1 Halleluja Präludien einer religionspädagogischen Hymnologie

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1 Halleluja Präludien einer religionspädagogischen Hymnologie
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Halleluja
Präludien einer religionspädagogischen Hymnologie1
(Harald Schroeter-Wittke)
(zuerst publiziert in Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 46 (2007), 143-159)
1. Hallelu-Jah
In seiner Gottesdiensteinführung "Der Weg in das Leben" stellt Manfred Josuttis zum
Themenkomplex Singen lapidar fest: "Religion gibt es kaum ohne Musik."2 Diese Festellung
trifft insbesondere auf die drei abrahamitischen Religionen zu. Während hier eine textfreie
Musik immer auch ihre Schwierigkeiten hatte,3 wird der Gesang in allen drei Religionen
rundweg hochgeschätzt.4 Für das Judentum und das Christentum verdichtet sich diese
Einsicht in vielen Psalmen in der Aufforderung zum Lobe Gottes: "Hallelu-Jah". Manchmal
ist das Jah dabei am Ende abgesetzt (z.B: Ps 111,1), manchmal durch einen Bindestrich
verbunden (z.B. Ps 135,3), manchmal aber auch direkt an das Hallelu angehängt (z.B. Ps
106,1). Dass das Hallelu fast dem Lallen gleichkommt, welches freudetrunken,
1
Um Anmerkungen und einige Forschungsergebnisse erweiterte Fassung eines Gastvortrages auf Einladung der
Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 13.12.2006. Gekürzt sind die performativen
Bestandteile, mit denen ich mein Konzept einer performativen Religionspädagogik leibhaftig werden ließ: EG
181.7 (zwischen 1. und 2.) sowie die Klangperformance "Resonanzraum Klangkörper - Resonanzkörper
Klangraum: "... dass ihr nicht euch selbst gehört" (1. Kor 6,19) (zwischen 3. und 4.), da sich beides schriftlich nicht
gut dokumentieren lässt. Vgl. dazu Harald Schroeter-Wittke: Performance als religionsdidaktische Kategorie.
Prospekt einer performativen Religionspädagogik; in: Thomas Klie / Silke Leonhard (Hg.): Schauplatz Religion.
Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, Leipzig 2003, 47-66; sowie ders.: Religionspädagogische
Topologie. Versuch einer performativen Retourkutsche; in: theo-web 5 (2006), Heft 2, 44-56.
2
Manfred Josuttis: Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher
Grundlage, München 1991, 179. Dass mit dieser Bemerkung auch jede Menge Konfliktstoff angesprochen ist,
zeigen Annette Landau / Sandra Koch (Hg.): Lieder jenseits der Menschen. Das Konfliktfeld Musik - Religion Glaube, Zürich 2002.
3
Vgl. dazu Max Peter Baumann: Musik; in: Christoph Wulf (Hg): Vom Menschen. Handbuch Historische
Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, 974-984, der inbesondere für alle fundamentalistisch orientierten
Strömungen von Kultur- und Glaubensauffassungen bemerkt, dass hier "sowohl die »neue« und abweichende
Musik als auch die übermütig-weltliche Belustigung bei »Wein, Weib und Gesang« in den unterschiedlichen
Kulturen der religiösen und politischen Obrigkeit oft ein Dorn im Auge [ist], da man in ihr die Erschütterung des
»richtigen« Lebens oder die Verführung der Seele sieht" (981).
4
Für den Islam vgl. z.B. Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999. Für
das Judentum vgl. z.B. Eckhard Tramsen: Nicht Stimmung, sondern Stimmen. Zur Geschichte des
Synagogengesangs, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.): Musik und Religion, Darmstadt 22003, 35-45; Hans
Bloemendal / Joppe Poolman van Beusekom (Hg.): Amsterdams Chazzanoet. Synagogale muziek van de
Ashkenazische Gemeente, 2 Bände Buren 1990. Für das Christentum vgl. Christian Palmer: Evangelische
Hymnologie, Stuttgart 1865; Alfred Stier: Kirchliches Singen, Berlin 1953; Oskar Söhngen: Theologie der Musik,
Kassel 1967; Jürgen Henkys: Das Kirchenlied in seiner Zeit, Berlin 1980; Okko Herlyn: Singen unter den
Zweigen, Zürich 1986; Christoph Krummacher: Musik als praxis pietatis, Göttingen 1994; Christoph Albrecht:
Einführung in die Hymnologie, Göttingen 41995; Christa Reich: Evangelium: klingendes Wort. Zur theologischen
Bedeutung des Singens, Stuttgart 1997; Rüdiger Bartelmus: Theologische Klangrede, Zürich 1998; Jürgen Henkys:
Singender und gesungener Glaube, Göttingen 1999; Martin Rößler: Liedermacher im Gesangbuch. Liedgeschichte
in Lebensbildern, Stuttgart 2001; Hinrich Bergmeier (Hg.): Le Sacre. Musik - Ritus - Religiosität, Saarbrücken
2001; Johannes Block: Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie, Tübingen / Basel 2002;
Walter Eller: Aus dem Hören leben. Hymnyologische und liturgische Vollzüge als Ästhetik des Wahrnehmens,
Leipzig 2003; Christa Reich: Das Kirchenlied; in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber / Michael Meyer-Blanck / KarlHeinrich Bieritz (Hg.): Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 763-777; Michael Heymel: In der Nacht ist sein
Lied bei mir. Seelsorge und Musik, Waltrop 2004; Bernhard Leube: Singen, in: Gotthard Fermor / Harald
Schroeter-Wittke (Hg.): Kirchenmusik als religiöse Praxis, Leipzig 2005, 14-19.
1
selbstvergessen und ohne spezifischere Inhalte lobt, rühmt und jauchzt und damit das Singen
von vornherein impliziert, ist ebenso bedeutsam wie die Tatsache, dass hier natürlich die
Kurzform, fast könnte man sagen, die Koseform des unaussprechlichen Gottesnamen,
gesungen wird: Jah, was zugleich aber auch nur eine Verstärkung des Hallelu sein könnte,
wie bei jener unentscheidbaren Stelle im Canticum Canticorum 8,6, wo es bei der Flamme
nicht auszumachen ist, ob es eine Flamme Gottes oder nur eine stark lodernde Flamme ist.5
Aber was heißt hier nur? Denn in dieser Doppeldeutigkeit gewinnt das Hallelu-Jah, das auch
fester und festlicher Bestandteil unserer Gottesdienste außerhalb der Fastenzeiten ist6,
Alltagsdignität bis in unsere Zeit. So werben base und e-plus für ihre diesjährige
Weihnachtsflatrate mit einem Anklang an jenes alltägliche Halleluja, wenn dort eine
Männergruppe auf die berühmte Melodie Händels singt: Hallo Julia.
2. Vom Leid des Lieds:
Zum Forschungsstand einer Hymnologie in religionspädagogischer Absicht
Ich beginne meine Erörterungen mit einer Definition von Hymnologie:7 Hymnologie ist die
wissenschaftliche Reflexion desjenigen Singens, welches für Christinnen und Christen in
Religion, Kirche und Gesellschaft von Bedeutung ist, und seiner durch wissenschaftliche
Einsichten gestützten Förderung und Gestaltung. Mit ähnlicher Stoßrichtung definieren
Markus Jenny und Walther Lipphardt in der neuen MGG: "Hymnologie ist die Wissenschaft,
die sich mit der christlichen Hymnodie, d.h. mit dem geistlichen Singen in den verschiedenen
Gruppen der Christenheit in Geschichte und Gegenwart beschäftigt."8
Mit meiner Definition verorte ich Hymnologie in einem dimensionalen Konzept
Praktischer Theologie, wie es Gert Otto Mitte der 80er Jahre entwickelt hat.9 Dieses ist
nämlich offen für die Reflexion von Tätigkeiten durch alle klassischen Handlungsfelder der
Praktischen Theologie hindurch. In Ottos Praktischer Theologie wird jedoch das Singen gar
nicht erwähnt. Anders bei Dietrich Rössler, in dessen Praktischer Theologie das Lied im
Petit-Druck kurz auftaucht im Zusammenhang mit seiner Darstellung des Gottesdienstes.10
Diesen Ort hat die Hymnologie innerhalb der Praktischen Theologie seit Schleiermacher11. Er
verhandelt die "Theorie des Gesanges im Cultus" (168-186) zwischen der "Theorie der
Liturgie im Cultus" (157-167) und der "Theorie des Gebetes im Cultus" (187-201). Obwohl
Feiern und Lernen bei Schleiermacher streng unterschieden werden, wird die Hymnologie
dennoch auch pädagogisch verortet, wenn er schreibt: "Es ist die Sache der Volksschule das
Volk zum Gesang anzuleiten." (184) Auch bei Carl Immanuel Nitzsch begegnen die
hymnologischen Fragestellungen am Ende seines ersten gottesdienstlichen Kapitels über das
liturgische Wort.12
5
Vgl. dzu Gillis Gerleman: Ruth - Das Hohelied. BK 18, Nuekirchen-Vluyn 1965, 217; Othmar Keel: Das
Hohelied. ZBK AT 18, Zürich 1986, 250.
