Formatvorlage für wissenschaftliche Arbeiten

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Formatvorlage für wissenschaftliche Arbeiten
Theaterwerkstatt Heidelberg
„Nun sag, wie hast du´s mit der Religion?“
Biografisches Theater in der
Firmvorbereitung
Ein theaterpädagogischer Ansatz in der kirchlichen Jugendarbeit
Theoretische Abschlussarbeit
im Rahmen der Vollzeitausbildung zur Theaterpädagogin (BuT)
Eingereicht von
Verena Oehl (geb. Harter)
Bahnhofstr. 22
69221 Dossenheim
[email protected]
TP 12-2
Abgabe am 05.11. 2012
An Wolfgang Schmidt
Theaterpädagogische Akademie der Theaterwerkstatt Heidelberg
Inhaltsverzeichnis
II
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ............................................................................................ II
1 Einleitung ....................................................................................................... 1
2 Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung .................................... 3
2.1 Zum Begriff und Bedeutungsinhalt von „Jugend“ ...................................... 3
2.2 Jugend als Zeit des Suchens und Fragens in einer pluralisierten und
individualisierten Gesellschaft ........................................................................ 5
2.2.1 Identitätsbildung als zentrale Aufgabe in der Jugendphase ................... 5
2.2.2
Identitätsbildung
in
einer
pluralisierten
und
individualisierten
Gesellschaft .................................................................................................... 6
2.3 Jugend, Religion und Kirche in einer pluralisierten und individualisierten
Gesellschaft .................................................................................................... 8
3 Biografisches Theater ................................................................................ 12
3.1 Zum Begriff und zum Verständnis von Biografie ..................................... 12
3.2 Vom Ausgangspunkt zum Stück: Die Methode des biografischen Theaters
..................................................................................................................... 14
3.3 Grundmerkmale des Biografischen Theaters ......................................... 17
3.3.1 Die Arbeit am Nicht-Perfekten – Authentizität ...................................... 17
3.3.2 Distanzierung – Ästhetisierung ............................................................ 18
4 Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung .......................... 20
4.1 Thematisch-inhaltliche Akzente der Firmvorbereitung ............................ 20
4.2 Chancen und Hürden von biografischem Theater in der Firmvorbereitung
..................................................................................................................... 21
4.2.1 Biografisches Theater holt Jugendliche dort ab, wo sie stehen ........... 21
4.2.2 Biografisches Theater ermöglicht den Jugendlichen Erfahrungen mit
sich selbst ..................................................................................................... 22
4.2.3 Biografisches Theater bietet Jugendlichen einen Raum für die Suche
nach Sinn und Orientierung .......................................................................... 25
4.2.4 Biografisches Theater ermöglicht die Begegnung mit und Erfahrung von
Kirche und Gemeinde ................................................................................... 27
Exkurs: Generationenübergreifendes biografisches Theater innerhalb der
Inhaltsverzeichnis
III
Firmvorbereitung .......................................................................................... 28
4.2.5 Biografisches Theater vermittelt wesentliche Inhalte der Firmung und
ermutigt Jugendliche zu einem Leben aus der Kraft des Evangeliums ........ 29
5 Fazit .............................................................................................................. 30
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 33
Internetquellen ............................................................................................... 35
Eidesstattliche Versicherung ........................................................................ 37
Einleitung
1
1 Einleitung
Firmvorbereitung ist eine ständig wiederkehrende Herausforderung und Aufgabe für
die Verantwortlichen in den Kirchengemeinden und Seelsorgeeinheiten. Angesichts
sich rasch verändernder Jugendszenen und der zunehmenden Distanz Jugendlicher
zur Kirche muss sich Firmvorbereitung immer neu auf die Jugendlichen einstellen und
angemessen Wege der Firmvorbereitung suchen. Dabei sind folgende Fragen leitend:
Welches Modell der Firmvorbereitung ist zukunftsfähig? Wie kann an die Lebenswelt
der Jugendlichen, die aus der Sicht der Erwachsenen und der Kirche immer auch eine
„fremde“ Welt ist, angeknüpft werden? Wie kann Firmvorbereitung als offener und dialogischer Prozess gestaltet werden? Welche Wege ermöglichen Jugendlichen, das
Wirken Gottes in ihrem Leben zu entdecken?
In meiner Ausbildung zur Theaterpädagogin durfte ich in einem viertägigen Workshop
die biografische Theaterarbeit kennenlernen und erfahren. Dabei hat mich begeistert,
wie viel persönliches und berührendes auf der Bühne dargestellt wurde und wie viel
Kreativität und Ästhetik spür- und sehbar war. Es gab viele kostbare, emotionale und
bereichernde Momente, die alle durch einen persönlichen Bezug geprägt waren. Darüber hinaus wurde ein bestimmtes Thema vielseitig und vielschichtig durchleuchtet, was
einen inneren Prozess in Gang brachte und zu neuen Denkanstößen führte, sowohl
beim Darstellen als auch beim Zuschauen. Die Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen,
Meinungen und Lebenswirklichkeit in Bezug zu einem Thema zu setzen und das erarbeitete ästhetisch umzusetzen und zu inszenieren hat mich stark beeindruckt. Dabei
durfte ich erfahren, welches Potential im Spiel mit der eigenen Person und dem eigenen Leben steckt und dass ich nicht „gut“ spielen muss, um eine ästhetische und aussagekräftige Wirkung auf der Bühne zu erzielen.
Durch meine berufliche und persönliche Erfahrung in der kirchlichen Jugendarbeit und
speziell der Firmvorbereitung kann ich sagen, dass dieser individuelle, ästhetische,
körperliche, kreative Bereich darin noch zu sehr vernachlässigt wird. Es sollte mehr
darum gehen, emotionale und körperliche Ebenen sowie bislang vernachlässigte ästhetische Formen in die Jugendarbeit zu integrieren. Die bisherige Praxis sollte durch
Methoden der ästhetischen Praxis erweitert werden, da Jugendliche heute in MedienBild-Welten aufwachsen, eine andere Sprache sprechen als Kirche und sie (religiöse)
Erfahrungen oft nicht in Worte fassen können. Meiner Meinung nach öffnet sich gerade
hier ein großes Feld für die Theaterpädagogik. Im Theater gewinnt das Wort einen
leibhaftigen Zusammenhang. Theater ist Wort, Körper, Mimik, Gestik, Bewegung, Bild.
Es zeigt den lebendigen Menschen in seiner Suche nach Sinn und einem gelingenden
Einleitung
2
Leben. Es handelt dialogisch und kontrovers und verschafft Themen eine Öffentlichkeit
und befähigt zum Diskurs. „Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über
sich selbst“ sagte Novalis. Es bietet Formen und eine Ausdruckswelt an, in der der
Mensch über sich, sein Verhältnis zu andern Menschen, zur Welt und zu Gott nachdenken und Erfahrungen machen kann.
Die vorliegende Arbeit „Biografisches Theater in der Firmvorbereitung“ greift diesen
Ansatz auf und will als Anstoß dienen, die theaterpädagogische Arbeit in die Firmvorbereitung zu integrieren. Sie geht auf die Forderung nach einer ästhetischen Wende
innerhalb der kirchlichen Jugendarbeit ein und will als Antwort auf die zu Beginn formulierten Leitfragen verstanden werden. Des Weiteren wird dargestellt, inwiefern biografische Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung zu einem religiösen Bewusstsein
und einer (Weiter)Entwicklung der Religiosität Jugendlicher beitragen kann. Dass Theater und Kirche etwas miteinander zu tun haben, wird dabei vorausgesetzt. Beide sind
damit beschäftigt, unsere Wirklichkeit zu erweitern. Beide machen uns mit Unbekanntem vertraut und das Angebot: Lass dich auf etwas ein, was du nicht kennst.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Blick gilt den Jugendlichen als Adressaten der Firmvorbereitung und den für die Arbeit relevanten, psychologisch-pädagogischen Aspekten sowie dem Verhältnis der Jugend zu Religion, Glaube
und Kirche.
Kapitel zwei der Arbeit stellt die Methode des biografischen Theaters dar und kristallisiert dabei einige Grundmerkmale heraus, die in der Arbeit mit Jugendlichen von besonderer Bedeutung sind und erläutert sie.
Das folgende Kapitel schafft anschließend eine Verknüpfung der vorausgehenden Kapitel und überprüft, welche Chancen und Hürden sich durch die biografische Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung ergeben. Dazu werden kurz die thematischinhaltlichen Akzente der Firmvorbereitung erläutert und anschließend in Bezug zur biografischen Theaterarbeit gesetzt.
Das abschließende Fazit fasst die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammen, wägt
das Potential der biografischen Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung ab und
ermutigt zum verantwortlichen experimentieren und phantasievollen Gestalten mit,
durch und von jugendlichen Lebenswelten.
Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung
3
2 Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung
Wenn in dieser Arbeit von „Jugend“ die Rede ist, bedarf es zunächst einer Begriffsbestimmung über die Bedeutungsinhalte von Jugend und der Klärung, welches Verständnis von „Jugend“ der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Dabei wird zunächst auf die
Verwendung des Begriffs im heutigen Sprachgebrauch und danach auf die bedeutenden psychologisch-pädagogischen Aspekte von „Jugend“ eingegangen. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Bedeutung der Identitätsentwicklung und der Konstruktion
einer eigenen Biografie in der Jugendzeit.
2.1 Zum Begriff und Bedeutungsinhalt von „Jugend“1
Es ist heute schwieriger denn je, von der Jugend zu sprechen, denn die Jugend gibt es
nicht. Die Jugend ist nicht eine Einheit, sondern umfasst unterschiedliche Jugendliche,
die an unterschiedlichen Bereichen der Jugendkulturen teilnehmen und sich mit verschiedenen jugendkulturellen Angeboten identifizieren.2 Dennoch gibt es typische
Merkmale, die die Situation der Jugendlichen kennzeichnet.
Das neue universale Lexikon des Bertelsmann Verlags definiert Jugend als ein Lebensabschnitt, welcher „mit der Pubertät beginnt (etwa 12. Lebensjahr) und mit der
physischen und seelischen Reife im Erwachsenenalter (etwa 20. Lebensjahr) endet.“3
Laut dieser Definition wird Jugend allgemein als ein Übergangsstadium vom Lebensabschnitt Kind zum Status des Erwachsenen bezeichnet.4 Im Handbuch psychologischer Grundbegriffe wird Jugend folgendermaßen definiert:
„Der Begriff ‚Jugend‘, der sich historisch mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft entwickelte, bezeichnet sowohl eine Phase im individuellen Lebenslauf als auch
eine gesellschaftliche Teilgruppe. (…). Als Jugendliche können gegenüber Kindern und
Erwachsenen diejenigen bezeichnet werden, die mit der Pubertät die biologische Ge-
1
Der Jugendbegriff wird im Kontext dieser Arbeit in Bezug zum Thema und den diesbezüglich bedeutenden Aspekten definiert. Zu beachten ist, dass der Jugendbegriff dynamisch ist, dessen Bedeutung sich
zeit- und kulturgebunden wandelt. Ein einheitlicher Jugendbegriff konnte sich bisher nicht etablieren und
das Thema Jugend ist in der Psychologie, Soziologie, Pädagogik sowie der Sozialisationsforschung
kontrovers geblieben.
2
Vgl. Boschki 2008, 65.
3
Bertelsmann 2009, 454.
4
Diese Definition unterscheidet sich von der juristischen Sichtweise, nach welcher ein Jugendlicher oder
eine Jugendliche ist, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Vgl. hierzu die Broschüre zum Jugendschutzgesetz der Aktion Jugendschutz der Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg. Vgl. www.ajs-bw.de
[24.09.12].
Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung
4
schlechtsreife erreicht haben, aber noch nicht alle Rechte, Aufgaben und Pflichten eines Erwachsenen (z.B. Wahlrecht) wahrnehmen.“
5
Auch in dieser Aussage wird zur Bestimmung der Jugend eine Abgrenzung zu dem
vorausgegangenen Stadium Kindheit, wie auch dem folgenden Erwachsenenalter herangezogen. Zudem wird darauf hingewiesen, dass Jugend zwei Bereiche umfasst, den
individuellen als auch gesellschaftlichen.
