Reggio Pädagogik - Katholische Fachschule für Sozialpädagogik in

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Reggio Pädagogik - Katholische Fachschule für Sozialpädagogik in
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Vortragsskript von Barbara Pfersich
Anlässlich der Fachtagung am 16. März 2007 an der
Fachschule für Sozialpädagogik in Gengenbach
Zum Thema: Reggiopädagogik in Kindertageseinrichtungen
Reggio Pädagogik
"In dieser norditalienischen Stadt gibt es die
schönsten Krippen und Kindergärten der Welt",
so befindet die amerikanische Zeitschrift
Newsweek und verleiht ihnen 1991 einen Oskar
für eine Pädagogik, die den vielerorts üblichen
Vorstellungen zur Kindererziehung neue und
außergewöhnliche Ideen entgegensetzt.
Einjährige Kinder experimentieren dort an
Staffeleien mit Farben und Formen, Dreijährige
erkunden das Wesen und Wirken von Computern
und Fünfjährige philosophieren über das
Phänomen des Schattens: "Der Schatten ist wie
ein Abend, der kommt, wenn die Sonne scheint"
(Dreier 1993, S. 9).
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Die Kinder von Reggio sind Inhaber von Rechten
Die Kinder haben das Recht auf Anerkennung sind durch ihre
Beziehungen, ihre Interaktionen mit Gleichaltrigen, mit
Erwachsenen, mit Ideen, Dingen und mit tatsächlichen oder
fiktiven Ereignissen in miteinander verbundenen Welten aktiv an
der Entwicklung ihrer Identität, ihre Autonomie und ihrer
Kompetenz beteiligt.
Die Kinder haben ein Recht auf Lernen und Erkenntnis.
Lernen wird verstanden als ein Konstruktions- und
Verarbeitungsprozess. Denken bedeutet, dass neue Erkenntnisse
in vorhandene Strukturen eingearbeitet werden. Dieser Prozess
beginnt mit der Geburt und setzt sich ein Leben lang fort.
Recht auf Ausbildung des Selbst
Die Freiheit des Kindes, sich allein oder mit Anderen in seinen
täglichen Erfahrungen auszuprobieren, zu messen und zu
festigen erfordert von Seiten des Erwachsenen einen großen
Respekt und großes Vertrauen, aber auch Bewusstsein und
Fähigkeiten.
Recht auf ein schöpferisches Leben
Wenigstens drei Verbindungslinien lassen sich von Montessori zur
Reggio-Pädagogik ziehen:
•
•
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Das Bild eines Kindes, das sich entwickelt, indem es seine
Kompetenzen entlang seinen Erfahrungen entwickelt.
Daraus folgend: Pädagogen lernen von Kindern, indem sie
deren Wege mit Welt umzugehen aufmerksam verfolgen
und unterstützen.
Ausgangspunkt kindlicher Tätigkeit ist die Wahrnehmung.
"Davon ausgehend bedeutet vorschulische Erziehung in Reggio Emilia Begleitung der Kinder auf ihren Wegen des Forschens und
Lernens, nicht Erziehung zu bestimmten Fähigkeiten und
Fertigkeiten über zielorientierte Fördermaßnahmen" (Dreier 1993,
S. 10).
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Zur Geschichte ihres Entstehens
Ihren Namen hat diese Pädagogik von der Stadt, in der sie sich
entwickeln konnte. Mit dieser Namensgleichheit von Stadt und
Pädagogik wird auf die enge Verbundenheit dieses Vorschulkonzepts
mit den situativen Gegebenheiten in dieser Stadt hingewiesen.
Sie liegt in der Po-Ebene zwischen Bologna und Mailand und gehört
zur Region Emilia-Romagna, einer der insgesamt 21 Regionen
Italiens. Gemessen an unseren Bundesländern sind diese Regionen
weniger autonom und stärker von der Gesetzgebung und der
finanziellen Unterstützung der Regierung in Rom abhängig (vgl. Dreier
1993, S. 20 f, Krieg 1993, S.10).
Politisch gesehen wird dieses Gebiet von alters her als "rote Region"
bezeichnet; es regieren (bis Mitte der 90er Jahre) kommunistischsozialistische Koalitionen (vgl. Göhlich 1995, S. 133; Krieg 1993, S.
11). Die kommunistische Partei PDS hat sich jedoch bereits in den
60er Jahren, in der sie noch die PCI war, von einer streng marxistischleninistischen Orientierung weg-, und einer bürgernahen und
basisdemokratischen Politik zugewandt (vgl. Krieg 1993, S. 11). Zu
der besonderen Art der norditalienischen Linken gehört neben ihren
sozialen Idealen auch das Streben nach wirtschaftlicher Produktivität
(vgl. dazu Dreier 1993, S. 19-21). Die Stadt Reggio-Emilia, mit ihren
ca. 130.000 Einwohnern, ist eine der reichsten Kommunen Italiens.
Dadurch wird einerseits ein vielfältiges kulturelles Angebot ermöglicht,
und zum anderen konnte ein breites Netz an Sozialleistungen
ausgebaut werden. Die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens in Reggio
liegt an vierter Stelle von ganz Italien. Der wirtschaftliche Wohlstand
fußt zum einen darauf, dass die landwirtschaftlichen Betriebe, die
vorwiegend in Genossenschaften organisiert sind, gut funktionieren,
und zum anderen aber auch auf der florierenden Kleinindustrie. In
jüngeren Jahren kommt ein Zuwachs auf dem Dienstleistungssektor
hinzu (vgl. Krieg 1993, S. 12). Das reichhaltige kommunale
Kulturprogramm umfasst beispielsweise Töpfer- und
Theaterwerkstätten, Computer-, Schwimm- und Gymnastikkurse
speziell für Senioren und vieles mehr (vgl. Dreier 1993, S. 19-21; Krieg
1993, S. 12).
Ob diese vielfältigen Angebote allerdings weiter in diesem Umfang
bestehen können, ist nicht mit Sicherheit zu sagen, da in jüngster Zeit
auch Norditalien von der Wirtschafts- und Währungskrise betroffen ist.
Hinzu kommt, dass die auch heute noch relativ stabile wirtschaftliche
Situation viele Immigranten anlockt. Dadurch werden mehr
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Arbeitsplätze, mehr Wohnungen und mehr bzw. differenziertere
soziale Leistungen erforderlich (vgl. Göhlich 1995, S. 137; Krieg 1993,
S. 12).
In Reggio gibt es derzeit 35 Kindertagesstätten, von denen 13 Krippen
und der Rest Kindergärten sind. Die meisten SCI liegen außerhalb der
Stadt, nur einige wenige befinden sich im Altstadtkern. Dieses
Phänomen ist durch die geschichtliche Entwicklung bedingt (vgl.
Göhlich 1995, S. 136; Krieg 1993, S. 16/17). Nimmt man alle Krippen
und Kindergärten, die staatlich, konfessionell und privat organisiert
oder aufgrund von Elterninitiativen gegründet worden sind, zusammen,
so kommt man auf insgesamt 68 Einrichtungen. Über 99 % der
reggianischen Kinder haben einen Kindergartenplatz, und für beinahe
40% von ihnen stehen Krippenplätze zur Verfügung. Erstaunlich auch,
dass die Kommune für diese Einrichtungen 40% des Budgets für
Bildung und Erziehung aufwendet (vgl. Dreier 1993, S. 27; Krieg 1993,
S. 17).
In dem für italienische, aber auch für deutsche Verhältnisse
überdurchschnittlich hohen Angebot an Einrichtungen für
Vorschulkinder, sowie in der öffentlichen finanziellen Unterstützung
der öffentlichen Erziehung, kommt die besondere Wertschätzung
gegenüber der vorschulischen Erziehung und den kindlichen Belangen
in dieser Region zum Ausdruck (vgl. Dreier 1993, S. 23/24), "[...] denn
Krippen und Kindergärten gelten in der Emilia Romagna nicht als
"Luxus" oder "Notbehelf", sondern vielmehr als Bedingung und
Voraussetzung für das Wachsen der privaten und kollektiven
Lebensqualität" (vgl. Dreier 1993, S. 23).