6
Vgl. dazu Joachim Beckmann: Das Proprium Missae; in: Leiturgia II, Kassel 1955, 71-75.
7
Zur Kriterienproblematik der Hymnologie vgl. grundlegend Gustav Adolf Krieg: Das Kirchenlied zwischen
Traditionalismus und Säkularismus. Ein historischer und systematischer Beitrag zum Kriterienproblem in der
Hymnologie, in: JLH 34 (1992/93), 22-56.
8
Markus Jenny / Walther Lipphardt: Art. Hymnologie; in: MGG2 Sachteil 4 (1996), 459. Zur Geschichte der
Hymnologie vgl. Markus Jenny: Art. Hymnologie; in: TRE 15 (1986), 770-778.
9
Vgl. dazu Gert Otto: Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1986.
10
Dietrich Rössler: Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 21994, 428.
11
Vgl. Friedrich Schleiermacher: Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im
Zusammenhange dargestellt, hg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850.
12
Carl Immanuel Nitzsch: Praktische Theologie II/2, Bonn 1851, E. Das Kirchenlied § 298-309, S. 340-361 - F.
Gesang und kirchliche Tonkunst im Allgemeinen § 310-317, S., 361-372.
1
Die erste große wissenschaftliche Zusammenfassung der Evangelischen Hymnologie,
unüberholt für die folgenden 100 Jahre, stammt von Christian Palmer aus dem Jahre 1865.13
Auch er verortet sie weitestgehend in einer ästhetisch reflektierten Liturgik. Nach einer
Einleitung lauten seine 3 großen Kapitel: "Der Gottesdienst und die kirchliche Kunst" (2687), "Die kirchliche Poesie" (88-239) und "Die kirchliche Musik" (240-387). Schon Palmer
klagt zum einen darüber, dass Hymnologie zu seiner Zeit eine ausschließlich historische
Disziplin sei und dass für die Hymnologie in der Theologie nur sehr wenig Wertschätzung
vorhanden sei: "Die Theologen haben ja viel zu viel mit Feststellung und Wahrung der
orthodoxen Dogmen zu thun, als daß sie Zeit und Interesse für das Gemeindelied übrig
hätten." (14)
Das Übergewicht einer vorwiegend historisch orientierten Hymnologie reicht bis in
die Gegenwart. Die Verankerung der Hymnologie in der Liturgik sowie die Randexistenz der
wissenschaftlichen Hymnologie, für die es z.B. keinen ausgewiesenen praktischtheologischen Lehrstuhl in Deutschland gibt, hat zudem verhindert, dass
religionspädagogische Fragestellungen selbstverständlich in die Hymnologie Einzug halten
konnten. Die wichtigsten Publikationsorgane für hymnologische Fragestellungen sind
entweder die Publikationen der diversen Gottesdienststellen in Deutschland oder aber das
renommierte Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie. Hier standen die Fragen nach
Kirchenliedern, ihrer Entstehung und Gestalt im Vordergrund der hymnologischen
Forschung, weniger die Fragen nach der Bedeutung des Singens für das Erlernen von
Religion.
Ein erster wichtiger Schritt in eine erweiterte hymnologische Fragestellung war die
Naumburger Dissertation aus der Endphase der DDR-Zeit von Ulrich Lieberknecht mit dem
programmatischen Titel: "Gemeindelieder. Probleme und Chancen einer kirchlichen
Lebensäußerung".14 Er thematisierte das Singen als eine Lebensäußerung der Kirche, wobei
im DDR-Kontext vor allem auch das neue geistliche Lied wichtig geworden war. Neben
dieser gemeindekulturpädagogischen15 Perspektive etablierte die 2002 veröffentlichte
Heidelberger Dissertation von Johannes Block die hermeneutische Lesart der Hymnologie:
"Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie. Ein hermeneutischer Beitrag
zur Hymnologie am Beispiel Martin Luthers." Beide plädieren für eine scientia laudis als
Entstehungsort und Kommunikationsformat von Theologie überhaupt: "So entdeckt die
hymnologische Forschung die Frage nach der erkenntnisleitenden Relevanz von Gesang und
Musik, nach deren hermeneutischer Relevanz in Hinsicht auf den Glauben, denn erst
»singend ist der Glaube in seinem Element, nämlich im Element des Evangeliums«16."17
Allerdings bemängelt Block mit dem Germanisten Emil Staiger fehlende musikalische
Insinuation, fehlendes Ergriffensein durch ein Kunstwerk. "In all dem meldet sich ein
13
Christian Palmer: Evangelische Hymnologie, Stuttgart 1865.
Ulrich Lieberknecht: Gemeindelieder. Problemen und Chancen einer kirchlichen Lebensäußerung, Göttingen
1994.
15
Zur Entstehung der Gemeindepädagogik im Kontext der DDR-Wirklichkeit vgl. Eckart Schwerin (Hg.):
Gemeindepädagogik. Lernwege der Kirche in einer sozialistischen Gesellschaft. Gemeindepädagogische Ansätze,
Spuren, Erträge, Münster 1991. Zum Begriff der Gemeindekulturpädagogik vgl. Gotthard Fermor / Günter Ruddat
/ Harald Schroeter-Wittke (Hg.): Gemeindekulturpädagogik, Rheinbach 2001.
16
Christian Möller: "Ein neues Lied wir heben an." Der Beginn des reformatorischen Singens im 16. Jahrhundert
und die Einführung eines Evangelischen Gesangbuches am Ende des 20. Jahrhunderts; in: Gemeinsame
Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen 24 (1995), 29.
17
Johannes Block: Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie. Ein hermeneutischer Beitrag
zur Hymnologie am Beispiel Martin Luthers. Mainzer Hymnologische Studien 6, Tübingen/Basel 2002, 11.
14
1
Bedürfnis, dem Kunstwerk gegenüber zu bleiben, sich nicht einzubeziehen, sich nicht tragen,
nicht hinreißen, nicht bezaubern, nicht verführen zu lassen. Man will nicht überwältigt
werden."18 Mit diesem Zitat zeigen Staiger und Block ihre völlige Ahnungslosigkeit
bezüglich Popkultur, ihrer Musik und deren konzertanter Performance, denn dort findet all
dies reichlich statt. Neben der gemeindekulturpädagogischen und der hermeneutischen
Fragestellung bedarf eine religionspädagogische Hymnologie daher auch der
popkulturtheologischen Reflexion.