Um zu wissen, was diese Phase der Reifung beinhaltet, hilft ein Blick auf die entwicklungspsychologischen Aspekte des Jugendalters. Die Entwicklungspsychologie geht
von einer Entwicklung des Menschen über die ganze Lebensspanne aus und teilt diese
in unterschiedliche Lebensabschnitte und Lebensphasen ein. In jedem Lebensabschnitt treten Ereignisse ein oder laufen Prozesse ab, müssen eine Vielzahl an (Entwicklungs-)Aufgaben und Herausforderungen bewältigt werden, deren (nicht) erfolgreiche Bewältigung Auswirkungen auf zukünftige Veränderungen haben können. Innerhalb jeder dieser Lebensabschnitte ereignet sich Veränderung auf physischer, auf kognitiver und auf sozialer Ebene, welche sich überschneiden können und in Wechselwirkung zueinander stehen.6 Die Lebensphase des Jugendalters wird in der Entwicklungspsychologie gemeinhin auch als Adoleszenz bezeichnet. Sie beginnt mit der Pubertät und meint die Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein, welche
ungefähr zehn Jahre andauern kann.7 Die „Jugend“ stellt sich hier als eine eigenständige, zeitlich wesentlich ausgedehntere Lebensphase dar, mit typischen Kennzeichen
und Lebensformen.
Mit dem Eintritt in die Pubertät durchläuft der/die Jugendliche eine große Anzahl körperlicher, sozialer, sowie auch psychischer Veränderungen. Zu den grundlegenden
Aufgaben dieser Phase zählen die Akzeptanz des reifer werdenden Körpers, der Erwerb erwachsener Denkweisen, das Erreichen emotionaler und finanzieller Unabhängigkeit, die Aufnahme reiferer Arten der Beziehung zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts sowie die Entwicklung von Individuation und Identität. Wobei Individuation
und Identität als übergeordnetes Merkmal in der Entwicklung des/der Jugendlichen
gesehen werden kann.8
5
Rexilius 1981, 513.
Zu den einzelnen Lebensabschnitten in der menschlichen Entwicklung siehe u.a. Berk, Laura E.: Entwicklungspsychologie. 3. Aktualisierte Auflage, München 2005.
7
Vgl. Berk 2005, 474.
8
Vgl. hierzu die vier zentralen Entwicklungsaufgaben nach Hurrelmann 2007, 27f.
6
Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung
5
Das, was unter „Jugend“ gemeint ist, kann in komprimierter Form folgendermaßen
wiedergegeben werden: „Psychologisch gesehen, ist die Adoleszenz eine Anpassungsphase von kindlichem zu erwachsenem Verhalten. Soziologisch gesehen, ist sie
eine Phase des Übergangs von der Abhängigkeit zur Selbstverantwortung. Pädagogisch gesehen schließlich, könnte man die Adoleszenz als die Zeit der Personalisation
bzw. der Selbstfindung bezeichnen.“9
Für die vorliegende Arbeit spielen insbesondere die Bedeutung der Identitätsbildung
und der Konstruktion eines eigenen Lebensentwurfes, als eine der Hauptaufgaben in
der Adoleszenz, eine Rolle. Zudem spiegeln diese Aufgaben die Zeit der Adoleszenz
als Zeit des Suchens und Fragens wider. Auf diesen Aspekt der Jugendphase soll im
Folgenden näher eingegangen werden.
2.2 Jugend als Zeit des Suchens und Fragens in einer pluralisierten und
individualisierten Gesellschaft
2.2.1 Identitätsbildung als zentrale Aufgabe in der Jugendphase
Die Zeit der Jugend ist eine besonders sensible Phase für die Identitätsentwicklung. Es
geht dabei zuvorderst um die Neu-Positionierung von sich zur Welt und um den Entwurf einer eigenen Lebensperspektive. Wer bin ich? Was gehört zu mir? Was ist mir
wichtig? Was kann ich? Wo sind meine Stärken und Schwächen? Wo gehöre ich dazu? Woran orientiere ich mich? Wer war ich? Wer will ich werden? - Diese und ähnliche Fragen können als treibende Kräfte im Prozess der Selbstfindung verstanden werden.10 Doch was ist mit Identität gemeint? Das Duden-Fremdwörterbuch von 2007 definiert Identität im psychologischen Sinne als „die als ‚Selbst‘ erlebte innere Einheit der
Person.“ Wenn es bei Identität demzufolge um das Gefühl geht, bei sich zu sein, man
selbst zu sein, beinhaltet die Identitätsbildung die Entwicklung einer Vorstellung von
sich selbst. E.H. Erikson beschreibt diesen Vorgang als eine Suche nach einer „Definition dessen, der man selbst ist, der eigenen Werte und der Richtung, die man in sei-
9
Naudascher 1977, 52.
Die Frage nach der eigenen Identität schließt viele der oben erwähnten Entwicklungsaufgaben ein und
subsumiert diese. So bewirken diese Fragen, dass sich Adoleszente kritisch und konstruktiv-verändernd
mit ihrer Kindheit und dem anderen Geschlecht auseinandersetzen, sich von erwachsenen Bezugspersonen ablösen, Wertvorstellungen, religiöse Überzeugungen und Prioritäten infrage stellen und verschiedene Lebensmöglichkeiten und (soziale) Rollen ausprobieren. Vgl. Berk 2005, 526-529.
10
Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung
6
nem Leben einschlagen möchte.“11 Die Suche nach Identität beinhaltet folglich das
Streben nach Selbstständigkeit und Selbstbestimmung, auch hinsichtlich der eigenen
Ziele und Werte.12 Voraussetzungen dafür, dass ein Mensch sich mit sich selbst identisch erlebt sind, dass „die Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung, der Selbstbewertung
und der Selbstreflexion entwickelt (sind).“13 Identität kann der Mensch jedoch nicht nur
allein erwerben. Bei der Identitätsentwicklung spielen viele weitere (Einfluss-) Faktoren
eine Rolle. Wesentlich hierbei sind vor allem soziale Faktoren, insbesondere Beziehungen. Einen besonderen Stellenwert stellen diesbezüglich Beziehungen zu anderen
Jugendlichen und Gruppenzugehörigkeiten wie Peer-Group, Freundeskreis, Arbeit,
Vereine und Cliquen dar.14 Auswirkungen auf eine gesunde Identitätsentwicklung haben darüber hinaus emotionale Unterstützung in Familie, Freundeskreis, Schulen und
Gemeinden und die darin gegebene Freiheit, Wertvorstellungen, Überzeugungen und
Ziele zu explorieren und eigenständig zu selektieren.15 Identitätsbildung ist eng verbunden mit Individuation, „der Entwicklung einer besonderen, einmaligen und unverwechselbaren Persönlichkeitsstruktur“16, mit individueller Lebensplanung und Selbstreflexion. Darauf soll in der folgenden Ausführung näher eingegangen werden.
2.2.2 Identitätsbildung in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft
Das Streben und die Suche nach Identität finden innerhalb einer hochdifferenzierten
Gesellschaft statt, die durch eine Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen gekennzeichnet ist und Identitätssuche zu einer komplexen und schwierigen Aufgabe machen. Auf der Suche nach ihrer Identität haben Jugendliche einen großen
Spielraum freier Wahlmöglichkeiten und stehen verstärkt vor der Aufgabe, sich eigene
Lebenseinstellungen und Werthaltungen zu erarbeiten. Der „allgemein vorherrschende
individualisierte Lebensstil“17 führt dazu, dass der Einzelne in zuvor nie gekanntem
Maße selbst dafür verantwortlich ist, die eigene Biografie mit den gesellschaftlichen
11
Berk 2005, 526.
Während E.H. Erikson, dessen Arbeiten für die Verknüpfung der Identitätsfrage mit der Jugendphase
wegweisend waren, den Prozess der Identitätsentwicklung als ‚psychischen Konflikt‘ bezeichnet, verwenden heutige Theoretiker dafür den der ‚Exploration‘. Dies beschreibt ihrer Meinung nach treffender,
dass es sich bei der Identitätsbildung um einen allmählichen Prozess handelt, der zumeist ohne besondere Vorkommnisse abläuft. Vgl. Berk 2005, 527.
13
Hurrelmann 2007, 30.
14
Vgl. Boschki 2008, 65.
15
Vgl. Berk 2005, 534.
16
Hurrelmann 2007, 30.
17
Lätzel 2004, 29. Vgl. hierzu auch Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 18. Auflage, Frankfurt am Main, 2006.
12
Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung
7
Rahmenbedingungen zu verknüpfen. Bindungen, Traditionen und Institutionen haben
ihre selbstverständliche Autorität und Prägekraft eingebüßt, Jugendliche sind heute
kritischer gegenüber Normen, Regeln und festliegenden Abläufen. Der Einzelne wird
selbst zum ‚Bastler‘ und ‚Entwickler‘ seiner eigenen Biographie, die zu einer ‚Patchwork- bzw. Wahlbiografie‘ wird.
„Nicht vorgegebene Muster, sondern eigene Entscheidungen bestimmen über den Lebensverlauf: Welche Ausbildung ich mache, welchen Beruf ich ergreife, welchen Wohnort und Lebensstil, welche Familienform und Freizeitgestaltung ich wähle – all dies ist
zunächst mir selbst überlassen.“
18
Der/die Jugendliche hat die Aufgabe, aus einer Vielzahl von (Arbeits- und Freizeit)Möglichkeiten, sowie Wertvorstellungen und Glaubensrichtungen Elemente auszuwählen, die zu ihm oder ihr passen und eine eigene Identität zu bilden.19 Heiner Keupp
spricht hierbei von „Patchwork-Identitäten“.20 Identität ist als Summe einzelner Teilidentitäten (z.B. berufliche Identität) zu begreifen, die durch flexible Identitätsarbeit in Einklang gebracht werden müssen.
In dem Zwang zur Wahl liegt einerseits die Chance zur Selbstverwirklichung, sie kann
den Einzelnen aber auch überfordern.21 Die Pluralisierung der Lebensbereiche und der
ständige Anspruch sein Leben wertvoll und lohnenswert zu gestalten, führt verstärkt zu
Unübersichtlichkeit, Unsicherheit und Druck, der Ohnmachtserfahrungen hervorruft und
häufig Fragen nach dem Sinn und danach, was dem Leben wirklich Halt und Sicherheit
gibt, stellen lässt.22 Diese Problematik skizziert der Soziologe Ulrich Beck unter dem
Schlagwort „Risikogesellschaft“23. Der Mensch muss lebenswichtige Entscheidungen
selbst treffen und kann sich nicht mehr an vorgegebenen Strukturen orientieren. Der
ständige Zwang zur Wahl erzeugt Orientierungslosigkeit und Unsicherheit. Der Soziologe G. Schulze spricht in diesem Zusammenhang von einer „Erlebnisgesellschaft“24, in
der jeder die Ziele von innen heraus selbst schaffen muss, da sie nicht mehr von au-
18
Boschki 2008, 54.
Dass Individualisierung der (jugendlichen) Lebenswelten nicht mit Individualismus gleichzusetzen ist,
zeigt ein Blick auf die 16. Shell Jugendstudie, die im September 2010 erschien. Sie präsentiert eine aktuelle und differenzierte Sicht auf die Jugendgeneration in Deutschland im Alter von 12 bis 25 Jahren.
Sie wird darin als eine pragmatische Generation bezeichnet, die stark leistungsorientiert und sozial engagiert ist und einen ausgeprägten Sinn für soziale Beziehungen hat, kommunikationsfreudig und werteorientiert ist (Familie, Freundschaft etc.). Der Einsatz für Werte geschieht aber aus einer jeweiligen
subjektiven Betroffenheit heraus und verbindet sich häufig mit deutlichen Vorbehalten gegenüber großen Institutionen. Vgl. Shell 2010.
20
Keupp 2006.
21
Vgl. Lätzel 2004, 29f. Vgl. hierzu auch Mey, Günter: Immer diese Jugendforschung! In: Psychologie und
Gesellschaftskritik, 35 (2), 2011, 27-49.
22
Vgl. Boschki 2008, 53.
23
Vgl. hierzu Beck 1986.
24
Vgl. hierzu Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 2005.
19
Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung
8
ßen vorgegeben werden. Das Lebensmotto lautet: „Erlebnis ist alles und ohne Erlebnis
ist nichts“25. Dahinter steht das Bestreben, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben
und das persönliche Glück im Erlebnis, im emotionalen Kick, im Event zu finden.
