EIN APFEL- BÄUMCHEN FÜR DEN LÖWEN

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EIN APFEL- BÄUMCHEN FÜR DEN LÖWEN
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FORSCHUNG
EIN APFELBÄUMCHEN
FÜR DEN
LÖWEN
Abschied auf leisen Pfoten oder vom
Aussterben einer Großkatze
von Joachim Scholz, Irina Ruf &
Mathias Wirkner
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„Madame, alle Geschichten enden, wenn
man sie weit genug verfolgt, mit dem
Tod, und der ist kein echter Geschichtenerzähler, der Ihnen das vorenthält.“
(Hemingway 1967)
D
as gilt nicht nur für unser individuelles und im geologischen
Zeitmaßstab bedeutungsloses Leben,
sondern auch für biologische Arten.
Es sollte Sie daher zunächst nicht beunruhigen, dass unsere dem Löwen,
dem Inbegriff von Macht und Stärke,
gewidmete Artikelserie vom Aussterben handelt.
Die Frage ist nicht, ob der Löwe als biologische Art von der Erde verschwinden
wird, sondern nur, wann genau das geschieht – was im Übrigen auch für unsere
eigene Spezies gilt. Bestürzend ist es allerdings, dass es beim Löwen dank uner-
müdlichen menschlichen Zutuns so rasch
vonstatten zu gehen scheint.
Offenbar können Menschen und große
Beutegreifer nicht mehr zusammenleben.
Die letzten Tiger werden in den Worten
Seidenstickers (2010) buchstäblich ausgelöscht und sind nicht nur in Indien um
98 Prozent im Bestand reduziert. Vom
Asiatischen Löwen (Panthera leo persica)
existieren nur noch etwa vierhundert
Tiere in freier Wildbahn; sie leben alle im
Gir-Forest-Nationalpark im indischen
Bundesstaat Gujarat, der mit rund 259
Quadratkilometern (Barat Lal 2000) eine
Fläche von der Größe der Stadt Frankfurt
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lationen. Mit Ausnahme des südlichen
Afrikas gehen die Populationen überall
zurück – zwischen 1993 und 2014 im
Schnitt um 38 Prozent (Bauer et al. 2015 a,
2015 b).
Abb. 2: Einer der letzten Berberlöwen (Panthera leo leo) aus Marokko, der möglicherweise
noch aus freier Wildbahn stammt; Foto aus dem Archiv des Tierparks Hagenbeck, aufgenommen
zwischen 1907 und 1914 in Hamburg-Stellingen. Auf der Rückseite des Fotos lesen wir:
„This kind of lion is nearly extinct“ (Diese Löwenart ist beinahe ausgestorben).
Dagegen hatten Riggio et al. (2013) die Gesamtzahl der Löwen Afrikas noch auf
32 000 bis 35 000 Tiere geschätzt. Über
die Zahlen und regionalen Aussterbemuster wird derzeit in der Fachwelt diskutiert
(Bauer et al. 2016, Riggio et al. 2016). Die
Reise des Löwen in den afrikanischen
Sonnenuntergang steht jedoch nicht mehr
zur Debatte. Inzwischen wird der Löwe
auf der Roten Liste IUCN als „vulnerable“
(gefährdet) geführt (Bauer et al 2015 b).
Falls sich die Einschätzungen von Bauer
et al. (2015 a) bewahrheiten, dann würden
die Löwenpopulationen im zentralen und
westlichen Afrika innerhalb der nächsten
zwanzig Jahre halbiert oder ausgelöscht
(s. Abb. A auf S. 139). Im östlichen Afrika
läge die Wahrscheinlichkeit eines derart
drastischen Rückgangs bei knapp unter
40 Prozent. Überall außerhalb gut bewachter Nationalparks im südlichen Afrika
scheint das Weiterbestehen der Spezies
infrage gestellt (Packer 2015).
Bereits vor mehr als 110 Jahren galten afrikanische Großsäugetiere als zum Aussterben verurteilt (s. Beitrag von Scholz et
al. auf den Seiten 160 ff.). Was damals
vielleicht noch als Schwarzmalerei abgetan werden konnte, materialisiert sich
heute, denn nicht nur Löwen verschwinden (Abb. 2, 3).
Abb. 1: Kapitaler männlicher Löwe
in der afrikanischen Savanne.
bedeckt – oder Londons, circa sechsmal
so groß, wenn man das dazugehörige
Schutzgebiet hinzurechnet.
Gibson 2011). Wie der Dschungelkönig
Asiens verabschiedet sich auch der König
der Tiere in Afrika auf leisen Pfoten.
Lange hatte es den Anschein, als könne
es den afrikanischen Löwen besser ergehen, aber das ist ein Irrtum (s. Abb. A auf
S. 139). Von einigen Löwenreservaten im
südlichen Afrika abgesehen gilt neuerdings ausgerechnet der winzige indische
Nationalpark als Vorbild zur Erhaltung einer
stabilen, wenn auch kleinen Löwenpopulation (Breitenmoser et al. 2008, Singh &
Die Zeit ist gekommen, in Anlehnung an
Hoimar von Ditfurth (1985) und ein Martin
Luther zugeschriebenes Zitat („Wenn ich
wüsste, dass morgen der jüngste Tag
wäre …“), darüber nachzudenken, ein Apfelbäumchen für den Löwen zu pflanzen.
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Auf dem gesamten Kontinent leben wohl
nur noch geschätzt 20 000 Tiere in 67 Popu-
Auslöschung
Die meisten Löwenpopulationen sind bereits derart geschrumpft, dass Inzucht
und deren Folgeerscheinungen ihnen den
Garaus machen werden. Nehmen wir
zum Beispiel den Westafrikanischen oder
Senegal-Löwen Panthera leo senegalensis:
Nachdem bereits anhand anatomischer
Merkmale der Status einer eigenen LöwenUnterart bestätigt wurde (Hemmer 1974),
haben Ergebnisse molekulargenetischer
Untersuchungen weitere interessante
Verwandtschaftsverhältnisse aufgedeckt.
Demzufolge ist der Senegal-Löwe nahe mit
den nordafrikanischen und Asiatischen
Abb. 3: Nawiri, ein afrikanischer Löwe aus dem Tierpark Hagenbeck in Hamburg. Die
Löwen des Tierparks Hagenbeck ähneln äußerlich Berberlöwen (Abb. 2), haben jedoch keinen
Unterartenstatus und sind beim Verband der Zoologischen Gärten dementsprechend als
„Panthera leo“ gelistet.
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