen am Ende seines ersten gottesdienstlichen Kapitels über das liturgische Wort.12 5 Vgl. dzu Gillis Gerleman: Ruth - Das Hohelied. BK 18, Nuekirchen-Vluyn 1965, 217; Othmar Keel: Das Hohelied. ZBK AT 18, Zürich 1986, 250. 6 Vgl. dazu Joachim Beckmann: Das Proprium Missae; in: Leiturgia II, Kassel 1955, 71-75. 7 Zur Kriterienproblematik der Hymnologie vgl. grundlegend Gustav Adolf Krieg: Das Kirchenlied zwischen Traditionalismus und Säkularismus. Ein historischer und systematischer Beitrag zum Kriterienproblem in der Hymnologie, in: JLH 34 (1992/93), 22-56. 8 Markus Jenny / Walther Lipphardt: Art. Hymnologie; in: MGG2 Sachteil 4 (1996), 459. Zur Geschichte der Hymnologie vgl. Markus Jenny: Art. Hymnologie; in: TRE 15 (1986), 770-778. 9 Vgl. dazu Gert Otto: Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1986. 10 Dietrich Rössler: Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 21994, 428. 11 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850. 12 Carl Immanuel Nitzsch: Praktische Theologie II/2, Bonn 1851, E. Das Kirchenlied § 298-309, S. 340-361 - F. Gesang und kirchliche Tonkunst im Allgemeinen § 310-317, S., 361-372. 1 Die erste große wissenschaftliche Zusammenfassung der Evangelischen Hymnologie, unüberholt für die folgenden 100 Jahre, stammt von Christian Palmer aus dem Jahre 1865.13 Auch er verortet sie weitestgehend in einer ästhetisch reflektierten Liturgik. Nach einer Einleitung lauten seine 3 großen Kapitel: "Der Gottesdienst und die kirchliche Kunst" (2687), "Die kirchliche Poesie" (88-239) und "Die kirchliche Musik" (240-387). Schon Palmer klagt zum einen darüber, dass Hymnologie zu seiner Zeit eine ausschließlich historische Disziplin sei und dass für die Hymnologie in der Theologie nur sehr wenig Wertschätzung vorhanden sei: "Die Theologen haben ja viel zu viel mit Feststellung und Wahrung der orthodoxen Dogmen zu thun, als daß sie Zeit und Interesse für das Gemeindelied übrig hätten." (14) Das Übergewicht einer vorwiegend historisch orientierten Hymnologie reicht bis in die Gegenwart. Die Verankerung der Hymnologie in der Liturgik sowie die Randexistenz der wissenschaftlichen Hymnologie, für die es z.B. keinen ausgewiesenen praktischtheologischen Lehrstuhl in Deutschland gibt, hat zudem verhindert, dass religionspädagogische Fragestellungen selbstverständlich in die Hymnologie Einzug halten konnten. Die wichtigsten Publikationsorgane für hymnologische Fragestellungen sind entweder die Publikationen der diversen Gottesdienststellen in Deutschland oder aber das renommierte Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie. Hier standen die Fragen nach Kirchenliedern, ihrer Entstehung und Gestalt im Vordergrund der hymnologischen Forschung, weniger die Fragen nach der Bedeutung des Singens für das Erlernen von Religion. Ein erster wichtiger Schritt in eine erweiterte hymnologische Fragestellung war die Naumburger Dissertation aus der Endphase der DDR-Zeit von Ulrich Lieberknecht mit dem programmatischen Titel: "Gemeindelieder. Probleme und Chancen einer kirchlichen Lebensäußerung".14 Er thematisierte das Singen als eine Lebensäußerung der Kirche, wobei im DDR-Kontext vor allem auch das neue geistliche Lied wichtig geworden war. Neben dieser gemeindekulturpädagogischen15 Perspektive etablierte die 2002 veröffentlichte Heidelberger Dissertation von Johannes Block die hermeneutische Lesart der Hymnologie: "Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie. Ein hermeneutischer Beitrag zur Hymnologie am Beispiel Martin Luthers." Beide plädieren für eine scientia laudis als Entstehungsort und Kommunikationsformat von Theologie überhaupt: "So entdeckt die hymnologische Forschung die Frage nach der erkenntnisleitenden Relevanz von Gesang und Musik, nach deren hermeneutischer Relevanz in Hinsicht auf den Glauben, denn erst »singend ist der Glaube in seinem Element, nämlich im Element des Evangeliums«16."17 Allerdings bemängelt Block mit dem Germanisten Emil Staiger fehlende musikalische Insinuation, fehlendes Ergriffensein durch ein Kunstwerk. "In all dem meldet sich ein 13 Christian Palmer: Evangelische Hymnologie, Stuttgart 1865. Ulrich Lieberknecht: Gemeindelieder. Problemen und Chancen einer kirchlichen Lebensäußerung, Göttingen 1994. 15 Zur Entstehung der Gemeindepädagogik im Kontext der DDR-Wirklichkeit vgl. Eckart Schwerin (Hg.): Gemeindepädagogik. Lernwege der Kirche in einer sozialistischen Gesellschaft. Gemeindepädagogische Ansätze, Spuren, Erträge, Münster 1991. Zum Begriff der Gemeindekulturpädagogik vgl. Gotthard Fermor / Günter Ruddat / Harald Schroeter-Wittke (Hg.): Gemeindekulturpädagogik, Rheinbach 2001. 16 Christian Möller: "Ein neues Lied wir heben an." Der Beginn des reformatorischen Singens im 16. Jahrhundert und die Einführung eines Evangelischen Gesangbuches am Ende des 20. Jahrhunderts; in: Gemeinsame Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen 24 (1995), 29. 17 Johannes Block: Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie. Ein hermeneutischer Beitrag zur Hymnologie am Beispiel Martin Luthers. Mainzer Hymnologische Studien 6, Tübingen/Basel 2002, 11. 