Adoleszenz ist die Phase in der sich der Jugendliche intensiv mit der Aufgabe der Identitätsbildung beschäftigt und auf der Suche ist: Auf der Suche nach sich selbst, einer
eigenen Identität, einem eigenen Standort in der Gruppe bzw. Gesellschaft, nach einem glücklichen erfolgreichen, erfüllenden Lebensentwurf, nach Verlässlichkeit und
Permanenz. Wie oben bereits angedeutet, kommt es in dieser Periode auch zu einer
Entwicklung der Weltanschauung und des Glaubensverständnisses. Deshalb liegt es
nun nahe, zu fragen, welche Konsequenzen diese Entwicklung für Religion, Glaube
und Kirche in sich schließt. Auf diese Frage soll im folgenden Kapitel eingegangen
werden.
2.3 Jugend, Religion und Kirche in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft
Die Jugendzeit ist nicht nur im Blick auf die persönliche und soziale Identität eine Zeit
der Suche, sie ist es auch mit Blick auf die religiöse Identität und den Gottesglaube.
Hierbei spielen auch die oben erwähnte Pluralisierung und Individualisierung der Lebenswelten eine wichtige Rolle, da sich diese Gesellschaftsphänomene auch auf die
religiöse Entwicklung auswirken. Im Hinblick auf die vorliegende Arbeit ist es nun von
Interesse, das Verhältnis von Jugendliche und Religion, Christentum und Kirche näher
zu betrachten und der Frage nachzugehen, welche Jugendliche sich eigentlich auf die
Firmung einlassen und welche nicht mehr dabei sind.
Viele Jugendliche sind religiös Suchende. Dabei suchen sie keine religiöse Denk- und
Verhaltensmuster, die ihnen eine Institution wie Familie oder Kirche u.a. vorgibt, sondern sie sind auf der Suche nach einem eigenen Glauben, „den sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen und Beziehungen verantworten können.“26 Jugendliche, die an der Firmvorbereitung teilnehmen, befinden sich in einer Umbruchsituation,
in der die Suche nach dem Selbst und dem eigenen Selbstbild von großer Bedeutung
sind und Erfahrungen der Kindheit kritisch hinterfragt werden. Dies gilt ebenso für den
eigenen Glauben.
25
26
Fischer 2003, 14.
Boschki 2008, 71.
Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung
9
„Die kritische Bewertung und Bearbeitung überkommener, von der Eltern- und Erziehungsgeneration weitergegebener Wertvorstellungen und Weltanschauungen (…) ist
als ein typischer Zug der Jugendphase zu werten. (…). Es kann das Bedürfnis entstehen, auf die religiöse Suche zu gehen und alternative Antworten anderer Religionen
und Weltanschauungen auf die menschlichen Grundfragen kennen zu lernen, um sich
autonom und individualisiert ein Sinnkonzept zu generieren. Genauso kann aber auch
die christliche Weltsicht zusammen mit ihrem Gottesbild neu bearbeitet werden.“
27
Hier wird die Tendenz zur Individualisierung der Religiosität sehr deutlich, deren primärer Bezugspunkt die eigene Erfahrung ist. Jugendliche wollen selbst bestimmen, was
und wie sie glauben und wohin sie sich religiös orientieren. Dabei kristallisiert sich die
Selbstbestimmung als ein zentrales Merkmal jugendlicher Religiosität heraus. Jugendliche verweigern sich dem christlichen Glauben in dem Moment, wenn sie sich vereinnahmt oder bevormundet fühlen. Dieses Verhalten der religiösen Entwicklung entspricht dem allgemeinen Entwicklungsverlauf, wonach sich der/die Jugendliche in der
Adoleszenz von den Abhängigkeiten der Erwachsenen und Institutionen u.a. befreien
will. Natürlicherweise distanziert sich der junge Mensch in dieser Phase von überkommen Wertvorstellungen und Lebensentwürfen.28 Die jugendliche Suche nach der eigenen Religiosität findet innerhalb einer pluralisierten Gesellschaft statt, die den jungen
Menschen verstärkt vor die Aufgabe stellt, aus einer „schier unendliche Fülle an Möglichkeiten, religiös zu denken, sein Leben zu gestalten, sich religiöser Schnittmuster zu
bedienen“29 auszuwählen, um sich daraus eigene Lebenseinstellungen und Werthaltungen zu erarbeiten. Er ist im Zuge der Individualisierung nunmehr für seinen Lebenssinn selbst verantwortlich.30 Die religiöse Vielfalt wird von heutigen Jugendlichen als
selbstverständlich wahrgenommen. Und obwohl sie sich selten offen zu einer religiösen Einstellung bekennen, scheint unterschwellig dennoch ein religiöses Interesse zu
27
Schambeck 2007, 161.
Vgl. hierzu James W. Fowlers Stufen der Glaubensentwicklung, u.a. in Baumann, Ulrike: Zugänge Jugendlicher zu Religion und Glauben, 12. In: Baumann, Ulrike/Englert, Rudolf/Menzel, Birgit u.a. (Hrsg.):
Religionsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2005, 10-20.
29
Boschki 2008, 54.
30
Während christlicher Glaube und Religion in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts das gesamte gesellschaftliche Leben mit seiner volkskirchlichen Struktur geprägt haben, ist die Gesellschaft
heute ausdifferenziert und der religiöse Bereich zu einem unter vielen autonomen Bereichen geworden.
Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen haben ihre Führungsrolle verloren und stehen in der
pluralisierten Gesellschaft nun in Konkurrenz zu anderen religiösen Formen, zwischen denen der Einzelne subjektiv auswählen kann. Während der religiöse Markt pluraler geworden ist, gestaltet sich die
Religionsausübung hingegen individueller. Dieser Spagat zwischen Individualisierung und Pluralisierung
ist charakteristisch für die entfaltet Moderne. Dass der Begriff der Säkularisierung, mit dem gemeinhin
die gesellschaftliche Entwicklung beschrieben wird, jedoch zu kurz greift, zeigen die „neue Suche, ja
Sehnsucht nach Religion und religiöser Bindung angesichts der hochtechnisierten und hochkomplexen,
unüberschaubaren und riskant gewordenen Welt.“ (Boschki 2008, 52). Trotz zunehmender Distanz zu
kirchlichen Institutionen besteht ein Interesse an Spiritualität und Religiosität, wobei beides als eher private Angelegenheit betrachtet wird, die allgemein der Sinngebung und als ritueller Rahmen des Lebensvollzuges dient. Vgl. hierzu u.a. Lätzel 2004, 27-32.
28
Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung
10
bestehen. Viele Jugendliche glauben, dass Religion zum Leben dazugehört und Positives bewirken kann. Dabei wird jedoch zwischen Religiosität und Kirchlichkeit unterschieden.31 Ein Blick auf die 16. Shell Jugendstudie32 scheint dies zu bestätigen. Nur
relativ wenige der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren haben eine enge Beziehung zu kirchlich-religiösen Glaubensvorgaben. Etwa 69 Prozent der Jugendliche betrachten die Institution Kirche grundsätzlich als wichtig, sind jedoch gleichzeitig kirchenkritisch eingestellt. 68 Prozent sind der Meinung, dass sich die Kirche in Zukunft
ändern muss. Rund 65 Prozent der Befragten finden in der Kirche keine Antworten auf
Fragen, die sie heute bewegen. Generell ist eine zunehmende religiöse Unsicherheit
festzustellen.33 Wie die Nähe und Distanz zu Religiosität und Kirche für die jeweiligen
Jugendlichen aussieht, hat die Sinus-Milieustudie U2734 erfasst, die 2007 erschien. Die
Studie gibt Hinweise zu den unterschiedlichen Werthaltungen und Milieuorientierungen
heutiger (katholischer) Jugendlicher. Ein Ergebnis dieser Studie, das auch die Gruppe
der jugendlichen Firmanden (welche der Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen zuzuordnen sind) betrifft, lautet: Katholische Jugendpastoral erreicht im Wesentlichen Jugendliche der bürgerlichen, traditionellen und postmateriellen Lebenswelt. Nur wenige
Jugendliche aus den gesellschaftlichen Leitmilieus, („moderne Performer“ und
„Experimentalisten“), finden Zugang zu Kirche und christlichem Glauben und leben
eher in Distanz dazu.35 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit würde eine detaillierte Darstellung aller Milieugruppen zu weit führen. Im Sinne eines Zwischenresümees kann
31
Vgl. Boschki 2008. 70 f.
Vgl. Shell 2010, 30. Unterschiede zeigen sich hier v.a. zwischen Ost und West und Jugendli
chen mit Migrationshintergrund. Während Religion in den neuen Bundesländern für junge
Menschen zumeist bedeutungslos (geworden) ist, spielt sie in den alten Bundesländern noch
eine mäßige Rolle. Im Gegensatz dazu haben Jugendliche mit Migrationshintergrund einen
starken Bezug zur Religion, der in diesem Jahrzehnt sogar noch zugenommen hat.
Vgl.http://www.shell.de/home/content/deu/aboutshell/our_commitment/shell_youth_study/2010/r
eligion/
33
Vgl. Shell 204-206, sowie http://de.statista.com/statistik/suche/q/religi%f6sitaumlt/ [19.09.12].
34
Die Sinus-Milieustudie U-27 wurde vom Bund der deutschen katholischen Jugend und vom Jugendhilfswerk Misereor gemeinsam in Auftrag gegeben. Die Studie untersucht drei Altersgruppen: Kinder (913 Jahre), Jugendliche (14 bis 19 Jahre) und junge Erwachsene (20 bis 27 Jahre). Das Modell der Sinus-Milieus gruppiert Menschen einander zu, die sich in ihren Lebensauffassungen und Lebensweisen
ähneln und macht darin Aussagen über Wertvorstellungen, Sehnsüchte, Zukunftsentwürfe, Einstellungen, Engagement sowie Haltung gegenüber Religion und Kirche heutiger Jugendlicher. Im Rahmen dieser Arbeit würde eine detaillierte Darstellung aller Milieugruppen zu weit führen. Hierzu soll ein Verweis
auf die Literaturangabe genügen: Vgl. Bund der deutschen katholischen Jugend/Misereor: Wie ticken
Jugendliche? Sinus-Milieustudie U27, Düsseldorf 2008.
35
Vgl. Ebertz 2008. Die Studie gibt darüber hinaus Aufschlüsse, wo es Berührungspunkte zwischen den
Milieus gibt. Beispielsweise sind junge Menschen aus nahezu allen Milieus (die „Hedonisten“ und “Konsum-Materialisten“ nur sehr eingeschränkt) bereit, sich zu engagieren. Unterscheidungen gibt es diesbezüglich in den jeweiligen Motivationen, Formen und Feldern des Engagements: „Während die einen
(‚Postmateriellen‘) als Bedingung für ihr Engagement z.B. eine flache Hierarchie, hohe Partizipationschancen und eine durch und durch demokratische Kultur erwarten, wünschen die anderen (‚Bürgerliche
Mitte‘) ausdrücklich Harmonie, Geselligkeit und Dank und wieder andere (‚Experimentalisten‘) neuartige,
ungewöhnliche Erfahrungen sowie Erweiterung ihres Bekanntenkreises. Das neue Leitmilieu der ‚Modernen Performer‘ erwartet insbesondere karrierenützliche Gegenleistungen und Handlungsspielräume,
in denen sie ihre Kompetenzen erproben, darstellen und entfalten können.“ (Ebertz 2008,4).