Von einer liturgisch verorteten Hymnologie19 wenig zur Kenntnis genommen20 hat es
in der Religionspädagogik immer auch eine Reflexion hymnologischer Fragen gegeben,
zumeist im Zusammenhang der Vorstellung von methodischen Möglichkeiten im
Religionsunterricht.21 Einer der ersten Versuche, hymnologisch zwischen Liturgik und
Religionspädagogik zu vermitteln, geschah 1979 durch Henning Schröers Beitrag im Rahmen
der durch das Comenius-Institut Münster angestoßenen Elementarisierungsdebatte: Cantus
Elementarius? Was lehren uns die neuen geistlichen Lieder zur Elementarisierung
theologischer Inhalte und Methoden?22 Ende 2006 ist hier nun ein Meilenstein erschienen:
das von Peter Bubmann und Michael Landgraf herausgegebene, knapp 500 Seiten dicke
Handbuch für die religionspädagogische Praxis mit dem Titel: "Musik in Schule und
Gemeinde. Grundlagen - Methoden - Ideen".23 In ihrer Einleitung bemängeln sie völlig zu
recht, dass es auf der einen Seite auf der Hand liege, "in religiösen Bildungsprozessen mit
Musik zu arbeiten", dass dies aber andererseits "weithin dem Zufall und den persönlichen
Vorlieben der Unterrichtenden oder Leitenden überlassen" (9) bleibe. Während es für den
Umgang mit den Medien Bild und Film längst zahlreiche Hilfsmittel und Anleitungen gibt,
ist dies für die Musik bislang ein Desiderat. Dabei hat sich ein solches Handbuch der
Dominanz der Popkultur sachgerecht zu stellen, welche seit über 15 Jahren auch praktischtheologisch intensiv erforscht ist. Das Singen begegnet in diesem Handbuch vor allem als
eine Ausdrucksform von Musik, weniger als eine Ausdrucksform von Verkündigung, wie
18
Emil Staiger: Musik und Dichtung, Zürich 1972, 339; zit. n. Block, 161.
Zu den Zukunftsaufgaben der Hymnologie vgl. Andreas Marti / Britta Martini: Ziele und Methoden der
Hymnologie im 21. Jahrhundert, in: Wolfgang Ratzmann (Hg.): Grenzen überschreiten. Profile und
Perspektiven der Liturgiewissenschaft, Leipzig 2002, 169-182.
20
Dies scheint sich in den letzten Jahren erfreulicherweise zu ändern, wie einige Zeitschriften zeigen, die
hymnologische Fragen zwischen Liturgik bzw. Kirchenmusik und Religions- bzw. Gemeindepädagogik
angesichts der Schwierigkeiten mit dem Singen im Kirchenalltag neu anzusiedeln versuchen: Heft 2 von MuK
72 (2002) hat das Thema "Notstand Singen", Heft 3 von MuK 75 (2005) das Thema "Singen in Kindergarten
und Grundschule", Heft 6 der KatBl 130 (2005) das Thema "Musik und Religion", und Praxis
Gemeindepädagogik widmet die Hefte 4 (2006) und 1 (2007) dem Thema "Musik und Gemeindepädagogik".
21
Vgl. z.B. Edgar Bechter: Klangbausteine im Religionsunterricht; in: Ludwig Rendle u.a.: Ganzheitliche
Methoden im Religionsunterricht. Ein Praxisbuch, München 1996, 226-249; Christian Grethlein: Methodischer
Grundkurs für den Religionsunterricht, Leipzig 2000, 93-95 (Singen); Johannes Lähnemann: Musik und Lied im
Religionsunterricht; in: Gottfried Adam / Rainer Lachmann (Hg.): Methodisches Kompendium für den
Religionsunterricht 1. Basisband, Göttingen 42002, 299-326; Ilse Kögler: Umgang mit Lied und Musik; in:
Gottfried Bitter / Rudolf Englert / Gabriele Miller / Karl Ernst Nipkow (Hg.): Neues Handbuch
religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002, 493-496.
22
Einer der ersten Versuche, hymnologisch zwischen Liturgik und Religionspädagogik zu vermitteln, war
Henning Schröers Beitrag 1979 im Rahmen der durch das Comenius-Institut Münster angestoßenen
Elementarisierungsdebatte: Cantus Elementarius? Was lehren uns die neuen geistlichen Lieder zur
Elementarisierung theologischer Inhalte und Methoden?; in: Henning Schröer: In der Verantwortung gelebten
Glaubens. Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Lebenskunst, Stuttgart 2003, 97-104.
23
Peter Bubmann / Michael Landgraf (Hg.): Musik in Schule und Gemeinde. Grundlagen - Methoden - Ideen,
Stuttgart 2006.
19
1
dies in den Liturgiken häufig der Fall ist. Das Singen kommt hier in allen großen Teilen als
eine wichtige Form der Musikausübung zur Geltung, z.B. in einem 25 Seiten langen
Abschnitt, wo es nur um unterschiedliche Methoden des Singens geht, vom Lieder gurgeln
bis zur Text-Sonate (207-231). Das Singen im Religionsunterricht der Grundschule (265275) und an Förderschulen (286-294) sowie das Singen mit Jugendlichen (295-305) werden
ebenso ausführlich behandelt wie die didaktischen Möglichkeiten der unterschiedlichen
Liedkulturen (364-375) und die Arbeit mit Gesangbüchern (376-385). Bei alledem kommt
die popkulturtheologische Dimension nicht zu kurz wie die Betonung von Rhythmus (307314), Ritual und Ekstase (424-431), aber auch die Wichtigkeit der Neuen Medien (402-408)
sowie eine kritische Auseinandersetzung mit den sog. dunklen Seiten der Rockmusik, wie sie
in der Kommerzialisierung (409-423) einerseits und andererseits in Gewalt verherrlichenden
oder sog. satanischen Musikstücken zum Ausdruck kommen (432-444).
Mittlerweile interessiert sich aber auch die Musikwissenschaft für die Frage nach
Musik und Religion. Der Paderborner Musikpsychologe Heiner Gembris hat den
Musikgeschmack von Grundschulkindern erforscht.24 Während in der 1. und 2. Klasse eine
große Offenheit gegenüber allen Musikstilen herrscht, setzt mit der 3. Klasse schlagartig eine
Veränderung ein: Denn nun wird die Popmusik deutlich bevorzugt, alle anderen
Musikrichtungen geraten dramatisch ins Hintertreffen. Mit demselben Forschungsdesign ist
im Dezember 2006 eine weitere empirische Umfrage in Grundschulen in und um Paderborn
gelaufen mit über 300 befragten Kindern. Einige Fragebögen wurden auch in Beverungen
unter Realschülern getestet. Dieser Umfrage lag nun aber religiöse Musik zugrunde: 10
Musikstücke aus unterschiedlichsten Musikrichtungen und -stilen, vom Bach-Choral und
Gospel-Stück (Amen) über World-Music (Mari Boine), Olivier Messiaen oder die 10 Gebote
der Toten Hosen bis hin zu Xavier Naidoos Vater Unser, Verdis Requiem oder Sacro-Pop.
Das Hallelujah aus Händels Messiah gab es dabei gleich zweimal, einmal im Original in der
Marriner-Aufnahme von 1976, einmal in der von Quincy Jones besorgten Soul-GospelVersion aus Handel's Messiah - A Soulful Celebration von 1992.
Die Ergebnisse dieser Studie wurden im Januar 2007 auf einem interdisziplinären Tag
der Kirchenmusik in Detmold vorgestellt. Dabei gab es zum einen das Ergebnis, dass es auch
in Bezug auf religiöse Musik zu einem ähnlichen Geschmacksurteil gekommen ist wie bei
der ersten Umfrage. Auch religiöse Musik begegnet in den ersten beiden Klassen einer sehr
großen Offenohrigkeit, die zunehmend und rapide schwindet und in der Pubertätszeit
heftigen Abgrenzungsbedürfnissen weicht, die sich inbesondere auf dem Feld der Musik
ausagieren und notwendig sind für die eigene Identitätsbildung. Hat sich eine gefestigte
Identität gebildet, greifen viele Menschen wieder auf Musiken vor ihrer Pubertätszeit zurück,
auch wenn bei den allermeisten niemals mehr die Offenohrigkeit der Kindheit erreicht wird.
Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass die Toten Hosen in allen Altersgruppen
die höchsten Zustimmungswerte bekamen, wobei die Jungen hier ausnahmsweise noch
einmal deutlich positiver votierten als die Mädchen, die bei allen anderen Musikstücken
stärkere Zustimmung siganilisierten. Den Toten Hosen folgte Handel's Hallujah in der SoulGospel-Version, das in der Präferenz deutlich vor der Originalversion lag. Abgeschlagen auf
den letzten Plätzen waren durchweg Bach, Messiaen und Naidoo zu finden, während Boine
z.B. im guten Mittelfeld lag. Für unsere klassische Gottesdienstkultur mit ihrer Musik zeigt
dieses Ergebnis m.E. eine katastrophale Situation an, denn die diese Kultur prägende Musik
wird ab der 3. Klasse nehrheitlich emotional abgelehnt, wobei die Werte in der Ablehnung
24
Gabriele Schellberg / Heiner Gembris: Was Grundschulkinder (nicht) hören wollen. Eine neue Studie über
Musikpräferenzen in der 1. bis 4. Klasse; in: Musik in der Grundschule 2003, Heft 4, 48-52.
1
z.T. bis zu 80% hochschnellen.
Unbeantwortet bleiben muss allerdings die Frage, ob
die Kinder die Musik, die wir als religiöse Musik identifiziert haben, als solche überhaupt
erkennen? Möglicherweise deuten die schlechten Werte für den Bach-Choral, für Messiaens
Orgelstück sowie für Naidoos A-Capella-Vater-Unser darauf hin, dass viele Kinder einer
Musik, die deutlich mit Kirche assoziert werden kann, negativer gegenüber stehen. Aber wie
sich das auf ihr Verständnis und ihr Hören von religiöser Musik lettlich ausiwrkt, muss
weiteren Studien überlassen bleiben, die auch noch stärker kultursoziologische
Differenzierungen vornehmen.
Als Fazit bleibt jedoch festzuhalten, dass die traditionelle kirchliche Musik den
Geschmack der Kinder und Jugendlichen deutlich weniger trifft als Musik "bei der kein
Schlagzeug fehlt", wie es ein Kind formulierte. Als Fazit bleibt aber auch festzuhalten, dass
die Offenohrigkeit bis ins 8. Lebensjahr anhält und man gerade in dieser Phase Kinder mit
möglichst vielen und unterschiedlichen Musikstilen konfrontieren sollte, weil sie diese alle
rundweg genießen. Die Offenohrigkeit scheint mir aber nicht nur für die Musik, sondern auch
für das, was mit kirchlicher Religiosität verbunden ist zu gelten.
Nun mag man aber einwenden, dass dies alles Geschmacksfragen seien, über die sich
schwerlich streiten lasse. "Geschmack fürs Unendliche" hatte Schleiermacher die Religion
genannt.25 Weil aber der Geschmack ebenso wie das Hören zu den elementarsten Sinnen
zählt, sind solche Geschmacksfragen für die Religion von nicht zu unterschätzendem
Gewicht. Sie werden für die Fragen nach den Chancen des Singens in religiösen Kontexten
und seiner Gestaltungsversuche von enormer Wichtigkeit sein.
In Gembris' Studien zeigt sich der Beginn einer kultursoziologischen Differenzierung,
wie sie im Gefolge der Schulzeschen Erlebnisgesellschaft26 auch theologisch wahrgenommen
wurde. So arbeitete z.B. Eberhard Hauschildt mit den 5 Milieus Schulzes eine differenzierte
Wahrnehmungs- und Handlungsstrategie für kirchliche Situationen und Handlungsfelder aus,
die sich auch auf die Frage nach dem Musikgebrauch auswirkt.27 Während für den einen
daher "Großer Gott, wir loben dich" das richtige Lied ist, ist es für die andere "Herr, deine
Liebe ist wie Gras und Ufer".
Durch die kultursoziologische Differenzierung wird zum einen deutlich, dass es keine
Mehrheitskultur mehr gibt - auch nicht mehr in den gelebten Frömmigkeiten unserer Kirchen.
Die Kulturen des Singens haben sich in den letzten 50 Jahren sehr stark differenziert. Keine
Gesangskultur ist mehr in der Mehrheit. Deshalb vermag das Singen immer weniger zu
milieuübergreifenden Gemeinschaftserfahrungen beitragen. Zwar wird in vielen
Minderheitenkulturen gesungen, aber diese Gesänge stiften nicht mehr selbstverständlich
Gemeinschaft über ihre Milieugrenzen hinweg - im Gegenteil: Vielfach führt gerade die
jeweilige Musik zur Ab- und Ausgrenzung. Wer im Alltag deutschen Schlager hört - der
entsprechende Sender WDR 4 hat einen Anteil von 40% in NRW -, für den sind Bachchoräle,
Gospels oder White Metal keine selbstverständlichen Gesangs- und damit
Gemeinschaftsformen.
Deutlich wird aber zum anderen auch, dass unsere Kirche als Volkskirche nur dann
25
Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799,
52f: "Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche." Zit.
nach der von Carl Heinz Ratschow besorgten Ausgabe Stuttgart 1980, 36.
26
Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Eine Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 1992.
27
Vgl. dazu Eberhard Hauschildt: Kirchenmusik in der Erlebnisgesellschaft; in: Gotthard Fermor / Harald
Schroeter-Wittke (Hg.): Kirchenmusik als religiöse Praxis, Leipzig 2005, 83-89. Die neueste Sinus-Studie von
2005 setzt mittlerweile 10 deutlich zu unterscheidende Milieus bzw. Lebensstile an, die sich natürlich noch
differenzierter auch auf das Singen und seine Vielfalt auswirken werden.
1
wird überleben können, wenn sie für die Vielfalt dieser Kulturen Heimaten zu schaffen
vermag, die sich nicht absolut setzen, sondern für den kulturellen Cross-Over transparent
bleiben.
Meine Definition zur Hymnologie berücksichtigt deshalb auch Religion, Kirche und
Gesellschaft gleichermaßen, um von hieraus auch einen wissenschaftlichen Zugang zu den
popkulturellen Gesangsphänomenen zu gewinnen. Hier geht es nicht in erster Linie um das
Singen, sondern um das Singen-Lassen. Während sich in früheren Zeiten vor allem Herren,
Könige und Päpste singen ließen, kann aufgrund der Mediengeschichte der letzten 100 Jahre
heute jede und jeder in diesen Genuss kommen, sich die tollsten Lieder und Stücke singen
und spielen zu lassen.
Die heutige Medienpräsenz privatisiert die Singgewohnheiten, denn dort begegnet das
Singen in einem perfekten Arrangement. "Deutschland sucht den Superstar" oder KaraokeVeranstaltungen28 spielen beim Selber-Singen vor allem mit dem Schamgefühl und befördern
es - durchaus lustvoll. Wer öffentlich selber singt, riskiert etwas. Hier steht was auf dem
Spiel, wie auch die komplexen Gesangsinszenierungen in Fußballstadien zeigen, wo der
Gegner, der zu Gast ist, lustvoll und schamlos in Grund und Boden gesungen wird zeitgenössischer Sängerwettstreit.29 Trotz dieser Orte wie Karaoke-Bar, Fernsehshow,
Karneval, Lagerfeuer, Fußballstadion und Kirche, an denen noch gesungen wird, vermag das
Selber-Singen immer weniger Gemeinschaft zu stiften. Stattdessen wird der mediale Gesang
der oder des exemplarischen, einzelnen Anderen, des Popstars30 eben, immer stärker
gemeinschaftsbildend, z.B. in Fanclubs oder bestimmten Szenen.
