Kopflos - Leseprobe

Transcription

Kopflos - Leseprobe
Sergej Kutscher
Kopflos
Psychothriller
LESEPROBE
© 2013 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Taschenbuch: ISBN 978-3-8459-0874-8
2
Großdruck: ISBN 978-3-8459-0875-5
eBook epub: ISBN 978-3-8459-0876-2
eBook PDF: ISBN 978-3-8459-0877-9
Sonderdruck Mini-Buch ohne ISBN
AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin
www.aavaa-verlag.com
eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen
das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen
oder zu verschenken!
Alle Personen und Namen innerhalb dieses eBooks
sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden
Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
3
Eine Leiche zum Geburtstag
Ein Lied, das sie früher liebte, jetzt aber umso
mehr hasste, weckte sie auf. Hätte sie diese
Melodie nicht als Weck-Ton eingestellt, würde sie
es bestimmt noch gut finden.
Es war halb neun. Verdammt, dachte Lisa. Sie
hatte noch immer ihr Handtuch auf dem Kopf. Die
Haare waren auch jetzt etwas feucht. Lisa wollte
sie doch gestern vor dem Schlafengehen trocknen
und legen. Wollte, wollte .... Sie ging ins Bad, und
als sie ihr Haar im Spiegel sah, war sie geschockt
über ihre abstrakte Frisur. Jetzt wusste die junge
Kommissarin, was es bedeutete, die Haare zu
Berge stehen zu haben. Nach einer guten halben
Stunde und einer halben Sprühdose Haarlack war
4
ihre Haarpracht halbwegs in Ordnung. Die
Kaffeemaschine blubberte, sie gönnte sich eine
Tasse, zog sich dann schnell an, danach überflog
sie das Material von gestern. Schon trällerte die
Sprechanlage. Als sie den Hörer abnahm, hörte sie
ihren gutgelaunten Partner scherzen: „Lisa, lass
dein Haar herunter, oder mach, dass du
runterkommst, es ist schon viertel vor.“
„Verdammt“, fluchte die junge Frau, schaltete
beim Vorbeirennen die Kaffeemaschine aus,
schmiss ihre Tasse ins Spülbecken, schlüpfte in die
bequemen Schuhe - nach der gestrigen Tortur
brannten ihre Füße höllisch - und rannte los. Die
Blätter raschelten in ihrer Hand, diese hätte sie
auch fast vergessen.
Ralph sah frisch und ausgeschlafen aus. Er
breitete zur Begrüßung seine Arme aus. Die junge
Dame fühlte sich wie gerädert, ließ sich aber
trotzdem von ihm drücken. Ralph ließ sie los, trat
einen Schritt zurück, sah dann seine Partnerin sehr
ernst an. Eine seiner Augenbrauen war jetzt
erhoben, er stemmte seine Hände in die Seiten,
5
holte tief Luft, dann sagte er mit gespielt böser
Stimme: „Was habe ich gestern zu Ihnen gesagt,
junge Dame?“
„Ich soll mich aufs Ohr hauen.“
„So ist es, und Sie waren wieder die ganze Nacht
online. Habe ich recht, Frau Rück?“
„Ja. Ich bekenne mich schuldig, Herr Albert.
Aber ich habe ein Dokument, das mich entlasten
soll, hier!“ Sie kannte seine Spielchen. Darum tat
Lisa es ihm einfach nach.
Als er die vielen Blätter sah, glänzten seine Augen
wie bei einem Goldgräber, der ein riesiges Nugget
gefunden hat.
„Du bist mein Schatz. Ein echter Detektiv eben.
Alle Anschuldigungen werden zurückgenommen.
Jetzt fahren wir schön frühstücken, in meiner
Lieblingsbäckerei. Da gibt es die besten Croissants
und den besten Kaffee in ganz München. Ich lade
dich ein.“
„Warum bist du so gut gelaunt?“
„Erzähle ich dir später.“
Sie stiegen ein, im Auto roch es angenehm nach
6
Männerparfüm. Lisa schnupperte wie ein Hund mit
erhobener Nase, dann drehte sie sich zu ihrem
Partner um.
„Nein, oder?“
„Doch“, sagte der Kommissar, sein Gesicht
wurde etwas röter.
„Du alter Charmeur. Wer ist sie?“ Lisa war hin
und her gerissen.
Einerseits wollte sie es wissen, andererseits aber
auch nicht.
Ralph lachte. „Du!“ Er war wirklich gut gelaunt.
Lisa wollte etwas erwidern, doch plötzlich
meldete sich ihr Telefon. Sie zog es umständlich
aus ihrer Hosentasche heraus. Die Dinger wurden
immer größer, die Taschen aber nicht. Sie wischte
schnell über das Display.
„Oh Gott“, winselte sie. Jetzt lachte ihr
parfümierter Fahrer aus tiefster Seele. „Oh mein
Gott, tut mir echt leid.“
Die hübsche Frau umarmte ihn so, dass er fast
keine Luft mehr bekam, knutschte dann mehrfach
seine glatt rasierte Wange. „Alles Gute zum
7
Geburtstag“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
„So schlau ist dein Smartphone auch wieder
nicht“, zog er seine Kollegin auf. Diese schaute
beschämt auf ihre Schuhe.
„Ich wurde gestern dreimal erinnert, heute auch
noch einmal um acht, aber ich habe es verpennt.
Guck mich an …“, sie zog eine Schnute und sah
dabei wie ein beleidigtes Kind aus, „… ich sehe aus
wie ... eine Vogelscheuche. Meine Haare kannst du
als Zahnstocher benutzen. Die Schuhe sind
bequem, was bedeutet das? Genau, die sind nicht
schön. Und wir fahren in so einem Outfit - ich
meine natürlich nur mich damit - deinen Geburtstag
feiern, ich bin schon eine gute Partnerin, hab nicht
einmal dein Geschenk dabei. Oder doch? Ich habe
es schon seit Tagen…“ Sie fing an, wie eine
Verrückte in ihrer Tasche herumzuwühlen. Ralph
verstand nie, warum Frauen solch große Taschen
hatten, in denen sie sowieso nichts fanden.
„Ha!“, schrie Lisa triumphierend und hob die
Hand in die Luft. „Wer sagt´s denn, ich bin doch
nicht so schlecht. Bloß der gestrige Tag hat mich
8
geschafft. Ich hoffe, dass an deinem Geburtstag
nichts Böses mehr geschieht. Das ist für dich.“ Sie
gab ihm ein kleines, schön verpacktes Päckchen.
„Mach es auf, wenn wir da sind.“
„Danke. Du bist die beste Partnerin, die man sich
wünschen kann. Ein Tick zu hübsch vielleicht. Bei
vielen Jungs erweckst du tierische Instinkte.“
„Bei dir nicht?“, fragte sie ihn verlegen und etwas
gekränkt.
„Nein, ich finde dich toll, doch wir sind Partner
und kein Paar. Außerdem bin ich viel zu alt für
dich. Oder besser ausgedrückt: Du bist viel zu jung
für mich.“ Er meinte es ernst, darum mochte sie
ihn. Er machte ihr nie zweideutige Angebote.
Jetzt klingelte Ralphs Handy. Er holte es aus der
Innentasche seines Jacketts, schaute auf das
Display, und wurde ganz ernst und blass im
Gesicht. „Er hatte mir doch schon gratuliert, unser
Oberchef. Ich glaube, das war´s dann für heute.“
Er nahm ab.
„Kriminalinspektor Ralph Albert. Ja, Chef. Sie
können ja nichts dafür. Wo? In Seebachtal, fünf
9
Kilometer nördlich. Gut, wir sind schon
unterwegs.“ Er drückte auf die rote Taste. Dann
drehte er sich zu Lisa um, die ihn erschrocken
anstarrte. Das Geburtstagskind lächelte müde. „Wir
feiern heute nicht. Es gibt noch eine Tote. Besser
gesagt, es wurde nur der Kopf gefunden. Die
gleiche Vorgehensweise der Abtrennung wie
gestern. Diese verdammte Säge. Ein Spaziergänger
hat sie gefunden. Nur den Kopf, der Rumpf, also
der Rest von ihr, vom Hals abwärts, fehlt. Der
Fundort scheint aber nicht der Tatort zu sein.
Anscheinend hat er, um seine bestialische Fantasie
verwirklichen zu können, einen Frauenkörper
benötigt.“ Ralphs gute Laune war dahin.
„Vielleicht hätte er beim letzten Mal die arme
Frau nicht so verstümmelt, wenn sie nicht so tief in
der Erde begraben gewesen wäre, dachte ich
zuerst, aber jetzt bin ich anderer Meinung, was
meinst du? Ist es wieder ein Leichnam gewesen,
den er ausgegraben hat?“, versuchte Lisa daraus
eine Gemeinsamkeit herauszukristallisieren.
10
„Oder es ist jetzt eine Lebende gewesen, die er
irgendwo verstümmelt und symbolisch für viele
Passanten sichtbar abgelegt hat. Kann doch sein,
dass wir es mit einem Teufelsbeschwörer oder
einem Sektenmitglied zu tun haben. Es kann jeder
sein. In der heutigen Zeit ist alles möglich. Auf
keinen Fall aber ist dieses Mal unser Doktor
schuld. Er verließ seine Praxis nur, um Brötchen
zu holen.“ Ralph schnaubte. „Wie viele Kranke
gibt es auf dieser Welt? Ach ja, bevor wir dort
sind, lies mir doch bitte vor, was du
herausgefunden hast. So kompakt wie möglich,
aber auch so informationsreich, wie es nur geht.
Ich fahre an einer Bäckerei vorbei, die einen Drivein hat. Wir wollen uns doch den Tag nicht
komplett vermiesen, was?“ Seine Miene wurde
wieder etwas fröhlicher.
Lisa begann die Blätter zu sortieren. „Ok. Deine
Vermutung war richtig. Es gibt eine sehr gute
plastische Chirurgieklinik, die sich auf Männer
spezialisiert hat. Diese gibt es auch bei uns.“
Ralph nickte und fragte dann: „Das ist aber keine
11
Kette oder so?“
„Nein. Die haben sonst nichts miteinander zu tun,
außer diesem Spezialbereich. Ich denke, unser
Petrowski versucht, seine Anonymität so gut es nur
geht zu bewahren. Daher die weite Reise. Die
Nummer, die du mir gegeben hast, hat niemand.
