Einführung - UVK Verlagsgesellschaft mbH

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Einführung - UVK Verlagsgesellschaft mbH
Einführung
Heute ist ein schöner Tag in der Wisteria Lane. Die Sonne scheint, die Kinder
spielen auf der Straße, die Hausfrauen in dieser schmucken Vorstadtsiedlung
gehen gut gelaunt ihren Beschäftigungen nach. Die pure Idylle. So beschreibt es
jedenfalls die dort wohnende Mary Alice Young – kurz bevor sie sich erschießt.
Nicht, dass sie nun tatsächlich mausetot wäre. Komplett von der Bildfläche
verschwunden. Nein, Mary Alice wird uns in den nächsten unzähligen Folgen
von DESPERATE HOUSEWIVES als Erzählerin durch die Handlung führen. Gottgleich
wird sie förmlich aus dem Jenseits auf die vier Protagonistinnen dieser Serie
blicken, ihre Gedanken kennen und kommentieren, das Geschehen thematisch
einleiten und abrunden. Diesen Auftrag, den ihr der Erfinder der Serie Marc
Cherry gegeben hat, erfüllt sie bereits ausgiebig in den ersten Minuten. Aus
dem Off stellt sie uns die verzweifelten Hausfrauen mit ihren Lebensumständen, Vorgeschichten und Grundkonflikten vor. Bereits nach sieben Minuten
wissen wir das Nötige, um als Zuschauer die Hauptfiguren plastisch vor Augen
zu haben.
Mary Alice ist tot und quicklebendig zugleich. Sie ist das wohl originellste
Beispiel einer auktorialen Erzählerin einer Fernsehserie und brillantes Resultat
dramaturgischer Fantasie. Derartige Ideen US-amerikanischer Autoren haben
in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass amerikanische TV-Serien zu einem
weltweiten Siegeszug angetreten sind.
Bis ungefähr zum Jahr 2000 dominierten einheimische, von den großen Sendern selbst beauftrage Serien das Programm in Deutschland. Je länger sie liefen,
desto mehr prägten sie das Profil des jeweiligen Senders und banden die Zuschauer nachhaltig. Was früher bei RTL HINTER GITTERN leistete, gelingt heute DR.
HOUSE, einer Serie, die 2009 in der fünften Staffel immer noch 27,5% Marktanteil
in der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen erreichte. Sat.1 – der
Sender, dessen Primetime lange von einheimischen Serien wie FÜR ALLE FÄLLE STEFANIE, KOMMISSAR REX oder EDEL & STARCK bestimmt war – hat nach einigen Misserfolgen und wachsendem Renditedruck zahlreiche deutsche Serien aus dem Programm genommen (von den täglich laufenden Telenovelas einmal abgesehen).
Erst jüngst gelang es RTL, mit DOCTOR ’S DIARY und LASKO auch bei jüngeren Zuschauern wieder einen Erfolg zu landen. ARD und ZDF hingegen scheinen sich
auf dem Erfolg ihrer Serien beim Gesamtpublikum auszuruhen und übersehen
dabei allzu gern, dass ihnen die Jungen allmählich davonlaufen.
In ihrer Verunsicherung neigten Sender und Produzenten einige Zeit dazu,
die erfolgreichen US-Vorbilder auf schematische Weise zu kopieren bzw. sich
ESCHKE, Bleiben Sie dran! ISBN 978-3-86764-176-0
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allzu erkennbar an ihnen zu orientieren. R.I.S. (Sat.1) und POST MORTEM (RTL)
nahmen dabei die Serie C.S.I. genauso erfolglos ins Visier wie BEAUTY QUEEN (RTL)
das Vorbild NIP/TUCK. Immer wieder zeigt sich: Primär der jüngere, extrem medienkompetente Zuschauer lässt sich nicht hinters Licht führen. Auf der anderen Seite stehen ambitionierte Formate wie KDD – KRIMINALDAUERDIENST (ZDF), die
sowohl etwas über unsere Zeit erzählen als auch handwerklich zum Besten gehörten, was es in der deutschen Serienlandschaft gibt – aber leider nur wenige
Zuschauer begeistern. Orkun Ertener, der preisgekrönte Autor der Serie, äußerte
dazu in einem Interview: »Es bringt ja nichts, nur rumzusitzen und zu klagen.
KDD kommt nicht an, BERGWACHT schon, also machen wir BERGWACHT, es geht um
die Suche nach einem dritten Weg, nach möglichen Alternativen.«2
Das vorliegende Buch will helfen, diesen dritten Weg zu finden. Wir glauben, dass es fiktionales Qualitätsfernsehen im Allgemeinen und herausragende
Serien im Speziellen geben kann, die Spaß machen, ohne immer wieder dieselben ausgelatschten Wege zu beschreiten. Wir sprechen uns für starke Autoren,
Producer oder Redakteure aus, die eigenständige und konsequente Visionen
solcher Serien entwickeln und verfolgen. Doch dazu braucht es mehr als nur
ein oberflächliches Kopieren von Erzählmustern erfolgreicher Importformate.
Es braucht neben der eigenständigen Idee und dem Raum, diese verfolgen zu
können, vor allem dramaturgisches Handwerk. Hier machen wir mit dem vorliegenden Buch ein Angebot.