3. Davon ich singen und sagen will Katechetik als tönende Schwester der Bildung
Es ist in den letzten Jahren in der Religionspädagogik, aber auch in der Liturgik viel von
Bildung die Rede gewesen - zu Recht angesichts des technokratischen
Wissensvermittlungsverständisses, welches sich in den gegenwärtigen Reformprozessen in
unseren Lerninstitutionen breit macht. Allen normativ anderslautenden Vorgaben zum Trotz
werden die notwendigen Freiräume des Lernens und der Persönlichkeitsbildung
wegrationalisiert zugunsten einer Verschulung, deren outputs dauernder Kontrolle
unterliegen. Hier wird Bildung grundlegend missverstanden, was sich z.B. daran zeigt, dass
das größte Gewicht auf der Ausbildung liegt und nicht, wie noch in der Deutschen Mystik,
aber auch in der Romantik, auf der Einbildung. Dennoch könnte es sein, dass der aus dem
Bereich des Sehens entlehnte Begriff der Bildung diesem Missverständnis insofern Vorschub
geleistet hat, als er nahelegt, dass es hier am Ende doch auch einen Fortschritt zu sehen gibt.
Gegenüber diesem Missverständnis von Bildung möchte ich wieder an einen alten Begriff
anknüpfen, der lange Zeit in Misskredit war, den Begriff der Katechetik.31
In seiner Bochumer Antrittsvorlesung "Der Sound des Lernens" hat Gotthard Fermor
wieder auf die Wurzeln des Begriffs Katechetik hingewiesen. Katechetik entstammt nicht
dem optischen, sondern dem akustischen Bereich. κατηχέω (katächeo) ist ein Fachbegriff
aus der antiken Theaterwelt und meint das Von-Oben-Herab-Tönen, welches durch das
28
Vgl. dazu Sabine Wienker-Piepho: Nun singen sie wieder! - Karaoke in Deutschland; in: Claudia Lipp (Hg.):
Medien Popularer Kultur. Erzählung, Bild unf Objekt in der volkskundlichen Forschung. Festschrift Rolf
Wilhelm Brednich, Frankfurt/New York 1995, 219-229.
29
Vgl. dazu Reinhard Kopiez / Guido Brink: Fußball-Fangesänge. Eine FANomenologie, Würburg 31999.
30
Vgl. dazu Bernd Schwarze: Art. Star; in: Kristian Fechtner / Gotthard Fermor / Uta Pohl-Patalong / Harald
Schroeter-Wittke (Hg.): Handbuch Religion und Populäre Kultur, Stuttgart 2005, 288-296.
31
Zur Geschichte dieser Disziplin vgl. Christoph Bizer: Art. Katechetik; in: TRE 17 (1988), 686-710.
1
Geschehen auf der Bühne passiert. Laut Lukian geschieht dies, indem die Dichter ihre
Zuhörer von der Bühne herab "mit Versen ansingen und mit Fabeln antönen"32. In der
weiteren Begriffsgeschichte, auch im NT, wird κατηχέω generalisiert zur mündlichen
Mitteilung, zum Unterrichten,33 welches fast immer als face-to-face-Kommunikation gedacht
ist, bei der das Erklingen einer Stimme wesentlich ist. Der Ton macht bekanntlich die Musik
- oder wie es in Schleiermachers Weihnachtsfeier heißt: "Was das Wort klar gemacht hat,
muss der Ton lebendig machen."34 Im Gesang werden Inhalte anders, als wenn sie z.B. leise
gelesen werden. Sie "nehmen sich so einen noch anderen, weiteren Raum, als den in
Gedanken, sie erzeugen und finden im wahrsten Sinne des Wortes Resonanz, ein Echo"35. Es
schwingt dabei immer etwas anderes mit. Der tonus hält eine Spannung aufrecht, in der
Inhalte im Schwange bleiben, in Schwung kommen, ins Schwingen, manchmal sogar ins
Swingen geraten. Eine solchermaßen katechetisch verstandene Bildung braucht Stimme, um
stimmig zu sein. Eine solche Bildung versteht sich weniger als Überblicksveranstaltung,
sondern hat ihren Ort in, mit und unter den Dingen, die sie zu vermitteln sucht.
Wenn mein Großvater oder meine Großmutter runden Geburtstag feierten und der
Pastor kam vorbei, spätestens dann sang die versammelte Großfamilie alle fünf Strophen von
"Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren." Ich erinnere eine Atmosphäre von
Gemeinschaft und Vertrautheit, aber auch mitunter peinlicher Berührung, wenn Onkel und
Tanten stimmlich daneben lagen: Mitgehangen - mitgefangen. Ich erinnere Textfetzen, die
mich als Kind intensiv beschäftigten, mit denen ich Kindertheologie trieb: "himmlische
Chöre" - "auf Adelers Fittichen" - "wie es dir selber gefällt" - "der künstlich und fein dich
bereitet" - "mit Strömen der Liebe geregnet" - "Odem" - "mit Abrahams Samen". Hier kam
der Dank über eine individuelle Lebensgeschichte zum Ausdruck, die verbunden war mit der
Familien- und mit der Kirchen-, ja sogar mit der Menschheitsgeschichte. Hier geschah
katechetische Bildung - liturgisch wie religionspädagogisch.
Das singende Leben der Glaubenden vollzieht sich aber nicht nur als Lobgesang,
sondern auch als Klage. In beiden Gesangsformen öffnen sich Menschen der Kraft des
Lebens, indem sie das loslassen und ausatmen, was sie unbedingt angeht. Im Singen kommen
dabei neben bzw. jenseits von Texten und ihren Bedeutungen Gefühle zur Darstellung. Diese
müssen nicht verstanden werden, sondern gewinnen im Singen als Lobgesang und Klage
einen Raum, der den Singenden neuen Atem schenkt. Wer singt, muss und kann tief Luft
holen. Im Singen wird daher auch der eigene Körper als Klangraum gespürt. Im Singen
ereignet sich ein Einschwingen, eine Resonanz auf die Welt als Klang. Singen artikuliert
Weltbezug. Singen kann daher positive therapeutische Wirkungen haben,36 es kann
Einsamkeit durchbrechen und Angst eindämmen - beim Pfeifen im Walde oder beim Gang in
den dunklen Keller. In der jüdisch-christlichen Tradition sind daher die Psalmen ein
wesentlicher Fokus der Frömmigkeit. Auch wenn wir nicht mehr die konkrete Musik der
Psalmen rekonstruieren können, so zeigen die Spielanweisungen und Melodiebezeichnungen
in vielen ersten Versen von Psalmen, dass sie nicht fürs leise Lesen, sondern fürs laute
Singen und Musizieren gedacht sind. In der westlichen Liturgie ist dieses Element vor allem
im sog. Psalmodieren kultiviert worden, allerdings so, dass die starken Affekte beim Singen
32
Lukian: Zeus tragoedus, cap. 39; zit. n. Eugen Sachsse: Art. Katechese; in: RE3 10 (1901), 122.
Vgl. ThWNT 3 (1938), 638-640.
34
Friedrich Schleiermacher: Die Weihnachtsfeier (hg. v. Hermann Mulert), Leipzig 1908, 22.
35
Gotthard Fermor: Der Sound des Lernens. Systematisch- und praktisch-theologische Überlegungen zur
Gemeindekulturpädagogik am Beispiel der Musik; in: ZPT 59 (2007), MS S. 2.
36
Vgl. dazu Karl Adamek: Singen als Lebenshilfe. Zu Empirie und Theorie von Alltagsbewältigung. Plädoyer
für eine "erneuerte Kultur des Singens", Münster/New York 32003.
33
1
dadurch in geordnete Bahnen gelenkt werden sollten. Dies vermochte jedoch im Laufe der
Kirchengeschichte manche ekstatische Verzückung glücklicherweise nicht zu verhindern.