Ich hörte nur ein kurzes Tuten, so, als sei dort
ständig besetzt. Ich habe diese Nummer meinem
guten Freund Andreas gemailt - er ist so eine Art
Hacker. Keine Angst, er ist sauber und loyal, er
schuldet mir einiges, ich weiß auch, was er in
seiner Freizeit treibt, ich bin ja bei der Polizei.“ Sie
blätterte weiter.
„Den Namen ‚Petrowski‘ gibt es nahe unserer
Hauptstadt und deren Umgebung am meisten.
Hoch lebe das Internet. Es kann auch sein, dass
unser Tierarzt vor einigen Tagen zu Hause war.
Wir müssen mit dortigen Kollegen vom Amt ein
Wörtchen reden. Wir müssen herausfinden, wer
seine Zieheltern waren.“
„Zwei Croissants, zwei Kaffee. Beide schwarz
und ohne Zucker, bitte.“
12
Lisa war so in das Referat vertieft, dass sie die
Straße und die Umgebung gar nicht wahrnahm.
Ralph gab ihr eine Tüte und zwei heiße Becher,
zum Glück in einem Becherhalter. Er fuhr dann in
eine freie Parklücke. „So viel Zeit werden wir noch
haben dürfen.“
„Mach schon auf“, flehte Lisa ihn an.
Er schaute sie überrascht an, nahm dann die Tüte
mit den Croissants ...
„Doch nicht das, dein Geschenk! Du bist
manchmal ein Tollpatsch“, sagte sie, als ihm die
Tüte aus den Händen fiel. Als er sie seiner
Partnerin zurückgab, holte er das kleine Päckchen
heraus. Mit zittrigen Fingern klappte er den Deckel
auf. Er war gerührt, er hatte schon seit Jahren
keine Geschenke mehr bekommen. Sein einziger
Sohn lebte in der Schweiz. Er besuchte ihn und
seine todkranke Frau sehr selten. Durch die
Krankheit seiner Frau gab es nicht viel Zeit zum
Feiern. Nach ihrem Tod war sein Sohn so gut wie
nie mehr zu Besuch gekommen.
„Eine Medaille?“, fragte er überrascht.
13
„Ja“, sagte Lisa mit vollem Mund.
Er drehte diese in seiner Hand, auf einer Seite
war die ‚sechsundvierzig‘ eingraviert, auf der
anderen ‘Für den besten Partner‘. Er gab ihr einen
sanften Kuss auf die Schläfe.
„Dankeschön.“ Er rümpfte dabei die Nase. „Wie
viel Spray hast du da auf deinem schönen Haar.“
Erst jetzt gönnte er sich das frische Croissant.
Lisa verschluckte sich fast. „´Nen halben Liter“,
sagte sie nach längerem Kauen. Beide lachten. Als
sie fertig waren, ging es mit Blaulicht flott voran.
Es waren höchsten zehn Minuten, die sie für
Ralphs Geburtstagsfeier gebraucht hatten. Darum
würde es keinem auffallen, dass sie nicht auf
direktem Weg zum Tatort fuhren.
„Hast du ein Navi in deinem Ding? Ich meine
dein Telefon. Dieses Seebachtal müsste irgendwo
dort sein.“ Er machte eine undefinierbare
Bewegung.
„Ach Ralph, wozu hast du denn den neuen
Wagen?“ Sie drückte auf einige Tasten auf dem
Display. Nach kurzer Zeit hörten sie die für ein
14
Navi typische Frauenstimme. „Ihre Route wird neu
berechnet, bitte wenn möglich wenden“, sagte
diese.
„Soso“, zog Lisa ihren Partner auf, „jetzt musst
du doch das machen, was eine Frau dir sagt.“
Ralph
ignorierte
einfach
sowohl
die
Frauenstimme als auch Lisa. Er fuhr nach links auf
einen Feldweg und gab Gas. Die Steine spritzen
unter den Rädern. Das Navi war nur noch dabei,
die Route neu zu berechnen, Lisa guckte ihren
Kollegen etwas erschrocken an. „Wir haben etwa
fünf Minuten, bis wir dort sind“, sprach Ralph
demonstrativ ruhig. „Was hast du noch für mich?“
Seine Stimme war ruckelig, so wie die Straße, auf
der sie zum Tatort fuhren. Die Frau aus dem Navi
sagte nichts mehr, denn Lisa hatte das ständige
„bitte wenden“ genervt, sodass sie das
Navigationssystem ausschaltete.
„Ich weiß nicht, wem du etwas beweisen
möchtest, aber wenn du schon nicht auf das Navi
hören willst, dann fahre zumindest mir zuliebe
etwas langsamer.“
15
Ralph hob den Fuß etwas vom Gaspedal, die
Fahrt wurde gleich angenehmer.
„Danke. Ich weiß, in welches Heim Petrowski
für fast acht Jahre abgegeben wurde. Seine Eltern
leben nicht mehr. Das heißt, wir können diese nicht
befragen, und wir wissen nicht, ob er noch mehr
Geschwister hat. Oder hatte.“
Die Straße wurde wieder breiter, Ralph
beschleunigte erneut. Den Rest der Strecke fuhren
die beiden schweigend, jeder in seine eigenen
Gedanken versunken. Ralphs Handy klingelte.
„Wir sind schon da“, log der Inspektor. „Wo seid
ihr genau?“ Jetzt schwieg er und hörte angestrengt
zu. „Alles klar, wir sind fast da.“ Er zog ruckartig
an der Handbremse, drehte so schnell am Lenkrad,
dass Lisa ganz schwindlig wurde. Der Wagen
machte eine Drehung um hundertachtzig Grad, die
Räder drehten quietschend durch. Dann nahm er
die nächste Linkskurve. Lisa wusste gar nicht, dass
ihr Partner so einen Fahrstil drauf hatte. In der
Ferne konnte sie vage das Polizeiabsperrband
schimmern sehen, es flatterte in dem schwachen
16
Wind. Auch die Kollegen standen oder saßen in
kleinen Gruppen dort herum. Bevor sie diese Stelle
erreicht hatten, beantwortete ihr Partner ihre nicht
gestellte Frage: „Jugendlicher Leichtsinn. Drei
Autos zerlegt und zwei Wochen Intensivstation.
Viel Glück und wenig Verstand.“ Es klang
nostalgisch.
„Dann lieber doch Autobahnpolizeischule“,
konterte sie.
Ihr Wagen wurde langsamer. Ein gutes Stück vor
der Fundstelle blieben sie am Straßenrand stehen.
„Wegen
Staubpartikeln
und
anderen
Verunreinigungen“, war seine Antwort auf ihren
fragenden Blick.
Als die zwei Kriminalinspektoren am Tatort
ankamen, sahen sie, dass dieses Mal viel mehr von
der Mordkommission anwesend und einige neue
Beamte dazugekommen waren. Ralph suchte nach
einem Mann, der etwas rundlich war, schon über
fünfzig, seine Stirn reichte bis an den Hinterkopf,
immer gut gekleidet, und der ihre Kommission
leitete.
17
„Hallo, Kollegen…“ Es war Nikolaj.
Jetzt begrüßten sich die zwei Freunde nur per
Händedruck,
Lisas
Hand
wurde
leicht
zusammengedrückt und mit der anderen
zugedeckt. „Wir haben hier etwas Schreckliches
entdeckt“, sprach er leise und ließ Lisas Hand los.
Es war eigentlich ein schöner Morgen. Der
Himmel war blau, die Luft duftete nach Blumen
und Frische, keine Abgase, dachte Lisa.
Den Vögeln war es egal, dass sie in den
Baumkronen
über
einem
abgetrennten
menschlichen Kopf ihre Lieder trällerten. Der
Rasen glänzte grün in der Sonne, es roch nach
Frühling. Doch die versammelten Menschen waren
nicht zum Picknicken hier.
„Jetzt haben wir es definitiv mit einem Serientäter
zu tun“, klärte Nikolaj sie auf. „Dieses Mal hat er
die Frau erst töten müssen, bevor er ihr den Kopf
abgesägt hat.“
Lisa war nicht richtig überrascht. Weit und breit
gab es hier keinen Friedhof, und das Dorf war
noch nicht zu sehen.
18
„Was habt ihr schon rausfinden können? Warum
seid ihr Gerichtsmediziner auch hier?“
„Eigentlich Rechtsmediziner. Unser lieber Herr
Franzhoffer hat heute alle hier versammelt, es
kommen noch zwei Spürhunde, ich meine
Kriminalinspektoren, dazu. Es riecht nach einem
langen Tag. Wir haben noch gar nichts Handfestes,
wir konnten nur feststellen, dass es ein und
derselbe war, jetzt haben wir auch noch einen
Zeugen - vielleicht. Und wir sind immer dabei,
wenn es ernst wird! Geht lieber zu ihm ...“, er
zeigte mit dem Daumen unauffällig nach links, „…
bevor
eure
Kollegen
euch
die
Infos
wegschnappen! Die stehen dort an dem schwarzen
SUV“, sagte Nikolaj und ging zu einer Gruppe, die
auf dem Boden kauerte. ‚Dort müsste der Kopf
sein‘, dachte Lisa.
Ralph schritt zielstrebig voran, Lisa musste fast
schon rennen, um mit ihm Schritt halten zu
können. Ralph lief so auf die Leute zu, dass der
Franzhoffer sie bemerken musste.
„Da sind sie ja, unsere zwei hübschen“, sagte der
19
ältere Mann, die Arme ausbreitend, und ließ die
Gruppe verstummen. Er begrüßte zuerst die Dame
mit einem Luftkuss über dem Handrücken, dann
Ralph mit einem festen Händedruck.
„Wir haben ohne euch nicht anfangen wollen,
schön, dass ihr euch beeilt habt. War wirklich nicht
leicht, hierher zu finden. Aber der nette Herr Reich
zeigte uns den Weg. Er ist auch der einzige
Zeuge.“
Vor ihnen stand ein Mann undefinierbaren Alters.
Er mochte zwischen fünfzig und sechzig sein.