32
Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung
11
jedoch folgendes festgehalten werden: Die Mehrheit der Jugendlichen und somit ein
Gutteil der Firmanden stehen der Institution Kirche kritisch gegenüber und ist nicht bereit, traditionelle Antworten unhinterfragt zu übernehmen. Die Kirche hat aus Sicht vieler Jugendlichen die Wahrheit nicht für sich gepachtet. Eine geringe Beteiligung an
kirchlichen Aktivitäten ist nicht gleichzusetzen mit einem Fehlen religiöser Interessen
(Sinnfrage, Beten, Weiterleben nach dem Tod u.a.). Jugendliche sind religiös ansprechbar, wenn die Glaubensinhalte ihnen helfen, das eigene Leben zu orientieren.36
Nicht selten stellen sich Jugendliche ihre eigene Religion zusammen und viele halten
ihre Glauben für wertvoll, wenn sie ihn individuell gestalten können. An die Stelle eines
in sich konsistenten Glaubens- und Wertsystem sind im Zuge gesellschaftlicher Individualisierung vielfältige Mischformen alltagspraktischer Religiosität getreten.37 Religiosität steht für Jugendliche im Dienste der Konstruktion der eigenen Biografie. Kirchliche
Spiritualitätsangebote und Deutungsvorgaben der Institution Kirche werden in ihrem
Nutzen für das eigene Leben angefragt und danach beurteilt, ob sie bestimmte Bedürfnisse erfüllen können und derzeit bei der Lebensbewältigung am nützlichsten erscheinen. Innerhalb der Patchwork-Biografie wird so häufig eine Patchwork-Religiosität konstruiert, in der das Bild von Gott, der Welt und den Menschen selbst zusammengesetzt
wird.38 Junge Menschen greifen auf Kirche und Gemeinde zurück, wenn sie passgenau
und nützlich sind und den eigenen Lebensentwurf unterstützen. Von bleibender Wichtigkeit sind dabei kirchliche Handlungen zu persönlichen Lebenswenden, wie Taufe,
Firmung, Hochzeit und Beerdigung.39 Als wichtiger Ort der Religion Jugendlicher erweist sich somit die eigene Lebensgeschichte, innerhalb derer sich durchaus ein Interesse an kirchlich-getragenen Angeboten für eine individuell lebbare, religiöse Deutungs- und Verhaltenspraxis findet. Religion hat hier die Funktion der Deutung, Orientierung, Sinnfindung und des Sicherheitsgewinns.40 Allerdings soll das kirchliche Handeln dann auch auf diese Bereiche beschränkt bleiben. Junge Menschen wollen sich
von der Kirche nicht in ihr persönliches Leben hineinreden lassen. Dogmen und Vorgaben werden als Eingriff ins Privatleben empfunden.41 Hier findet sich wieder das
Merkmal der Selbstbestimmung hinsichtlich religiöser Entscheidungen, denn „Sinnstiftung lässt sich nicht unterweisen, sondern nur anregen.“42
36
Vgl. Ziebertz 2003, 386.
Vgl. Prokopf 2008, 197.
38
Vgl. Bongardt 2009, 13-14.
39
Vgl. Huber 2008, 71-72.
40
Vgl. Sellmann 2012, 42-52.
41
Vgl. Lätzel 2004, 31.
42
Baumann 2005, 18.
37
Biografisches Theater
12
Ob und wie Theaterprojekte im Sinne einer biografischen Theaterarbeit innerhalb der
Firmvorbereitung in der Jugendzeit als Zeit der Suche (u.a. nach der religiösen Identität) eine Rolle spielen können, wird im weiteren Verlauf der Arbeit zu untersuchen sein.
3 Biografisches Theater
Was ist Biografisches Theater? (Auto)Biografisches Theater ist mittlerweile zwar ein
geläufiger, jedoch kein eingrenzender und spezieller Fachbegriff, welcher eine spezielle Methodik oder Spielform umfasst. Vielmehr ist die Bezeichnung ‚Biografisches Theater‘ ein Oberbegriff für vielfältige Formen der biografischen Theaterarbeit.43 Allen Formen gemein sind dabei die eigenen Lebensgeschichten der Darsteller als Zentrum und
Ausgangspunkt der Theaterarbeit. Die vorliegende Arbeit geht von einem theaterpädagogischen Ansatz der biografischen Theaterarbeit aus, wonach Theaterstücke ausgehend von den Lebensgeschichten der Teilnehmer entwickelt werden.44 Zunächst soll
nun ein Blick auf die Bedeutung der Biografie als Ausgangspunk der biografischen
Theaterarbeit geworfen werden.
3.1 Zum Begriff und zum Verständnis von Biografie
Der Begriff ‚Biografie‘ stammt aus dem Griechischen bíos = Leben und gráphein =
schreiben45 und meint sinngemäß die Beschreibung des Lebens(ab)laufs bzw. die Lebensgeschichte eines Menschen46. Dabei umfasst die Biografie sowohl die objektiven
Daten des Lebenslaufes als auch die innere, emotionale und soziale Entwicklung einer
Person, „unter Einbeziehung ihrer Werke und Leistungen und ihrer Beziehungen zu
43
Das Spiel mit eigenem oder fremdem biografischen Material hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt. Zu unterscheiden sind hierbei die professionellen biografischen Theaterproduktionen
der Freien Szene, welche Stücke mit Laien inszenieren u.a. Rimini Protokoll, She She Pop und biografische Theaterarbeiten der Theaterpädagogik. Beide Arbeitsansätze weisen in ihren Arbeits- und Inszenierungsstrategien Berührungspunkte auf, unterscheiden sich jedoch bzgl. der Zielsetzung und des Anspruchs. Vgl. Köhler 2009, 42-45.
44
Professionelle Schauspieltechniken, wie bspw. die ‚Psychotechniken‘ Stanislawskis, bei denen der
Schauspieler auf eigenes biografisches Material zurückgreift, um eine festgelegte Rolle individuell und
authentisch auszufüllen, werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher betrachtet. Genauso
wenig finden hierin bereits festgelegt Theaterstücke, in denen die Lebensgeschichte berühmter Persönlichkeiten nacherzählt wird und Rollenschema, die unter Einbeziehung von biographischem Material realisiert werden, Beachtung. Vgl. Gäbler 2003.
45
Vgl. http://www.duden.de/suchen/dudenonline/bios bzw. /grafie.
46
Wermke 2007, 138.
Biografisches Theater
13
Zeitgenossen sowie ihrer Stellung innerhalb des Geschichtsverlaus.“47 Die individuelle
Lebensgeschichte bzw. Biografie eines Menschen ist, solange er lebt, ein fragmentarischer und unabgeschlossener Prozess, innerhalb dessen sich das Individuum bewegt
und verändert. Sie entsteht durch die subjektive Verarbeitung, Deutung und Auslegung
der persönlichen Erfahrungen, Erlebnisse und Entscheidungen, die innerhalb der Lebensspanne und dem vorstrukturierten Lebensbogen, also im Rahmen institutioneller
und gesellschaftlicher Vorgaben, gemacht werden.48
Die persönlichen Erfahrungen, Ereignisse, Erlebnisse und Entscheidungen können
sich sowohl vorhersehbar (normativ) als auch unabsehbar (krisenhaft) ereignen und
mehr oder weniger tiefgreifend sein. Diese Veränderungen werden mitunter als (unangenehme) Einschnitte empfunden, „eben als etwas, was dazwischen kommt“49 und
bewirken, dass die Lebensgeschichte nicht linear, in einem regelmäßigen Rhythmus
verläuft, sondern von einer Ungleichzeitigkeit geprägt ist. Übergänge, die für jedes Individuum unumgänglich sind, sind Geburt und Tod. Weitere entscheidende Knotenpunkte innerhalb der jeweiligen Biografie sind u.a. Schuleintritt, Erwachsenwerden,
Neueintritt in den Beruf, Arbeitslosigkeit, Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, der Beginn einer Partnerschaft, die Geburt eines Kindes, Trennungen, Wohnortswechsel.
Lebenswenden können sich auch innerhalb des rhythmisierten Jahres (u.a. Jahreswechsel, Geburtstage, Adventszeit) oder zeitgeschichtliche (bspw. Eintritt eines Krieges, Fall der Mauer) gestalten, wobei die Bedeutung hierbei je nach Betroffenheit und
Lebensalter sehr verschieden ist.50
In einer pluralisierten Gesellschaft, in welcher der Mensch seine Biographie selbst entwerfen muss (Wahl- und Patchwork-Biografie) und „Handlungen und Begegnungen auf
ihre Bedeutung für sein Leben (hin) befragt und sich einen Vers auf sie zu machen
versucht“51 hängt die Suche nach der eigenen Identität eng mit der Suche nach dem
Lebenssinn zusammen.52 Die jeweilige Lebensgeschichte ist der Ort, wo sich die Menschen darüber vergewissern, wie viel Sinn, Wert und Anerkennung ihr Dasein hat. Somit gewinnt die individuelle Biographie an Bedeutung und das Bedürfnis, das individuelle Leben zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen, nimmt zu. Da Lebensgeschichten immer auch Bekenntnisse sind, ist darüber hinaus an ihnen abzulesen, welche
47
Bertelsmann 2009, 109.
Vgl. Fechtner 2003, 43; Albrecht 2006, 193.
49
Roselt 2006.
50
Vgl. Zulehner 1990, 14-16.
51
Maurer 1981, 8.
52
Vgl. Lätzel 2004, 59.
48
Biografisches Theater
14
Sinn- und Wertorientierungen von der jeweiligen Person als letztgültig oder als (lebens) entscheidend angesehen werden.53
Zusammenfassend lässt sich Biografie nach Theodor Schulze als Prozess (die Biografie ist immer unabgeschlossen und offen für Veränderungen), Produkt (die Biografie
ist der sichtbargemachte Lebensentwurf, der aus gesammelten Lebenserfahrungen
resultiert) und Potential (innerhalb des Biografieentwurfs bestehen Möglichkeiten zur
Bewusstwerdung, Bestätigung oder Erweiterung des eigenen Selbst- und Lebenskonzepts) betrachten.54
3.2 Vom Ausgangspunkt zum Stück: Die Methode des biografischen Theaters
Ausgangspunkt der theaterpädagogischen biografischen Theaterarbeit ist das biografische Material jedes einzelnen Teilnehmers. Gemeint sind damit persönliche Erfahrungen, Werte, „Erinnerungen, Befindlichkeiten, Meinungen, Anliegen, Gedanken, Anekdoten, Geschichten und Selbstbilder der Akteure, die als biografisches Material generiert, somit sichtbar gemacht und als Arbeitsgrundlage genutzt werden.“55 Desweiteren
sind auch Lieder, Fotografien, persönliche Gegenstände, Zeitungsartikel, Interviews,
kollektive Ereignisse und vieles mehr als biografisches Material denkbar. Biografisches
Theater baut folglich auf Lebenserfahrungen und Biografien (nicht auf literarischen
Vorlagen – es sein denn, der Text dient als Folie und Reibungsfläche für die Entwicklung biografischer Erzählungen) auf, gibt ihnen eine Rahmung und entwickelt so daraus ein maßgeschneidertes Stück. Dabei wird künstlerischen, nicht therapeutischen
Gesetzen gefolgt. Biografische Theaterarbeit ist Produktorientiert und bleibt nicht im
Prozess haften.
Um der biografischen Theaterarbeit Richtung zu verleihen, sollte zu Beginn der Arbeit
ein biografischer Bezugspunkt bzw. Fokus festgelegt werden. Die biografische Fokussierung kann sowohl auf ein Thema, auf soziale Orte als auch auf die Begegnung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen bezogen sein.56 Die Biografie der Darsteller
interessiert somit aufgrund einer übergeordneten Fragestellung. Beim theaterpädagogischen Biografischen Theater müssen sich Leiter und Spieler sowohl der individuellen
Biografie als auch dem Medium Theater an sich annähern, da ein Zugang zu Theater,
53
Vgl. Schweitzer 1996, 42.
Vgl. Schulze 1993. Eine Zusammenfassung des dreidimensionale Verständnisses von Biografie findet
sich bei Köhler 2009, 20-22.
55
Köhler 2009, 23.
56
Vgl. Köhler 2009, 45.
54
Biografisches Theater
15
Kunst und Kultur bei den Teilnehmern heutzutage nicht vorausgesetzt werden kann.
Damit die TeilnehmerInnen eine Vorstellung davon bekommen können, auf was sie
sich einlassen, empfiehlt es sich, gemeinsam Aufzeichnungen biografischer Theaterproduktionen anzusehen. Gleichzeitig kann dies, auch im späteren Verlauf des Prozesses, zu gemeinsamen Diskussionen anregen und Anregungen für die eigene Inszenierung bieten.57 Der Prozess kann in drei Stufen aufgeteilt werden: Die Materialsammlung, die (Material)Gestaltung bzw. Ästhetisierung anhand theatraler Mittel und
die Stückentwicklung.58 Biografische Theaterarbeit erfolgt demzufolge in den Schritten
Biografiegenerierung, Biografiebearbeitung und Biografiedarstellung.