Singen stiftet Gemeinschaft. Dies gilt nicht allein für das emotionale Zusammengehörigkeitsgefühl von mehreren Menschen in einem Raum, z.B. im Gottesdienst. Sondern
dies gilt auch kosmologisch: Das Sanctus im Gottesdienst z.B. versetzt uns in die
Gemeinschaft der Engel und verschafft uns so himmlische Gemeinschaft (Jes 6). Das gilt
aber auch historisch: Im Singen haben wir Teil an der Freuden- und Leidensgeschichte der
Menschen mit Gott. Dies spiegelt sich in den biblischen Psalmen und Hymnen ebenso wie in
den Liedern von Martin Luther, Paul Gerhardt, Jochen Klepper oder Fritz Baltruweit. Das
Singen bringt auf eine elementare Weise die Verletzlichkeit und Angefochtenheit der
Glaubenden zur Geltung, ohne damit die Verstehensfrage überflüssig zu machen. Dabei sind
die Texte von Liedern nicht unwichtig, sie sind aber auch nicht das alles Entscheidende. Es
ist bei bekannten Liedern oder Gesängen vielmehr die Atmosphäre, die mit ihnen verbunden
ist und beim Singen in anderen Situationen als tröstlich und stärkend erlebt wird. Ein
bekanntes Beispiel hierfür sind die Taizé-Gesänge. So gewährt gerade das Singen einen
Raum für die Ambivalenzen des Glaubens und Lebens.
Schließlich bringt Singen anderes zur Geltung als Sprechen - nicht nur
neurophysiologisch. Kulturwissenschaftlichen Vermutungen zufolge scheint das Singen älter
zu sein als das Sprechen. Als gestaltete Lautgebärde ist es jedenfalls phylogenetisch im
Lallen und Schreien früher ausgeprägt als das Sprechen. Sprache und Gesang werden "zwar
durch denselben Lautapparat hervorgebracht, aber von verschiedenen Gehirnhälften
gesteuert"37. Das Sprechen wird von der linken, das Singen von der älteren rechten Hirnhälfte
gesteuert. Dabei wird in der älteren rechten Hirnhälfte auch die Steuerung der Emotionen
lokalisiert, während in der jüngeren linken Hirnhälfte auch die Steuerung von Intellekt und
Willen lokalisiert ist. Beide lautlichen Tätigkeiten schließen keineswegs die Beteiligung der
jeweils anderen Hirnhälfte während ihres Vollzuges aus, zumal wenn es sich dabei um
komplexe musikalische Gebilde oder um komplexe Handlungsvollzüge handelt. Aber sie
zeigen eine unterschiedliche neurophysiologische Schwerpunktsetzung an, vielleicht könnte
man auch sagen eine unterschiedliche Heimat dieser beiden Vollzüge. Dies ist von
besonderer Relevanz z.B. in der Seelsorge mit solchen Menschen, die nicht oder nicht mehr
sprechen können. Hier vermag sowohl das Vorsingen der Seelsorgerin als auch das Summen,
das textlose Singen, das Lallen auf seiten derer, die nicht sprechen können, Räume zu öffnen
für die Darstellung von Gefühlen, Botschaften, Stimmungen, die ansonsten undarstellbar in
der Unsagbarkeit verharrten.38
In den Kulturwissenschaften sind die Phänomene von Lautlichkeit, Stimme,
Stimmung und Stimmigkeit erst seit dem cultural bzw. performative turn der letzten Jahre
wieder ein Thema.39 Leblose Dinge haben keine Stimme, hatte Aristoteles gesagt. So nimmt
es nicht wunder, dass in der Geschichte der Menschheit zumeist laut gelesen wurde, um so
einen Text lebendig werden zu lassen. Augustin z.B. war äußerst überrascht darüber, dass
Ambrosius von Mailand leise zu lesen pflegte. Das Leise-Lesen begann erst in der Moderne
und war auch ein Akt der alphabetisierten bürgerlichen Freiheit gegenüber der Zensur.40 Für
den Gebrauch von Bibeltexten in der Frömmigkeit ist dies ein gravierender Einschnitt, denn
37
Ernst Klusen: Singen. Materialien zu einer Theorie, Regensburg 1989, 16.
Vgl. Harald G. Wallbott: Kommunikation von Emotionen - Zur Bedeutung der Sprechstimme; in: WzM 47
(1995), 201-214.
39
Vgl. Rudolf zur Lippe: Die Stimme der Menschen; in: Frithjof Hager (Hg.): KörperDenken. Aufgaben der
Historischen Anthropologie, Berlin 1996, 93-107.
40
Vgl dazu Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens, Berlin 1998.
38
1
leise gelesene Bibeltexte können nur noch selten zur viva vox evangelii werden. In der
Phänomenologie des 20. Jh. wird daher großer Wert auf die "Rauheit der Stimme" (Barthes)
gelegt, "die Art und Weise, wie die Stimme im Körper sitzt - oder wie der Körper in der
Stimme sitzt"41. In der Stimme verkörpert sich ein Dreifaches:
1. Stimme ist Verlautbarung des Körpers, in dessen Individualität stets auch ein Anderes
hörbar wird, was die Sprechenden anders vernehmen als die Hörenden.
2. Das, was die Stimme zwischen Schrei, Flüstern oder Stöhnen und artikuliertem Wort zu
Gehör bringt, zeigt die Gestimmtheit des Körpers. Stimme drückt Singuläres aus, ist
expressiv.
3. Stimme ist in elementarer Weise Anruf, Anrufung, Appell. Was im Säuglingsschrei
kulminiert, ist das Evozieren von Fürsorge durch die Stimme, die nervlich zerrüttet, wenn sie
nicht gestillt werden kann. Stimmen und Stimmungen sprechen unsere Affekte an, sie
erheben Geltungsansprüche und lassen uns Macht und Ohnmacht im Angesicht des Anderen
erfahren.
Stimmen hören - das kann aber auch für pathologische Formen der
Weltwahrnehmung stehen. In diesem Falle sehen wir gequälte Menschen, die vor etwas
Ungreifbarem, Unbegreiflichen, das sie - langsam aber sicher - in den Wahnsinn treibt, auf
der Flucht sind. Auch hier greifen die Mechanismen des Appells, des Ausdrucks, der
Verlautbarung, des unbedingten Geltungsanspruchs, dem sich niemand entziehen kann. Wie
auch immer: Wer Stimmen hört, steht nicht mehr über einer Sache, sondern ist mittendrin,
wird durchquert von Anderem, ist Person, durch die etwas hindurchtönt: per-sonare.
Phylogenetisch ist das Gehör der erste entwickelte Sinn des Menschen, der schon im
embryonalen Zustand das Andere der Welt hörbar macht, als Herzschlag und Stimme der
Mutter. Menschen werden als Resonanzwesen gezeugt und geboren, und sie sterben als
solche. Sofern das Gehör nicht versehrt wurde, ist es nämlich zugleich auch der letzte
menschliche Sinn, der beim Sterben erlischt.42
Biblisch-theologische Spitzenszene des Stimmenhörens ist die Geschichte von Elia
am Horeb, jenem unbestimmbaren Ort, an dem sich Gott offenbart. Nachdem Elia alle
diejenigen Phänomene passieren, in denen sich Gott dem Mose am Horeb offenbart hatte (Ex
19 / Ex 33): Wind, Erdbeben und Feuer, erkennt Elia, dass Gott nicht darin ist, sondern in
einer qol demamah (I Kön 19,12c), einer unhörbaren Stimme. Luther übersetzt mit "ein
stilles, sanftes Sausen", Buber / Rosenzweig mit "Stimme verschwebenden Schweigens".
Beides erklingt zugleich: Zum einen die Stimme, mit der Wort Gottes geschieht: ungreif- und
unbegreifbar und dennoch unverwechselbar; zum anderen die Unheimlichkeit der
Unhörbarkeit. In absoluter Stille gehen Menschen zugrunde, wie Experimente mit Menschen
in schalldichten Räumen zeigen.
Wer singt, beansprucht Körper. Wer singt, gibt etwas von sich preis. Wer singt, lässt
anderes erklingen, als er oder sie im Griff hat. Ich höre mich anders als Sie mich hören, daher
erschrecke ich regelmäßig, wenn ich mich auf Band singen oder sprechen höre. Wer singt, ist
Körper und hat zugleich Körper. Wer singt, tritt über sich hinaus, existiert. Aufgrund dieser
elementaren Ambivalenzen ist Singen uns einerseits oft so peinlich, stiftet Singen aber
andererseits auch auf sehr elementare Art und Weise Gemeinschaft.