Diese armen Leute schufteten Tag und Nacht. Lisa
hatte schon immer Mitleid mit den Menschen vom
Land. Nur wenige wussten, wie hart das Leben als
Bauer sein konnte, Lisa wusste es auch nicht, doch
sie hatte großen Respekt, was diese Menschen
leisten konnten. ‚Er war bestimmt auf dem Weg zu
seinem Feld und sah dann so etwas Schreckliches
am Straßenrand‘, phantasierte sie sich schon etwas
zusammen.
„So, Herr Reich, jetzt können Sie uns bitte
erzählen, wie Sie das Haupt dieser armen Frau
20
gefunden haben.“
Ralph grüßte die anderen nur mit einem
Kopfnicken, Lisa lächelte schüchtern in die Menge.
Der Mann trat verlegen von einem Bein aufs
andere. Er hatte seine Mütze abgenommen und
knetete diese mit seinen von harter Arbeit schwielig
gewordenen Händen.
„Ich fuhr ins Dorf zurück und sah den Kopf“,
sagte er ohne viel Drumherum.
„Vorher war der Kopf noch nicht da?“ Ralph
nahm sich die Freiheit, die Befragung zu
übernehmen. Keiner hatte etwas dagegen. Ralph
war hier als Kriminalinspektor der älteste
Mitarbeiter von der Polizei. Alle wussten, wie viel
Arbeit und Überstunden auf sie zukommen
würden. Daher wollte keiner eine Leitposition in
dieser Sache an sich reißen. Es bedeutete nur mehr
Stress und schlaflose Nächte.
„Ich weiß es nicht, war schon um drei wach. Um
vier fuhr ich los. Musste die Gülle aufs Feld
rausbringen. Da war es noch dunkel. Als ich
zurückkam …“
21
Er verstummte.
„Lag der Kopf am Rand oder auf der Straße?
Haben Sie diesen bewegt?“, wollte Ralph wissen.
„Um Gottes Willen. Nein, er lag so, wie er jetzt
auch liegt. Ich habe ihn nicht berührt.“
„Sie sprechen Hochdeutsch. Sind Sie schon
immer ein Bauer von hier gewesen?“, fragte Lisa.
Ihr passte es nicht, dass dieser Mann nicht nach
einem richtigen bayrischen Landwirt klang.
„Bin vor etwa zwanzig Jahren hierhergezogen.
Habe in München eine Wohnung finden wollen.
Die waren mir aber alle zu teuer. Dann habe ich
außerhalb nach einer gesucht. So habe ich meine
Frau kennengelernt und geheiratet. Der Hof gehört
jetzt uns, meine Schwiegereltern leben beide nicht
mehr.“
„Haben Sie etwas Ungewöhnliches beobachtet?
Ein Auto mit fremdem Kennzeichen - oder Schreie
gehört?“
Der Mann verneinte es nur mit einem
Kopfschütteln.
Ralph holte sein Notizbuch heraus. „Kennen Sie
22
diese Frau?“
Der Mann nickte.
„Ich bitte Sie, die Fragen mit einem ‚Ja‘ oder
‚Nein‘ zu beantworten, oder in vollen Sätzen.“ Der
Beamte klang ernst.
Ein erschrockenes „Ja“ ertönte.
„Bitte erzählen Sie uns alles über diese Frau, was
für uns wichtig sein kann, also keinen Dorftratsch.
Sie wissen, was ich meine.“ Der arme Mann
schaute ihn verständnislos an.
„War diese Frau verheiratet, hatte sie Kinder,
und benutzte sie diesen Weg täglich?“, half ihm
Ralph auf die Sprünge.
„Ja.“
„Was ja?“ Jetzt war Ralph irritiert.
„Ja, sie war mit Richard …“, er überlegte kurz
und schloss dabei seine Augen, um sich zu
konzentrieren, „… Richard ... Baumgart
verheiratet, hatte zwei Kinder und fuhr jeden Tag
mit dem Fahrrad zur Arbeit. Sie leben zwar in
unserem Dorf, haben aber mit der Landwirtschaft
nichts zu tun. Sie sind erst vor fünf Jahren aus
23
München hierher gezogen wegen der Kinder. Sie
wollten, dass diese in der Natur aufwachsen.
Andrea war eine gute Frau. Sie war immer nett. Es
ist so schrecklich. Ich wollte ihrem Mann Bescheid
sagen, aber es war keiner da. Er arbeitet in
München und bringt die Kinder in die Schule. Sie
arbeitete im Nachbarort als Erzieherin. Darum fuhr
sie immer diesen Weg. Bei schönem Wetter wie
heute mit dem Drahtesel, ansonsten nahm sie ihr
Auto. Mehr weiß ich nicht.“ Auf einmal sah er sehr
müde aus.
„Ich habe keine Fragen mehr, komm, Lisa. Herr
Franzhoffer, bis heute Abend.“ Lisa wollte etwas
entgegnen, doch mehr als ein „Wiedersehen“
schaffte sie nicht. Damit es nicht ganz so blöd
aussah, lächelte sie die anderen an. Dann lief sie
ihrem Boss hinterher.
„Ralph, es reicht mir auch bis morgen Abend. Ich
möchte mehr Greifbares. Keine Vermutungen
mehr. Ein Anruf wird auch genügen. Jetzt haben
wir einen Psychopathen zu fassen, möglichst ohne
weitere
Tote“,
rief
der
24
Mordkommissionsvorsitzende
den
beiden
hinterher, der Oberinspektor hob seine rechte Hand
zum Zeichen, dass dies klar ging und er ihn
verstanden hatte.
„Nikolaj, was habt ihr noch?“, wollte er von dem
Rechtsmediziner wissen, als die beiden wieder vor
ihrem Freund standen.
„Nichts, vielleicht morgen, wenn wir den Kopf
untersucht haben“, entgegnete dieser, ohne den
Kopf zu heben. Er kauerte vor dem abgetrennten
Kopf, mit einem undefinierbaren Instrument am
Hals stochernd.
„Todesursache, Zeitpunkt?“ Ralph ging es nicht
schnell genug.
„Sie wurde erstickt. Nicht erdrosselt. Zuerst
bekam sie einen Schlag gegen die Schläfe ...“
„Lisa, ist Ralph auch hier?“ Es war Dieter von
der Spurensicherung. Er hatte Ralph übersehen, da
dieser wie Nikolaj in der Hocke saß. Lisa nickte zu
Ralph, welcher mit dem Rechtsmediziner in eine
Unterhaltung vertieft war. „Oh, tut mir leid,
Nikolaj, wo bleiben meine Manieren, aber ich muss
25
dem alten Hund zum Geburtstag gratulieren“,
unterbrach Dieter die beiden, Ralph dabei auf die
Schulter klopfend. Nikolaj ließ alles liegen, er hatte
es einfach vergessen. Er konnte sich solche Sachen
wie Geburtstage sowieso nicht gut merken.
Zuerst gab es eine freundschaftliche Umarmung
mit besten Wünschen von Dieter, dann wiederholte
sich das Ganze mit Nikolaj.
„Lasst uns irgendwo ungestört alle Informationen
zu einem Bild zusammenfügen“, wollte Ralph
vorschlagen, als sich die Menge
der hier
Versammelten plötzlich zu bewegen begann. Zuerst
gab es ein wildes Durcheinander. Alle rannten hin
und her, wie ein großer Fischschwarm, der sich vor
einem Räuber schützen wollte, dann aber neu
formierte und zu einem einzigen Ganzen wurde, so
rannten jetzt auch alle in eine Richtung. ‚Dort liegt
der Körper‘, schoss es Lisa durch den Kopf.
Es waren mehrere hundert Meter zu laufen,
sodass nur wenige die Strecke im Laufschritt
zurücklegen konnten. Ganz vorne waren die
jüngsten und die sportlichsten, dazu gehörten Lisa
26
und Ralph aber nicht. Die von der Spurensicherung
waren schon wieder die ersten. Aber nur, weil sie
eine halbe Stunde Vorsprung hatten. Dieter
schickte seine jüngsten Kollegen, den Tatort
weiträumig abzusichern. ‚Eine gute Entscheidung‘,
dachte Lisa.
Nach vorne durften aber nur die Profis. Dieter,
Nikolaj und ihre Assistenten hatten den Vortritt.
Die Frau, zumindest ein großes Teil von ihr, lag
splitterfasernackt mit gespreizten Beinen und
ausgebreiteten Armen auf einem kleinen Hügel. Es
war ein Ameisenhaufen, Lisa konnte die kleinen
Biester schon überall sehen. Es juckte sie am
ganzen Körper, besonders am Kopf. Ihr fiel auch
auf, dass sie nicht die Einzige war, die sich
unauffällig zu kratzen versuchte. Der Halsstumpf
war schwarz und schien zu leben, so wie die
anderen Öffnungen des toten Körpers auch. Ein
Kriminalfotograf schoss mehrere Fotos, Dieter und
Nikolaj machten Abstriche und Notizen. Ein wildes
Durcheinander begann. Die Polizeibeamten
kämpften nicht nur gegen die Zeit, sondern auch
27
gegen diese kleinen Tierchen, die die wichtigsten
Beweise buchstäblich wegtrugen.
Lisa schreckte auf, als sie jemand berührte. Es
war Ralph. Er führte sie von dem Ort des
Schreckens auf eine Wiese. „Wir können hier
nichts machen. Du gehst jetzt und machst einige
Fotos mit deinem Handy, ich gehe zurück zum
Chef, wir treffen uns am Auto.“
Schon qualmte er wieder. „Wolltest du nicht
damit aufhören? Noch vorgestern?“
Er nickte und ging, ohne die Zigarette aus dem
Mund zu nehmen, wieder zurück.
Lisa ging zum Ameisenhaufen. Sie machte nicht
nur Fotos, sondern auch einige Videoaufnahmen.
Der Bildstabilisator hatte seine Aufgabe nur mit
Mühe erfüllen können. Vom Anblick der toten
Frau zitterten ihre Hände.
Die Biester freuten sich über das Festmahl, die
Profis aber nicht. Als Lisa gehen wollte, sah sie
zwei junge Sanitäter, die sich mit einer Trage der
Toten näherten. Als der Körper gehoben wurde,
sah Lisa ein Foto, das rot vom Blut war. Es lag
28
unter dem Leichnam.
Dieter hob dieses mit einer Pinzette auf und legte
es in eine Klarsichtfolie. Lisa konnte darauf die tote
Elsa erkennen. Der Leiter von der Spurensicherung
ließ Lisa ein paar Fotos von dem Fund machen.