14 1 Bedürfnis, dem Kunstwerk gegenüber zu bleiben, sich nicht einzubeziehen, sich nicht tragen, nicht hinreißen, nicht bezaubern, nicht verführen zu lassen. Man will nicht überwältigt werden."18 Mit diesem Zitat zeigen Staiger und Block ihre völlige Ahnungslosigkeit bezüglich Popkultur, ihrer Musik und deren konzertanter Performance, denn dort findet all dies reichlich statt. Neben der gemeindekulturpädagogischen und der hermeneutischen Fragestellung bedarf eine religionspädagogische Hymnologie daher auch der popkulturtheologischen Reflexion. Von einer liturgisch verorteten Hymnologie19 wenig zur Kenntnis genommen20 hat es in der Religionspädagogik immer auch eine Reflexion hymnologischer Fragen gegeben, zumeist im Zusammenhang der Vorstellung von methodischen Möglichkeiten im Religionsunterricht.21 Einer der ersten Versuche, hymnologisch zwischen Liturgik und Religionspädagogik zu vermitteln, geschah 1979 durch Henning Schröers Beitrag im Rahmen der durch das Comenius-Institut Münster angestoßenen Elementarisierungsdebatte: Cantus Elementarius? Was lehren uns die neuen geistlichen Lieder zur Elementarisierung theologischer Inhalte und Methoden?22 Ende 2006 ist hier nun ein Meilenstein erschienen: das von Peter Bubmann und Michael Landgraf herausgegebene, knapp 500 Seiten dicke Handbuch für die religionspädagogische Praxis mit dem Titel: "Musik in Schule und Gemeinde. Grundlagen - Methoden - Ideen".23 In ihrer Einleitung bemängeln sie völlig zu recht, dass es auf der einen Seite auf der Hand liege, "in religiösen Bildungsprozessen mit Musik zu arbeiten", dass dies aber andererseits "weithin dem Zufall und den persönlichen Vorlieben der Unterrichtenden oder Leitenden überlassen" (9) bleibe. Während es für den Umgang mit den Medien Bild und Film längst zahlreiche Hilfsmittel und Anleitungen gibt, ist dies für die Musik bislang ein Desiderat. Dabei hat sich ein solches Handbuch der Dominanz der Popkultur sachgerecht zu stellen, welche seit über 15 Jahren auch praktischtheologisch intensiv erforscht ist. Das Singen begegnet in diesem Handbuch vor allem als eine Ausdrucksform von Musik, weniger als eine Ausdrucksform von Verkündigung, wie 18 Emil Staiger: Musik und Dichtung, Zürich 1972, 339; zit. n. Block, 161. Zu den Zukunftsaufgaben der Hymnologie vgl. Andreas Marti / Britta Martini: Ziele und Methoden der Hymnologie im 21. Jahrhundert, in: Wolfgang Ratzmann (Hg.): Grenzen überschreiten. Profile und Perspektiven der Liturgiewissenschaft, Leipzig 2002, 169-182. 20 Dies scheint sich in den letzten Jahren erfreulicherweise zu ändern, wie einige Zeitschriften zeigen, die hymnologische Fragen zwischen Liturgik bzw. Kirchenmusik und Religions- bzw. Gemeindepädagogik angesichts der Schwierigkeiten mit dem Singen im Kirchenalltag neu anzusiedeln versuchen: Heft 2 von MuK 72 (2002) hat das Thema "Notstand Singen", Heft 3 von MuK 75 (2005) das Thema "Singen in Kindergarten und Grundschule", Heft 6 der KatBl 130 (2005) das Thema "Musik und Religion", und Praxis Gemeindepädagogik widmet die Hefte 4 (2006) und 1 (2007) dem Thema "Musik und Gemeindepädagogik". 21 Vgl. z.B. Edgar Bechter: Klangbausteine im Religionsunterricht; in: Ludwig Rendle u.a.: Ganzheitliche Methoden im Religionsunterricht. Ein Praxisbuch, München 1996, 226-249; Christian Grethlein: Methodischer Grundkurs für den Religionsunterricht, Leipzig 2000, 93-95 (Singen); Johannes Lähnemann: Musik und Lied im Religionsunterricht; in: Gottfried Adam / Rainer Lachmann (Hg.): Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht 1. Basisband, Göttingen 42002, 299-326; Ilse Kögler: Umgang mit Lied und Musik; in: Gottfried Bitter / Rudolf Englert / Gabriele Miller / Karl Ernst Nipkow (Hg.): Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002, 493-496. 22 Einer der ersten Versuche, hymnologisch zwischen Liturgik und Religionspädagogik zu vermitteln, war Henning Schröers Beitrag 1979 im Rahmen der durch das Comenius-Institut Münster angestoßenen Elementarisierungsdebatte: Cantus Elementarius? Was lehren uns die neuen geistlichen Lieder zur Elementarisierung theologischer Inhalte und Methoden?; in: Henning Schröer: In der Verantwortung gelebten Glaubens. Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Lebenskunst, Stuttgart 2003, 97-104. 23 Peter Bubmann / Michael Landgraf (Hg.): Musik in Schule und Gemeinde. Grundlagen - Methoden - Ideen, Stuttgart 2006. 19 1 dies in den Liturgiken häufig der Fall ist. Das Singen kommt hier in allen großen Teilen als eine wichtige Form der Musikausübung zur Geltung, z.B. in einem 25 Seiten langen Abschnitt, wo es nur um unterschiedliche Methoden des Singens geht, vom Lieder gurgeln bis zur Text-Sonate (207-231). Das Singen im Religionsunterricht der Grundschule (265275) und an Förderschulen (286-294) sowie das Singen mit Jugendlichen (295-305) werden ebenso ausführlich behandelt wie die didaktischen Möglichkeiten der unterschiedlichen Liedkulturen (364-375) und die Arbeit mit Gesangbüchern (376-385). Bei alledem kommt die popkulturtheologische Dimension nicht zu kurz wie die Betonung von Rhythmus (307314), Ritual und Ekstase (424-431), aber auch die Wichtigkeit der Neuen Medien (402-408) sowie eine kritische Auseinandersetzung mit den sog. dunklen Seiten der Rockmusik, wie sie in der Kommerzialisierung (409-423) einerseits und andererseits in Gewalt verherrlichenden oder sog. satanischen Musikstücken zum Ausdruck kommen (432-444). Mittlerweile interessiert sich aber auch die Musikwissenschaft für die Frage nach Musik und Religion. Der Paderborner Musikpsychologe Heiner Gembris hat den Musikgeschmack von Grundschulkindern erforscht.24 Während in der 1. und 2. Klasse eine große Offenheit gegenüber allen Musikstilen herrscht, setzt mit der 3. Klasse schlagartig eine Veränderung ein: Denn nun wird die Popmusik deutlich bevorzugt, alle anderen Musikrichtungen geraten dramatisch ins Hintertreffen. Mit demselben Forschungsdesign ist im Dezember 2006 eine weitere empirische Umfrage in Grundschulen in und um Paderborn gelaufen mit über 300 befragten Kindern. Einige Fragebögen wurden auch in Beverungen unter Realschülern getestet. Dieser Umfrage lag nun aber religiöse Musik zugrunde: 10 Musikstücke aus unterschiedlichsten Musikrichtungen und -stilen, vom