An erster Stelle des Prozesses steht die Sammlung und Generierung des biografischen Materials, welches mittels unterschiedlicher Methoden und Techniken zu szenischem Material umgesetzt wird. Wichtig ist es, diese Phase zunächst wertfrei zu gestalten und den Spielern die Möglichkeit zu geben, Positionen und Identitäten eigenständig zu entwerfen, unabhängig von künstlerischen, inhaltlichen oder dramaturgischen Vorstellungen.59 Es geht darum, dass der Einzelne zunächst nur sich selbst und
seinen individuellen, persönlich relevanten Bezug zum Thema betrachtet. Gleichzeitig
liegt der Schwerpunkt in dieser Phase darauf, ein positives Gruppengefühl zu etablieren, welche durch gegenseitiges Interesse und einen respektvollen Umgang untereinander gekennzeichnet ist. Solch ein Gruppengefühl kann durch Aufwärm- und Vertrauensübungen und gruppendynamische Spiele hergestellt werden.60 Zu szenischem
Material gelangt man u.a. über szenisches Schreiben61, Verknüpfung mit Fremdtexten
aus der Literatur oder Medienwelt, deren Inhalt mit eigenen Themen und Lebenserfahrungen verknüpft werden können62, über Verkörperungen und Improvisationen. Diese
verhelfen dazu, einen sinnlichen Bezug zum Thema herzustellen, „in dem Sprechen,
Handeln, Einfühlung sowie der Ausdruck von Emotionen und Bewegungsimpulsen zusammen kommen.“63 Spielanlässe können demzufolge neben mündlichen Erzählungen
und Schriftstücken auch körperlich Haltungen und Ausdrucksweisen, Lieder, Fotografien, Filme und Objekte sein. Ziel der Materialsammlungsphase ist es, vielfältige
57
Vgl Köhler 2012, 67.
Vgl. Köhler 2009, 25; Plath 2009, 56-150.
59
Vgl. Gäbler 2003, 35.
60
Vgl. Köhler 2009, 53; Plath 2009, 128 f.
61
Die Technik des szenischen Schreibens basiert auf assoziativen Grundtechniken. Man unterscheidet
dabei vier verschiedene Methodengruppen: 1) Assoziative Verfahren, 2) Schreiben nach Vorgaben, Regeln oder Mustern, 3) Schreiben zu Text, 4) Schreiben zu Stimuli, vgl. hierzu das Handout „Biographisches
Theater“ von Cornelia Wolf, 8-10. Zur Methode des Szenischen Schreibens siehe außerdem Hippe 2011,
70ff.
62
Vgl. hierzu Köhler 2009, 55; Plath 2009, 128.
63
Köhler 2009, 56.
58
Biografisches Theater
16
Biografiefragmente zu generieren, die das Fundament für die spätere Inszenierung
schaffen. Abschließend werden, mit Blick auf den jeweiligen Fokus des Projekts, eingebrachte Ideen und Darbietungen der Teilnehmer selektiert und geordnet. Der „reflexive Selbstthematisierungsprozess“64 ermöglicht den Teilnehmern in dieser Phase lebensgeschichtliche Gemeinsamkeiten mit und Differenzen zu den Mitakteuren zu entdecken. In einem nächsten Schritt steht, auf dem Hintergrund der Stückentwicklung,
der Ästhetisierungsvorgang des biografischen bzw. szenischen Materials, die
Biografiebearbeitung, im Zentrum. Darin wird mit dem gesammelten Material, improvisierten Ausdrucksformen, szenischen Ideen bzw. Fragmenten, Stichwörtern u.a. experimentiert und dieselben mit Hilfe ästhetischer und theatraler Mittel gestaltet. Die (Rollen)Gestaltung und Biografiebarbeitung ist nun vom Ergebnis her motiviert, nicht mehr
von einer biografischen Spurensuche. Ästhetische Mittel lassen sich auf Bewegungen
(z.B. Freeze, Zeitlupe, Spiegeln, Standbild) und Sprache und Stimme (z.B. in verschiedenen Lautstärken und Gefühlslagen sprechen, chorisch sprechen) beziehen, betreffen
technische Mittel (z.B. Mikrofon, Kamera, Musikinstrumente) und Mittel zur Verdichtung
(z.B. Rhythmisierung, Wiederholung, Verfremdung).65 Die verschiedenen Darstellungstechniken organisieren und gestalten so, in chorischer oder solistischer Spielweise, die
szenischen Fragmente. Die ästhetischen Elemente, die dafür angewandt werden können, hängen dabei sowohl von der Struktur der Gruppe, ihren Eigenheiten und speziellen Fähigkeiten ab, als auch von der inhaltlichen Stimmigkeit. Bei der Erarbeitung können dabei sowohl die sozialen Bezüge der jeweiligen Biografie als auch Einzigartigkeiten verstärkt werden. Je nach Intention werden unterschiedliche Artikulations-, Bewegungs-, und Gestaltungsformen erprobt.66 Im weiteren Verlauf des Prozesses rückt die
Aufgabe in den Mittelpunkt, „das szenische Material zu ordnen und es auf den Zugang
für einen Zuschauer hin zu überprüfen.“67 Gemeint ist hiermit die Erarbeitung eines
roten Fadens bzw. einer ästhetischen Linie, welche(r) einzelne Szenen formal und/oder
inhaltlich logisch miteinander verknüpft und verdichtet. Hierbei übernimmt der Spielleiter verstärkt die Aufgabe der konzeptionellen Führung. Die Biografievermittlung vor
64
Köhler 2009, 114.
Eine Auflistung und Beschreibung unterschiedlicher ästhetischer Mittel sind zu finden bei Wolf 2012,
11f. und Plath 2009.
66
Vgl. Köhler 2009, 114 f. „Geht es in einem szenischen Fragment um die Betonung des Innenlebens, der
Befindlichkeiten und Emotionen, liegt es nahe, mit den Darstellern eine einfühlende Spielhaltung zu proben. Möglich ist es aber auch, eine demonstrierende und zeigende Technik einzustudieren – insbesondere dann, wenn in einer Sequenz soziale Bezüge der jeweiligen Biografie markiert werden sollen. Gegebenenfalls liegt der besondere Gehalt der Szene aber auch in einem Darstellungsmodus, der sich allein auf den performativen Handlungsvollzug konzentriert, die Ereignishaftigkeit des Geschehens in einer biografischen Kommunikationssituation oder ausgestellten Selbstthematisierung betont.“
67
Gäbler 2003, 36.
65
Biografisches Theater
17
Publikum erfährt der Akteur als öffentliche Selbstinszenierung, die die theatrale
Biografiearbeit abschließt.
Norma Köhler hat die Strukturierung des Probenprozesses in folgender Tabelle 68 übersichtlich dargestellt.
Biografische
Materialsammlung
Rollengestaltung
Stückentwicklung
Biografische
Typisierung
Verdichtung
Theaterarbeit
Dramaturgisches
Schlüsselkriterium Spurensuche
Darstellung
Selbstthematisierung Ausdrucksfindung
Öffentliche
Selbstinszenierung
3.3 Grundmerkmale des Biografischen Theaters
Im vorherigen Kapitel haben sich schon einige Grundmerkmale des biografischen Theaters herauskristallisiert, von denen nun zwei wesentliche näher beleuchtet werden
sollen, da sie gerade auch in der Arbeit mit Jugendlichen eine wichtige Bedeutung haben.
3.3.1 Die Arbeit am Nicht-Perfekten – Authentizität
Biografisches Theater hat den Vorteil, dass es die Teilnehmer in schauspielerischer
Hinsicht nicht überfordert. Im Gegensatz zum professionellen Theater sind schauspieltechnische Fähigkeiten eines Spielers keine Voraussetzung für die gemeinsame Theaterarbeit. Ausgangspunkt bilden die Persönlichkeit, die privaten Erfahrungen, das Wissen der Teilnehmer und mehr.69 Das Nicht-Perfekte betrifft sowohl die schauspielerischen Fähigkeiten, die körperlichen Grenzen als auch die eigene Biografie, die fragmentarisch, unabgeschlossen und offen für Veränderungen ist. Gerade das NichtPerfekte wird dabei zum Gegenstand des Spiels gemacht.
68
69
Köhler 2009, 115,
Vgl. Gäbler 2003, 35.
Biografisches Theater
18
„Man kann annehmen, die Nicht-Professionalität der Darsteller ist kein Mangel, mit dem
es umzugehen gilt oder der kaschiert werden müsste, sondern ein Pfund, mit dem gewuchert werden kann.“
70
Biografische Theaterarbeit baut auf schon Vorhandenem bzw. Nicht-Vorhandenem auf
und agiert damit auf vielfältige Weise. Beispielsweise werden mangelnde Professionalität und Pannen nicht kaschiert, sondern in die Inszenierung integriert. Der Fokus bei
der biografischen Theaterarbeit ist in erster Linie auf den Inhalt, das ‚Was‘ und nicht
auf das Können, das ‚Wie‘ gerichtet. Mittel- und Ausgangspunkt bildet der Einzelne mit
seiner jeweiligen Biografie. In diesem Zusammenhang ist auch die Forderung nach
Authentizität im biografischen Theater zu verstehen. Authentizität meint wörtlich übersetzt „Echtheit, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit.“71 Im Kontext der biografischen Theaterarbeit meint dies, auf ein ‚so tun als ob‘ zu verzichten und keine Rollen im Sinne
eines sich hineinversetzen in eine andere Personen zu übernehmen.72 Es geht mehr
um das zeigen, als um das darstellen. Echtheit und Glaubwürdigkeit sind dabei bezogen auf die Identifikation der Akteure mit den Inhalten, also darauf, dass das Dargestellte von den Spielenden selbst kommt und ihnen nichts Fremdes übergestülpt wurde.73 Echt und glaubhaft im Sinne einer absoluten Wahrheit des Dargestellten ist damit
nicht gemeint. Lügen ist im biografischen Theater erlaubt, da es um die Inszenierung
von Wahrheit und Fiktion geht.74
3.3.2 Distanzierung – Ästhetisierung
Eine der zehn Regeln zur Biografischen Theaterarbeit mit Jugendlichen besagt, dass
„Die Grenze zwischen intimer und persönlicher Erzählung nicht überschritten werden
(darf).“75 Das ist, was jeder biografischen Theaterarbeit vorausgeht. Jeder Teilnehmer
entscheidet selbst, welche Geschichten, Gedanken etc. er offen legt und welche er als
privat einstuft. Wird etwas mitgeteilt kann davon ausgegangen werden, dass es persönlich ist und somit inszeniert werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass der Spielleiter von Beginn an regelmäßig deutlich macht, dass jeder Teilnehmer als mündiger
70
Roselt 2006.
http://www.duden.de/suchen/dudenonline/authentizität
72
Gäbler 2003, 36.
73
Vgl. Plath 2009, 26.
74
„Der spielende Mensch bestätigt nicht die reale Welt, sondern Entwickelt mit ‚Bausteinen der Wirklichkeit‘ neue Welten – teilweise der realen Welt genau entgegengesetzt, sie parodierend und sich über sie
hinwegsetzend.“ Was Michael Beisswenger in Bezug auf die virtuelle Spielwelt eines Chatraumes äußert, trifft meiner Ansicht nach auch auf die Inszenierung von Wahrheit und Fiktion im biografischen
Theater zu. Vgl. Beisswenger, Michael: Das interaktive Lesespiel. Chat-Kommunikation als mediale Inszenierung, Stuttgart 2002, 91.
75
Herrbold 2012, 21.
71
Biografisches Theater
19
Partner ohne Vorbehalte Nein sagen und selbst entscheiden kann, wie viel er von sich
preisgeben möchte.76 Doch auch bereits generiertes biografisches Material bedarf einer Distanzierung von der Privatperson. Es geht nämlich nicht darum, den ‚echten‘
Mensch auf der Bühne zu zeigen, sondern seine konstruierte Selbstdarstellung. Die
Distanzierung erfolgt über Verfremdungstechniken und Methoden zur Ästhetisierung.77
Auch hier greift wieder eine der oben erwähnten Regeln zur Biografischen Theaterarbeit:
„Die Methode muss sich ästhetischer Mittel bedienen, um die Jugendlichen zu schützen
und ihnen eine mehrperspektivische Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie zu
ermöglichen.“
78
Der Prozess der Ästhetisierung ermöglicht somit eine intensivere Auseinandersetzung
mit sich selbst und den unterschiedlichen Aspekten eines Themas und gleichzeitig eine
spielende Distanz zu eigenen Empfindung, Geschichten, Themen u.a. Die klare ästhetische Form bietet Sicherheit und die Möglichkeit zur Selbstdistanzierung. Der ästhetische Rahmen macht klar, dass es nicht darum geht, wahres Leben abzubilden oder
vorzuspielen, obwohl es auch ausdrücklich spielerische Szenen geben kann.79 Man tritt
mit seiner Geschichte in Erscheinung, ohne sich damit bloßzustellen oder Schutzlos
auszuliefern. Das private Ich wird zum „künstlerischen Du“80, in dem das Selbst anhand
ästhetischer und theatraler Mittel konstruiert wird und eine objektive Sicht auf persönliche Themen und die eigene Figur ermöglicht. Dies verhindert gleichzeitig auch eine
übertriebene Beschäftigung mit sich selbst und ermöglicht eine Verbindung von individuellen und kollektiven Erzählungen und die Einbeziehung der individuellen Geschichte in einen allgemeineren Kontext.