41
Sybille Krämer: Medienphilosophie der Stimme; in: Mike Sandbothe / Ludwig Nagl (Hg.): Systematische
Medienphilosophie, Berlin 2005, 224.
42
Christoph Wulf: Ohr; in: Ders. (Hg): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel
1997, 459-464.
1
4. Vom Stau zum Staunen Unerhörtes zu einer religionspädagogischen Hymnologie
In meinem Schlussteil bringe ich in zusammenfassenden Thesen die Probleme, die sich beim
Bedenken hymnologischer Fragen einstellen und die mitunter zu lähmen drohen, wieder ins
Fließen, um vom Stau ins Staunen zu geraten, in einen Zustand, der für alle Formen
Praktischer Theologie wünschenswert ist, weil er Begeisterung, Innehalten, Überraschung,
Unerhörtes und Reflexion zugleich zur Geltung bringt.
1. These: Eine religionspädagogische Hymnologie stellt sich dem hymnologischen Phänomen
der Stagflation.
Der Kirchentag ist für die Singe-Kultur in Deutschland nach 1945 eine der bedeutendsten
religionspädagogischen Institutionen. Hier wurde seit den 60er Jahren nicht nur das Neue
geistliche Lied massenwirksam eingeübt und in die Gemeinden getragen, sondern auch
andere nicht traditionelle kirchenmusikalische Formen für die ganze Gemeinde endgültig
etabliert, z.B. die Posaunenchorarbeit, aber auch innovative zeitgenössische Formen der
Kirchenmusik, die sich etwa dem jüdisch-christlichen Dialog verpflichtet wissen.43 War in
den frühen Kirchentagen das Singe-Erlebnis eines seiner wesentlichsten Wirkfaktoren, z.B.
in Leipzig 1954 mit 650.000 während der Schlussversammlung in einer atheistischen
Umgebung oder in den U-Bahnen der westdeutschen Metropolen, so hat dieses Phänomen in
den letzten beiden Jahrzehnten doch spürbar abgenommen, obwohl es immer noch deutlich
wahrnehmbar ist. Der Kirchentag hat diese Fragen seit Mitte der 80er Jahre reflektiert. In der
Halle der Kirchenmusik wird seitdem bewusst der Cross-Over zwischen verschiedenen
kirchenmusikalischen Kulturen inszeniert. In den Tagungen zum "Singen auf
Kirchentagen"44 ist Mitte der 90er Jahre eine "Stagflation" festgestellt worden, d.h. eine
Stagnation in der stilistischen Weiterentwicklung des neuen geistlichen Liedes bei
gleichzeitiger Inflation der Lieder. Der Kirchentag versucht diesem Phänomen mit 2 Dingen
zu begegnen: auf der einen Seite mit Konzentrationsbemühungen durch die Liederhefte, die
vielfach in den gastgebenden Landeskirchen zu offiziellen Beiheften wurden, auf der anderen
Seite durch offene Ausschreibungen und Workshopwochenenden, die der Komposition und
Produktion von aktuellem Kirchentagsliedgut dienen. Seit Hannover 2005 gibt es auch ein
Motto-Lied des Kirchentags45, welches ihn popkulturell wiedererkennbar macht, für
Hannover 2005 wurde es von Rudolf Kunze produziert, für Köln 2007 von den Wise Guys,
diesmal in dreifacher Gestalt: als Song, als Karaoke- sowie als Jugendchorversion.
2. These: Eine religionspädagogische Hymnologie reflektiert die Kategorien Atmosphäre,
Arrangement und Unterhaltung.
Die für die musikalische Wirkung in unserer Zeit neben der musikalischen Qualität
wichtigsten Wirkfaktoren sind die Atmosphäre46, in der Musik geschieht, die Frage des
43
Vgl. dazu aus hymnologischer Sicht Friedrich-Wilhelm Marquardt: Kleine Selbst-Täuschungen beim Loben
Gottes, in: JLH 40 (2001), 116-135; Jochen Arnold: Kirchenlied und jüdisch-christlicher Dialog am Beispiel
ausgewählter Psalmlieder, in: Alexander Deeg / Irene Mildenberger (Hg.): "... dass er euch auch erwählet hat"
Liturgie feiern im Horizont des Judentums, Leipzig 2006, 173-201.
44
Der damalige Kirchentagspastor Martin von Essen hatte 2 Tagungen initiiert, die kirchentagsintern auch
dokumentiert wurden: Das Singen auf Kirchentagen (24.-25.11. 1995 in Fulda), Musik auf Kirchentagen (22.23.3. 1996 in Berlin).
45
Es kann auf der Internetseite des Kirchentags kostenlos heruntergeladen werden.
46
Vgl. Joachim Kunstmann: Art. Atmosphäre; in: Fermor / Schroeter-Wittke (Hg.), Kirchenmusik 2005, 60-65.
1
Arrangements47, welches Musikstücke unterschiedlichen Kulturen zugänglich machen kann
sowie die Frage nach einer Unterhaltung48, die uns ernährt, die Wahrheit im
partnerschaftlichen Gespräch entstehen lässt und die Spaß macht. Der Unterausschuss Musik
der Liturgischen Konferenz Deutschlands unternimmt seit Jahren Anstrengungen in diese
Richtung. So enstanden drei Bände mit dem Titel "Singen bewegt". Die Lippstädter
Kirchenmusikdirektorin Christa Kirschbaum aus der Zacher-Schule hat einen ersten Band mit
Melodiespielen zu Gesangbuchliedern vorgelegt.49 Der am Michaeliskloster Hildesheim
arbeitende Jazzer und Popmusiker Wolfgang Teichmann legt einen Band mit
Rhythmusspielen zu EG-Liedern vor. Und der Bayreuther Professor für
Kirchenmusikpädagogik Siegfried Macht wird 2007 einen Band mit Tanzpartituren zu
Liedern des EG-Stammteils veröffentlichen. Alle drei Bände revolutionieren das
Gesangsmaterial durch unterhaltende Arrangements.
3. These: Eine religionspädagogische Hymnologie fragt nach dem, was beim Singen auf dem
Spiel steht.
An den Orten, an denen heute noch viel gesungen wird, steht zumeist viel auf dem Spiel beim
Singen, sei es in der Karaoke-Bar oder im Fußballstadion. Was steht im gottesdienstlichen
Singen auf dem Spiel? Bei Luther war dies noch eine Menge, denn Musik und Gesang
vertrieben dort immerhin den Teufel. Unsere Gottesdienstkultur ist vom Erleben dieser
Dramatik zumeist ziemlich weit entfernt - mit guten Gründen. Die Dramatik des Singens
kann aber auf anderem Wege wieder eingeholt werden, wenn z.B. Lieder mit
bibliodramatischen Methoden bearbeitet werden, wie dies etwa Heiner Aldebert gezeigt hat,50
oder wenn die theatralen Aspekte z.B. von Paul Gerhardts "Wie soll ich dich empfangen"
inszeniert werden51.
4. These: Eine religionspädagogische Hymnologie übt nicht nur ins Loben ein, sondern auch
in das Klagen als einer notwendenden Äußerung menschlichen Lebens.
Anlässlich des Todes von Robert Gernhardt, einem der bedeutendsten deutschen
Gegenwartslyriker,52 der am 30.6. 2006 an Krebs starb, setzt sich Vicco von Bülow mit
47
Vgl. Detlev Prößdorf: Art. Arrangement; in: Fermor / Schroeter-Wittke, Kirchenmusik 2005, 55-59.
Vgl. Harald Schroeter-Wittke: Art. Unterhaltung, in: TRE 34 (2002), 397-403; ders.: Art. Unterhaltung, in:
Fechtner u.a. (Hg.), Handbuch 2005, 314-325.
49
Christa Kirschbaum: Melodiespiele mit Gesangbuch-Liedern. Singen bewegt 1, München/Berlin 2005.