Bach-Choral und Gospel-Stück (Amen) über World-Music (Mari Boine), Olivier Messiaen oder die 10 Gebote der Toten Hosen bis hin zu Xavier Naidoos Vater Unser, Verdis Requiem oder Sacro-Pop. Das Hallelujah aus Händels Messiah gab es dabei gleich zweimal, einmal im Original in der Marriner-Aufnahme von 1976, einmal in der von Quincy Jones besorgten Soul-GospelVersion aus Handel's Messiah - A Soulful Celebration von 1992. Die Ergebnisse dieser Studie wurden im Januar 2007 auf einem interdisziplinären Tag der Kirchenmusik in Detmold vorgestellt. Dabei gab es zum einen das Ergebnis, dass es auch in Bezug auf religiöse Musik zu einem ähnlichen Geschmacksurteil gekommen ist wie bei der ersten Umfrage. Auch religiöse Musik begegnet in den ersten beiden Klassen einer sehr großen Offenohrigkeit, die zunehmend und rapide schwindet und in der Pubertätszeit heftigen Abgrenzungsbedürfnissen weicht, die sich inbesondere auf dem Feld der Musik ausagieren und notwendig sind für die eigene Identitätsbildung. Hat sich eine gefestigte Identität gebildet, greifen viele Menschen wieder auf Musiken vor ihrer Pubertätszeit zurück, auch wenn bei den allermeisten niemals mehr die Offenohrigkeit der Kindheit erreicht wird. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass die Toten Hosen in allen Altersgruppen die höchsten Zustimmungswerte bekamen, wobei die Jungen hier ausnahmsweise noch einmal deutlich positiver votierten als die Mädchen, die bei allen anderen Musikstücken stärkere Zustimmung siganilisierten. Den Toten Hosen folgte Handel's Hallujah in der SoulGospel-Version, das in der Präferenz deutlich vor der Originalversion lag. Abgeschlagen auf den letzten Plätzen waren durchweg Bach, Messiaen und Naidoo zu finden, während Boine z.B. im guten Mittelfeld lag. Für unsere klassische Gottesdienstkultur mit ihrer Musik zeigt dieses Ergebnis m.E. eine katastrophale Situation an, denn die diese Kultur prägende Musik wird ab der 3. Klasse nehrheitlich emotional abgelehnt, wobei die Werte in der Ablehnung 24 Gabriele Schellberg / Heiner Gembris: Was Grundschulkinder (nicht) hören wollen. Eine neue Studie über Musikpräferenzen in der 1. bis 4. Klasse; in: Musik in der Grundschule 2003, Heft 4, 48-52. 1 z.T. bis zu 80% hochschnellen. Unbeantwortet bleiben muss allerdings die Frage, ob die Kinder die Musik, die wir als religiöse Musik identifiziert haben, als solche überhaupt erkennen? Möglicherweise deuten die schlechten Werte für den Bach-Choral, für Messiaens Orgelstück sowie für Naidoos A-Capella-Vater-Unser darauf hin, dass viele Kinder einer Musik, die deutlich mit Kirche assoziert werden kann, negativer gegenüber stehen. Aber wie sich das auf ihr Verständnis und ihr Hören von religiöser Musik lettlich ausiwrkt, muss weiteren Studien überlassen bleiben, die auch noch stärker kultursoziologische Differenzierungen vornehmen. Als Fazit bleibt jedoch festzuhalten, dass die traditionelle kirchliche Musik den Geschmack der Kinder und Jugendlichen deutlich weniger trifft als Musik "bei der kein Schlagzeug fehlt", wie es ein Kind formulierte. Als Fazit bleibt aber auch festzuhalten, dass die Offenohrigkeit bis ins 8. Lebensjahr anhält und man gerade in dieser Phase Kinder mit möglichst vielen und unterschiedlichen Musikstilen konfrontieren sollte, weil sie diese alle rundweg genießen. Die Offenohrigkeit scheint mir aber nicht nur für die Musik, sondern auch für das, was mit kirchlicher Religiosität verbunden ist zu gelten. Nun mag man aber einwenden, dass dies alles Geschmacksfragen seien, über die sich schwerlich streiten lasse. "Geschmack fürs Unendliche" hatte Schleiermacher die Religion genannt.25 Weil aber der Geschmack ebenso wie das Hören zu den elementarsten Sinnen zählt, sind solche Geschmacksfragen für die Religion von nicht zu unterschätzendem Gewicht. Sie werden für die Fragen nach den Chancen des Singens in religiösen Kontexten und seiner Gestaltungsversuche von enormer Wichtigkeit sein. In Gembris' Studien zeigt sich der Beginn einer kultursoziologischen Differenzierung, wie sie im Gefolge der Schulzeschen Erlebnisgesellschaft26 auch theologisch wahrgenommen wurde. So arbeitete z.B. Eberhard Hauschildt mit den 5 Milieus Schulzes eine differenzierte Wahrnehmungs- und Handlungsstrategie für kirchliche Situationen und Handlungsfelder aus, die sich auch auf die Frage nach dem Musikgebrauch auswirkt.27 Während für den einen daher "Großer Gott, wir loben dich" das richtige Lied ist, ist es für die andere "Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer". Durch die kultursoziologische Differenzierung wird zum einen deutlich, dass es keine Mehrheitskultur mehr gibt - auch nicht mehr in den gelebten Frömmigkeiten unserer Kirchen. Die Kulturen des Singens haben sich in den letzten 50 Jahren sehr stark differenziert. Keine Gesangskultur ist mehr in der Mehrheit. Deshalb vermag das Singen immer weniger zu milieuübergreifenden Gemeinschaftserfahrungen beitragen. Zwar wird in vielen Minderheitenkulturen gesungen, aber diese Gesänge stiften nicht mehr selbstverständlich Gemeinschaft über ihre Milieugrenzen hinweg - im Gegenteil: Vielfach führt gerade die jeweilige Musik zur Ab- und Ausgrenzung. Wer im Alltag deutschen Schlager hört - der entsprechende Sender WDR 4 hat einen Anteil von 40% in NRW -, für den sind Bachchoräle, Gospels oder White Metal keine selbstverständlichen Gesangs- und damit Gemeinschaftsformen. Deutlich wird aber zum anderen auch, dass unsere Kirche als Volkskirche nur dann 25 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 52f: "Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche." Zit. nach der von Carl Heinz Ratschow besorgten Ausgabe Stuttgart 1980, 36. 