Zu den Entstehungsbedingungen der kommunalen SCI
und der Reggio-Pädagogik
Die Geschichte der kommunalen Kitas und der Reggio-Pädagogik ist
also untrennbar miteinander verwoben. Wie bereits schon erwähnt, ist
deren Entstehung in die Tradition, in die wirtschaftliche, soziale,
kulturelle und gesellschaftspolitische Entwicklung der Stadt ReggioEmilia und ihrer Umgebung sowie in die Besonderheiten der
emilianischen Bevölkerung eingebunden. Um diesen Umstand und
somit den "Geist" der Reggio-Pädagogik erklären zu können, werden
wir im folgenden die geschichtlichen Hintergründe erläutern.
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Die emilianische Genossenschaftsbewegung und die
sozialistische Bewegung
Bereits um die Jahrhundertwende wurde in der Region um ReggioEmilia die kommunistische Partei PCI (heute PDS) und die
sozialistische Partei PSI gegründet. Außerdem nahmen hier die
Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen ihren Ausgang (vgl. Dreier
1993, S. 20). So schlossen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die
Bauern der Region aufgrund der elenden Lebensbedingungen
zusammen, um gemeinsam arbeiten und gut leben zu können. Diese
ersten genossenschaftlichen Zusammenschlüsse, die in diesem
Zusammenhang entstanden sind, engagierten sich auch im politischen
Kampf. Beispielsweise stellten sie ihre Einrichtungen für politische und
kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung, oder sie gewährten bei
Streiks finanzielle Unterstützung (vgl. Dreier 1993, S. 22; Krieg 1993,
S. 10/11).
Im beginnenden 20. Jahrhundert erstarkte in Reggio-Emilia die
sozialistische Bewegung. Im Jahre 1912 kam dies unter einem der
ersten sozialistischen Bürgermeister Roversi zum Beispiel dadurch
zum Ausdruck, dass der erste kommunale Kindergarten gegründet
wurde (vgl. Göhlich 1995, S. 135). Ziel der Bereitstellung von
kommunalen Krippen- und Kindergartenplätzen sollte neben neuen
Erziehungsinhalten sein, den Familien bei der Betreuung ihrer Kinder
zu helfen, indem diese Einrichtungen kostenlos zur Verfügung gestellt
wurden (vgl. Dreier 1993, S. 22 u. 101-104). Dieses soziale Prinzip der
kostenlosen Kinderbetreuung konnte in den letzten Jahren leider nicht
mehr aufrechterhalten werden. Das Sparkonzept der italienischen
Regierung wirkt sich seit 1985 auch auf die reggianische Kommune
aus (vgl. Krieg 1993, S. 16). Die Forderungen nach weiteren solcher
kommunalen Einrichtungen war, wie allein schon die Eröffnung dieses
einen o.g. Kindergartens, insoweit provozierend, als bis zu diesem
Zeitpunkt ausschließlich die katholische Kirche Träger von
Einrichtungen für Kinder war (vgl. Dreier 1993, S. 22 u. 101).
Für die katholische Kirche waren die Einrichtungen vorwiegend eine
Art "Parkplatz" für Kinder von Eltern, die aus welchen Gründen auch
immer, ihre Kinder zur Betreuung außer Haus gaben. Die "asili
infantili" bzw. die "scuole materna" hatten deshalb größtenteils
fürsorgliche und familienersetzende Funktionen, die in diesen
Einrichtungen eng mit religiösen Bildungsvorstellungen verknüpft
wurden (vgl. Dreier 1993, S. 98/99; Krieg 1993, S. 14). Von den
reggianischen Pädagogen wurde den Vertretern der katholischen
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Kirche dementsprechend auch Weltfremdheit vorgeworfen (vgl. Dreier
1993, S. 102).
Um diesem Erziehungsmonopol neue Strukturen entgegenzusetzen,
sollten in den als familienunterstützende Dienste definierten
Einrichtungen Kinder gemäß den sozialistischen Idealen zu Gleichheit,
Demokratie und Solidarität erzogen werden (vgl. Dreier 1993, S. 22 u.
102/104). Die deutliche Abwendung von den reinen Familienbezügen
hin zu einer neuen pädagogischen Qualität der öffentlichen
Einrichtungen zeigt sich schon in der abweichenden Namensgebung.
In Reggio heißen die Kindergärten "...nicht "scuola materna", sondern
"scuola dell'infanzia" " (vgl. Dreier 1993, S. 98). Der reggianische
Begriff setzt die Betonung auf das Wort "Kleinkind", um zu
unterstreichen, dass es eine Einrichtung für Kinder ist, speziell für sie
und nicht ein Ersatz für etwas anderes. Und man wollte bei dieser
Neuschaffung nicht eine Schule einrichten, die als Ergänzung zur
Vollschule anzusehen ist, sondern eine eigene Institution eigenständig in jeder Hinsicht - in neuerarbeiteten Programmen und
Wertvorstellungen (Krieg 1993, S. 15/16).
Der 1912 gegründete erste kommunale Kindergarten musste in den
20er Jahren aufgrund der faschistischen Machtübernahme, die alle
demokratischen Ansätze unterdrückte, wieder geschlossen werden.
Die genossenschaftlichen Gedanken lebten jedoch, wenn auch nicht
offiziell, weiter (vgl. Krieg 1993, S. 11,14).
Die regionale Widerstandsbewegung und die eigene
Befreiungsgeschichte
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, ungefähr ab 1943, entwickelte
sich in der Region eine starke Widerstandsbewegung, die in der Stadt,
vor allem aber in den Vororten sehr aktiv war. Die deutsche
faschistische Besatzung wurde von den Partisanen, die durch weite
Teile der Bevölkerung unterstützt wurden, von den Bergen aus
bekämpft. Die PCI rief im Dezember 1944 ihre örtlichen
Parteizentralen auf, Bürgerkomitees zu bilden. Während sich immer
mehr Unternehmen der Resistenza anschlossen, kooperierten leitende
Angestellte und Arbeiter, und übernahmen die Produktion. Die
Fabriken der faschistischen Unternehmer, die aufgrund dieses
Aufstandes geflohen waren, gingen in die Hände von CLNKommissaren und Leitungsräten über. Als kurz darauf die
Westalliierten in die Stadt kamen, war diese also schon durch die
Resistenza befreit. Diese eigene Befreiung stärkte das politische
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Selbstbewusstsein und das Gemeinschaftsgefühl der Bevölkerung
(vgl. Göhlich 1995, S. 136; Krieg 1993, S. 11).
Die Erfahrungen der faschistischen Gewaltherrschaft, sowie das
Bewusstsein, sich selbst vom Faschismus befreit zu haben, führte bei
den Bürgern von Reggio zu dem starken Bedürfnis, die
gesellschaftlichen Verhältnisse zu demokratisieren. Ihnen war
bewusst, dass die Bildung eines demokratischen Bewusstseins und
Lebens nur dann gelingt, wenn schon bei den Kindern Grundlagen für
ein demokratisches Verständnis als Investition für die Zukunft gelegt
werden. Aus diesem Grund, und weil die Notwendigkeit bestand, die
unversorgten Kinder der Wanderarbeiterinnen rund um die Uhr in
Betreuungseinrichtungen unterzubringen, wurde im Vorort Villa Cella
unmittelbar nach Kriegsende damit begonnen, einen Kindergarten mit
dem Namen "XXV Aprile" zu errichten. Der Name dieser Einrichtung
weist auf den Kampf gegen die Faschisten hin: Der 25. April 1944 war
der Tag der Befreiung (vgl. Dreier 1993, S. 17; Göhlich 1995, S. 143;
Krieg 1993, S. 14).
Am Aufbau des neuen Kindergartens beteiligte sich die gesamte
Dorfbevölkerung. Jeder hat gegeben, was ihm möglich war, da keine
finanzielle Unterstützung, abgesehen von bescheidenen 800.000 Lire
des lokalen CLN-Kommitees, von Seiten der Regierung zu erwarten
war. Ein Grundstück wurde den Helfern von zwei Bauern des Ortes
zur Verfügung gestellt. Die Maurerkooperative überließ ihnen ihre
Techniker und Geräte. Nach achtmonatiger Bauzeit wurde die
Kindertagesstätte unter Anwesenheit des damaligen reggianischen
Bürgermeisters Campioli eingeweiht. An Theorie und Praxis einer
neuen Pädagogik wurde ganz zu Anfang weniger gedacht als an die
Ausstattung und das tägliche Essen, da beides immer knapp war.