50
Heiner Aldebert: Spielend Gott kennenlernen. Bibliodrama in relgiionspädagogischer Praxis, Hamburg 2001,
108-132, der bibliodramatisch mit barocken Trauerliedgesängen arbeitet.
51
Vgl. Bernhard Leube: Theatrale Aspekte von Paul Gerhardts "Wie soll ich dich empfangen", in: Arbeitsstelle
Gottesdienst 20 (2006) Heft 2, 66-72.
52
Nicht umsonst beendet einer der besten Goethe-Kenner, der Mannheimer Literatur- und
Medienwissenschaftler Jochen Hörisch seine ontosemiologische medienpoetische Trilogie zum Abendmahl,
zum Geld und zu den neuen Medien mit einem Gedicht Robert Gernhardts (Robert Gernhardt: Lichte Gedichte,
Zürich 1997, 206; zit. n. Jochen Hörisch: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, Frankfurt 1999):
Ach
Ach, noch in der letzten Stunde
werde ich verbindlich sein.
Klopft der Tod an meine Türe,
rufe ich geschwind: Herein!
Woran soll es gehn? Ans Sterben?
Hab ich zwar noch nie gemacht,
doch wir werd'n das Kind schon schaukeln na, das wäre ja gelacht!
48
1
dessen Frömmigkeit auseinander, die sich u.a. in Gernhardts Gerhardt-Rezeption zeigt. In
seinen posthum veröffentlichten letzten Gedichten "Später Spagat" setzt er sich angesichts
seiner unheilbaren Krankheit und ihrem Leid vielfach mit christlichen Traditionen
auseinander, wobei die bittere Klage im Zentrum steht, die uns das Lachen oft im Halse
stecken bleiben lässt. Eine religionspädagogische Auseinandersetzung mit dem LiederDichter Gernhardt lohnt sich. So lautet etwa die 1. Strophe von Gernhardts Adaption
"Schuldchoral II" von Gerhardts "O Haupt voll Blut und Wunden":
"O Robert hoch in Schulden / Vor Gott und vor der Welt,
Was mußt du noch erdulden, / Bevor dein Groschen fällt?
Durch Speien und durch Kotzen, / Läßt der sich nichts abtrotzen,
Der auch dein Feld bestellt."53
5. These: Eine religionspädagogische Hymnologie nimmt die Popkultur als ihren
wirkungsvollsten Kontext wahr.
Hymnologie muss heute die popkulturelle Lebenswelt der Christen wahrzunehmen lernen. In
den Songs der Popmusik verankern Menschen heute in ähnlicher Weise ihr Leben wie
Menschen in früheren Zeiten dies in ihren Volks- und Kirchenliedern taten. Daher muss diese
Lebenswelt heute zur Geltung kommen. Im Religionsunterricht kann dies etwa so geschehen,
dass die Schülerinnen und Schüler zu bestimmten Themen ihre Popmusik mitbringen und
vorstellen, so dass ihre Lebenswelt im Unterricht zur Sprache kommt. Es kann auch anders
herum passieren, dass sie z.B. aufgefordert werden, einen Bibeltext so mit ihrer Popmusik zu
bestücken,54 dass er "affjerockt"55 werden könnte, wie man im Rheinland sagt. Vielleicht
kann eine Pop-Version des bekanntesten adventlichen Hallelujas unseres Kulturkreises hier
den Bogen schließen und zugleich auf die Sprünge helfen. Ich meine Georg Friedrich
Händels Halleluja aus seinem Messias, der zu seiner Zeit schon Popmusik war.56 1992 haben
fast 50 Musiker aus der U.S.-amerikanischen Black Culture Teile aus Handel's Messiah in
Interessant so eine Sanduhr!
Ja, die halt ich gern mal fest.
Ach - und das ist Ihre Sense?
Und die gibt mir dann den Rest?
Wohin soll ich mich jetzt wenden?
Links? Von Ihnen aus gesehn?
Ach, von mir aus! Bis zur Grube?
Und wie soll es weitergehn?
Ja, die Uhr ist abgelaufen.
Wollen Sie die jetzt zurück?
Gibt's die irgendwo zu kaufen?
Ein so ausgefall'nes Stück
Findet man nicht alle Tage,
womit ich nur sagen will
- ach! Ich soll hier nichts mehr sagen?
Geht in Ordnung! Bin schon
53
Robert Gernhardt: Später Spagat, Frankfurt 2006, 20.
54
Vgl. als Beispiel Gotthard Fermor / Harald Schroeter: Sounds of Silence. Popmusikalische Kontrapunkte zu
Elia, in: Klaus Grünwaldt / Harald Schroeter (Hg.): Was suchst du hier, Elia? Ein hermeneutisches Arbeitsbuch,
Rheinbach 1995, 308-319.
55
So lautete der Titel der 3. LP von BAP zu Beginn der 80er Jahre.
56
Vgl. Gotthard Fermor: Georg Friedrich Händels Messias und seine "Soulful Celebration". Eine
Herausforderung, erneut über "geist-liche" Musik nachzudenken, in: Ders. / Hans-Martin Gutmann / Harald
Schroeter (Hg.): Theophonie. Grenzgänge zwischen Musik und Theologie, Rheinbach 2000, 98-127.
1
ihre unterschiedlichen Musiktraditionen übersetzt und dieser CD, welche natürlich mit jenem
berühmten Halleluja endet, den Titel gegeben: "Handel's Messiah - A Soulful Celebration" Halleluja!
Harald Schroeter-Wittke, Dr. theol., Abelbachstr. 6, 33142 Büren, geb. 1961 in Duisburg.
Professor für Didaktik der Evangelischen Religionslehre mit Kirchengeschichte am Institut für Evangelische Theologie der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn, 33095
Paderborn, E-Mail: [email protected].
Musiker und Spieleautor, Präsidiumsmitglied des Deutschen Evangelischen Kirchentags,
Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Populäre Kultur und Religion, Mitglied der Liturgischen
Konferenz Deutschlands.
Veröffentlichungen u.a.:
Kirchentag als vor-läufige Kirche, Stuttgart u.a. 1993; Unterhaltung, Frankfurt u.a. 2000;
Prospekt einer liturgischen Didaktik, Waltrop 2000; Ahnung von der Predigt, Waltrop 2000;
Musik als Theologie. Studien zur musikalischen Laientheologie in Geschichte und Gegenwart,
Leipzig 2010
Herausgeberschaften u.a.:
Praktisch-theologische Hermeneutik, Rheinbach 1991; Was suchst du hier, Elia? Rheinbach
1995; Prozesse postmoderner Wahrnehmung, Wien 1996; Kleiner kabarettistischer
Katechismus, Rheinbach 1998; Theopoesie, Rheinbach 1998; Theophonie, Rheinbach 2000;
Gemeindekulturpädagogik, Rheinbach 2001; Rheinische Karnevalstheologie, Rheinbach 2002;
Reisen, Münster 2003; Kirchenmusik als religiöse Praxis, Leipzig 2005; Handbuch Populäre
Kultur und Religion, Stuttgart 2005; Die besten Nebenrollen. 50 Portraits Biblischer
Randfiguren, Leipzig 2006; Zwischen Politik und Religion. Der "Kampf um Paderborn" 1604
und seine Rezeption,, Bielefeld 2006; Gottesdienst-Orte. Handbuch Liturgische Topologie,
Leipzig 2007; Tanz und Religion, Frankfurt/M. 2008; Kleines Kabarettistisches Kirchenjahr,
Rheinbach 2008; Evangelisches Paderborn. Protestantische Gemeindegründungen an Pader und
Weser, Bielefeld 2008; Populäre Kultur und Religion – Best of..., Jena 2009; Protestantische
Profile im Ruhrgebiet, Kamen 2009; Überzeichnet – Religion in Comics, Jena 2011; Singen im
Gottesdienst, Gütersloh 2011; Religionssensible Schulkultur, Jena 2011.