76
Vgl. Köhle 2009, 136.
Vgl. Kapitel 4.2.
78
Herrbold 2012, 21.
79
Vgl. Roselt 2011
80
Gäbler 2003, 36.
77
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
20
4 Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
Entscheidet man sich dafür, mit Jugendlichen im Rahmen der Firmvorbereitung biografisches Theater zu machen, stellt sich die Frage, warum sich die Jugendlichen mit
ihrer eigenen Biografie theatral beschäftigen sollen. Welche (religiösen) Erfahrungsund Lernmöglichkeiten sind mit Biografiegenerierung, -bearbeitung und –darstellung
verbunden? Wie passen die Ansätze der biografischen Theaterarbeit und die inhaltlichen Zielsetzungen der Firmvorbereitung überhaupt zusammen?
4.1 Thematisch-inhaltliche Akzente der Firmvorbereitung
Sakramente81, setzen an Knotenpunkten des menschlichen Lebens, an konkreten Lebenssituationen, an. Dies soll verdeutlichen, dass Gott am Leben der Menschen teilnimmt, dass er es begleitet und trägt. Dadurch werden die Sakramente zu einem greifbaren Zeichen, nicht losgelöst vom konkreten Leben.82 So auch das Sakrament der
Firmung, welches in der, für die Jugendlichen prägsamen Phase der Adoleszenz angesiedelt ist. Das Wort Firmung kommt vom lateinischen „firmare“ und heißt übersetzt
bestärken, festigen, ermutigen. Die Firmung soll den Jugendlichen auf seinem Weg
vom Kindsein zum Erwachsenwerden stärken und zu einer selbstständigen Glaubensentscheidung in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft hinführen. In diesem
Sinne wird Firmung in den letzten Jahren vor allem als ‚Sakrament der Mündigkeit‘
verstanden.83
Aus diesem Verständnis heraus ergeben sich für die Firmvorbereitung folgende Ziele:
-
Die Jugendlichen sollen dort abgeholt werden, wo sie stehen, mit ihren Erwartungen und Bedürfnissen, um sie von diesem Standort aus zu begleiten.
-
Den jungen Menschen sollen Erfahrungen mit sich selbst sowie das Entdecken
und Weiterentwickeln der eigenen Fähigkeiten und Begabungen ermöglicht
werden.
-
Den Jugendlichen soll ein Raum zur Auseinandersetzung mit sich selbst, dem
eigenen Glauben, Hoffnungen und Zweifeln sowie Fragen an das Leben geboten werden.
81
Ein Sakrament ist eine „zeichenhafte(n) Verleiblichung der heilsschaffenden Nähe Gottes“. In
den Sakramenten ereignet sich folglich die befreiende, vergebende, heilende und
zusammenführende Nähe Gottes. Sakramente sind Liebesangebote Gottes die auf die
Antwort des Menschen warten. Sie wollen die Beziehung zwischen Gott und Mensch stiften
und vertiefen und sind Ausdruck der persönlichen Christusbeziehung. Vgl. Frohnhofen § 1, 1.
82
Vgl. Frohnhofen, § 2, 9.
83
Vgl. Die deutschen Bischöfe 1993, 50.
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
-
21
Kirche und Gemeinde soll als Begegnungs- und Erfahrungsraum für Jugendliche erlebbar gemacht werden.
-
Die wesentlichen Inhalte der Firmung sollen kennengelernt und erfahren werden.
-
Die Jugendlichen sollen zu einem Leben aus der Kraft des Evangeliums ermutigt werden.84
4.2 Chancen und Hürden von biografischem Theater in der Firmvorbereitung
Im Folgenden sollen die Zielsetzungen der Firmvorbereitung hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit mittels biografischer Theaterarbeit überprüft werden. Dazu werden die oben
genannten Ziele zu Thesen umformuliert.
4.2.1 Biografisches Theater holt Jugendliche dort ab, wo sie stehen
Die Gruppe der jugendlichen Firmbewerber ist meist sehr heterogen und stammt aus
unterschiedlichen Lebenswelten (Milieus). Die jungen Menschen unterscheiden sich
hinsichtlich ihrer Motivation, ihrer Einstellung zu Leben, Glauben, Gott und Religion,
sowie in ihrer unterschiedlichen Distanz und Nähe zur Kirche. In der biografischen
Theaterarbeit dürfen die Jugendlichen erfahren, dass sie, ihre Bedürfnisse und Meinungen ernst genommen werden und ihre eigene Geschichte, ihre ganze Peron, gefragt ist.
„Über die Einbindung des biografischen Materials erfährt der Spieler, dass seine Haltung, seine Position zum Thema nicht nur wünschenswert, sondern absolute Voraussetzung für die Inszenierungsarbeit ist.“
85
Biografisches Theater schöpft aus der Lebens- und Erlebenswelt eines jeden Teilnehmers. Dadurch, dass anfangs weder eine Geschichte noch ein Text existiert, sind die
Jugendlichen gefordert, eigene Beiträge zu liefern. Sie werden als Partner auf Augenhöhe auf einen gemeinsamen Weg eingeladen. Dies kann die Motivation steigern, sich
intensiv mit einem Thema zu beschäftigen. Seitens des Spielleiters ist dabei von Bedeutung, dass er den Jugendlichen einen geschützten Raum für die persönlichen Geschichten, Gedanken, Wünsche u.a. eröffnet und eine vertrauensvolle Atmosphäre
84
Vgl. Hofrichter 2001, 14; sowie
http://www.katholisch.de/de/katholisch/glaube/unser_glaube/firmung/firmung_fragen_und_antworten.php
85
Hoffmann 2006, 112.
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
22
herstellt. Dies erleichtert den Jugendlichen, sich zu öffnen und sich auf den gemeinsamen Prozess einzulassen. Grundlegend ist hierfür auch, ein Kennenlernen der Gruppenmitglieder untereinander zu ermöglichen und für eine gute Gruppendynamik zu
sorgen. Dies ist für die theaterpädagogische Arbeit im Allgemeinen eine wichtige Aufgabe, da darstellendes Spiel immer auch als kollektiver Vorgang angelegt ist, in dem
das Verhalten der Gruppe stets in das das Verhalten des Einzelnen mit einfließt und
somit auch die persönliche Entwicklung des Individuums beeinflusst.86
Zum gegenseitigen Kennenlernen, sich vorstellen und zur ersten Selbstinszenierung
bietet sich das Spiel: „Drei Dinge die ihr über mich wissen müsst“ an. Dazu stehen alle
im Kreis während jeweils eine/r in die Kreismitte geht und der Gruppe den eigenen
Namen sowie zwei wahre und eine gelogene Sache über sich erzählt. Die Lüge wird
dabei nicht öffentlich aufgelöst.
Um ein Gefühl für die Gruppe (und auch für den Raum) zu entwickeln, ist das Gehen
eine Grundübung in der Theaterpädagogik. Die Spieler bewegen sich „kreuz und quer“
durch den Raum, so dass sie gleichmäßig die Fläche nutzen und begehen. Nun beginnt ein Teilnehmer, etwas zu bekennen und die anderen verhalten sich dazu, z.B.
„Alle die in der Kirche schon einmal eingeschlafen sind krabbeln auf allen Vieren…“
usw. Auf wen das nicht zutrifft, geht in normalem Gang weiter. Dieses „Bekennerspiel“
zielt darüber hinaus auf einen spielerischen Umgang mit Wahrheit, Fiktion und Provokation und die humorvolle Wahrnehmung der anderen und sich selbst.
4.2.2 Biografisches Theater ermöglicht den Jugendlichen Erfahrungen mit
sich selbst
In der Phase der Adoleszenz, in der junge Menschen auf der Suche nach dem eigenen
Selbst und dem eigenen Selbstbild sind87 gilt für die Verantwortlichen in der Firmvorbereitung, die Jugendlichen in dieser Lebensphase unterstützend zu begleiten.
Der Theaterregisseur und Philosoph Robert Ciulli bezeichnet „das Theater (als) einer
der wenigen Orte, die einen Prozess der Selbsterkenntnis in Gang setzen können.“
Wie in Punkt 4.1 erläutert, birgt die eigene Biografie das Potential, sich seines eigenen
Selbst- und Lebenskonzeptes bewusst zu werden, dieses zu bestätigen und zu erweitern. Die Beschäftigung mit und die Ästhetisierung und Inszenierung von Biografie auf
der Bühne löst Prozesse aus, die sowohl künstlerisch-ästhetische Erfahrungen, als
86
87
Vgl. Wolf 2012.
Vgl. Punkt 2 der vorliegenden Arbeit.
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
23
auch soziale und Selbsterfahrungen ermöglichen können. Biografisches Theater fungiert so im Sinne der Theaterpädagogik sowohl als künstlerisch ernst zu nehmendes
Theaterspiel als auch als Instrument kultureller und ästhetischer Bildung.88 Der
theatrale Umgang mit der eigenen Biografie ermöglicht den Jugendlichen, sich mit sich
selbst und ihrer Umwelt auseinanderzusetzen und diese Erfahrungen in theatrale Wirklichkeit umzusetzen. Diese Differenzerfahrung, die sich aus der Konfrontation von alltäglicher und theatraler Wirklichkeit ergibt, bildet ein Bewusstsein über die Gestaltbarkeit von Wirklichkeit und somit auch Biografie und schafft somit die Grundbedingung
für ästhetische Bildung.89 In der Adoleszenz haben Jugendliche u.a. die Entwicklungsaufgabe zu meistern, die eigene Identität aufzubauen und zu stabilisieren. Die Frage
„Wer bin ich?“ wird in der biografischen Theaterarbeit auf spielerisch-ästhetische Weise bearbeitet. Jugendliche können so die Erfahrung machen, dass ihre Identität
konstruierbar und veränderbar ist. Gudrun Herrbold beschreibt die Wirkung der biografischen Theaterarbeit mit Jugendlichen folgendermaßen:
„Sie können lernen, dass sich aus und mit der eigenen Geschichte ein ästhetischer
Prozess entwickeln lässt. Dass aufgrund dieser Ästhetisierung eine vielschichtige
Wahrnehmung möglich wird, die das subjektive Erleben anreichert und in Frage stellen
kann. Dass eine Auseinandersetzung mit der Biografie die Selbstreflexion schult und
buchstäblich Selbstbewusstsein schafft. Dass diese Theaterarbeit nur möglich ist, wenn
man sich selbst und anderen mit Verantwortung und Respekt begegnet. Und nicht zuletzt geht es um die Erkenntnis, dass jede Biografie gestaltbar und einzigartig ist.“
90
Biografische Theaterarbeit gibt den Jugendlichen die Möglichkeit, sich mit ihrer gesamten Persönlichkeit in den Arbeitsprozess einzubringen. Darin liegt eine Chance, die
Maike Plath, in Bezug auf ihre Arbeit in der Schule so formuliert:
„Ausgehend von den Wünschen, Erwartungen und Gedanken der Schüler/innen können wir einen bildungsästhetischen Prozess in Gang setzen, der sie Schritt für Schritt in
die Lage versetzt, sich mit den Themen unserer Welt auseinanderzusetzen und eine eigene Haltung dazu zu entwickeln.“
91
In der biografischen Theaterarbeit wird ein künstlerisch-ästhetischer Reflexionsprozess
angestoßen, der den Jugendlichen dazu verhilft, eine persönliche, individuelle Stimme
88
Vgl. Rellstab 2009, 29.
Vgl. Hentschel 2007, 29. Theaterpädagogik ermöglicht ästhetische Bildungs- bzw. Erfahrungsprozesse.
Ästhetische Bildung meint zum einen die Entwicklung der Sinnes- und Wahrnehmungstätigkeiten sowie
des Körperbewusstseins anhand kultureller Praktiken. Zum andren beschreibt es in einem engeren Sinne die wahrnehmende und gestaltende Auseinandersetzung für, durch und mit den Künsten wie Theater, Musik, Tanz, Bildende Künste, Medien etc. Vgl. Hentschel 2003, 9.