26 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Eine Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 1992. 27 Vgl. dazu Eberhard Hauschildt: Kirchenmusik in der Erlebnisgesellschaft; in: Gotthard Fermor / Harald Schroeter-Wittke (Hg.): Kirchenmusik als religiöse Praxis, Leipzig 2005, 83-89. Die neueste Sinus-Studie von 2005 setzt mittlerweile 10 deutlich zu unterscheidende Milieus bzw. Lebensstile an, die sich natürlich noch differenzierter auch auf das Singen und seine Vielfalt auswirken werden. 1 wird überleben können, wenn sie für die Vielfalt dieser Kulturen Heimaten zu schaffen vermag, die sich nicht absolut setzen, sondern für den kulturellen Cross-Over transparent bleiben. Meine Definition zur Hymnologie berücksichtigt deshalb auch Religion, Kirche und Gesellschaft gleichermaßen, um von hieraus auch einen wissenschaftlichen Zugang zu den popkulturellen Gesangsphänomenen zu gewinnen. Hier geht es nicht in erster Linie um das Singen, sondern um das Singen-Lassen. Während sich in früheren Zeiten vor allem Herren, Könige und Päpste singen ließen, kann aufgrund der Mediengeschichte der letzten 100 Jahre heute jede und jeder in diesen Genuss kommen, sich die tollsten Lieder und Stücke singen und spielen zu lassen. Die heutige Medienpräsenz privatisiert die Singgewohnheiten, denn dort begegnet das Singen in einem perfekten Arrangement. "Deutschland sucht den Superstar" oder KaraokeVeranstaltungen28 spielen beim Selber-Singen vor allem mit dem Schamgefühl und befördern es - durchaus lustvoll. Wer öffentlich selber singt, riskiert etwas. Hier steht was auf dem Spiel, wie auch die komplexen Gesangsinszenierungen in Fußballstadien zeigen, wo der Gegner, der zu Gast ist, lustvoll und schamlos in Grund und Boden gesungen wird zeitgenössischer Sängerwettstreit.29 Trotz dieser Orte wie Karaoke-Bar, Fernsehshow, Karneval, Lagerfeuer, Fußballstadion und Kirche, an denen noch gesungen wird, vermag das Selber-Singen immer weniger Gemeinschaft zu stiften. Stattdessen wird der mediale Gesang der oder des exemplarischen, einzelnen Anderen, des Popstars30 eben, immer stärker gemeinschaftsbildend, z.B. in Fanclubs oder bestimmten Szenen. 3. Davon ich singen und sagen will Katechetik als tönende Schwester der Bildung Es ist in den letzten Jahren in der Religionspädagogik, aber auch in der Liturgik viel von Bildung die Rede gewesen - zu Recht angesichts des technokratischen Wissensvermittlungsverständisses, welches sich in den gegenwärtigen Reformprozessen in unseren Lerninstitutionen breit macht. Allen normativ anderslautenden Vorgaben zum Trotz werden die notwendigen Freiräume des Lernens und der Persönlichkeitsbildung wegrationalisiert zugunsten einer Verschulung, deren outputs dauernder Kontrolle unterliegen. Hier wird Bildung grundlegend missverstanden, was sich z.B. daran zeigt, dass das größte Gewicht auf der Ausbildung liegt und nicht, wie noch in der Deutschen Mystik, aber auch in der Romantik, auf der Einbildung. Dennoch könnte es sein, dass der aus dem Bereich des Sehens entlehnte Begriff der Bildung diesem Missverständnis insofern Vorschub geleistet hat, als er nahelegt, dass es hier am Ende doch auch einen Fortschritt zu sehen gibt. Gegenüber diesem Missverständnis von Bildung möchte ich wieder an einen alten Begriff anknüpfen, der lange Zeit in Misskredit war, den Begriff der Katechetik.31 In seiner Bochumer Antrittsvorlesung "Der Sound des Lernens" hat Gotthard Fermor wieder auf die Wurzeln des Begriffs Katechetik hingewiesen. Katechetik entstammt nicht dem optischen, sondern dem akustischen Bereich. κατηχέω (katächeo) ist ein Fachbegriff aus der antiken Theaterwelt und meint das Von-Oben-Herab-Tönen, welches durch das 28 Vgl. dazu Sabine Wienker-Piepho: Nun singen sie wieder! - Karaoke in Deutschland; in: Claudia Lipp (Hg.): Medien Popularer Kultur. Erzählung, Bild unf Objekt in der volkskundlichen Forschung. Festschrift Rolf Wilhelm Brednich, Frankfurt/New York 1995, 219-229. 29 Vgl. dazu Reinhard Kopiez / Guido Brink: Fußball-Fangesänge. Eine FANomenologie, Würburg 31999. 30 Vgl. dazu Bernd Schwarze: Art. Star; in: Kristian Fechtner / Gotthard Fermor / Uta Pohl-Patalong / Harald Schroeter-Wittke (Hg.): Handbuch Religion und Populäre Kultur, Stuttgart 2005, 288-296. 31 Zur Geschichte dieser Disziplin vgl. Christoph Bizer: Art. Katechetik; in: TRE 17 (1988), 686-710. 1 Geschehen auf der Bühne passiert. Laut Lukian geschieht dies, indem die Dichter ihre Zuhörer von der Bühne herab "mit Versen ansingen und mit Fabeln antönen"32. In der weiteren Begriffsgeschichte, auch im NT, wird κατηχέω generalisiert zur mündlichen Mitteilung, zum Unterrichten,33 welches fast immer als face-to-face-Kommunikation gedacht ist, bei der das Erklingen einer Stimme wesentlich ist. Der Ton macht bekanntlich die Musik - oder wie es in Schleiermachers Weihnachtsfeier heißt: "Was das Wort klar gemacht hat, muss der Ton lebendig machen."34 Im Gesang werden Inhalte anders, als wenn sie z.B. leise gelesen werden. Sie "nehmen sich so einen noch anderen, weiteren Raum, als den in Gedanken, sie erzeugen und finden im wahrsten Sinne des Wortes Resonanz, ein Echo"35. Es schwingt dabei immer etwas anderes mit. Der tonus hält eine Spannung aufrecht, in der Inhalte im Schwange bleiben, in Schwung kommen, ins Schwingen, manchmal sogar ins Swingen geraten. Eine solchermaßen katechetisch verstandene Bildung braucht Stimme, um stimmig zu sein. Eine solche Bildung versteht sich weniger als Überblicksveranstaltung, sondern hat ihren Ort in, mit und unter den Dingen, die sie zu vermitteln sucht. Wenn mein Großvater oder meine Großmutter runden Geburtstag feierten und der Pastor kam vorbei, spätestens dann