Lisa nickte dem Kollegen dankend zu.
„Dieter, meinst du, wir werden noch mehr tote
Frauen finden?“, war Lisas erster Gedanke, den sie
laut aussprach.
„Vermutlich schon. Ich hoffe, ihr werdet ihn
frühzeitig stoppen. Es scheint aber so, dass wir es
hier mit einem übervorsichtigen und listigen
Monster zu tun haben. Er ist auf Rache fixiert. Das
ist meine Vermutung“, sagte er schnell. „Diese
Bestie hat keine Spuren hinterlassen, die zu ihm
führen können. Zumindest bis zum jetzigen
Zeitpunkt nicht. Er benutzte weiches Schuhwerk.
Könnten Ledersäcke gefüllt mit Watte oder
Ähnlichem sein? Es gibt absolut keine
Fußabdrücke, keine Schleifspuren - was mich am
meisten irritiert, wir haben kein Blut. Nirgends.
Verstehst du? Er hat alles vor langer Zeit geplant,
29
diese Frau ist kein Gelegenheitsopfer. Er hatte sie
sich ausgesucht, oder er war auf der Suche nach so
einer Frau wie sie. Sie ist von der Statur und
Haarfarbe her dem ersten Opfer ähnlich. Dieser
Kerl handelt bewusst und durchdacht. Er ist
vielleicht verrückt, aber auch genial. Verstehst du,
was ich meine? Er ist wie ein Künstler, welcher
nichts dem Zufall überlässt.“
Lisa kam sich etwas hinterlistig vor. Denn die
ganze Zeit war ihr Telefon auf Tonaufnahme, sie
wollte später mit Ralph zusammen alles genau
analysieren. Ihr Kopf dröhnte von alledem, was sie
heute erleben musste. Darum vertraute sie jetzt
ihrem elektronischen Freund. Ohne den würde sie
sich vielleicht nichts mehr merken können.
„Er muss sein erstes Opfer gekannt haben.
Solche Typen werden so lange morden, bis sie die
Taten ihrer Peiniger gesühnt haben. Sie muss ihn
sehr verletzt haben. Aus seiner Sicht, nicht aus der
Sicht eines Normaldenkenden. Es würde reichen,
wenn sie seine Liebe oder Zuneigung abgelehnt
hätte. Ich denke, ungefähr so denkt unser
30
gesuchter Mörder.“, sagte Dieter. „Ich habe früher
auch als kleiner Jagdhund angefangen, dann
wechselte ich zur Spurensicherung. Du hast einen
guten Lehrer.“
Beide lächelten.“Sag bloß, er hat alles von dir
gelernt?“
„Alles nicht, aber das eine oder andere schon“,
war seine Antwort, bei der er etwas verlegen
wirkte.
„Echt. Er war früher dein Stift?“ Jetzt war Lisa
wirklich mehr als überrascht.
„Wir waren immer Partner. Ab und zu mal nahm
ich ihn unter die Fittiche, das stimmt. Er war
immer ... Wie sag ich das am besten…?“ Er
schaute gen Himmel und suchte nach einem
passenden Begriff.
„Wie ein Jagdhund. Du hattest aber die Leine?“
„Ganz genau!“ Dieter lachte auf. “Bei euch ist es
nicht anders, was? Nur, dass er bei euch die Leine
hat.“
Nun grinste auch Lisa.
„Jetzt muss ich aber weiter“, sagte er. „Die
31
Pflicht ruft, die Arbeit auch. Sag Ralph, ich werde
mich heute noch bei ihm melden. Und kein Wort
über das mit dem Jagdhund, er mag es nicht.“ Der
Beamte von der Spurensicherung drehte sich um
und ging, ohne sich zu verabschieden. Lisa stand
noch einen Moment da und sah zu, wie der
Leichnam in den Krankenwagen geschoben wurde.
Dann ging sie zurück.
„Lisa!“ Es war Nikolaj. Sie erkannte ihn nicht
nur an seiner Stimme, sondern auch an seinem
lustigen Akzent. Im russischen gab es den Namen
Lisa auch, wusste sie. Darum sprach ihn Nikolaj
auch anders aus als alle anderen. Das ‚s‘ klang sehr
scharf, als er sie rief. Sie blieb stehen und wartete
auf ihren Kollegen. ‚Warum bist du nur
verheiratet?‘, dachte sie, dabei pochte ihr Herz
etwas schneller. „Wo ist dein Boss?“, sprach er
etwas außer Atem. Es kam nicht nur vom Laufen,
das wusste Lisa. Auch nicht von der toten Frau. Er
war aber ein treuer Mann und blieb mit Lisa immer
korrekt, auch wenn beide im Unterbewusstsein
mehr wollten als nur gute Partner zu sein.
32
„Er ist zurück. Wollte mit unserem Boss noch ein
paar Details klären. Der eigentliche Grund ist aber,
er ist ein Weichei, wenn er verstümmelte Körper
sehen muss.“
Nikolaj lachte, nicht weil es witzig war, sondern
weil er es gut nachvollziehen konnte. Er hatte
schon viele gute Lehrlinge gehabt, die ihre Lehre
abbrechen mussten, nachdem sie am Tatort eine
verstümmelte Leiche begutachten mussten. Es war
ganz was anderes, einen frischen Körper zu
untersuchen als einen, der schon lange tot war.
Nikolaj lachte aber noch, weil er und Ralph etwas
vor Lisa verheimlichen mussten, später würde sie
aber das Geheimnis gelüftet bekommen. Es war
Ralphs Idee, Nikolaj hielt sich da schön raus.
„Kann ich gut nachvollziehen“, entgegnete er
verständnisvoll. „Du bist eine von den Harten.“ Er
schaute sie an und lächelte, seine Augen glänzten
dabei.
„Weiß nicht. Ich versuche, irgendwie damit
klarzukommen. Einer muss es ja. Habt ihr etwas
herausfinden können?“
33
„Die Tatwaffe war die gleiche. Das Motiv …“, er
überlegte kurz, „… die erste Frau. Er will sich
rächen. Soviel steht fest. Er wollte symbolisch ihre
Taten bestrafen. Ich denke, er war in sie verliebt,
sie erwiderte seine Liebe aber nicht. Er schlug
dieser Frau den Kopf nur deswegen ab. Ich meine,
er sägte ihr den Kopf ab, um sich die Person, die
er liebte, nämlich Elsa Petrowski, in seinen
perversen Fantasien besser vorstellen zu können.
So hat er vielleicht seine Lust ...“ Es war Nikolaj
etwas peinlich, über solche Dinge mit einer Frau zu
sprechen. Auch wenn diese von der Polizei war.
„Vielleicht hat er sie lange Zeit nicht sehen dürfen
und nahm es als Erinnerungsstück oder gar als eine
Trophäe mit. Und diesen Kopf hat er liegen lassen
müssen, weil er gestört wurde. Vielleicht hat ihn
dieser Landwirt bei seiner Tat überrascht. Wir
haben einige Abstriche und Gewebeproben
genommen, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass
wir nichts finden werden. Er ist zwar verrückt,
aber nicht dumm. Es ist ein perverses Genie. Vor
solchen haben viele unserer Kollegen Angst.“
34
„Du nicht?“, unterbrach ihn Lisa.
„Nicht wirklich. Ich habe ja nichts mit ihm zu
tun. Doch du und dein Kollege müsst wirklich
aufpassen. Vor allem, wenn ihr ihn bei einem
Racheakt stören würdet.“ Er legte ihr seine Hand
auf die Schulter, nahm diese dann aber sofort
zurück.
„Das ist unsere Aufgabe oder Berufung“, sagte
Lisa mit leicht zittriger Stimme. Nicht vor Angst,
sondern von seiner Berührung.
„Ich weiß. Seid aber bitte vorsichtig.“ Er berührte
flüchtig ihren Unterarm. Lisa wurde es heiß ums
Herz.
Den Rest des Weges liefen sie schweigend
nebeneinander her. Als sie ankamen, waren nur
noch Wenige dageblieben. Lisa verabschiedete sich
von Nikolaj, ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie
hoffte, dass ihr Kloß im Hals keinem auffiel. Dann
ging sie zum verabredeten Treffpunkt. Ralph
wartete am Wagen, er saß auf der Motorhaube und
rauchte. Als er seine Partnerin erblickte, sprang er
runter und trat die Zigarettenkippe sofort aus. ‚Wie
35
ein kleines Kind‘, dachte sie und lächelte.
„Na, meine liebe Kollegin. Gibt´s was Neues?“,
versuchte er sie abzulenken. Er wollte nicht, dass
sie ihm eine Predigt über das Rauchen hielt.
„Nicht wirklich, und bei dir?“
„Bis auf einen kleinen Zettel auch nichts.“ Er
stieß sich gelangweilt vom Wagen ab, ging zur
Fahrertür und sagte fast beiläufig. „MERETRIX.“
Lisa blieb abrupt stehen, Ralph fixierte sie dabei.
„Was hast du gesagt?“ Lisa war erstaunt.
„Auf dem Zettel stand MERETRIX, sagt dir das
was?“, wollte er von seiner Kollegin wissen.
„Freudenmädchen“, war ihre Antwort.
„Gregor meint, es bedeutet so viel wie Hure und
Freudenmädchen, ist ja das Gleiche“, sprach er mit
sich selbst.
„Auch Prostituierte, wenn du es so willst.“ Lisa
klang ein bisschen genervt. „Sag jetzt, was Sache
ist, Ralph, du weißt ganz genau, dass ich solche
Spielchen hasse!“ Sie trat leicht gegen einen Stein,
der wie ein kleiner Ball davon kullerte.
„Ok, ok …“ Er hob seine Hände hoch und
36
lächelte versöhnlich.
„Als ich zurückkam, war dieser junge Gregor
dabei, ihren Kopf genauer zu untersuchen. Als er
ihren Mund öffnete, lag darin ein Zettel mit dieser
Aufschrift. MERETRIX. Dieser Gregor wusste
sofort, was es heißt. Du aber auch. Er hat Latein
studiert, woher weißt du es?“ Er neigte seinen
Kopf zur Seite und fixierte sie mit seinen
Kastanienaugen.
„Musst mal historische Romane lesen, dann
weißt du es auch!“ Ihre Stimme klang müde.