Durch zusätzliche Arbeiten der Eltern wurde Geld eingebracht. Auch
die Kinder verdienten sich mit Gesangs- und Zirkusauftritten ein wenig
dazu. Dass sich ein solches Projekt in einer Zeit, in der die Familien in
Trümmern lebten, selbst unzureichend versorgt waren, und in der
massiver Nahrungsmangel herrschte, überhaupt entwickeln konnte, ist
äußerst erstaunlich. Aber es zeigt, wie tief das gesellschaftliche
Engagement und Gemeinschaftsdenken in der Kultur der
reggianischen Bevölkerung verwurzelt ist (vgl. Dreier 1993, S. 17;
Göhlich 1995, S. 143/144; Krieg 1993, S. 14).
Ein junger Grundschullehrer - Loris Malaguzzi - hörte von diesem,
auch für ihn erstaunlichen Projekt. Er besuchte die Baustelle und
nahm Kontakt zur Bevölkerung des Stadtteils Villa Cella auf. Von dem
Engagement der Bevölkerung und ihrer Arbeit fasziniert, blieb er dort,
protokollierte den Prozess des Aufbaus sowie die Anfänge der
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Kinderbetreuung und erstellte eine Dokumentation über diese
Initiative. Somit hatte die Zusammenarbeit von Malaguzzi und der
Bevölkerung begonnen. Später war er der langjährige Leiter der
kommunalen Kindertagesstätten (bis 1985) und ist heute vielen als
Begründer der Reggio-Pädagogik bekannt (vgl. Dreier 1993, S. 18;
Krieg 1993, S. 14/15).
Die organisierte Frauenbewegung und der
Wirtschaftsboom
Da die Flugzeug- und Waffenindustrie für die Region von großer
wirtschaftlicher Bedeutung war, und sie den größten Teil der
Arbeitsplätze zur Verfügung stellte, war Reggio-Emilia während des
Zweiten Weltkrieges starken Angriffen durch die Alliierten ausgesetzt.
Die Vernichtung der Industrieanlagen führte zu einer hohen
Arbeitslosenzahl unter den Frauen, die dann als Wanderarbeiterinnen
in der Lombardei das Geld verdienen mussten, um ihre Familien zu
ernähren. Dies war die direkte Ursache für die von den Müttern
organisierten nicht-kirchlichen 24-Stunden-Kitas (vgl. Göhlich 1995, S.
136/137; Krieg 1993, S. 11, 14) (vgl. 6.2).
Nach dem Wiederaufbau waren die sechziger Jahre, die Jahre des
italienischen Wirtschaftswunders von 1958 bis 1963, ein wichtiger
Einschnitt. Der Lebensstandard verbesserte sich zunehmend und die
günstige wirtschaftliche Situation verstärkte den Wunsch vieler Frauen
nach Erwerbstätigkeit (vgl. Göhlich 1995, S. 137; Krieg 1993, S. 11).
Die Frauen in Reggio-Emilia verbanden ihre
Emanzipationsbestrebungen mit Forderungen nach einem neuen
Erziehungswesen, indem sie einige Häuser besetzten, in denen sie
selbstverwaltet und -finanziert mit Kindern arbeiteten. Sie stritten für
eine kommunale Trägerschaft dieser Kindergärten, die nicht nur
Aufbewahrungsstellen, sondern pädagogisch qualifizierte Orte sein
sollten (vgl. Dreier 1993, S. 27, 110; Krieg 1993, S. 11).
Eine weitere Folge des Wirtschaftsbooms war eine immense
Bevölkerungswanderung vom Land in die Stadt, was wiederum neue
soziale Notwendigkeiten schuf. Ab 1962 gab es in Reggio-Emilia
offizielle Bemühungen, sowohl um den Neubau kommunaler
Einrichtungen, als auch um die Kommunalisierung bereits bestehender
privater Kitas, was von 1963 bis 1967 einen Rechtsstreit zwischen der
Kommune und der Provinzverwaltung zur Folge hatte. Erst 1971, nach
der Einrichtung der Kommunen in Italien, wonach die Aufgaben der
von der Nationalregierung eingesetzten Provinzverwaltung einem
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regionalen Kontrollkomitee übertragen wurden, war auch der
erforderliche finanzielle Spielraum da. Malaguzzi wurde offizieller
Leiter der SCI (vgl. Göhlich 1995, S. 139/140).
Zur gleichen Zeit widersetzte sich Reggio-Emilia, wie auch andere
Kommunen, den zentralistischen Ansprüchen der italienischen
Regierung. Die Bürger erreichten damit, dass die schon 1947 in
der Verfassung vorgesehenen, weitreichenden Kompetenzen
weiter ausgebaut werden konnten. Die Regionen und Städte
erhielten eine größere Autonomie, was den Auf- und Ausbau
sozialer Dienstleistungen durch die Kommunen ermöglichte (vgl.
Dreier 1993, S. 21; Krieg 1993, S. 12).
Nach sechs Jahren der Verhandlungen wurde 1968 das Gesetz Nr.
444 verabschiedet, das die Einrichtung staatlicher Kindertagesstätten
vorsieht, und somit die bisherige Monopolstellung der Kirche bricht.
Obwohl sich das Gesetz im wesentlichen auf zukünftige staatliche
Kitas bezieht, enthält es in Artikel 25 einen Hinweis auf die zum Teil
schon bestehenden kommunalen Einrichtungen, und subventioniert
diese. Dies entspannte die juristische Situation der 1968 in ReggioEmilia bereits bestehenden vier kommunalen Kitas und vereinfachte
weitere kommunale Neugründungen bzw. die Kommunalisierung
bereits bestehender privater Kindertagesstätten (vgl. Dreier 1993, S.
111; Göhlich 1995, S. 138; Krieg 1993, S. 16).
Unter Renzo Bonazzi, der 1963 Bürgermeister von Reggio wurde,
entstanden bis 1975 19 der 20 kommunalen SCI. 1971 wurde die erste
kommunale Krippe eröffnet. Im Jahre 1972 wurden sogar zwei
kirchliche Kitas, auf den Antrag ihrer - besonders armen Kirchengemeinden hin, kommunalisiert (vgl. Göhlich 1995, S. 145).
Diese Tatsache weist, trotz des hohen Engagements der
Gesamtbevölkerung von Reggio-Emilia, auf die Bedeutung einzelner,
insbesondere politisch einflussreicher, Personen für die Entwicklung
der kommunalen SCI und der Reggio-Pädagogik hin.
Die erzieherische Diskussion Ende der sechsziger Jahre
Die Bewegung zur Laizisierung der Kleinkind-Pädagogik brachte
grundsätzliche Diskussionen über andere Inhalte und andere
Methoden mit sich, die vor allem in den sog. "Pädagogischen
Februaren" in Bologna ausgetragen wurden und im Mai 1967 in einem
großen nationalen Kongress in Bologna ihren Höhepunkt fanden. Loris
Malaguzzi lud mit anderen Pädagogen Bürgermeister und Kultur- bzw.
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Erziehungsstadträte aus den größeren Städten der Emilia und der
Toskana ein, um mit ihnen über die Folgen des Gesetzes für ihre
jeweilige Stadt zu diskutieren (vgl. Göhlich 1995, S. 138/139; Krieg
1993, S. 16).
In Reggio-Emilia hatten die kommunalen Kindergärten in den ersten
Jahren gegen Diffamierung durch die Vertreter des etablierten,
traditionellen Erziehungswesens zu kämpfen, was zur Folge hatte,
dass die ersten Einrichtungen kaum von Kindern besucht wurden.