sang die versammelte Großfamilie alle fünf Strophen von "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren." Ich erinnere eine Atmosphäre von Gemeinschaft und Vertrautheit, aber auch mitunter peinlicher Berührung, wenn Onkel und Tanten stimmlich daneben lagen: Mitgehangen - mitgefangen. Ich erinnere Textfetzen, die mich als Kind intensiv beschäftigten, mit denen ich Kindertheologie trieb: "himmlische Chöre" - "auf Adelers Fittichen" - "wie es dir selber gefällt" - "der künstlich und fein dich bereitet" - "mit Strömen der Liebe geregnet" - "Odem" - "mit Abrahams Samen". Hier kam der Dank über eine individuelle Lebensgeschichte zum Ausdruck, die verbunden war mit der Familien- und mit der Kirchen-, ja sogar mit der Menschheitsgeschichte. Hier geschah katechetische Bildung - liturgisch wie religionspädagogisch. Das singende Leben der Glaubenden vollzieht sich aber nicht nur als Lobgesang, sondern auch als Klage. In beiden Gesangsformen öffnen sich Menschen der Kraft des Lebens, indem sie das loslassen und ausatmen, was sie unbedingt angeht. Im Singen kommen dabei neben bzw. jenseits von Texten und ihren Bedeutungen Gefühle zur Darstellung. Diese müssen nicht verstanden werden, sondern gewinnen im Singen als Lobgesang und Klage einen Raum, der den Singenden neuen Atem schenkt. Wer singt, muss und kann tief Luft holen. Im Singen wird daher auch der eigene Körper als Klangraum gespürt. Im Singen ereignet sich ein Einschwingen, eine Resonanz auf die Welt als Klang. Singen artikuliert Weltbezug. Singen kann daher positive therapeutische Wirkungen haben,36 es kann Einsamkeit durchbrechen und Angst eindämmen - beim Pfeifen im Walde oder beim Gang in den dunklen Keller. In der jüdisch-christlichen Tradition sind daher die Psalmen ein wesentlicher Fokus der Frömmigkeit. Auch wenn wir nicht mehr die konkrete Musik der Psalmen rekonstruieren können, so zeigen die Spielanweisungen und Melodiebezeichnungen in vielen ersten Versen von Psalmen, dass sie nicht fürs leise Lesen, sondern fürs laute Singen und Musizieren gedacht sind. In der westlichen Liturgie ist dieses Element vor allem im sog. Psalmodieren kultiviert worden, allerdings so, dass die starken Affekte beim Singen 32 Lukian: Zeus tragoedus, cap. 39; zit. n. Eugen Sachsse: Art. Katechese; in: RE3 10 (1901), 122. Vgl. ThWNT 3 (1938), 638-640. 34 Friedrich Schleiermacher: Die Weihnachtsfeier (hg. v. Hermann Mulert), Leipzig 1908, 22. 35 Gotthard Fermor: Der Sound des Lernens. Systematisch- und praktisch-theologische Überlegungen zur Gemeindekulturpädagogik am Beispiel der Musik; in: ZPT 59 (2007), MS S. 2. 36 Vgl. dazu Karl Adamek: Singen als Lebenshilfe. Zu Empirie und Theorie von Alltagsbewältigung. Plädoyer für eine "erneuerte Kultur des Singens", Münster/New York 32003. 33 1 dadurch in geordnete Bahnen gelenkt werden sollten. Dies vermochte jedoch im Laufe der Kirchengeschichte manche ekstatische Verzückung glücklicherweise nicht zu verhindern. Singen stiftet Gemeinschaft. Dies gilt nicht allein für das emotionale Zusammengehörigkeitsgefühl von mehreren Menschen in einem Raum, z.B. im Gottesdienst. Sondern dies gilt auch kosmologisch: Das Sanctus im Gottesdienst z.B. versetzt uns in die Gemeinschaft der Engel und verschafft uns so himmlische Gemeinschaft (Jes 6). Das gilt aber auch historisch: Im Singen haben wir Teil an der Freuden- und Leidensgeschichte der Menschen mit Gott. Dies spiegelt sich in den biblischen Psalmen und Hymnen ebenso wie in den Liedern von Martin Luther, Paul Gerhardt, Jochen Klepper oder Fritz Baltruweit. Das Singen bringt auf eine elementare Weise die Verletzlichkeit und Angefochtenheit der Glaubenden zur Geltung, ohne damit die Verstehensfrage überflüssig zu machen. Dabei sind die Texte von Liedern nicht unwichtig, sie sind aber auch nicht das alles Entscheidende. Es ist bei bekannten Liedern oder Gesängen vielmehr die Atmosphäre, die mit ihnen verbunden ist und beim Singen in anderen Situationen als tröstlich und stärkend erlebt wird. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind die Taizé-Gesänge. So gewährt gerade das Singen einen Raum für die Ambivalenzen des Glaubens und Lebens. Schließlich bringt Singen anderes zur Geltung als Sprechen - nicht nur neurophysiologisch. Kulturwissenschaftlichen Vermutungen zufolge scheint das Singen älter zu sein als das Sprechen. Als gestaltete Lautgebärde ist es jedenfalls phylogenetisch im Lallen und Schreien früher ausgeprägt als das Sprechen. Sprache und Gesang werden "zwar durch denselben Lautapparat hervorgebracht, aber von verschiedenen Gehirnhälften gesteuert"37. Das Sprechen wird von der linken, das Singen von der älteren rechten Hirnhälfte gesteuert. Dabei wird in der älteren rechten Hirnhälfte auch die Steuerung der Emotionen lokalisiert, während in der jüngeren linken Hirnhälfte auch die Steuerung von Intellekt und Willen lokalisiert ist. Beide lautlichen Tätigkeiten schließen keineswegs die Beteiligung der jeweils anderen Hirnhälfte während ihres Vollzuges aus, zumal wenn es sich dabei um komplexe musikalische Gebilde oder um komplexe Handlungsvollzüge handelt. Aber sie zeigen eine unterschiedliche neurophysiologische Schwerpunktsetzung an, vielleicht könnte man auch sagen eine unterschiedliche Heimat dieser beiden Vollzüge. Dies ist von besonderer Relevanz z.B. in der Seelsorge mit solchen Menschen, die nicht oder nicht mehr sprechen können. Hier vermag sowohl das Vorsingen der Seelsorgerin als auch das Summen, das textlose Singen, das Lallen auf seiten derer, die nicht sprechen können, Räume zu öffnen für die Darstellung von Gefühlen, Botschaften, Stimmungen, die ansonsten undarstellbar in der Unsagbarkeit verharrten.38 In den