90
Herrbold 2012, 22.
91
Plath 2009, 8.
89
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
24
innerhalb des gesellschaftlichen Kontextes zu finden. Durch die Distanzierung anhand
ästhetischer Mittel kann die individuelle Stimme darüber hinaus in eine allgemeingültige Botschaft verwandelt werden. Biografisches Theater bietet die Möglichkeit, sich
seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu suchen und das eigene Selbst auch
immer wieder Stückchen für Stückchen zu finden. Somit leistet es einen Beitrag zur
kulturellen bzw. ästhetischen Bildung. Dies bezeichnet den Lern- und Auseinandersetzungsprozess des Menschen mit sich, seiner Umwelt und der Gesellschaft im Medium
der Künste und ihrer Hervorbringung.92 In, durch und mit dem Medium Theater setzen
sich die Jugendlichen mit sich und mit eigenen Sichtweisen zur Welt auseinander.
Selbsterfahrung und –Distanzierung, Selbstwahrnehmung und -Gestaltung bedingen
sich. Ästhetische bzw. kulturelle Bildung zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht defizitorientiert ist, sondern versucht, ausgehend von den vorhandenen Möglichkeiten,
Stärken und Anlagen der TeilnehmerInnen kreativ, kommunikativ und darstellerisch zu
stärken und zu fördern. So will auch die Theaterpädagogik und damit einhergehend
das biografische Theater die Stärken der Teilnehmenden hervorheben. Sie „will auf
spielerische Weise Wertvolles zum Blühen und Missstände zum Verschwinden bringen
und will Veränderung, Entwicklung.“93 In diesem Sinne können junge Menschen in der
biografischen Theaterarbeit Erfahrungen mit sich selbst machen sowie eigene Fähigkeiten und Begabungen entdecken und weiterentwickeln. Erfahrung bezieht sich jedoch nicht nur auf das im eigenen Leben Erlebte, sondern meint „alles, was uns zur
Kenntnis gekommen ist oder unter bestimmten Umständen zur Kenntnis kommen
könnte, als auch das, was uns momentan nicht bewusst ist, aber vielleicht aus dem
‚Vergessen‘ herausgeholt werden kann.“94 Biografisches Theater beruht auf solchen
Erfahrungen und ermöglicht den Jugendlichen spielend mit sich selber, mit dem, was
sie waren, was sie sind und wie sie sind und was sie und wie sie sein möchten umzugehen. So lernen sich die Jugendlichen im Spiel zwangsläufig selber kennen. Denn
wer sich im biografischen Theater darstellt, wird im Probenprozess automatisch über
sich selbst reflektieren: Was will ich mitteilen von mir? Was nicht? Habe ich eine Botschaft? Wie will ich mich darstellen?
Eine Methode, in der die Jugendlichen etwas von sich mitteilen und das autobiografische Material gleichzeitig ästhetisieren, stellt zum Beispiel die Selbstpräsentation anhand von Schildern dar. Die Jugendlichen schreiben jeweils auf 4-8 Schilder je ein cha-
92
Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2012.
Rellstab 2009, 45. Besondere Fähigkeiten, musikalische, gestalterische, sprachliche Talente können
vom Spielleiter gezielt gefördert werden, indem sie aufgegriffen und in das Stück integriert werden.
94
Rellstab 2009, 64.
93
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
25
rakteristisches Schlagwort oder Satz aus dem bisherigen Leben auf und präsentieren
sich anschließend zu mehreren nacheinander auf der Bühne.
4.2.3 Biografisches Theater bietet Jugendlichen einen Raum für die Suche
nach Sinn und Orientierung
Junge Menschen, die auf dem Weg sind, einen von ihnen selbst verantworteten Lebens- und Glaubensentwurf zu entwickeln, brauchen einen Raum zur Auseinandersetzung mit sich selbst, dem eigenen Glauben und Gott, Hoffnungen, Zweifeln und Fragen
an das Leben. Im Rahmen der Firmvorbereitung soll Jugendlichen ein solcher Raum
geöffnet werden. Denn Menschen müssen „zunächst sich selber finden (…), um dann
offen zu werden für Gott in ihrem Leben.“95 Die meisten Jugendlichen verlieren ihren
zweifelsfreien Kinderglauben und treten in ein kritisches Verhältnis zum Glauben ein.
Sie sehen, dass viele Lebensfragen und Probleme der Welt auch eine anspruchsvolle
Glaubensantwort erfordern. Bei den religiösen Grundfragen des Menschen nach dem
Woher und Wohin, dem Leid, dem Tod und dem Glück lassen sie sich nicht mit frommen Formeln vertrösten. Auf diese Fragen gibt es keine einfachen und schnellen Antworten. Sie bedürfen der gemeinsamen Bearbeitung, Reibung und Auseinandersetzung. Erst nachdem die anspruchsvollen Themen des Lebens nicht nur gedanklich
sondern mehrdimensional bearbeitet wurden, können Denken und Glauben in der modernen Welt wieder miteinander verbunden und dann aufrichtig vertreten werden. Auf
diesem Hintergrund kann der Prozess des biografischen Theaters als ganzheitlicher
bzw. mehrdimensionaler Bildungs- und Lernprozess auf dem Weg hin zu einer eigenen
religiösen Identität eine wichtige Rolle spielen. Biografische Theaterarbeit eröffnet einen Raum, in dem sich Jugendliche zweck-und wertfrei mit ihren (religiösen) Themen,
christlichen Inhalten und ihren individuellen religiösen Erfahrungen ästhetisch auseinandersetzen können. Religiöse Identität ist untrennbar mit der eigenen Lebensgeschichte verbunden, in welcher Jugendliche unterschiedliche Erfahrungen mit Religion
und Glaube gemacht haben. In der künstlerischen Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen, Fragen und Zweifeln kann bisher nicht fassbares, beschreibbares und/oder
unsichtbares aufgespürt und sichtbar gemacht werden.96 Die religiöse Suche erfolgt im
biografischen Theater nicht mehr rein rational-kognitiv, sondern mit Kopf, Herz und
95
96
Lätzel 2004, 149.
Csikszentmihalyi 2003, 518.
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
26
Hand.97 Es verweist darauf, dass der Mensch nicht nur Verstand, sondern auch Leib
und Sinne hat. Theaterpädagogische Bildungsprozesse beziehen den Körper in die
Suche nach der eigenen Bestimmung und dem Sinn des Lebens mit ein. Mit Worten
nicht Beschreibbares u.a. kann so bewusst wahrgenommen, ausgedrückt und greifbar
gemacht werden. So verhilft Biografisches Theater im Sinne der Theaterpädagogik
dazu, dass „der Mensch in eigener Verantwortung Werte und Einstellungen zu sich,
seinen Mitmenschen und seiner Umwelt entwickel(t).“98 Die Ästhetische Auseinandersetzung mit religiösen Themen und Fragen im biografischen Theater innerhalb der
Firmvorbereitung eröffnet einen eigenen, sinnlich-wahrnehmenden und deutendgestaltenden Zugang zur Wirklichkeit. Ästhetische Lernprozesse fordern hierbei stets
auch die subjektive, persönliche Stellungnahme. In den Jugendlichen soll die Fähigkeit
geweckt werden, eigene Deutungen zu entwickeln und auf sie mit eigenen Entwürfen
und Gestaltungen zu antworten.
Innerhalb der Firmvorbereitung bietet es sich an, die biografische Fokussierung auf ein
Thema zu beziehen, welches sich auf die Situation der Jugendlichen als religiös Suchende bezieht. „Was trägt mich in meinem Leben?“, „Gott in meinem Leben?“ „Gott –
BegleiterIn in meinem Leben?“ „Was macht Sinn?“ sind nur einige Themenfragen, die
sich in diesem Zusammenhang eignen könnten. Voraussetzung ist dabei, dass die
Bearbeitung der Themen offen ist im Ergebnis und kein Lernen auf vorgegebene Antworten und Verhaltensmuster hin angezielt wird. Die Jugendlichen werden als mündige
Spieler wertgeschätzt, die ihren je eigenen Zugang zu Religion, Gott und Kirche haben.
Es gilt seitens des Spielleiters, die Jugendlichen ernst zu nehmen und sie in ihrer Kreativität und Ehrlichkeit zu unterstützen. Hier greift eine weitere Regel zur Biografischen
Theaterarbeit mit Jugendlichen: „Die Jugendlichen dürfen nicht instrumentalisiert und
als Thesenträger missbraucht werden.“99 Es darf also nicht darum gehen, aus den Jugendlichen „bessere“ Christen zu machen und nur bestimmte Formen und Ansichten
zu akzeptieren, sondern sie in ihrem Suchprozess ehrlich und interessiert zu begleiten.
Ist das Thema festgelegt, kann das szenische Material auf unterschiedliche Weise gesammelt werden. Anhand verschiedener Methoden des kreativen Schreibens beispielsweise können Jugendliche assoziativ und kreativ eigenes Material, Gedanken
und Ideen generieren. Zum Beispiel können Fragen rund um das Thema „Ich und
Gott?!“ oder „Was macht Sinn?!“ formuliert werden, die entweder an sich, den Mitspieler oder an das Publikum gerichtet werden. Den Reiz macht hier die Abwechslung zwi-
97
Vgl. hierzu auch die Leitgedanken der Theaterpädagogik in Rellstab 2009, 45f.
Bildo 2006, 32.
99
Herrbold 2012, 21.
98
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
27
schen philosophisch-tiefgründigen, indiskreten, naiven, absurden und sachlichen Fragen aus. Die Fragen-Methode kann auch eingegrenzt werden, indem nur Fragen formuliert werden, die mit Zahlen zu beantworten sind (bspw. Wie oft gehst du in den Gottesdienst?) Die gesammelten Fragen werden dann aus dem Publikum gestellt und die
Akteure auf der Bühne antworten darauf, indem sie die Zahlen auf Schilder schreiben.
Desweitern eignet sich die Methode des automatischen Schreibens um die Gedanken
zu Impulsen (bspw. „Wenn ich an Gott/Kirche denke, denke ich…“) fließend aufzuschreiben. Auch biblische Texte, das Credo, Lieder, Fotos und vieles mehr eigenen
sich für eine biografische Auseinandersetzung mit dem Thema. Egal welche Methoden
zur Generierung gewählt werden: Im Mittelpunkt der Generierung sollte immer der/die
Jugendliche mit seinen Lebensthemen und Glaubensfragen stehen. Im nächsten
Schritt geht es dann darum, das generierte Material anhand ästhetischer Gestaltungsmöglichkeiten und Kompositionsmethoden zu inszenieren. Dabei kann sowohl der kollektive als auch persönlich-individuelle Bezug in den Fokus rücken. Aufgaben des
Spielleiters sind es hierbei, (Spiel)Impulse zu geben, die Teilnehmer zu einem eigenen
kreativen Umgang mit der ausgewählten Thematik heranzuführen und zu beobachten.
Das Beschreiben und Formulieren des Gesehenen ist dabei mindestens genauso wichtig und sollte daher auch immer wieder von den Spielern übernommen und geübt werden. Dadurch wird die Wahrnehmung geschult und die Teilnehmer bilden nach und
nach ein individuelles Empfinden von Ästhetik und Gefühl für das Medium Theater heraus.
Die entstehenden Texte, Bilder, Szenen etc. können ein Bild über die tatsächlichen,
ersehnten oder fantasierten Lebensbezüge zum Thema zeichnen und Ausdruck für die
direkten und indirekten religiösen Erfahrungen Jugendlicher sein.
4.2.4 Biografisches Theater ermöglicht die Begegnung mit und Erfahrung
von Kirche und Gemeinde
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung ermöglicht zum einen den Jugendlichen, sich im Raum von Kirche und Gemeinde, mit ihren Fragen und Themen zu
bewegen und so Gemeinde und Kirche als Ort kennenzulernen, an dem es um sie als
Person geht. Zum anderen ermöglicht Biografisches Theater der Gemeinde Jugendlichen und ihren Lebenswelten zu begegnen und diese zu erfahren. Denn Biografisches
Theater ist immer auch Produktorientiert und zielt auf eine Aufführung hin. Wird Biogra-
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
28
fisches Theater, das innerhalb der Firmvorbereitung entstanden ist, also öffentlich in
der Gemeinde aufgeführt, wird damit ein Raum für Begegnung und Dialog von der
„Randgruppe“ der jugendlichen Firmanden mit der Kerngemeinde eröffnet. Die verbale
und spielerische Darstellung der individuellen und kollektiven Geschichten erfordert
von den Zuschauern Aufmerksamkeit und regt zum Nachdenken an. Das Biografische
Theater verbindet verschiedene Ausdrucksformen wie Bewegung, Mimik, Gestik, Geräusche, Kleidung und Sprache, durch welche die Vortragenden ihre Gedanken und
Gefühle anderen, sowohl dem Publikum als auch den Mitspielern, mitteilen. Den Zuschauern wird hierbei ermöglicht, sich in das Gehörte und Gesehene einzufühlen, was
zu einem besseren Verständnis untereinander beitragen kann.