„Ach so. Steht in den historischen Romanen
auch, warum man früher die Frauen bei
lebendigem Leibe auf einem Ameisenhaufen
festband? Nackt!“ Er wollte sie provozieren. Das
tat er gern. Er meinte, gereizte Frauen würden
schneller denken und Dinge sagen, die sie sonst nie
laut aussprechen würden.
Jetzt war Lisa wieder hellwach, ihr Herz schlug
schneller.
„Fremdgehen. Frauen, die beim Fremdgehen
erwischt wurden, wurden oft für ihr Vergehen so
37
oder so ähnlich bestraft. Die Ameisen drangen von
außen nach innen durch alle Öffnungen, auch
durch die, die am gottlosesten und sündhaftesten
waren. Die Frauen lagen manchmal mehrere
Stunden dort und schrien sich die Seele aus dem
Leib, bis sie ohnmächtig wurden oder starben.
Dann hatte Gregor mit seinem Ausdruck mehr
recht als ich. Hure. Ja. Frau Petrowski hat den
Perversen betrogen oder entschied sich für einen
anderen.“ Lisa hätte diesen Mann in der Luft
zerreißen können, so erzürnt war sie jetzt über sein
Vergehen.
„Gutes Mädchen“, lobte sie der Kommissar ohne
Sarkasmus. „Lass uns in mein Büro fahren. Wir
müssen ins Detail gehen, hier kann ich mich nicht
konzentrieren“, schlug er ihr vor.
„Ok …“ Lisa nahm ihr Smartphone und surfte im
Internet, während sie aufs Revier fuhren. Es gab
viel Info, aber auch viel Müll. Jeder, der nur etwas
zu wissen dachte, gab seinen Senf dazu. Die
ganzen Foren waren zu achtzig Prozent zugemüllt.
Lisa dröhnte der Kopf. Sie wühlte in ihrer Tasche,
38
holte eine Dose Extra Energie heraus, leerte diese
in wenigen Schlucken bis zur Hälfte und gab sie an
ihren Freund weiter. Ralph nahm sie wortlos an
sich und trank sie leer. In zwei großen Schlucken.
Ein gedämpftes Rülpsen ertönte, es kam nicht nur
vom Fahrer.
„Du Sau“, sagte Ralph lachend.
„Selber“, erwiderte Lisa. Boxte ihn wie immer
gegen seine Schulter. Ein lautes Geräusch kam aus
ihrem Innersten und krabbelte durch ihren Mund,
ohne dass sie es beabsichtigt hatte, nach draußen.
„Die Stimme deiner Seele hat sich gemeldet“,
schrie Ralph schallend, ihm kamen schon die
Tränen.
Lisa war ihr Fauxpas zuerst peinlich, dann
lachten beide und entspannten sich. Die Spannung,
die sich bei dem Erlebten aufgebaut hatte, löste
sich langsam wieder. Lisa schaltete das Radio ein,
der gutgelaunte Moderator unterbrach seine
Sendung für eine Eilmeldung. Lisa befürchtete
schon, dass die Medien von diesen Verbrechen
Wind bekommen hatten. Es wäre eine
39
Katastrophe, die einer Epidemie gleich käme. Doch
es war ‘nur‘ ein Raubüberfall in der Stadtmitte.
Ein Juweliergeschäft war überfallen worden, zwei
maskierte Männer, beide bewaffnet, hatten den
Laden gestürmt und waren mit ihrer Beute im Wert
von mehreren Tausend Euro geflohen. Lisa
schaltete es wieder aus. Sie versuchte zu dösen,
was ihr nicht schwer fiel. Sie war wie eine Katze,
die überall schlafen konnte. Ralph beneidete sie
immer darum.
„Du, wollen wir vielleicht zu Friedrich fahren, ich
habe Hunger?“, murmelte die hübsche, blonde
Kommissarin.
„Du willst nach alldem noch was essen?“ Ralph
war erstaunt.
„Und trinken. Wenn mein Magen leer ist, ist
mein Kopf auch leer. Friedrichs Schnitzel mit einer
Cola sind genau das, was ich jetzt benötige.“ Lisa
lief das Wasser im Mund zusammen.“Und
Pommes“, vollendete sie ihre imaginäre Bestellung.
Doch dann klingelte Ralphs Handy. ‚Nicht
abheben‘, flehte sie ihn in ihren Gedanken an, was
40
eine vergebliche Vorstellung war, und wie eine
Seifenblase zerplatzte, als ein „ Ja, Ralph Albert
hier“ ertönte.
„Ja, wir sind schon unterwegs!“ Er legte fluchend
auf. „Also, ein paar Burger müssen jetzt auch
reichen …“, er schaute Lisa etwas amüsiert an,
„… wir fahren zu Nikolaj. Er hat etwas für uns.
Du sollst dir aber die Fotos, die du heute
geschossen hast, nochmal anschauen. Er meint, es
wäre für ihn von großer Wichtigkeit, wenn er noch
eine zweite Meinung dazu gewinnen könnte. Du
sollst dir besonders die Bilder unter die Lupe
nehmen, auf denen du die Frau komplett sehen
kannst.“ Lisa holte ihr Tablet, auf das sie die Fotos
per Bluetooth von ihrem Smartphone geschickt
hatte. Schon untersuchte sie die wenigen Fotos, auf
denen sie die Frau von einer kleinen Erhöhung aus
abgelichtet hatte.
„Keine Burger, wir fahren sofort zu Nikolaj“,
sagte sie beiläufig. Ralph sah sie überrascht an, sie
beachtete ihn aber kaum. „Ich glaub, ich hab's, ich
weiß, was Nikolaj gemeint hat. Die Ameisen. Die
41
sind wie kleine schwarze Tropfen auf ihrem
Bauch. Dieses perverse Schwein hat auf sie
ejakuliert. Oh Gott, das kann bedeuten, dass wir an
DNA-Spuren kommen können. Aber es ist
irgendwie seltsam, zuerst hieß es, er sei sehr
vorsichtig, hinterließe keine Spuren, und auf einmal
spritzt er mit den Beweisen nur so um sich. Ich
glaube, Nikolaj macht sich da falsche
Hoffnungen.“ Sie blätterte die Fotos noch einmal
durch.
Nikolaj erwartete die beiden schon, er führte sie,
ohne viel zu reden, in den Sektionssaal. „Lisa, hast
du dir die Bilder angeschaut?“ Er war aufgeregt,
seine Stimme zitterte.
„Ja, aber wenn ich dich richtig verstanden habe,
hast du hoffentlich nicht die Tropfen auf ihrem
Bauch gemeint?“ Sie bettelte fast darum.
„Nee, das war definitiv nicht das, was ich
gemeint hatte“, winkte Nikolaj ab.
Lisa atmete einerseits erleichtert durch,
andererseits überlegte sie angestrengt, was sie
übersehen haben könnte, das anscheinend
42
offensichtlich war.
„Der Kreis“, schrie sie auf und blieb stehen.
Nikolaj nickte zustimmend.
„Ganz genau, und eine tote Ameise, dazu aber
später. Kommt, wir gehen in mein Büro, ich habe
Kaffee für euch.“ Nikolaj schritt ihnen voraus.
„Ist diesmal der Fundort auch der Ort, an dem er
seinem Opfer den Kopf abgesäbelt hat?“ Ralph
vermutete es zwar, doch er wollte es von einem
Profi bestätigt bekommen.
„Ja, er muss das Blut mit einem Behälter
aufgefangen haben, die Frau war noch am Leben,
als er ihr den Kopf, besser gesagt: die Schlagader,
durchtrennt hat. Als ich sagte, dass sie erstickt
wurde, da habe ich mich getäuscht. Sie wurde
betäubt. Er ist ein Profi, er hat so eine Art
Sedativum verwendet. Es ist ein Beruhigungsmittel,
das das zentrale Nervensystem angreift und die
Wahrnehmung dämpft, es kann zu einem
sogenannten künstlichen Koma führen. In diesem
Fall war es aber so: Er machte sein Opfer gefügig,
indem er ihr das Zeug ins Gesicht sprühte, danach
43
einen durchtränkten Lappen so lange gegen Mund
und Nase drückte, bis sie genug davon eingeatmet
hatte. Dann führte er sie bis zu dem Tatort,
natürlich nicht wie ein Schoßhündchen, er musste
sie vielleicht mehr tragen und stützen, als es ihm
lieb war. Dennoch war es immer noch besser, als
eine in Panik geratene, kreischende oder gar tote
Frau zu bewegen. Er entkleidete sie und legte sie
auf den Ameisenhaufen. Dann drückte er ihr den
durchtränkten Lappen so lange gegen den Mund,
bis sie in einen tiefen Schlaf, kurz vor dem Tod,
fiel.“ Er redete, während sie zu seinem Büro
gingen, etwas lauter. Damit seine Kollegen auch
alles verstehen konnten.
„Ja, aber was geschah davor?“, hakte Ralph
nach, als sie Nikolajs Büro betraten. Lisa staunte
nicht schlecht, als sie sah, dass auch hier alles aus
Edelstahl und weiß gefliest war.
„Es ist ein Feldweg wie alle anderen. Sie fuhr
selbstverständlich auf der rechten Seite, unser
Gesuchter wartete schon auf sie. Er lief ihr auf der
linken Seite entgegen. Als sie an ihm vorbeifahren
44
wollte, steckte er ihr einen Stock zwischen die
Speichen, den er vorher vielleicht als Spazierstock
benutzt hatte. Sie fiel über die Lenkstange und
landete auf dem Kopf am Straßenrand. Wir haben
diese Stelle am Kopf untersucht, kleine
Abschürfungen und Grasreste sind Beweis genug.“
Er fuhr sich dabei unbewusst mit der Hand über
sein Gesicht, an die Stelle, die er gerade beschrieb.
„Baseballschläger?“ Lisa sagte nur dieses eine
Wort, weil jeder verstand, was sie damit meinte.
„Nein. So leicht, wie es in den vielen Filmen
ausschaut, umso schwerer ist es in der Realität.
Diese Waffe kann man nur bedingt …“, er machte
dabei das Anführungszeichen mit den Fingern, „…
zum Betäuben benutzen. Es kann sehr schnell in
die Hose gehen, und der Angegriffene ist dann bei
den Engeln.“ Ein leises Anklopfen ließ ihn
verstummen. „Gregor, komm rein“, rief
er
denjenigen, der draußen vor der Türe stand,
herein.