Kulturwissenschaften sind die Phänomene von Lautlichkeit, Stimme, Stimmung und Stimmigkeit erst seit dem cultural bzw. performative turn der letzten Jahre wieder ein Thema.39 Leblose Dinge haben keine Stimme, hatte Aristoteles gesagt. So nimmt es nicht wunder, dass in der Geschichte der Menschheit zumeist laut gelesen wurde, um so einen Text lebendig werden zu lassen. Augustin z.B. war äußerst überrascht darüber, dass Ambrosius von Mailand leise zu lesen pflegte. Das Leise-Lesen begann erst in der Moderne und war auch ein Akt der alphabetisierten bürgerlichen Freiheit gegenüber der Zensur.40 Für den Gebrauch von Bibeltexten in der Frömmigkeit ist dies ein gravierender Einschnitt, denn 37 Ernst Klusen: Singen. Materialien zu einer Theorie, Regensburg 1989, 16. Vgl. Harald G. Wallbott: Kommunikation von Emotionen - Zur Bedeutung der Sprechstimme; in: WzM 47 (1995), 201-214. 39 Vgl. Rudolf zur Lippe: Die Stimme der Menschen; in: Frithjof Hager (Hg.): KörperDenken. Aufgaben der Historischen Anthropologie, Berlin 1996, 93-107. 40 Vgl dazu Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens, Berlin 1998. 38 1 leise gelesene Bibeltexte können nur noch selten zur viva vox evangelii werden. In der Phänomenologie des 20. Jh. wird daher großer Wert auf die "Rauheit der Stimme" (Barthes) gelegt, "die Art und Weise, wie die Stimme im Körper sitzt - oder wie der Körper in der Stimme sitzt"41. In der Stimme verkörpert sich ein Dreifaches: 1. Stimme ist Verlautbarung des Körpers, in dessen Individualität stets auch ein Anderes hörbar wird, was die Sprechenden anders vernehmen als die Hörenden. 2. Das, was die Stimme zwischen Schrei, Flüstern oder Stöhnen und artikuliertem Wort zu Gehör bringt, zeigt die Gestimmtheit des Körpers. Stimme drückt Singuläres aus, ist expressiv. 3. Stimme ist in elementarer Weise Anruf, Anrufung, Appell. Was im Säuglingsschrei kulminiert, ist das Evozieren von Fürsorge durch die Stimme, die nervlich zerrüttet, wenn sie nicht gestillt werden kann. Stimmen und Stimmungen sprechen unsere Affekte an, sie erheben Geltungsansprüche und lassen uns Macht und Ohnmacht im Angesicht des Anderen erfahren. Stimmen hören - das kann aber auch für pathologische Formen der Weltwahrnehmung stehen. In diesem Falle sehen wir gequälte Menschen, die vor etwas Ungreifbarem, Unbegreiflichen, das sie - langsam aber sicher - in den Wahnsinn treibt, auf der Flucht sind. Auch hier greifen die Mechanismen des Appells, des Ausdrucks, der Verlautbarung, des unbedingten Geltungsanspruchs, dem sich niemand entziehen kann. Wie auch immer: Wer Stimmen hört, steht nicht mehr über einer Sache, sondern ist mittendrin, wird durchquert von Anderem, ist Person, durch die etwas hindurchtönt: per-sonare. Phylogenetisch ist das Gehör der erste entwickelte Sinn des Menschen, der schon im embryonalen Zustand das Andere der Welt hörbar macht, als Herzschlag und Stimme der Mutter. Menschen werden als Resonanzwesen gezeugt und geboren, und sie sterben als solche. Sofern das Gehör nicht versehrt wurde, ist es nämlich zugleich auch der letzte menschliche Sinn, der beim Sterben erlischt.42 Biblisch-theologische Spitzenszene des Stimmenhörens ist die Geschichte von Elia am Horeb, jenem unbestimmbaren Ort, an dem sich Gott offenbart. Nachdem Elia alle diejenigen Phänomene passieren, in denen sich Gott dem Mose am Horeb offenbart hatte (Ex 19 / Ex 33): Wind, Erdbeben und Feuer, erkennt Elia, dass Gott nicht darin ist, sondern in einer qol demamah (I Kön 19,12c), einer unhörbaren Stimme. Luther übersetzt mit "ein stilles, sanftes Sausen", Buber / Rosenzweig mit "Stimme verschwebenden Schweigens". Beides erklingt zugleich: Zum einen die Stimme, mit der Wort Gottes geschieht: ungreif- und unbegreifbar und dennoch unverwechselbar; zum anderen die Unheimlichkeit der Unhörbarkeit. In absoluter Stille gehen Menschen zugrunde, wie Experimente mit Menschen in schalldichten Räumen zeigen. Wer singt, beansprucht Körper. Wer singt, gibt etwas von sich preis. Wer singt, lässt anderes erklingen, als er oder sie im Griff hat. Ich höre mich anders als Sie mich hören, daher erschrecke ich regelmäßig, wenn ich mich auf Band singen oder sprechen höre. Wer singt, ist Körper und hat zugleich Körper. Wer singt, tritt über sich hinaus, existiert. Aufgrund dieser elementaren Ambivalenzen ist Singen uns einerseits oft so peinlich, stiftet Singen aber andererseits auch auf sehr elementare Art und Weise Gemeinschaft. 41 Sybille Krämer: Medienphilosophie der Stimme; in: Mike Sandbothe / Ludwig Nagl (Hg.): Systematische Medienphilosophie, Berlin 2005, 224. 42 Christoph Wulf: Ohr; in: Ders. (Hg): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, 459-464. 1 4. Vom Stau zum Staunen Unerhörtes zu einer religionspädagogischen Hymnologie In meinem Schlussteil bringe ich in zusammenfassenden Thesen die Probleme, die sich beim Bedenken hymnologischer Fragen einstellen und die mitunter zu lähmen drohen, wieder ins Fließen, um vom Stau ins Staunen zu geraten, in einen Zustand, der für alle Formen Praktischer Theologie wünschenswert ist, weil er Begeisterung, Innehalten, Überraschung, Unerhörtes und Reflexion zugleich zur Geltung bringt. 