1976 fand über einen nationalen Radiosender eine sechs Tage
währende Propagandaschlacht der katholischen Kirche gegen
kommunale Kindertagesstätten im allgemeinen und gegen die
reggianischen im besonderen statt. Die Antwort der SCI auf diese
Angriffe war nicht ein Rückzug der Reggianer, vielmehr veranstalteten
sie ein offenes Jahr, in dem die Leitungsräte aller SCI über den
religiösen Aspekt der Erziehung diskutierten, und Kirchenvertreter in
die Kitas und zu einer Reihe von Debatten eingeladen wurden. Sie
suchten die Diskussion mit ihren Kritikern, was eine intensive
Auseinandersetzung über die pädagogische Arbeit zwischen Eltern,
Pädagogen, Politikern und verschiedenen kirchlichen Gruppen zur
Folge hatte und letztendlich die Anerkennung der kommunalen
Kindertagesstätten brachte. Die Kirche gab sich vorerst zufrieden,
rührte sich jedenfalls nicht mehr öffentlich (vgl. Göhlich 1995, S. 141;
Krieg 1993, S. 16).
Nach 1977 wurde keine SCI mehr kommunalisiert. Es ist bis heute
beim Stand von 20 kommunalen SCI geblieben, was bedeutet, dass
die katholische Kirche auch in Reggio-Emilia eine starke Macht im
Kita-Bereich geblieben ist (30,2 % der Drei- bis Sechsjährigen
besuchen kirchliche Kindertagesstätten; 46,5 % gehen nach dem
Stand von 1985 in kommunale SCI) (vgl. Göhlich 1995, S. 141).
Die fortschrittliche regionale Sozial- und Bildungspolitik
Entscheidend ist die politische Haltung der Reggianer im Hinblick auf
die öffentliche Kleinkinderziehung. In Emilia Romagna werden
Kindergärten und auch Krippen als wichtige Bestandteile des
gesamten Erziehungs- und Bildungssystems angesehen, und da
"Ausgaben für Kinder" hier als "produktive Investitionen" für die
Zukunft gelten (vgl. Dreier 1993, S. 27) dementsprechend Mittel für
diese Institutionen bereitgestellt. Außerdem kommen Bemühungen
hinzu, ihre pädagogische Qualität ständig zu verbessern.
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Neben zahlreichen Kongressen und Fachtagungen zu Fragen der
Kindererziehung und möglichen Reformansätzen, weiteren
Verhandlungen über Gesetzesentwürfe, um unter anderem die Fortund Weiterbildung von ErzieherInnen zu gewährleisten, ist die
elterliche Mitarbeit auch weiterhin von großer Bedeutung, nicht zuletzt
aufgrund ihrer gesetzlichen Verankerung. Weil die Kindererziehung für
eine gemeinschaftliche Aufgabe gehalten wird, sieht das Gesetz das
Mitwirken der Eltern in Form einer kollektiven Leitung der Krippen und
Kindergärten vor. Sie haben somit den Einfluss auf und die
Verantwortung für ihre Einrichtungen behalten, wie allein an der
Struktur der Leitungsräte abzulesen ist. Diese historisch gewachsene
Teilhabe der Eltern an Leitung und Alltag der kommunalen
Vorschuleinrichtungen ist die Verwirklichung eines demokratischen
Prinzips der Reggio-Pädagogik, die sich als Beitrag zur
gesamtgesellschaftlichen Erneuerung und Demokratisierung sieht.
Dabei sollen die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt werden,
wodurch eine Kooperation zwischen Eltern und Personal als Weg
vorgegeben ist (vgl. Dreier 1993, S. 10,17/18, 23/24).
Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch in den
reggianischen Kitas immer schwieriger wird, Eltern zur aktiven
Mitarbeit, insbesondere in den Leitungsgremien, zu bewegen, was auf
veränderte Bedürfnisse und Lebenssituationen der Reggianer
schließen lässt. Eine Pädagogik, die sich dem "...Zusammenwirken
von Kultur, Politik und Pädagogik..." (Dreier 1993, S. 10) verschrieben
hat, wird sich sicherlich auch auf diese gesellschaftliche Entwicklung
hin modifizieren.
Auffällig bleibt die begrenzte nationale Ausbreitung dieses
pädagogischen Modells auf die Region. Dieses Phänomen scheint auf
den ersten Blick ein Indiz für mangelnde Praxistauglichkeit oder
Anwendbarkeit zu sein. Tatsächlich sind mit der Reggio-Pädagogik
hohe finanzielle Kosten sowohl für den Träger der Einrichtungen als
auch für die Eltern verbunden, sowie mit großem ideellem und
zeitlichen Aufwand all derer, die mit Kindern zu tun haben. Die
Reggianer haben sich keinen leichten und keinen bequemen Weg der
Kleinkinderziehung ausgesucht. Diese Einsicht mag wohl viele
PädagogInnen abgehalten haben, nach dem reggianischen Konzept
mit Kleinkindern zu arbeiten. Als "paedagogia della partecipazione" ist
sie aus dem Engagement und aus den Ideen vieler Menschen
gewachsen und entwickelt sich auf die gleiche Weise auch heute noch
weiter.
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Die hundert Sprachen der Kinder
Es ist daher notwendig, auf die Sprachen der Kinder zuachten: damit
sie nicht im Individuellen und letztlich Unsagbaren verbleiben,
sondern, damit der kindliche Wunsch, sein Interesse, seine Neugier
und sein Klärungsbedürfnis aus dem individuellen (unsprachlichen)
Erleben heraustreten und in diesen Prozess zwischenmenschlicher
Verständigung eingehen können. Dieser Raum wird nicht nur benötigt,
dass die Stimme der Kinder verstanden werden kann. Er ist auch
Voraussetzung dafür, dass die Mitwelt in die Klärungen des kindlichen
Weltbildes und seines Erlebens differenzierend hineinreichen können.
Die Sprachen der Kinder sind also keine expressiven Mittel, keine
"Ausdrucksmittel", die dem Kind erlauben, sein emotionales Verhältnis
zu Menschen, Tieren, Pflanzen, Dingen "aus-zu-drücken", sondern
sind Werkzeuge, mit deren Hilfe sich kindliche Erfahrung und
Weltinteresse artikulieren. Wo sich Interesse und Erfahrung nicht aus
eigenen Wahrnehmungen heraus strukturieren und gestalten lassen,
verfällt man der pädagogischen Versuchung, sie in die Kinder
hineinzuerklären. Es nützt jedoch nicht als pädagogische
Gesamtstrategie, wenn dem Kind auf der anderen Seite, die
Wahrnehmung der eigenen Interessen oder Problemlagen fehlt oder
schwergemacht wird. Klären, verständlich machen treffen nur auf
einen fruchtbaren Boden, wenn sie auf eine Frage antworten, welche
vom Kind ausgeht. Fragen, die Kinder stellen, ergeben sich jedoch nur
aus dem, was sie in ihrem eigenen Umgang wahrgenommen haben.
Dies hat zur Folge, dass sie nicht nur ihr Wahrnehmungsvermögen
entwickeln und stärken, sondern auch das, was sie erfahren haben,
was sie dabei an Fragen bewegt, zur Sprache bringen können. Dies
bedingt ferner, dass es anderer Menschen bedarf, die ihr Sprechen
und ihr Fragen hören und darauf aus dem Fundus ihrer eigenen, mehr
oder weniger geklärten Erfahrung heraus eine Antwort geben können.
Projekte: Der Weg ist das Ziel
Aus dieser Interaktion von wahrnehmend sprechenden Kindern und
wahrnehmend sprechenden Mitmenschen können Projekte entstehen.
Im Vordergrund des pädagogischen Interesses steht dabei nicht die
Frage, wie erkläre ich den Kindern ein Objekt, ein Ereignis, ein
Geschehen, an welchem sie sich festgebissen haben, sondern auf
welche Weise nehmen Kinder dies wahr, wie kommen sie zu den
Fragen, die sie dabei stellen, oder allgemeiner: Was geht im Kopf der
Kinder vor, wenn sie die Dinge so wahrnehmen und aussprechen, wie
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sie dies tun. Daraus folgt dann, was kann der Pädagoge einbringen,
damit diese kindlichen Erfahrungsprozesse sich nicht in scheinbaren
Unsinn verwandeln, in ein noch-nicht-Wissen oder noch-nicht-Können,
sondern in eigenständige Wege, sich und die Welt so zu entdecken,
dass das eigene Wahrnehmen und Erkennen dabei den Leitfaden
abgibt.