Lisa musste schmunzeln, als sie den jungen, sehr
schüchternen, dabei so gut aussehenden Mann
45
erblickte.
„Dieter hat angerufen, ich habe auch einen
handgeschriebenen Faxbericht von ihm“, sprach er
und schaute dabei nur seinen Onkel an. „Sie haben
Reifenspuren entdeckt, die gebrochenen Speichen
am Fahrrad stammen eindeutig von einem Stock
…“, er atmete tief durch, „… der genauere
Ausdruck wäre: ein Ast, wie Dieter sich
ausgedrückt hat. Mit den gebrochenen Speichen
hätte sie keinen Meter weiter fahren können. Also
musste es kurz vor dem Angriff passiert sein. Nach
den ersten Erkenntnissen lief das Ganze so ab …“,
er holte ein Blatt Papier, aus einem Faxgerät
stammend, vermutete Lisa, und las laut vor, „…
der Täter war am Tatort und lauerte dem Opfer
auf. Die Tat war geplant. Auch über den
Ameisenhaufen wusste er vorher Bescheid, es gab
Spuren von Zucker. Anscheinend lockte er auch
andere Ameisenvölker damit an.“ Jetzt kam der
Assistent ins Stocken, da die Schrift sehr krakelig
war, die durch das Faxgerät nicht unbedingt
verbessert worden war. „Es gibt Indizien dafür,
46
dass dieser Mann das Opfer kannte. Genauso wie
sie auch ihn. Es gab keine Kampfspuren, diese
Frau wurde von dem Mann schnell überwältigt.“
Gregor machte eine Pause, schaute seine Zuhörer
der Reihe nach an, so als ob er sicher gehen wollte,
dass alle noch da waren und keiner eingeschlafen
war.
„Jetzt kommt eine Aufzählung“, sagte er
hüstelnd. Er war aufgeregt. „Die Frau fuhr, laut
Zeuge, zur Arbeit. Wurde vom Täter überrascht,
erkannte diesen, fuhr aber weiter. Dieser stoppte
sie mit einem Ast, den er in das hintere Rad
zwischen die Speichen schob. Die Frau fiel auf den
Straßenrand, schlug, laut Aussage von Gregor, dem
Rechtsmedizin-Assistenten, mit der rechten Schläfe
auf.“ Dunkle Röte wanderte über Gregors Gesicht.
Seine Stimme vibrierte vor Aufregung und Stolz,
da er namentlich in so einer wichtigen Sache
erwähnt wurde. „Als sie sich aufrichtete, wurden
ihre Atmungsorgane, Nase und Mund, vom
Angreifer mit einem mit
Beruhigungsmitteln
durchtränkten Lappen zugedrückt. Dieses Mittel
47
wirkte auf die Person wahrnehmungshemmend
und ... beruhigend“, sagte der junge Mann. „So
konnte er sein Opfer fast ohne jegliche Gegenwehr
an den Bestimmungsort führen. Danach erstickte
er sein Opfer bis zur Bewusstlosigkeit. Schließlich
schnitt er ihr die Halsschlagader durch. Das Blut
wurde aufgefangen. Vermutlich mit einem Eimer,
da es an der Halsstumpfseite einen runden
Abdruck gibt. Schließlich wurde der Kopf mit einer
Säge vom Körper abgetrennt. Das kann euch dann
aber Nikolaj besser erklären.“ Gregor schaute, wie
auch Lisa und Ralph, Nikolaj überrascht an.
„Dieter war so nett und hat, nachdem ich ihn
angerufen habe, mir seine ersten Vermutungen
zugeschickt. Ich habe ihn darüber informiert, dass
ihr auch da sein werdet.“ Alle Anwesenden nickten
zufrieden. „Bevor wir zu dem Leichnam
rausgehen, will ich euch ein paar Details aufzählen,
die uns aufgefallen sind. Es gibt einige
Übereinstimmungen mit der ersten Frau.“ Nikolaj
wirkte auf einmal sehr ernst. „Auch bei diesem
Opfer ging er mit der Abtrennung des Kopfes so
48
wie bei seinem zweiten Opfer vor. Was zuerst
übersehen wurde, könnte jetzt ein wichtiges Indiz
dafür sein, dass er Elsa kannte: Das Kreuz, das auf
dem Sargdeckel angebracht war, wurde an dem
Tag der Untat kopfüber befestigt vorgefunden. Das
heißt, er hatte sich die Mühe gemacht, ein Zeichen
zu setzen. Wie auch bei dem zweiten Kreuz über
Kopf ist das ein sogenanntes Petruskreuz und hat
viele Bedeutungen. Eine der neuesten soll
symbolisieren, der Tragende - in dem Fall Elsa soll zur Hölle fahren. Derjenige, den wir suchen,
rächt sich für ein Vergehen, das die Frauen an ihm
begangen haben, an seinen Opfern!“ Es wurde still,
nur das leise Ticken einer großen Wanduhr, die
auch im Edelstahllook gehalten war, störte die
Totenstille. Klick, Klack, Klick, Klack. Nikolaj ließ
seinen Freunden etwas Zeit, um das Gesagte zu
verdauen. Er stand auf, ging, ohne etwas zu sagen,
zu einem der Hängeschränke, nahm vier Tassen
und goss für jeden einen frischen Kaffee ein. Als
jeder davon einen Schluck oder mehr zu sich
genommen hatte, fuhr er fort.
49
„Kommen wir zu der Symbolik, dieser
Durchgeknallte ist gar nicht so verrückt. Er muss
sich im Bereich des Religiösen oder Mythischen
gut auskennen. Entweder ist es ein Mann Gottes,
oder ein Mitglied einer Sekte, oder etwas anderes
in dieser Richtung. Denn auch bei der zweiten Frau
fanden wir etwas, das darauf schließen lässt, dass
es ein Racheakt war.“
„Du meinst jetzt den Kreis?“, unterbrach ihn
Lisa. Sie nippte an ihrem Kaffee, so, als ob es sie
fröstelte.
„Genau. Er hatte zwischen ihre Beine ein
Kreissymbol gesetzt, das die Unendlichkeit
symbolisieren soll. Auch hier gibt es mehrere
Bedeutungen, wie das Vollkommene oder das
Unendliche. Doch hier denke ich aber auch, mein
bester Freund Gregor, fällt die Bedeutung auf das
ewige Leben, mehr aber noch auf die
Wiedergeburt.“ Er schaute zu Gregor, dieser nickte
zögernd.
Lisa verschluckte sich, Ralph saß nur da und
fluchte: „Bloß das nicht.“ Er hasste es, einem
50
genialen Verrückten hinterherzurennen. Lieber
einen brutalen Killer, der geradeaus war, vor sich
stehen haben, als einem Phantom nachzujagen.
„Anscheinend erwartete er ein Kind, das ihm
genommen wurde.“
„Oder er wollte keins“, beendete Lisa den Satz.
Gregor nickte zustimmend.
„Wieso wurde der Kreis erst später bemerkt?“,
fragte Ralph, an die Decke schauend. Er war jetzt
sehr konzentriert, Lisa kannte diese Geste.
„Weil alle so geschockt waren und sich erst auf
die Menschen konzentrierten. Eigentlich war es
Gregor, der dies bemerkt hat.“
‚Armer Gregor!‘ Lisa schmunzelte wieder, er
glich einem Chamäleon, das eine Pigmentstörung
hatte und nur von hautrosa in hautrot wechseln
konnte. Es entstand eine kleine Pause. Gregor und
Nikolaj waren ein eingespieltes Team, denn Gregor
übernahm nach einem kurzen Zögern das Wort.
„Zuerst habe ich mir die Fotos von der ersten
Frau angeschaut, ich war ja damals nicht vor Ort,
genauso wie beim zweiten Mal. Ich meine jetzt,
51
dass ich nur ...“ Ralph erwachte aus seiner Starre
und fixierte überrascht den armen Assistenten, der
purpurrot wurde. „Ich war mit dem Haupt
beschäftigt, mein Onkel war bei dem
Ameisenhaufen“, klärte er die Situation auf. Ralph
nickte und nippte an dem schwarzen Kaffee.
„Das Kreuz fiel mir sofort auf, ich dachte aber,
es sei beim Aufbrechen verrutscht. Doch als ich
den schwarzen Kreis bei der zweiten Frau
entdeckte ...“
„Welcher schwarze Kreis?“, fragte Ralph
überrascht.
„Es waren Ameisen“, versuchte Lisa dem jungen
Mann unter die Arme zu greifen. „Ralph, sei still
und lass ihn doch erstmal ausreden. Sie können
fortfahren, er ist nur zu ungeduldig, weil, ach egal
…“, sagte sie grinsend. Sie wusste ganz genau,
dass Ralph unbeendete Sätze hasste wie die Pest.
„Er hat eine Art Zuckerwasser oder Sirup
benutzt, oder verdünntes Blut.“ Er legte die zwei
Fotos vor Ralph und Lisa auf den Tisch.
„Und die Tropfen? Haben die eine Bedeutung?“,
52
wollte Lisa wissen und zeigte beim zweiten Opfer
auf drei schwarze Punkte, die sich auf dem Bauch
gebildet hatten.
„Fraglich, es waren aber Tropfen von ihrem
Blut“, sagte Nikolaj nur.
Es war wieder Gregor, der seine Vermutung laut
aussprach. „Entweder war es ein Versehen oder
ein Hinweis auf eine Befruchtung. Die
Ejakulationstropfen…“ Als er es sagte, starrte er
dabei den Boden an.
„Also will er uns auf etwas hinweisen.“ Es war
keine Frage, Ralph sprach für alle. „Er wird weiter
morden, bis er sich an den Frauen, die ihn verletzt
haben, gerächt hat.“
„So ist es“, sagte Nikolaj. „Er weiß, dass ihr
hinter ihm her seid. Darum diese Spur aus
Zuckerwasser oder Blut. In ein bis zwei Tagen
wäre sie weg gewesen. Die kleinen Biester hätten
alles weggetragen.“
„Das mit dem Ameisenhaufen bereitet mir
Kopfschmerzen“, sagte er fast flüsternd. „Er muss
schon vorher davon gewusst haben. Seine Taten
53
sind mehr als geplant. Es gab auch Reifenspuren.