1. These: Eine religionspädagogische Hymnologie stellt sich dem hymnologischen Phänomen der Stagflation. Der Kirchentag ist für die Singe-Kultur in Deutschland nach 1945 eine der bedeutendsten religionspädagogischen Institutionen. Hier wurde seit den 60er Jahren nicht nur das Neue geistliche Lied massenwirksam eingeübt und in die Gemeinden getragen, sondern auch andere nicht traditionelle kirchenmusikalische Formen für die ganze Gemeinde endgültig etabliert, z.B. die Posaunenchorarbeit, aber auch innovative zeitgenössische Formen der Kirchenmusik, die sich etwa dem jüdisch-christlichen Dialog verpflichtet wissen.43 War in den frühen Kirchentagen das Singe-Erlebnis eines seiner wesentlichsten Wirkfaktoren, z.B. in Leipzig 1954 mit 650.000 während der Schlussversammlung in einer atheistischen Umgebung oder in den U-Bahnen der westdeutschen Metropolen, so hat dieses Phänomen in den letzten beiden Jahrzehnten doch spürbar abgenommen, obwohl es immer noch deutlich wahrnehmbar ist. Der Kirchentag hat diese Fragen seit Mitte der 80er Jahre reflektiert. In der Halle der Kirchenmusik wird seitdem bewusst der Cross-Over zwischen verschiedenen kirchenmusikalischen Kulturen inszeniert. In den Tagungen zum "Singen auf Kirchentagen"44 ist Mitte der 90er Jahre eine "Stagflation" festgestellt worden, d.h. eine Stagnation in der stilistischen Weiterentwicklung des neuen geistlichen Liedes bei gleichzeitiger Inflation der Lieder. Der Kirchentag versucht diesem Phänomen mit 2 Dingen zu begegnen: auf der einen Seite mit Konzentrationsbemühungen durch die Liederhefte, die vielfach in den gastgebenden Landeskirchen zu offiziellen Beiheften wurden, auf der anderen Seite durch offene Ausschreibungen und Workshopwochenenden, die der Komposition und Produktion von aktuellem Kirchentagsliedgut dienen. Seit Hannover 2005 gibt es auch ein Motto-Lied des Kirchentags45, welches ihn popkulturell wiedererkennbar macht, für Hannover 2005 wurde es von Rudolf Kunze produziert, für Köln 2007 von den Wise Guys, diesmal in dreifacher Gestalt: als Song, als Karaoke- sowie als Jugendchorversion. 2. These: Eine religionspädagogische Hymnologie reflektiert die Kategorien Atmosphäre, Arrangement und Unterhaltung. Die für die musikalische Wirkung in unserer Zeit neben der musikalischen Qualität wichtigsten Wirkfaktoren sind die Atmosphäre46, in der Musik geschieht, die Frage des 43 Vgl. dazu aus hymnologischer Sicht Friedrich-Wilhelm Marquardt: Kleine Selbst-Täuschungen beim Loben Gottes, in: JLH 40 (2001), 116-135; Jochen Arnold: Kirchenlied und jüdisch-christlicher Dialog am Beispiel ausgewählter Psalmlieder, in: Alexander Deeg / Irene Mildenberger (Hg.): "... dass er euch auch erwählet hat" Liturgie feiern im Horizont des Judentums, Leipzig 2006, 173-201. 44 Der damalige Kirchentagspastor Martin von Essen hatte 2 Tagungen initiiert, die kirchentagsintern auch dokumentiert wurden: Das Singen auf Kirchentagen (24.-25.11. 1995 in Fulda), Musik auf Kirchentagen (22.23.3. 1996 in Berlin). 45 Es kann auf der Internetseite des Kirchentags kostenlos heruntergeladen werden. 46 Vgl. Joachim Kunstmann: Art. Atmosphäre; in: Fermor / Schroeter-Wittke (Hg.), Kirchenmusik 2005, 60-65. 1 Arrangements47, welches Musikstücke unterschiedlichen Kulturen zugänglich machen kann sowie die Frage nach einer Unterhaltung48, die uns ernährt, die Wahrheit im partnerschaftlichen Gespräch entstehen lässt und die Spaß macht. Der Unterausschuss Musik der Liturgischen Konferenz Deutschlands unternimmt seit Jahren Anstrengungen in diese Richtung. So enstanden drei Bände mit dem Titel "Singen bewegt". Die Lippstädter Kirchenmusikdirektorin Christa Kirschbaum aus der Zacher-Schule hat einen ersten Band mit Melodiespielen zu Gesangbuchliedern vorgelegt.49 Der am Michaeliskloster Hildesheim arbeitende Jazzer und Popmusiker Wolfgang Teichmann legt einen Band mit Rhythmusspielen zu EG-Liedern vor. Und der Bayreuther Professor für Kirchenmusikpädagogik Siegfried Macht wird 2007 einen Band mit Tanzpartituren zu Liedern des EG-Stammteils veröffentlichen. Alle drei Bände revolutionieren das Gesangsmaterial durch unterhaltende Arrangements. 3. These: Eine religionspädagogische Hymnologie fragt nach dem, was beim Singen auf dem Spiel steht. An den Orten, an denen heute noch viel gesungen wird, steht zumeist viel auf dem Spiel beim Singen, sei es in der Karaoke-Bar oder im Fußballstadion. Was steht im gottesdienstlichen Singen auf dem Spiel? Bei Luther war dies noch eine Menge, denn Musik und Gesang vertrieben dort immerhin den Teufel. Unsere Gottesdienstkultur ist vom Erleben dieser Dramatik zumeist ziemlich weit entfernt - mit guten Gründen. Die Dramatik des Singens kann aber auf anderem Wege wieder eingeholt werden, wenn z.B. Lieder mit bibliodramatischen Methoden bearbeitet werden, wie dies etwa Heiner Aldebert gezeigt hat,50 oder wenn die theatralen Aspekte z.B. von Paul Gerhardts "Wie soll ich dich empfangen" inszeniert werden51. 4. These: Eine religionspädagogische Hymnologie übt nicht nur ins Loben ein, sondern auch in das Klagen als einer notwendenden Äußerung menschlichen Lebens. Anlässlich des Todes von Robert Gernhardt, einem der bedeutendsten deutschen Gegenwartslyriker,52 der am 30.6. 2006 an Krebs starb, setzt sich Vicco von Bülow mit 47 Vgl. Detlev Prößdorf: Art. Arrangement; in: Fermor / Schroeter-Wittke, Kirchenmusik 2005, 55-59. Vgl. Harald Schroeter-Wittke: Art. Unterhaltung, in: TRE 34 (2002), 397-403; ders.: Art. Unterhaltung, in: Fechtner u.a. (Hg.), Handbuch 2005, 314-325. 49 Christa Kirschbaum: Melodiespiele mit Gesangbuch-Liedern. Singen bewegt 1, München/Berlin 2005. 50 Heiner Aldebert: Spielend Gott kennenlernen. Bibliodrama in relgiionspädagogischer Praxis, Hamburg 2001, 108-132, der bibliodramatisch mit barocken Trauerliedgesängen arbeitet. 51 Vgl. Bernhard Leube: Theatrale Aspekte von Paul Gerhardts "Wie soll ich dich empfangen", in: Arbeitsstelle Gottesdienst 20 (2006) Heft 2, 66-72. 