Wenn man diesen Gedanken weiterverfolgt, dann ergibt sich ein
Prozess, der dem Schneeballprinzip folgt: Wahrnehmungen
artikulieren sich in den hundert Sprachen der Kinder und treten damit
in einen Raum zwischenmenschlicher Verständigung ein. Sie werden
von subjektiver Seite durch Imagination und Vorstellungen bereichert
und werden Teil einer individuellen Vorstellungs- und Bilderwelt, in der
Emotionales, Beziehungs- und Bedeutungshaftes und NachDenkliches noch nicht streng voneinander geschieden sind. Aus dem
Zusammenspiel von innerer Vorstellungswelt und rationalem Denken
ergeben sich dann die Erfahrungsmuster mit deren Hilfe Kinder ihre
Wirklichkeitsbeziehungen strukturieren.
Der Spaß mit dem Vögelchen oder das Lernen lernen
In dem Kindergarten Diana hatte die Erzieherin an die Fensterscheibe
einen Papiervogel geklebt. Nun erschien der Schatten des Vogels auf
dem Fußboden des Gruppenraumes. Irgendwann entdeckten die
vierjährigen Kinder den Besucher, begrüßten ihn. Sie brachten ihm
Wasser und Futter und bauten ihm noch eine Fernsehecke zur
Entspannung. Danach wandten sie sich anderen Beschäftigungen zu.
Das Interesse an dem Vogel erwachte jedoch erneut: Hatte er wohl
gefressen, und das Wasser getrunken? Die Rückkehr zu ihm brachte
eine Überraschung mit sich: Der Vogel war ein Stück weitergeflogen.
Die Kinder waren sehr erstaunt. Sie diskutierten miteinander und
kamen auf die Idee, ihn festzuhalten. Sie malten mit Kreidestrichen
seinen Umriss auf den Boden. Dennoch flog er weiter. Vielleicht
könnte ein Käfig ihn halten? Die Kinder befestigten mit Klebeband ein
Gitter um den Vogel. Doch wieder wanderte er weiter. Es gab
Nachdenklichkeit und Gespräche darüber, wie der Vogel wohl fliegen
könne. Um das Rätsel zu lösen, wurden die älteren Kinder aus der
Nachbargruppe befragt. Diese hatten folgende Idee: Man müsse sich
verstecken und den Vogel beobachten, denn in Anwesenheit von
Menschen würde der Gast sein Geheimnis nicht preisgeben. Deshalb
beobachteten die Kinder den Vogel aus einem Versteck heraus.
Trotzdem fanden sie auf ihre Frage keine Antwort. Ein bisher
unbeteiligtes Kind trat zu der Gruppe und fragte nach, was denn los
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sei. Dann erklärte es das Phänomen auf einen Schlag: Der Vogel sei
doch der Schatten des Tieres an der Scheibe, ob dies den so schwer
zu verstehen sei? Die Erzieherinnen beobachteten diese Begebenheit
aufmerksam und machten sie zum Ausgangspunkt für verschiedene
Projekte zum Thema Licht und Schatten. Die Kinder vergaßen das
Vögelchen nicht. Es wurde mit dem Schatten zu einer Uhr, die je nach
Sonnenstand Auskunft über die Tageszeit gab (vgl. Commune di
Reggio Emilia 1990; S. 50 ff).
Hier wird deutlich, dass ganz alltägliche Erlebnisse gemeinsam
diskutiert und erforscht werden. So werden die Fragen geweckt,
gemeinsam eine mögliche Lösung gesucht, das Lernen gelernt.
Kernpunkte des pädagogischen Konzepts
(1) Das Konzept der Reggio-Pädagogik geht davon aus, dass uns
Kinder, ihre Denk- und Verarbeitungsweisen, sowie ihre Sprache
unvertraut, ja stellenweise fremd sind. Das erste, was ein Pädagoge
tun muss ist daher zuzuhören, zuzusehen, was Kinder äußern und tun.
(2) Kinder bauen sich ihre Sicht der Wirklichkeit aus dem, was sie
vorfinden. Das meint nun nicht, dass sie Wirklichkeit einfach
internalisieren. Sie gleichen vielmehr einem Bastler, der mit Teilen, die
er auffindet, spielt und probiert, was er daraus machen kann, sowie
überprüft, ob das Produkt für seine Zwecke brauchbar ist.
(3) Das bedeutet für den Pädagogen, dass das Tun des Kindes auf
seinem Weg zur Wirklichkeit zumindest unübersichtlich und kaum
voraussehbar, geschweige denn vorausplanbar ist. Dies nötigt
wiederum zur Beobachtung der Kinder im Feld ihres Tuns, um sich
dadurch einen Einblick in die kindliche Sicht ihrer Wirklichkeit zu
verschaffen. Dieses Kennenlernen dient jedoch nicht dazu, die
kindlichen Vorstellungen im Sinne unseres
Erwachsenenverständnisses zu verbessern, sondern, sie gezielt mit
neuen Fragestellungen und Problemen in Kontakt zu bringen, von
denen zu vermuten ist, dass sie die kindliche Vorstellungswelt
bereichern könnten.
(4) Dazu wird es notwendig, die vielfältigen Sprachen, mit denen sich
Kinder äußern, zu beachten und nach Möglichkeit sich in sie
hineinzuvertiefen. Dabei sind nicht nur gesprochene Wörter gemeint,
sondern auch das, was durch Gesten oder andere Symbolsysteme
kommuniziert wird, sowie das, was verschwiegen wird und allenfalls
- 15 -
erschlossen werden kann. Dabei kann man nie sicher sein, die Kinder
ganz oder auch nur teilweise zu verstehen.
Das gleiche gilt auch für die "Kultur", die Kinder durch ihre Tätigkeit
hervorbringen, was sie spielen, gestalten oder darstellen. Die
Möglichkeit des Nicht- oder Missverstehens nötigt den Pädagogen und
Wissenschaftlicher zu einer ständigen Vorsicht und Vorläufigkeit in
allem, was er für das Kind und über das Kind denkt.
(5) Das Bildungskonzept der Reggio-Pädagogik beruht daher nicht auf
einem Beibringen und auch nicht nur auf einer günstig
vorstrukturierten Umgebung (obwohl diese nicht unwichtig ist),
sondern auf einer die kindliche Erfahrungswelt mitstrukturierenden
Kommunikation mit den Kindern.
Fasst man zusammen, was der Blick auf das Subjekt in der ReggioPädagogik notwendig macht, dann lassen sich drei Schritte
ausmachen:
Beobachtung der kindlichen Tätigkeiten;
Wahrnehmung und Gewahrwerden situativer und subjektiver
Vielfältigkeit, unabhängig von analytischer Klärung und
Durchdringung.
Annäherung erwachsener Denk- und Wahrnehmungsmuster an
kindliche.
Der Raum als dritter Erzieher
Doch Reggio begleitet nicht nur die kindliche Tätigkeit durch Offenheit,
Interesse und Mit-Denken. Auch die strukturellen
Rahmenbedingungen - Organisation und Räumlichkeiten - tragen den
Bedürfnissen aller Beteiligten Rechnung, kindliche Bildung als
gemeinsamen Forschungsprozess zu betrachten.
Auch Räumlichkeiten bewirken keine bestimmten Effekte. Sie
unterstützen, begrenzen oder verhindern Beziehungen. Man muss
sich also klar werden, welche Beziehungen in Räumen verwirklicht
werden sollen und welche Art von Räumen man dazu benötigt. Nach
Malaguzzi sind: "...unsere Einrichtungen [...] vor allem Werkstätten, in
denen die Kinder die Welt untersuchen und erforschen" (zitiert nach
Dreier 1993, S. 79). Wenn das die hauptsächliche Beziehung ist, die
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unterstützt werden soll, wie beeinflusst dann z.B. die
Grundrissgestaltung dieses, untersucht und erforscht? Betrachtet man
den Grundriss der Kindertagesstätte Diana in Reggio, so erkennt man
einen zentralen, großen Raum, ähnlich einer Piazza - dem Marktplatz
einer italienischen Stadt. Er bildet den Mittelpunkt der gesamten
Raumanlage. Untersuchen, Erforschen, Erkennen sind also gedacht
als eingebettet in einen intensiven sozialen Bezug. Es gibt keine Flure.