Es soll dabei um handwerkliche Regeln, um ein »Rüstzeug«, um Erfahrungswerte, um Wirkungsprinzipien gehen, nicht um Dogmen. Obwohl wir häufig
einen bestimmten Weg konkret vorschlagen, bestehen wir keinesfalls darauf,
diesen als den einzig möglichen zu sehen: »Mein Handwerkszeug ist mein
Handwerkszeug [...]. Wenn Sie es nützlich finden, dürfen Sie ’s natürlich gerne
benutzen« schreibt John Vorhaus (2001)3 in seinem Buch »Handwerk Humor« –
das ist auch unsere Haltung.
Wir wollen mit unseren Vorschlägen ein stärkeres Bewusstsein für die Verwendung bestimmter erzählerischer Mittel und ihrer Wirkung wecken, indem
wir aus der praktischen Erfahrung der Stoffentwicklung heraus Erfahrungswerte
formulieren. Was sind die Wirkungsprinzipien von Serien, die ein großes Publikum erreichen? Was können wir von erfolgreichen Serien lernen, wenn wir diese
genau und vertiefend analysieren?
Bei der Entwicklung von Serienstoffen zeigt sich auch immer wieder, dass die
Beteiligten eine unterschiedliche Sprache sprechen. Was ist in Bezug auf Seri2
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»Ich habe kein Happy End versprochen«. In: die tageszeitung Nr. 9086, 12.01.2010, S. 13,
Bl. 2/2.
John Vorhaus, Handwerk Humor. Frankfurt am Main 2001, S. 10 f. (Originalausgabe: The
Comic Toolbox. How To Be funny Even If You´re Not, Los Angeles 1994).
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en ein USP? Welche Merkmale hat das neuartige Genre Dramedy? Was ist eine
Zopfdramaturgie? Diese und viele andere Schlagwörter kursieren, wenn Autoren, Produzenten und Redakteure an einem Tisch sitzen. Wenn sie fallen, wird
eifrig genickt und versprochen. Wenn später das nächste Treatment vorliegt, ist
nicht selten die Ernüchterung groß. Offenbar hat man wieder aneinander vorbeigeredet. Die serienspezifische dramaturgische Terminologie mit nachvollziehbaren Inhalten zu füllen, auch das möchte dieses Buch leisten.
Es richtet sich an alle, die im Fernsehgeschäft primär mit der Stoffentwicklung
und Produktion von Serien zu tun haben, also an Autoren, Dramaturgen, Producer, Regisseure und Redakteure, aber auch an Fernsehkritiker, Journalisten
und die »Serienjunkies« unter den Zuschauern. Einige Fundamente der Filmund Fernsehdramaturgie, wie zum Beispiel die Drei-Akt-Struktur und die damit
verbundenen Begriffe, setzen wir voraus und verweisen dazu auf die gängige
Dramaturgie-Grundlagenliteratur seit Aristoteles. Das heißt, wir beginnen nicht
bei Adam und Eva.
Unser Buch gliedert sich in vier Teile. Der erste und umfangreichste Teil beschäftigt sich mit den handwerklichen Grundlagen der Seriendramaturgie. In
fünf Kapiteln werden die Faktoren, die eine Serie attraktiv für ein großes Publikum machen, die Dramaturgie der Serienfigur, die Genres der Serie, ihre Struktur sowie ihre Erzählweise dargestellt.
Zur Illustration von dramaturgischen Begriffen, Regeln und Wirkungsprinzipien nutzen wir dort vor allem fünf exemplarische Beispielserien, die zur besseren Übersicht in der Analyse optisch abgehoben sind. Wir empfehlen dem Leser,
möglichst viele Folgen dieser Serien begleitend zur Lektüre zu sehen, primär die
jeweiligen Pilotfolgen und ersten Staffeln dienen als Basis unserer Erörterungen.
Es handelt sich um die Serien DESPERATE HOUSEWIVES, DR. HOUSE, MONK, VERLIEBT IN
BERLIN und DOCTOR ’S DIARY. Diese Serien zeichnen sich sowohl durch eine herausragende dramaturgisch-handwerkliche Qualität aus, die auf der Höhe der Zeit
ist, als auch durch ihren anhaltenden Erfolg beim deutschen TV-Publikum.
Im Anschluss analysieren wir die Pilotfolge von DESPERATE HOUSEWIVES stellvertretend für unsere ständigen Beispielserien, um das Zusammenspiel der verschiedenen dramaturgischen Elemente aufzuzeigen. Der dritte Teil stellt praktische Tipps zum Verfassen eines Serienkonzepts und Hinweise für Kreative zum
Einstieg in den Beruf vor. Im anschließenden Interview geben Peter Schlesselmann und Dr. Michael Esser einen umfassenden Einblick in den komplexen
Prozess der Stoffentwicklung sowie das Zusammenspiel der Beteiligten anhand
ihrer Serie VERLIEBT IN BERLIN, für die sie als Chefautoren tätig waren.
Abschließend wollen wir einen Ausblick auf die mediale Zukunft des seriellen
Erzählens anhand der »Webserie« wagen. Wie waren die Erfahrungen der Macher der ersten Formate im Internet? Für den diesbezüglichen Gastbeitrag von
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Dr. Frauke Schmickl bedanken wir uns herzlich. Das folgende Interview mit den
Webserien-Producern Sven Miehe und Marco Knies offenbart die Schwierigkeiten und potenzielle Chancen dieser neuartigen Serienformate auf dem noch
reichlich unbekannten Terrain.
Auf neue, bessere und erfolgreichere Serien, die auch ein jüngeres Publikum
begeistern, hoffen auch wir. Das vorliegende Buch soll ein Beitrag zu einer notwendigen Diskussion über die Machart solcher Serien sein.
Berlin, im Juni 2010
Gunther Eschke und Rudolf Bohne
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