Dieter meinte, vom gleichen Reifentyp, frische und
etwas ältere Spuren.“ Er kaute auf seiner
Unterlippe. „Darf ich hier rauchen?“
„Leider nicht, mein Freund.“ Nikolaj goss sich
und Lisa etwas von dem schwarzen Elixier nach.
„Habt ihr noch etwas für uns?“, fragte Ralph. Er
stand jetzt auf und begann, auf und ab zu laufen.
„Ja, wollt ihr es in Natur sehen oder reicht auch
ein Foto?“, wollte Nikolaj wissen.
„Lass uns zu dem Leichnam gehen“, sprach
Ralph energisch. „Lisa hat jetzt die Feuertaufe
bestanden.“ Ralph und Nikolaj grinsten beide
verschwörerisch.
„Du bist also gar kein Waschlappen, der die
Toten nicht anschauen kann?“, sagte sie
aufgebracht. Sie schlug ihn mit ihrer kleinen Faust.
Was gar nicht wehtat.
„Aua“, sagte Ralph trotzdem. Jetzt lachte sogar
auch Gregor, der allem Anschein nach über das
Komplott Bescheid wusste. „Was glaubst du, wie
ich meinem Job nachgehen könnte, wenn ich mir
54
nicht einmal die Toten anschauen könnte?“ Ein
breites Grinsen stellte sich auf seinem sonst so
ernsten Gesicht ein.
„Kindsköpfe“, sagte Lisa beleidigt.
Nikolaj und sein Neffe waren wie zwei
Synchrontänzer, als sie das Laken abnahmen und
zusammenlegten.
„Waren das die Ameisen?“ Ralph war erstaunt,
wie schlimm der tote Körper zugerichtet war.
„Bis auf den Schambereich, ja“, war Nikolajs
Antwort.
Ralph und Lisa waren überrascht. „Er hat es
abgeschnitten“, stellte Ralph fest. Sein Freund
nickte zustimmend.
„Da ist noch eine Konstante: Er benutzt ein
Skalpell. Ziemlich ungeschickt für einen Chirurgen,
aber er hat es trotzdem immer dabei.“
„Was will er damit, ich meine: mit der Vagina?“,
fragte der Inspektor angeekelt.
„Vulva“, korrigierte ihn Nikolaj.
„Was?“ Ralph war jetzt ziemlich überfordert.
55
„Vulva ist der äußere, Vagina ist der innere Teil
des Frauenorgans. Er hat nur das äußere
mitgenommen. Soll wohl eine Trophäe sein oder
ein Andenken.“ Nikolaj atmete tief aus.
„Oder er hat das ... mitgenommen …“ Lisa
suchte nach Worten.
„Womit ihn die Frauen betrogen oder er es nicht
bekommen hat“, beendete ihr Partner das
Angefangene. „Kopf steht für Liebe, Vulva für Sex
oder so ähnlich“, dachte Ralph laut.
„Da liegst du nicht ganz falsch“, flüsterte der
Rechtsmediziner.
Auf einmal schrie Ralph auf und griff sich ans
Ohr. „Verdammte Viecher, die sind immer noch
nicht alle weg!“ Er kratzte an seinem etwas rot
gewordenen Ohr.
„Könnte eine aus der, du weißt schon woher,
gekommen sein.“ Nikolaj grinste, ihm wurde erst
jetzt bewusst, dass das ein Männerwitz war. Vor
der Dame war’s dann doch ein bisschen peinlich.
Doch als er Lisa lächeln sah, wurde sein Grinsen
breiter.
56
„Bah!“ Ralph zwickte sich an der Lippe. „Die
sind ja überall“, protestierte der Kommissar und
trat einen Schritt zurück. Die anderen folgten
seinem Beispiel.
„Dies hatte der Mörder nicht berücksichtigt. Die
sind wirklich schnell und aggressiv. Wir haben eine
halbe Ameise, mit Speichelsekret umhüllt, auf
ihrem Bauch gefunden. Könnte eine Spur zum
Mörder sein. Wir vermuten, dass eines der Biester
ihm in den Mund krabbelte, sodass er es dann
reflexartig ausgespuckt hat. Wird gerade auf DNA
untersucht. Wir hoffen, dass es für eine Analyse
reicht.“
„Das haben wir bestimmt wieder deinem Neffen
zu verdanken?“, zog Ralph seinen Freund auf, als
Erwiderung für die Ameise aus der ...
„Vorsischt, mein Freund…“, Nikolaj spielte den
aufgebrachten Möchtegern-Schlägertypen und
streckte dabei seinen Zeigefinger in den Himmel,
„…noch kann ich meinem Lehrling was
beibringen.“ Er legte dem Neffen seinen
durchtrainierten Arm um die Schulter und
57
zwinkerte ihm freundschaftlich zu. Dieser nickte
bloß. „Jetzt gehen wir alle hoch in die schreckliche
Kantine“, sagte Nikolaj, als sie die kopflose Frau
wieder zudeckten. “Ich habe Hunger!“ Er schaute
seine Gäste mit erhobenen Augenbrauen an.
„Wir müssen leider weiter“, schlug Ralph die
Einladung aus. Erstens war das Kantinenessen nie
seins, zweitens rief die Pflicht zum Handeln. „Wir
fahren zurück ins Dorf. Wir müssen dem Mann
einige Fragen stellen.“ Schon liefen alle zum
Ausgang.
Als sie losfuhren, blieb Ralph auf halber Strecke
stehen. Er hielt am Straßenrand an, drehte sich zu
Lisa um und starrte diese an. „Meinst du nicht, er
ist uns immer eine Nasenlänge voraus?“
Lisa zuckte mit den Achseln, sie wusste nicht,
ob das jetzt eine rhetorische Frage war oder nicht.
Allem Anschein nach erwartete er doch eine
Antwort von ihr.
„Er hatte genügend Zeit, um sich vorzubereiten,
und der Friedhof liegt ja nicht sehr weit vom Dorf
entfernt.“
58
„Genau, der Friedhof!“ Er schrie fast. „Und, wer
macht den Gottesdienst, wer kennt seine
Schäfchen in der Gemeinde, und …“, er drückte
das Lenkrad so fest zusammen, dass seine Knöchel
weiß durch die rote Haut durchschimmerten, „…
wer kennt sich mit dem ganzen Kruzifixzeug am
besten aus?“
„Quatsch!“ Lisa wollte gar nicht darüber
nachdenken. „Ist doch nicht dein Ernst? Du glaubst
tatsächlich daran, dass ein alter Pastor oder
Pfarrer, wie auch immer die richtige Bezeichnung
der Kirchenoberhäupter sein mag, zwei Frauen an
zwei Tagen enthauptet hat? Dass ich nicht lache.“
Sie sah dabei aber kein bisschen amüsiert aus.
„Er muss nicht der Mörder gewesen sein, aber
bei der Beerdigungszeremonie könnte ihm doch
etwas aufgefallen sein. Vielleicht war auch Frau
Baumgart in irgendeinem Kirchenverein vertreten,
oder war bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung mit
dabei, oder hat sich ehrenamtlich für die
Bedürftigen engagiert. Genauso wie Frau
Petrowski, und da ist unser Unbekannter ihnen
59
über den Weg gelaufen. Hat sich zuerst in die eine
verliebt und wurde von ihr abserviert, wie auch
später von der zweiten.“
Lisa schüttelte langsam den Kopf. „Falsch und an
den Ohren herbeigezogen“, maulte sie.
„An den Haaren …“, verbesserte er seine junge
Kollegin. „Schlag du doch etwas vor.“ Er sah
müde aus.
„Er steht nur auf einen Typ von Frau. Etwas
überdurchschnittlich groß, braune Haare, kantiges
Gesicht. Etwas maskulin, dennoch sehr anziehend
für viele Männer.“
„Entweder für richtige Kerle, die sich bei so einer
Frau immer behaupten müssen,
oder für
Muttersöhnchen, die sich nur von ihnen
rumkommandieren lassen“, weitete Ralph den
Gedanken aus. „Wir haben jetzt kurz nach Mittag,
Herr Baumgart ist noch bei der Arbeit. So, wie ich
den Zeugen verstanden habe, hat er eine
Zahnarztpraxis.“ Er klopfte mit dem Zeigefinger
eine bekannte Melodie auf dem Lenkrad, wobei
Lisa aber nicht einfiel, woher sie diese kannte.
60
„Hau mal auf die Tasten, Kleines. Sag dem Auto,
wohin es uns fahren soll!“
Lisa verstand ihn nicht ganz. „Na, gib in das Navi
die Adresse von unserem Zahnarzt Baumgart ein!“
Er schnaubte ungeduldig.
„Du bist doch von gestern“, sagte Lisa genervt.
„Ich brauche die Straße und die Hausnummer,
zum Glück wissen wir, dass er in München seine
Praxis hat.“ Er wollte etwas erwidern, doch Lisa
hielt ihm ihre flache Hand vor den Mund. Sie
tippte zuerst etwas in ihr Smartphone ein, dann erst
in die Navigation.
„Die Route wird berechnet“, sagte der Navigator
mit der ihm schon bekannten Frauenstimme.
„Na also, geht doch.“ Ralph sah glücklich aus.
In weniger als zwanzig Minuten standen sie vor
der Zahnarztpraxis. Lisa schob ihren Boss vor sich
her. „Alter vor Wunderschönheit“, krächzte sie.
Die Praxis war tatsächlich noch offen. Als sie zum
Empfang kamen, wollte eine junge, hübsche
Zahnarzthelferin, die allem Anschein schon nach
Hause gehen wollte, wissen, ob sie einen Termin
61
hatten oder einen ausmachen wollten. Lisa und
Ralph verneinten.
„Haben Sie Ihr Kärtchen dabei?“, fragte sie
automatisch und auch etwas irritiert. „Aber
natürlich“, grinste Ralph, nickte und holte seinen
Kriminalpolizei-Ausweis heraus. Sie schluckte
schwer.
„Wir wollen zum Doktor“, sagte Lisa, um die
junge Dame zu beruhigen.
„Wir meinen: Arzt“, unterbrach Ralph sie.
„Oder hat Herr Baumgart einen Doktortitel?“ Er
beugte sich über die Ablage.
Die Helferin schüttelte nur den Kopf. „Zimmer
drei“, presste sie schließlich hervor.