Flure können voneinander isolieren. Deswegen wurden sie in ReggioKindergärten nach Möglichkeit abgeschafft.
Findet man in unseren Kindergärten häufig strikt nach Funktionen
getrennte Räume, geht man in Reggio von der Piazza aus in die
verschiedenen Teilbezirke, die allen zugänglich sind, wie Essbereich,
Atelier, Bibliothek, Miniatelier. Malaguzzi stellt sich den Kindergarten
als eine Art Markt vor. Jeder Stand bietet etwas anderes an, je nach
dem Vorhaben arbeiten die Kinder in Kleingruppen, alleine oder auch
alle zusammen. So ist es nur folgerichtig, dass die von der Piazza
ausgehenden Bereiche nicht völlig getrennt erscheinen. Viele Fenster
nach innen gestatten Durchblicke, Einblicke, Ausblicke aus diesen
Bereichen. Beziehungen zu den Kindern in den anderen Bereichen
sind also jederzeit möglich. Sie werden nicht durch Türen oder Mauern
abgeschnitten. Kleine Bereiche der Konzentrationen allerdings können
innerhalb dieser Bereiche durchaus gestaltet werden.
Von besonderer Bedeutung scheint die nahtlose Verbindung von
Piazza und Essbereich zu sein. Die eigene Küche, die gemeinsame
Zubereitung von Speisen in der Einrichtung, die Köchin als
wesentlicher Teil des pädagogischen Teams signalisieren, dass dem
körperlichen Wohl ebensolche Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie
dem geistigen.
In den Räumen verzichtet Reggio auf standardisierte Einrichtungen.
Natürlich werden die Belange der Kinder zum Maßstab genommen,
was Größe und Funktionsfähigkeit betrifft. Aber man findet auch
andere Möbelstücke, solche mit Geschichte und solche, die in
Geschichten eingebettet sind; Möbelstücke, die Erinnerungen tragen.
Alle Räume sind liebevoll eingerichtet, auch das Bad und die Toilette.
Überall findet man Bilder und Spiegel. Die Schlafmöglichkeiten werden
nicht in eine dunkle Ecke, die sonst nicht benötigt wird, verbannt. In
Reggio schläft man in einem Raum, in dem jedem Kind sein
individuelles Bett zur Verfügung steht und zu dem es daher auch einen
persönlichen Bezug herstellen kann.
In den Reggio-Kindergärten gibt es seit 1980 einen zusätzlichen
Raum, das Atelier. Ein Werkstattleiter - in der Regel Künstler oder
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Kunstpädagoge - leitet es. Das Atelier soll nach Malaguzzi
konstruktive Unordnung in die Einrichtung einbringen, einen Bereich,
in dem experimentelle Erfindungen entstehen können. Unordnung
enthält Offenheit gegenüber Unbekanntem, sowie einen Impuls zur
Erneuerung. Manchmal ergibt sich so etwas wie ein konstruktives
Chaos.
Später wurde jeder Gruppe noch ein weiteres kleineres Atelier zur
Verfügung gestellt, das sogenannte Miniatelier. Dieses steht allen
Kindern auch zur Einzelbenutzung zur Verfügung, während das Atelier
nur in kleinen Gruppen besucht werden kann und von dem jeweiligen
Werkstattleiter betreut wird. In den Miniateliers können Kinder frei
experimentieren.
Beobachtung und Dokumentation
Die aus dieser Faszination mündenden Arbeiten der Kinder werden im
Kindergarten bewusst ausgestellt, um sich gemeinsam erinnern zu
können, um Eltern und Besuchern die Kreationen zu präsentieren.
Ebenfalls sichtbar sind in den Foyers Info-Flächen mit Fotos,
Zeichnungen, Adressen, Daten usw. befestigt, die das
Kindergartenleben für weniger Involvierte transparenter machen. Zur
weiteren Dokumentation des "Kindheitschule" - Alltags sind neben den
Fotos und Notizen über den Bettchen die pädagogisch bezweckten
Beobachtungen, Aufnahmen und Protokolle der Erzieher zu den
Geschehen im Kindergarten ausgestellt, welche nicht nur für die
Team-Gespräche, sondern auch für die Mitarbeit mit den Eltern
gedacht sind. Denn hier wird Erziehung als öffentliche Diskussion
betrieben, möglichst ohne Tabus und möglichst transparent, was bei
den Kindern zusätzlich als Zeichen für Ernst-genommen-sein,
Beachtung und Wertschätzung ankommen dürfte; ihnen aber
gleichzeitig die eigene Entwicklung entlang der Zeit und der Ereignisse
immer wieder vor Augen hält und deutlich macht, und allgemein den
Blick vom Enderzeugnis auf den Prozess lenkt, den Prozess, der
Reggio eben am wichtigsten erscheint. Anhand dieser
Dokumentationen werden Erinnerungen wachgerufen,
Zusammenhänge rekonstruiert, Themenentscheidungen
nachvollzogen, und deutlich wird jedes Mal: "Kinder entscheiden über
den Weg zum Ziel" (Sikora 1990; S. 40). Dementsprechend versteht
sich das Reggio-Konzept nicht als ein in sich abgeschlossenes,
sondern als offenes, das nur als solches eine Weiterentwicklung
erlaubt, und den Lernprozess aller - Kinder, Eltern, Erzieher,
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Wissenschaftler und Politiker gleichermaßen - belebt. Reggio hat es
sich schlechthin zur Aufgabe gemacht, weg vom Gewohnten
Festgefahrenen ständig zum experimentellen Novum zu provozieren,
ständig Veränderungen zu bewirken, die von neuem reizen sollen. Die
wichtigste Zutat für dieses Rezept gesteht man den Kindern zu: "Sich
Zeit lassen! So lange verweilen wie erforderlich!" (Ebd.; S. 43).
Dieser Lernaspekt umfasst wenigstens drei Dimensionen, die zu
bedenken sind:
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•
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von Kindern lernen;
mit Kollegen lernen;
und die Institution als Ort lebenslangen Lernens;
Rätsel
Eines Morgens sitzen Mama, Papa und der kleine Thomas, der
vielleicht zwei oder drei ist, in der Küche beim Frühstück. Plötzlich
steht Mama auf und dreht sich zum Spülbecken um, und dann - ja,
dann schwebt Papa plötzlich unter der Decke. Was glaubst Du, sagt
Thomas dazu? Vielleicht zeigt er auf seinen Papa und sagt: "Papa
fliegt!" Sicher wäre Thomas erstaunt, aber das ist er ja sowieso. Papa
macht so viele seltsame Dinge, dass ein kleiner Flug über dem
Frühstückstisch in seinen Augen keine große Rolle mehr spielt. Jeden
Tag rasiert er sich mit einer witzigen Maschine, manchmal klettert er
aufs Dach und dreht an der Fernsehantenne herum oder er steckt den
Kopf in den Automotor und kommt rabenschwarz wieder zum
Vorschein.
Und dann kommt Mama an die Reihe. Sie hat gehört, was Thomas
gesagt hat, und dreht sich resolut um. Wie, glaubst Du, wird sie auf
den Anblick des freischwebenden Papas über dem Küchentisch
reagieren? Ihr fällt sofort das Marmeladenglas aus der Hand, und sie
heult vor Entsetzen auf. Vielleicht muss sie zum Arzt, nachdem Papa
wieder auf seinem Stuhl sitzt. (Er hätte schon längst bessere
Tischmanieren lernen sollen).
Warum reagieren Thomas und Mama so unterschiedlich, was meinst
Du? Es ist eine Frage der Gewöhnung. [...] Mama hat gelernt, dass
Menschen nicht fliegen können. Thomas nicht. Er ist noch immer
unsicher, was auf dieser Welt möglich ist und was nicht.