Exkurs: Generationenübergreifendes biografisches Theater innerhalb der
Firmvorbereitung
Hinsichtlich der Ermöglichung einer Begegnung von Gemeinde und Jugendlichen ist es
eine Überlegung wert, die Biografische Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung
als Generationenübergreifendes Theaterprojekt anzulegen.
Hier können sich zahlreiche Chancen eröffnen: Alle Spielerinnen und Spieler können
sich mit den ganz individuellen Stärken, Erfahrungen, Ideen und Gedanken einbringen
und im Idealfall voneinander profitieren, lernen und nebenbei die sozialen Kompetenzen ausbauen – egal, ob mit 16 oder 70 Jahren. Grundlegend ist hierbei: Bevor man an
einen thematischen Stoff (Vgl. Punkt 4.2.3) geht, sollte sich sowohl zeitlich als auch
inhaltlich intensiv mit der Zusammenführung der Gruppenmitglieder beschäftigt werden. Die unterschiedlichen Altersgruppen begegnen sich wahrscheinlich mit gewissen
Vorurteilen, die spielerisch aufgegriffen und thematisiert werden müssen, damit ein
konfliktfreies, offenes und gleichberechtigtes Miteinander ermöglicht wird. Gezielte theaterpädagogische Arbeit fördert den Dialog der Generationen, in dem sich mit den verschiedenen Lebenswelten, -erfahrungen und Zugängen zu Religion, Glaube und Kirche
spielerisch auseinandergesetzt wird. Mit dem und über das Medium Theater findet
Kommunikation statt, die innerhalb anderer Veranstaltungen im Rahmen der Kirchengemeinde so nicht stattfinden könnte.100 Die unterschiedlichen Sichtweisen der TeilnehmerInnen bestimmen und prägen hierbei Thema und Inhalt bei der Entwicklung der
Theaterszenen. Menschen- und Altersgruppen, die sich sonst selten und – v.a. im Kon-
100
Vgl. hierzu das unveröffentlichte Protokoll zum Workshop „Generationentheater“ von und mit Helga
Kröplin.
Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung
29
text Kirche – eher mit Skepsis begegnen, kommunizieren und spielen als gleichberechtigte Dialogpartner miteinander. Das Theaterspiel schafft einen Freiraum, indem die
verschiedenen Perspektiven der SpielerInnen wertungsfrei nebeneinanderstehen und
aufeinandertreffen können. So kann sich ein Austausch ereignen über die Bedeutung
von Glaube und Kirche im Leben der jeweiligen Generationen. Somit bietet das Theater die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch. Die eigene Meinung, Erfahrung und
Standpunkte zu religiösen Themen fließen in den Probenprozess mit ein, was zu einem
gegenseitigen Lernen führen kann. Für die jugendlichen Firmanden bietet der intensive
Austausch mit anderen Generation darüber hinaus sowohl Identifikationsmöglichkeiten
als auch Reibungsfläche auf dem Weg hin zu einem selbst verantworteten Lebensund Glaubensentwurf. Es kann ein ganzheitlicher Austausch über einzelne Glaubensgeschichten stattfinden und über die Hoffnung die sie erfüllt. Begegnung und Erfahrung
von Kirche und Gemeinde kann über den Weg der generationenübergreifenden biografischen Theaterarbeit als kreative und ganzheitliche Begegnung stattfinden, bei der es
um eine gestalterische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen persönlichen
Glaubensauffassungen und ihrer Weiterentwicklung geht.
4.2.5 Biografisches Theater vermittelt wesentliche Inhalte der Firmung
und ermutigt Jugendliche zu einem Leben aus der Kraft des Evangeliums
Über die Ästhetisierung des biografischen Materials findet eine vertiefte Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen, Gedanken und Anliegen statt und damit, wie diese
‚rübergebracht‘ werden können. Die Jugendlichen nehmen ihre Themen Schicht für
Schicht auseinander, werden sich ihrer Dimension bewusst und können so (religiös)
sprachfähig werden. Wie in Punkt 4.2.3 dargestellt, darf Biografisches Theater nicht als
religionspädagogisches Programm instrumentalisiert werden. Jugendliche werden in
dem, wie sie sind und was sie mitbringen wertgeschätzt. Sie selbst, nicht vorgegebene
Antworten und Verhaltensmuster, bilden den Ausgangspunkt für die biografische Theaterarbeit. Legitim ist hierbei, dass es natürlich nicht ausgeschlossen werden kann und
soll, dass die biografische Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung eine erneute
oder erste Annährung zum Christentum anstößt. Wenn das eigene Leben eine Rolle
spielen darf, kann sich der Mensch öffnen für spezifische Glaubensinhalte und den
Kern dessen, was christlicher Glaube ausmacht. Dies darf jedoch nicht Voraussetzung
sein für die biografische Theaterarbeit sein. Jugendliche müssen die Erfahrung machen, dass die gemeinsame biografische Theaterarbeit keine Bindung an die Gemein-
Fazit
30
schaft der Glaubenden erfordert sondern dass sie Willkommen sind, im Kommen wie
im Gehen. Auch wenn Jugendliche danach wieder in ihre eigenen gesellschaftlichen
Milieus zurückgehen, wurde ein Part der eigenen Biographie durch die biografische
Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung gefärbt. So kann Theater für die Darsteller in besonderem Maße sinnstiftender Teil für das eigene Leben sein, zwar nicht im
Hinblick auf dessen Gesamtheit, aber im Hinblick auf ein Thema. Grundsätzliche darf
angenommen werden, dass biografisches Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung den Jugendlichen ermöglicht, die Bedeutung der Firmung als Bestärkung und
Ermutigung ganzheitlich (wenn auch implizit) zu erfahren.
5 Fazit
Aus den Untersuchungen zu Jugend und Religion geht hervor, dass Firmvorbereitung
für viele Jugendliche heute vor allem eines bedeuten: eine erste intensivere Begegnung mit dem kirchlichen Christentum. Darüber hinaus scheint für viele Jugendliche
heute ganz und gar nicht klar zu sein, ob ein selbstautorisierter Glaube in der Kirche
Raum findet, d.h. ob ihnen ein Glaube zugestanden wird, den sie aus eigener Überzeugung vertreten können. Jugendliche machen in ihrem Leben vielerlei Erfahrungen
und zwar durchaus auch religiöse, aber sie finden kaum Räume, in denen sie ihre Erfahrungen ganzheitlich ausdrücken können. Vielen fällt es zudem schwer, ihre Erfahrungen sprachlich auszudrücken.
Biografisches Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung kann Jugendlichen einen
solchen Raum eröffnen und gibt ihnen die Gelegenheit, Erfahrungen mit sich selber
und der persönlichen Glaubensauffassung zu machen. Biografisches Theater bewirkt
etwas in und bei den Jugendlichen, indem sie Bewusstwerdung und Deutung ihres
Lebens erfahren. Biografisches Theater bietet die Möglichkeit, mehrdimensionale Erfahrungen zu machen und Werk und Leben ästhetisch-dramatisch zu gestalten.
Das Projekt „Biografische Theaterarbeit“ wird in der Regel ein Baustein innerhalb der
Firmvorbereitung sein. Oft gibt es eine Projektphase, in der zwischen unterschiedlichen
Projektangeboten gewählt werden kann. So kann gewährleistet werden, dass die Jugendlichen freiwillig mit dieser Methode arbeiten. Darüber hinaus besteht so die Möglichkeit, die Erfahrungen, die im biografischen Theater gemacht werden, bspw. in anschließenden Gruppentreffen, aufzugreifen und vom christlichen Kontext her zu deuten
bzw. darauf aufbauend die Jugendliche mit der objektiven kirchlichen Glaubenslehre in
Kontakt zu bringen. Grundlegend ist hierbei, dass biografische Theaterarbeit nicht un-
Fazit
31
terweist und den Jugendlichen nichts Fremdes überstülpt sondern ihnen einen Raum
für ihre Suche nach der eigenen Identität, nach dem eigenen Standort, nach dem eigenen Sinn gibt. Biografisches Theater spiegelt auf der Metaebene auch das Fragmentarische der Jugendphase wider. Wenn mehrere kleine Geschichten parallel laufen oder
das Stück collagenartig aus mehreren Geschichten aufgebaut ist, wird dadurch auch
der Jugendliche symbolisiert, der die Aufgabe hat, seine eigene Biografie zusammenzubasteln.
Wichtig scheint mir festzuhalten, dass das Biografische Theater einen Eigenwert hat.
Die Bewusstmachung, Bearbeitung, Gestaltung und Inszenierung des persönlichen
Glaubenslebens ist dabei ein eigener Schritt. Biografische Theaterarbeit ermöglicht
den Jugendlichen, sich mit ihrer gesamten Persönlichkeit in den Arbeitsprozess einzubringen. Sie erfahren, dass sie in ihrer Lebenssituation ernst genommen werden und
lernen so, sich selbst auch ernst zu nehmen und eigene Lebenshaltungen zu finden.
Biografische Theaterarbeit kann einen bildungsästhetischen Prozess in Gang setzen,
der Jugendliche Schritt für Schritt in die Lage versetzt, eigene Standorte zu bestimmen,
sich mit ihrer persönlichen Glaubensauffassung auseinanderzusetzen und eine eigene
Haltung zu entwickeln. Gerade in der für Jugendlichen schwierigen bzw. herausfordernden Phase der Suche nach Orientierung, ist es wichtig, Jugendliche mit ihren eigenen Vorstellungen und Glaubensauffassungen zu Wort (und Tat) kommen zu lassen.
Biografisches Theater kann so auch als Sprachrohr für die Jugendlichen dienen, in
einer Kirche, die oft als verstaubt und veränderungsresistent erfahren wird. So wirkt
biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung im Sinne der Theaterpädagogik
verändernd und aufrüttelnd in die Kirche (als Teil der Gesellschaft) ein.
Biografisches Theater ermöglicht über den Weg des kreativen, darstellerischen und
ästhetischen Ausdrucks eine Kommunikation, die über die sprachliche Ebene hinausgeht und Jugendlichen so die Möglichkeit gibt, (religiös) „Sprachfähig“ zu werden. Dabei geht es nicht darum, dass das biografische Material in einer unverfälschten Echtheit auftritt, sondern als Element vielschichtiger Verknüpfungen von Fiktion, Realität
und künstlerischer Konstruktion.
Das biografische Theater bietet meiner Meinung nach ein theaterpädagogisches Potential, die jeweiligen Lebenswelten Jugendlicher, d.h. ihre Art zu leben, zu denken, zu
reden und zu handeln, ihre persönlichen Geschichten, ihre Vorlieben und Interessen
ästhetisch in den „Raum“ Kirche einzubringen. Die Jugendlichen finden Gehör, ohne
sich bloßstellen und „gut“ spielen zu müssen.
Im biografischen Theater werden Kopf, Herz und Hand angesprochen. Die Ästhetisie-
Fazit
32
rung kann dabei als deutend-gestaltender Zugang zur Wirklichkeit verstanden werden.
Kirche, die Lebensraum sein will und die Lebenswelten Jugendlicher ernst nimmt sollte
auf eine ästhetische Wende und damit auf biografische Theaterarbeit innerhalb der
Firmvorbereitung nicht verzichten. Ich freue mich darauf, innerhalb der Firmvorbereitung ein biografisches Theaterprojekt durchzuführen und bin auf vielfältige Erfahrungen
gespannt.
.
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Eidesstattliche Versicherung
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Eidesstattliche Versicherung
Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften bzw. elektronischen Quellen entnommen sind, sind als solche kenntlich gemacht. Die Arbeit hat in
gleicher oder ähnlicher Form noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegen.
Dossenheim, 5. November 2012
Verena Oehl

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