52 Nicht umsonst beendet einer der besten Goethe-Kenner, der Mannheimer Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch seine ontosemiologische medienpoetische Trilogie zum Abendmahl, zum Geld und zu den neuen Medien mit einem Gedicht Robert Gernhardts (Robert Gernhardt: Lichte Gedichte, Zürich 1997, 206; zit. n. Jochen Hörisch: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, Frankfurt 1999): Ach Ach, noch in der letzten Stunde werde ich verbindlich sein. Klopft der Tod an meine Türe, rufe ich geschwind: Herein! Woran soll es gehn? Ans Sterben? Hab ich zwar noch nie gemacht, doch wir werd'n das Kind schon schaukeln na, das wäre ja gelacht! 48 1 dessen Frömmigkeit auseinander, die sich u.a. in Gernhardts Gerhardt-Rezeption zeigt. In seinen posthum veröffentlichten letzten Gedichten "Später Spagat" setzt er sich angesichts seiner unheilbaren Krankheit und ihrem Leid vielfach mit christlichen Traditionen auseinander, wobei die bittere Klage im Zentrum steht, die uns das Lachen oft im Halse stecken bleiben lässt. Eine religionspädagogische Auseinandersetzung mit dem LiederDichter Gernhardt lohnt sich. So lautet etwa die 1. Strophe von Gernhardts Adaption "Schuldchoral II" von Gerhardts "O Haupt voll Blut und Wunden": "O Robert hoch in Schulden / Vor Gott und vor der Welt, Was mußt du noch erdulden, / Bevor dein Groschen fällt? Durch Speien und durch Kotzen, / Läßt der sich nichts abtrotzen, Der auch dein Feld bestellt."53 5. These: Eine religionspädagogische Hymnologie nimmt die Popkultur als ihren wirkungsvollsten Kontext wahr. Hymnologie muss heute die popkulturelle Lebenswelt der Christen wahrzunehmen lernen. In den Songs der Popmusik verankern Menschen heute in ähnlicher Weise ihr Leben wie Menschen in früheren Zeiten dies in ihren Volks- und Kirchenliedern taten. Daher muss diese Lebenswelt heute zur Geltung kommen. Im Religionsunterricht kann dies etwa so geschehen, dass die Schülerinnen und Schüler zu bestimmten Themen ihre Popmusik mitbringen und vorstellen, so dass ihre Lebenswelt im Unterricht zur Sprache kommt. Es kann auch anders herum passieren, dass sie z.B. aufgefordert werden, einen Bibeltext so mit ihrer Popmusik zu bestücken,54 dass er "affjerockt"55 werden könnte, wie man im Rheinland sagt. Vielleicht kann eine Pop-Version des bekanntesten adventlichen Hallelujas unseres Kulturkreises hier den Bogen schließen und zugleich auf die Sprünge helfen. Ich meine Georg Friedrich Händels Halleluja aus seinem Messias, der zu seiner Zeit schon Popmusik war.56 1992 haben fast 50 Musiker aus der U.S.-amerikanischen Black Culture Teile aus Handel's Messiah in Interessant so eine Sanduhr! Ja, die halt ich gern mal fest. Ach - und das ist Ihre Sense? Und die gibt mir dann den Rest? Wohin soll ich mich jetzt wenden? Links? Von Ihnen aus gesehn? Ach, von mir aus! Bis zur Grube? Und wie soll es weitergehn? Ja, die Uhr ist abgelaufen. Wollen Sie die jetzt zurück? Gibt's die irgendwo zu kaufen? Ein so ausgefall'nes Stück Findet man nicht alle Tage, womit ich nur sagen will - ach! Ich soll hier nichts mehr sagen? Geht in Ordnung! Bin schon 53 Robert Gernhardt: Später Spagat, Frankfurt 2006, 20. 54 Vgl. als Beispiel Gotthard Fermor / Harald Schroeter: Sounds of Silence. Popmusikalische Kontrapunkte zu Elia, in: Klaus Grünwaldt / Harald Schroeter (Hg.): Was suchst du hier, Elia? Ein hermeneutisches Arbeitsbuch, Rheinbach 1995, 308-319. 55 So lautete der Titel der 3. LP von BAP zu Beginn der 80er Jahre. 56 Vgl. Gotthard Fermor: Georg Friedrich Händels Messias und seine "Soulful Celebration". Eine Herausforderung, erneut über "geist-liche" Musik nachzudenken, in: Ders. / Hans-Martin Gutmann / Harald Schroeter (Hg.): Theophonie. Grenzgänge zwischen Musik und Theologie, Rheinbach 2000, 98-127. 1 ihre unterschiedlichen Musiktraditionen übersetzt und dieser CD, welche natürlich mit jenem berühmten Halleluja endet, den Titel gegeben: "Handel's Messiah - A Soulful Celebration" Halleluja! Harald Schroeter-Wittke, Dr. theol., Abelbachstr. 6, 33142 Büren, geb. 1961 in Duisburg. Professor für Didaktik der Evangelischen Religionslehre mit Kirchengeschichte am Institut für Evangelische Theologie der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn, 33095 Paderborn, E-Mail: [email protected]. Musiker und Spieleautor, Präsidiumsmitglied des Deutschen Evangelischen Kirchentags, Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Populäre Kultur und Religion, Mitglied der Liturgischen Konferenz Deutschlands. Veröffentlichungen u.a.: Kirchentag als vor-läufige Kirche, Stuttgart u.a. 1993; Unterhaltung, Frankfurt u.a. 2000; Prospekt einer liturgischen Didaktik, Waltrop 2000; Ahnung von der Predigt, Waltrop 2000; Musik als Theologie. Studien zur musikalischen Laientheologie in Geschichte und Gegenwart, Leipzig 2010 Herausgeberschaften u.a.: Praktisch-theologische Hermeneutik, Rheinbach 1991; Was suchst du hier, Elia? Rheinbach 1995; Prozesse postmoderner Wahrnehmung, Wien 1996; Kleiner kabarettistischer Katechismus, Rheinbach 1998; Theopoesie, Rheinbach 1998; Theophonie, Rheinbach 2000; Gemeindekulturpädagogik, Rheinbach 2001; Rheinische Karnevalstheologie, Rheinbach 2002; Reisen, Münster 2003; Kirchenmusik als religiöse Praxis, Leipzig 2005; Handbuch Populäre Kultur und Religion, Stuttgart 2005; Die besten Nebenrollen. 50 Portraits Biblischer Randfiguren, Leipzig 2006; Zwischen Politik und Religion. Der "Kampf um Paderborn" 1604 und seine Rezeption,, Bielefeld 2006; Gottesdienst-Orte. Handbuch Liturgische Topologie, Leipzig 2007; Tanz und Religion, Frankfurt/M. 2008; Kleines Kabarettistisches Kirchenjahr, Rheinbach 2008; Evangelisches Paderborn. Protestantische Gemeindegründungen an Pader und Weser, Bielefeld 2008; Populäre Kultur und Religion – Best of..., Jena 2009; Protestantische Profile im Ruhrgebiet, Kamen 2009; Überzeichnet – Religion in Comics, Jena 2011; Singen im Gottesdienst, Gütersloh 2011; Religionssensible Schulkultur, Jena 2011.