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Anscheinend verlieren wir im Laufe unserer Kindheit die Fähigkeit, uns
über die Welt zu wundern. Aber dadurch verlieren wir etwas
Wesentliches - [...] Denn irgendwo in uns sagt etwas, dass das Leben
ein großes Rätsel ist. [...] Für Kinder ist die Welt - und alles, was es
darauf gibt - etwas Neues, etwas, das Erstaunen hervorruft (Hervorh.,
Verf.)" (Gardner 1991, S. 24-25).
Staunen
Erwachsene haben sich, scheint es, weit davon entfernt, zu staunen;
sie bemerken die großen und kleinen Rätsel, die der Alltag bietet, nicht
mehr; sie haben diesen Alltag praktikabel geordnet, um sich mühelos
zurechtzufinden. Demgegenüber scheinen die Sichtweisen der Kinder
defizitär und wenig produktiv, wenn man erwartet, dass sie sich
möglichst schnell und effektiv das Bild der Erwachsenen von dieser
Welt aneignen und Staunen in ein vermeintliches Wissen umwandeln.
Die Fragen der Kinder versetzen Erwachsene zurück einen Zustand,
in dem der Alltag noch nicht endgültig geordnet - aus
Erwachsenensicht in Un-Ordnung ist. In Reggio wird dieser Zustand
jedoch als Beginn der Ordnung des kindlichen Weltbildes angesehen,
die es mit Hilfe kultureller Angebote selbst erzeugt.
In der Literatur zur Reggio-Pädagogik findet man keine endgültigen
Beschreibungen, keine Anleitungen über das So-sein der Kinder.
Kinder gleichen einem Mosaik, bei dem es immer möglich ist, noch
Steinchen hinzuzufügen. Dieses Mosaik erweitert sich ständig, wenn
man Kinder in ihrem Alltagshandeln wahrnimmt, in dem sie sich
ständig neu orientieren und dadurch Fassetten ihrer selbst entwerfen.
Deshalb erfährt man die kindliche Vielfalt am besten, wenn man sie in
ihren konkreten Alltagstätigkeiten immer wieder neu aufsucht.
Entwicklungspsychologischen überindividuellen Leitlinien stehen
vielfältige, alltagsbezogene Differenzerfahrungen gegenüber. Die
Reggio-Pädagogik hat Konsequenzen daraus gezogen, dass
Pädagogik sich nicht nur an solchen überindividuellen Leitgedanken
mit normierendem Charakter orientieren kann, sondern Möglichkeiten
finden und erfinden muss, den vielfältigen individuellen und situativen
Variations- und Abweichungsmöglichkeiten Spielraum und verständige
Resonanz zu bieten.
"... [Wir müssen] alles, was die Geschichte und Kultur über
Jahrhunderte in das Bild vom Kind hineingepreßt hat, über den
Haufen werfen. Wir müssen das Kind davor bewahren, dass an
seine Stelle eine Metapher gesetzt wird, denn eine Metapher
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favorisiert den Kult und erschwert die Wahrnehmung des
Individuums" (Malaguzzi).
Kinder sind Forscher , Künstler und Konstrukteure
Gemäß dieser Einstellung stehen in Reggio die
Wahrnehmungserfahrungen des Kindes im Vordergrund des
pädagogischen Interesses, seine Versuche, sie zu ordnen, sie zu
deuten und schließlich zur Sprache zu bringen. In dem, was es derart
hervorbringt, spiegelt sich die Vielfalt des einzelnen Kindes, die es zu
erfassen gilt.
Durch das interessierte Beobachten wird immer wieder deutlich, dass
Kinder "...ebenso wie Dichter, Musiker und Naturwissenschaftler eifrige Forscher und Gestalter [sind]. Sie besitzen die Kunst des
Forschens und sind sehr empfänglich für den Genuss, den das
Erstaunen bereitet" (Malaguzzi zit. nach Dreier 1993, S. 69).
In all dem kommt zum Ausdruck, dass die Reggio-Pädagogik das Kind als
ein Wesen ansieht, das einen Reichtum an Möglichkeiten besitzt, mit der
Welt in Austausch zu treten, das stark genug ist, eigene Wege in der
Ordnung dieser Erfahrung zu suchen und zu finden, das kompetent genug
ist selbst Sinn und Bedeutung im Rahmen dieser Erfahrungen zu
erzeugen. Es ist ein optimistisches Bild vom Kind (vgl. hierzu
Schäfer/Stenger 1998).
"Doch all dies enthebt die Erwachsenen nicht davon, einen
wesentlichen Betrag dazu zu leisten, dass die Kinder diese
Möglichkeiten produktiv einsetzen. Unsere Aufgabe besteht
darin, den Kindern bei ihrer Auseinandersetzung mit der Welt zu
helfen, wobei all ihre Fähigkeiten und Ausdrucksweisen
eingesetzt werden" (ebenda). Die Erwachsenen schaffen die
Rahmenbedingungen, in denen die Kinder ihre Möglichkeiten
gebrauchen und entfalten können, sie entscheiden wesentlich
darüber, ob Kinder sie tatsächlich einsetzen oder verkümmern
lassen. Dazu gehört einerseits, den Kindern ihre Möglichkeit zu
einer eigenständigen kulturellen Ordnung auch zuzumuten. Zum
anderen verbindet sich damit die Aufgabe, den kulturellen
Rahmen zu repräsentieren, wie auch zu präsentieren, eine
symbolische Ordnung anzubieten, durch die Kinder in die Lage
versetzt werden, ihre eigenen Erfahrungen zu denken.
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Wenn Kinder die Welt zu begreifen versuchen, erschließen sie in ihren
kindlichen Deutungen Horizonte, die der erwachsenen Denkwelt weit
entfernt scheinen. So verbinden Kinder etwa mit dem Schatten
vielfältige Vorstellungen: "Mein Schatten läuft auf der Sonne." "Der
Schatten in der Nacht geht ganz nah an seine Lampe." "Der Schatten
ist eigentlich ganz doof, es ist so ein Schatten, der mich kopiert, der
mich nachmacht." "Der Schatten wird aus dem Bauch meiner Mutter
geboren." usw. Um den Kindern ihren eigenen produktiven Umgang
mit der Wirklichkeit zu ermöglichen, müssen Erwachsene solche
Denkwege, in denen sich Phantasie und Verstand mischen, erst
einmal genauso ernst nehmen, wie ihre eigenen. Sind die Erklärungen
der Kinder nicht genauso bedeutungsvoll, wahr, wie die der
Erwachsenen, zumindest hinsichtlich der Fragen, die ein Kind stellt?
Wenn wir die Wahrnehmungen und Erklärungen von Kindern
belächeln, wenn wir ihnen ein egozentrisches Weltbild unterstellen,
wenn wir die Scheidung von Phantasie und Wirklichkeit anmahnen,
setzen wir dabei nicht allzu leicht voraus, dass Kinder an der
Wirklichkeit genau das interessiert, was für Erwachsene im Zentrum
des Blickwinkels stehen mag, nämlich eine angeblich objektive
Weltsicht. Wenn diese nicht das oberste Ziel kindlichen Interesses
sein sollte, welchen Sinn machte es dann, die Ordnungen der Kinder
nur an diesem Maßstab zu messen?
Kinderkultur
Diese Bereitschaft zur Toleranz darf jedoch nicht damit verwechselt
werden, dass Erwachsene keine Maßstäbe haben sollten. Es geht nur
um die Frage, ob wir Kindern nicht ihre eigenen Möglichkeiten, Welt zu
entdecken, zu strukturieren und zu denken verbauen, wenn wir sie auf
unsere Auffassungen verpflichten. Dem Kind werden Normen gesetzt,
die die Erwachsenen für sich selbst geschaffen haben. Dadurch
nehmen wir dem Kind einen großen Teil seiner Lebensfreude und
seiner Fähigkeiten, die Welt zu entdecken und zu verändern. "...Kinder
sind nämlich Träger unserer und Erfinder eigener Kultur. Es geht
darum, die Fähigkeiten und die Kultur der Kinder wiederzuentdecken"
(Malaguzzi zit. nach Dreier 1993, S. 71). Genau dies ist ein Anliegen
der Reggio-Pädagogik.