„Was macht das für einen Unterschied?“ Empört
sah Lisa zu Ralph, als sie zum zugewiesenen
Zimmer unterwegs waren.
„Jede Info kann jetzt wichtig sein“, entgegnete er
trocken.
Als sie das Zimmer betraten, sahen sie einen
Mann, der nicht ganz nüchtern wirkte. Er war aber
nicht betrunken, er war gebrochen. Seine Augen
62
waren verständlicherweise rot. Er starrte apathisch
auf den flimmernden Bildschirm, der auf
Bildschirmschonermodus stand.
„Herr Baumgart“, versuchte Ralph den armen
Mann zurückzuholen. „Wir sind von der
Kriminalpolizei und würden Ihnen gerne ein paar
Fragen stellen …“ - keine Reaktion - „… bezüglich
Ihrer Frau“, fügte der Inspektor noch hinzu.
„Die Polizei war schon da, ich habe nichts mehr
zu sagen“, entgegnete der Arzt, ohne den Blick
vom Monitor zu nehmen. Es war noch ein alter,
kastenförmiger Bildschirm, der etwas deplatziert in
dem so modern eingerichteten Raum wirkte.
„Wir würden aber gerne noch einige Details
klären“, blieb Ralph hartnäckig. „Ihre Kinder
könnten auch in Lebensgefahr schweben.“ Dies
entsprach nicht ganz der Wahrheit, weckte aber in
Herrn Baumgart die Hilfsbereitschaft und natürlich
den elterlichen Beschützerinstinkt, was die zwei
Inspektoren bitter nötig hatten.
„Was wollen Sie wissen?“, fragte er sie, ins Leere
starrend, ohne sich zu ihnen umzudrehen,
63
geschweige denn, sie hereinzubitten.
„Wer ist diese Frau da auf dem Foto?“, begann
Lisa. Ralph hatte keine Chance, Lisa war
manchmal wie ein unerzogenes Kind, das seinen
Willen fast immer durchsetzen konnte und dauernd
losplapperte, wenn sie es für angemessen hielt.
„Meine Frau - nächste Frage?“ Er klang gereizt
und genervt. Lisa und Ralph fiel sofort die
Ähnlichkeit der beiden Opfer auf. Lisa blieb fast
die Luft weg.
„Hatte Ihre Frau heimliche Verehrer?“ Jetzt
nahm Ralph die Zügel in die Hand.
Der Arzt drehte sich abrupt zu den beiden um
und sprang auf. „Woher wissen Sie das? War er
das, war es dieses Schwein?“ Er sah jetzt wie ein
Irrer aus. Die braunen, kurz geschnittenen Haare
waren zerzaust, die Augen weit geöffnet, sie
strahlten nur Wut und Hass aus.
„Können Sie sich bitte beruhigen, wir wissen
noch gar nichts. Darum sind wir hier. Bitte bleiben
Sie da, wo Sie jetzt sind!“ Ralph war jetzt sehr
wachsam. ‚Ein verletztes Tier ist sehr gefährlich,
64
doch ein verzweifelter Mensch ist unberechenbar‘,
pflegte sein früherer Lehrer immer zu sagen.
Plötzlich ertönte eine schöne Melodie, es war
Lisas Smartphone. Sie ignorierte es, dann klingelte
es wieder. „Geh ran“, zischte Ralph leise. „Herr
Baumgart und ich werden uns schon mal setzen“,
sagte er freundlich und nickte diesem gemächlich
zu. Herr Baumgart beruhigte sich tatsächlich und
setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Lisa verließ die
beiden. Als sie auf das Display schaute, traf sie der
Schlag. Es war die unbekannte Nummer, die ihr
sehr bekannt vorkam und bei ihr eine Gänsehaut
verursachte. Sie erinnerte sich an diese Zahlen, es
war die Nummer, die Ralph von Petrowskis Handy
abgelesen hatte.
Sie zögerte zuerst, dann strich sie über das
Display und drückte es gegen ihr Ohr.
Es rauschte und piepte zuerst, dann hörte sie eine
verzerrte Stimme: „Hallo, du Hure, bist du allein
oder ist dein Stecher immer bei dir?“ Ihre Beine
knickten fast ein. Ihr Atem stockte, die Lunge
schmerzte. Trotz der Angst, die das Blut durch
65
ihren Körper jagte, sodass es in ihren Ohren
betäubend rauschte,
und der schlechten
Übertragung, kam ihr die Stimme sehr bekannt
vor.
„Na, hast dich wohl schon vollgepisst? Bist du
schon gespannt, was ich mit dir anstellen werde, du
elende Hure?“ Er lachte schallend.
„Unsere Frau Kommissarin
hat die Hosen
gestrichen voll. Übrigens, dein Freund ist …“, er
atmete impulsiv mit einem irrsinnigen Touch
Aufregung, dann fuhr er fort: “… kopflos in dich
verliebt!“ Er kreischte jetzt wie ein Geistesgestörter
und legte auf. Die abrupte Stille tat noch mehr weh
als sein verrücktes Gelächter. Lisa stand wie
paralysiert da, so als wäre ihre Kehle zugeschnürt.
Erst nach einer oder zwei Sekunden kam der
erlösende Schrei. „Neeein!“ Sie drückte schnell auf
die Anruftaste und tippte rasch mit zittrigen Fingern
auf die Rufnummer ihres Kumpels. „Geh ran,
komm schon, Andreas, nimm ab.“
Sie hörte Schritte von mehreren Menschen aus
zwei Richtungen auf sie zukommen. Sie hatte gar
66
nicht gemerkt, dass sie sich beim Gespräch in
einem der Behandlungszimmer eingeschlossen
hatte, und jetzt saß sie, mit dem Rücken gegen die
Tür angelehnt, auf dem Boden. Sie spürte einen
heftigen Stoß, die Tür knarzte, ein gellender
Schmerz jagte durch ihren Rücken. „Aua!“, schrie
sie unbewusst und krabbelte von der Tür weg.
„Was ist passiert?“ Es war Ralph, er stand noch
immer im Türrahmen, während Lisa am Boden saß
und ihren Rücken massierte. Er war kreidebleich,
genauso wie der Mann hinter ihm. Es war der
Zahnarzt, Lisa erkannte ihn aus der KakerlakenPerspektive nicht sofort. Er war noch weißer als
zuvor. „Ja“, meldete sich jemand am Telefon, Lisa
zuckte zusammen. Ohne die Störenfriede weiter zu
beachten, schnatterte sie los: „Andreas, du lebst!“
Es war eine Feststellung und keine Frage. Sie
atmete erleichtert aus. Die Kommissarin spürte,
wie sie von zwei starken Männerhänden unter den
Achseln gepackt und aufgehoben wurde. Ralph
schleifte sie auf eine Zahnarztliege. Doch Lisa ließ
sich nicht unterbrechen. „Andreas, hast du diese
67
Nummer geknackt?“ Ihr Atem normalisierte sich
wieder.
„Jep, die wurde durch ein Standard-Programm
geschützt, das nur die Nummern durchließ, die auf
seinem Handy abgespeichert und nicht blockiert
waren. Ich habe dann ...“
„Keine Einzelheiten“, unterbrach sie ihn
ungeduldig. „Worüber hast du mit ihm geredet?“
Lisas Stimme klang jetzt herrisch. „Hast du ihm
deine Adresse genannt?“
„N...nein, er klang ganz nnnett, er fragte mich
nur nach meiner Telefonnummer, sein Akku war
leer oder so …“ Ihr Kumpel stotterte fast schon
vor Aufregung. „Oh Scheiße, ich glaub, es ist
jemand in meiner Wohnung, bitte – neeiin …“
Dann ertönte ein hässliches Gurgeln.
„Wir sehen uns in der Hölle, du Hure!“ Wieder
diese bekannte hässliche Stimme.
„Nein, Andreas, nein …!“ Lisa weinte stumm.
„Was ist los, Lisa, wer war das?“ Ralph
versuchte sie zurückzuholen. Erst als der Zahnarzt
ihr etwas verabreicht hatte, wurde sie ansprechbar
68
– benommen, aber wahrnehmungsfähig. „Lisa, wer
– war - das?“ Der Inspektor machte nach jedem
Wort eine kurze Pause.
„Andreas ist tot!“ Sie schaute ihren Kollegen mit
müden, vor Tränen glänzenden Augen an. Die
Wimperntusche lief wie zwei schwarze Bäche über
ihr schönes Gesicht. „Er hat Andi umgebracht.“ Sie
schloss die Augen und fing an zu heulen, so richtig
bitter. Sie hatte gerade eben einen Menschen
verloren, den sie gut kannte. Das Schlimmste an
der ganzen Sache war aber: Sie war an seinem Tod
schuld. Sie allein.
„Wann, Lisa, sei jetzt professionell? Du darfst
nicht zu einem Waschweib mutieren. Bleib ein
Kriminalinspektor, Bulle, wenn es sein muss, aber
kein heulendes Mädchen!“ Er nahm ihr Gesicht in
seine Hände und starrte sie an. Die Worte drangen
zu ihr durch, er hatte recht, ihr Unterbewusstsein
sprach zu ihr, laut und deutlich: ‚Dein Partner hat
recht.‘ Sie wischte sich grob die Tränen aus den
Augen, nahm den Becher, der zur Mundspülung
bereit stand, und trank gierig daraus.
69
„So ist es gut“, lobte sie ihr Boss, sie auf dem
Rücken tätschelnd.
„Ralph, wir müssen zu Andreas´ Wohnung,
schick schnell jemanden dorthin. Der Perverse ist
gerade dort, er hat ihn …“, sie schluckte schwer
und kämpfte gegen die Tränen, „… er hat ihn
gerade eben getötet!“ Sie biss sich in die
Handkante und winselte leise.
…
70
Alle im AAVAA Verlag erschienenen Bücher sind
in den Formaten Taschenbuch und
Taschenbuch mit extra großer Schrift
sowie als eBook erhältlich.
Bestellen Sie bequem und deutschlandweit
versandkostenfrei über unsere Website:
www.aavaa.de
Wir freuen uns auf Ihren Besuch und informieren
Sie gern
über unser ständig wachsendes Sortiment.
Einige unserer Bücher wurden vertont.
Die Hörbücher finden Sie unter
www.talkingbooks.de
71
www.aavaa-verlag.com
72

Documents pareils