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Kindliches Lernen unterstützen statt lehren
Aufgabe eines Erziehers ist es nicht, Kinder zu belehren und ihnen
einen fertigen Lehrstoff nahezubringen. Sie bei ihren Erfahrungen zu
begleiten verlangt mehreres: zum einen, Möglichkeiten zur Erfahrung
für Kinder schaffen, zum zweiten, sie zu immer wieder variierenden
Erfahrungsfassetten herauszufordern und, drittens, ihnen ein
Dialogpartner für die Ordnung ihrer Erfahrungswelt zu sein, ohne ihre
Einsichten umstandslos durch die eigenen, "besseren" Einsichten
ersetzen zu wollen.
Erfahrungen teilen
Erzieher und Kind begeben sich gemeinsam auf Erfahrungsreise. Der
Erzieher sollte ein Mensch sein, der mitspielt, sich den Interessen der
Kinder einfügt, sich auf die Ebene von einem Kind stellen kann, "selbst
noch Kind sein kann", bzw. sich in einen kindlichen Forscher
verwandeln kann. Dies verlangt vom Erzieher einerseits
Einfühlungsvermögen, andererseits die Bereitschaft, von Kindern zu
lernen, insbesondere da, wo sich die kindliche Weltsicht von der der
Erwachsenen deutlich unterscheidet. So teilen sich Kind und Erzieher
die Erfahrungen. Kinder lernen von Erwachsenen, wie Erwachsene
von Kindern lernen.
Zukunft ist kein Ersatz für die Gegenwart
"Wir dürfen die Gegenwart der Kinder nicht einer ungewissen Zukunft
opfern" (Dreier 1993, S. 84). Erzieher wollen durch Beobachtung das
Kind, das sie hier und jetzt vor sich haben, kennen und verstehen
lernen. Dabei handelt es sich nicht um eine distanzierende,
unbeteiligte Beobachtung, sondern um eine aufmerksames, beteiligtes
Sich-Einlassen auf das Kind und seine Wirklichkeit. Hierdurch wird
Druck und Eile bei der Entwicklung vermieden, welche zu ständigem
Belehren nötigen und dazu, die Gegenwart einer - vom Pädagogen für
bedeutsam erachteten - Zukunft zu opfern.
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Es geht um die Qualität von Lernprozessen, nicht (nur)
um Resultate
Bei Projekten und Aufgaben werden von den Kindern keine speziellen
Lernergebnisse erwartet. So steht nicht das Endprodukt eines
Projektes, also die fertige Zeichnung oder Bastelarbeit, im Mittelpunkt,
sondern allein die Entwicklungsschritte, die ein Kind im Laufe des
Projektes durchlebt, und die Erfahrungen, die es dabei sammeln kann.
Der Erzieher soll seine Aufmerksamkeit auf die kindlichen
Entwicklungsschritte, anstatt auf die Produkte lenken.
Soziale Resonanz
Pro Kindergruppe arbeiten in Reggio zwei Erzieher und eine
Wirtschaftskraft, deren Aufgabenbereiche sich durchaus
überschneiden können. So wie die Erzieher durchaus öfters beim
Aufräumen oder Saubermachen mit anpacken, so beteiligen sich die
Wirtschaftskräfte auch am Erziehungsprozess. Denn sie stehen den
Kindern ebenfalls jederzeit bei Fragen oder Problemlösungen zur
Verfügung. Die Kinder können jederzeit zu ihnen kommen, um beim
Kochen oder Ähnlichem zu helfen. Eine Hierarchisierung innerhalb des
Personals wird vermieden. Außerdem wird bei Projekten zusätzlich mit
Nicht-Pädagogen wie Künstlern, Puppenspielern etc.
zusammengearbeitet. Der Gruppe von Kindern steht also nicht nur ein
einsamer Erzieher gegenüber, der mit seinen Problemen und Fragen
allein gelassen wird, sondern ein geschlossenes Team von Kräften,
die voneinander profitieren können.
Räume pädagogischen Nach-Denkens
Nicht nur die Betreuung von einer Kindergruppe zählt zu den
Aufgaben eines Erziehers, sondern ebenso wichtig ist die Vor- und
Nachbearbeitung der Gruppenstunden, die Planung von Projekten
und die Durchführung von Teamgesprächen. So arbeiten die Erzieher
in Reggio bei einer 36-Stundenwoche nur 32 Stunden in den
Kindergruppen, und jeweils 4 Stunden pro Woche stehen ihnen für
Planung, Teamarbeit etc. zur Verfügung. Denn gerade in
Teamgesprächen können aufkommende Probleme ausdiskutiert
werden, und neue Ideen und Anregungen gewonnen werden.
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Zudem wird der Dokumentation der Entwicklungsschritte eines jeden
Kindes große Bedeutung geschenkt. Durch sie werden die
Entwicklungsfortschritte eines Kindes sowohl für die Eltern, als auch
für die Erzieher transparent. Sie trägt darüber hinaus zur
Identitätsbildung des Kindes bei.
Die Erzieher haben die Möglichkeit, während der Arbeitszeit an Fortoder Weiterbildungskursen, oder auch an Seminaren an der
Universität, teilzunehmen, sowie innerhalb durchgeführter Projekte mit
Künstlern oder anderen Nicht-Pädagogen zusammenzuarbeiten. Auf
diese Weise können die Erzieher ihre professionellen und
nichtprofessionellen Kenntnisse und Fertigkeiten erweitern. Diese
Verbindung von professionellen und nichtprofessionellen
Kompetenzen fördert die individuelle Zufriedenheit bei der
pädagogischen Arbeit, unterstützt die soziale Anerkennung und
ermöglicht der pädagogischen Arbeit Kristallisationspunkte
pädagogischen Handelns, welche die professionellen Kompetenzen
überschreiten.
Barbara Pfersich
Frau Baraba Pfersich ist Erzieherin, Fachwirtin für Organisation und Führung im Bereich
Sozialwesen, und leitet seit 33 Jahren das Kinderhaus Violetta. Das Kinderhaus
Violetta arbeitet seit 15 Jahren Reggio orientiert und ist seit 2006 zertifizierte
Einrichtung nach Kriterien von Dialog-Reggio.
Frau Pfersich ist Ansprechpartnerin von Dialog-Reggio (Vereinigung zur Förderung der
Reggiopädagogik in Deutschland e.V.) in Baden Württemberg.
E-Mail: [email protected]
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Literatur
(Empfohlene Literatur fettgedruckt)
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Bezirksamt Schöneberg (Hg.): Dokumentation der Ausstellung
und Fachtagung Reggio Berlin 1985
Commune di Reggio Emilia (Hg.): I cento linguaggi dei bambini
Reggio 1987
Commune di Reggio Emilia (Hg.): Tutto ha un ombra meno le
formiche Reggio 1990
Dreier, A.: Was tut der Wind, wenn er nicht weht?
Begegnungen mit der Kleinkindpädagogik in Reggio Emilia
Berlin 1993
Dreier, A.: Reggio-Pädagogik Analyse und Interpretation einer
Konzeption vorschulischer Bildung Berlin 1994
Gaarder, J.: Sofies Welt Oslo 1991
Göhlich, H. D. M.: Reggio-Pädagogik - Innovative Pädagogik
heute 6. Auflage 1995 Frankfurt/M. 1988
Hermann, G./ Riedel, H. / Schock, R. / Sommer, B.: Das Auge
schläft, bis es der Geist mit einer Frage weckt Krippen und
Kindergärten in Reggio/Emilia Berlin 1984
Krieg, E. (Hrsg.) Hundert Welten entdecken Die Pädagogik
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Stimmen der Kinder Berlin/Neuwied 1998
Reggio Children (Hrsg.): Die Kleinen im Stummfilm Die
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Rodari, G.: Grammatik der Phantasie Leipzig 1992
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Stenger, U.: Reggiopädagogik in der Praxis - projekthaftes
Arbeiten In: Handbuch für Erzieherinnen. 3. Lieferung
September 1998. S. 143-150
Senatsverwaltung für Jugend und Familie (Hg.): Hundert
Sprachen hat das Kind Wie Kinder wahrnehmen, denken
und gestalten lernen Weinheim 1992
Sikora, I.: Wenn der Funke überspringt Ein Kindergarten
verändert sich In: Welt des Kindes. Heft 5/90