Leseprobe - Hildesheimliche Autoren

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Leseprobe - Hildesheimliche Autoren
THYNK-Leseprobe
Jens Volling
THYNK
XXX
Novelle
© Jens Volling
THYNK-Leseprobe
Kapitel 1
Joe Beatem flitzt gerade durch eine mit Millionen von bunten Luftballons gefüllte Minibar, in der er mit Frank Sinatra,
Elvis Presley und Michael Jackson Eishockey auf einer Sanddüne spielt, als es an der Tür klingelt und der 29-Jährige unsanft aus dem Schlaf gerissen wird. Er befreit sich aus der
Umklammerung seiner Snoopy-Bettdecke, setzt sich vorsichtig
auf und hält sich stöhnend den Kopf.
Dort hat sich nämlich über Nacht die Raubkatze Noble
eingenistet, missbraucht Joes Schädeldecke nun als Kratzbaum
und hämmert mit ihren Pranken im Rhythmus von seinem
Herzschlag gegen seine Schläfen – was von ihm mit einem gequälten »fuck« kommentiert wird.
Warum muss Bier bloß immer solch widerliche Nebenwirkungen haben? Die dröhnenden Kopfschmerzen, die furchtbare Übelkeit, das Schwindelgefühl – schrecklich.
Joe wird sich wohl nie daran gewöhnen – und trotzdem
das Saufen nicht lassen. Dafür ist der goldene Gerstensaft viel
zu wohlschmeckend, eisgekühlt hochgradig erfrischend und
vor allem wunderbar berauschend. Und auf diese Wirkung
will Joe auf keinen Fall verzichten.
Es klingelt erneut, diesmal schon etwas energischer.
Noble lässt ihre Krallen sprechen und Joe zuckt zusammen.
»Ja, verdammt!« Sein Blick verarbeitet die Wohnungstür zu
Kleinholz. »Ich hab’s gehört.« Anstatt jedoch aus dem Bett zu
steigen, verzieht er sein Mondgesicht zu einer angewiderten
Fratze und hält sich seine Wampe.
Wo gerade das Teufelchen Toby ein Bad in Joes Magensäure nimmt und ihm heftiges Sodbrennen beschert. Zudem klebt
ihm seine Zunge wie ein pelziger Klumpen am Gaumen – was
ihn zu einem weiteren »fuck« veranlasst.
Es klingelt zum dritten Mal, nun deutlich ungeduldig.
Nobles Krallen kennen kein Erbarmen.
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»Meine Fresse!«, ruft Joe mit immer schlechter werdender
Laune. »Ich komm‘ ja schon.« Er lässt seine Beine über die
Bettkante fallen, beugt sich nach vorne und steht auf. Sofort
versuchen Noble und Toby ihn zurück auf die Matratze zu
ziehen, schaffen es aber nicht; mit zitternden Knien bleibt er
stehen, in seinen Zehenspitzen ein schmerzhaftes Kribbeln.
Bevor es noch ein viertes Mal klingelt und Noble womöglich völlig ausrastet, setzt sich Joe in Bewegung. Einem Zombie aus einem Romero-Film gleich wuchtet er seinen untrainierten, auf lediglich 1 Meter 65 verteilten Doppelzentner
Körpergewicht in den winzigen Vorraum der 30 Quadratmeter kleinen Ein-Zimmer-Wohnung, wobei seine Füße bei jedem Schritt durch die Schmutzwäsche pflügen, die überall auf
dem Teppichboden verstreut herumliegt.
Der Waschsalon von Mary und Walter Ellison in der angrenzenden Oldmart Street wurde von Joe zuletzt vor einem
Monat, also Mitte November, aufgesucht.
Nach fünf beschwerlichen Metern hat er schließlich sein
Ziel erreicht und betätigt den Türöffner. Dann humpelt er ins
Treppenhaus und blickt über das Geländer nach unten.
Nick Ryder, der voller Elan die Stufen in den dritten Stock
hinaufsteigt und sich dabei Schnee von den Schultern klopft,
blickt nach oben.
Als sich ihre Blicke treffen, hebt Joe die Hand zu einem
müden Gruß, dreht sich um und schlurft zum Bett zurück.
Wie ein Boxer, den gerade ein Kinnhaken der Klitschkos getroffen hat, plumpst er auf sein Nachtlager.
Nick streift sich unterdessen Schneematsch von den Schuhsohlen, betritt den Vorraum und schließt die Tür hinter sich.
»Na, das wurde aber auch Zeit«, sagt der 28-Jährige. »Mein
kleiner Nicky ist ja schon ganz taub.« Er schält sich aus seinem
Mantel und hängt ihn an einen der rostigen Nägel, die neben
der Tür in der Wand stecken. »Hast du dich in deinem Palast
verlaufen oder warum hat das so lange … « Der 1-Meter-93© Jens Volling
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Mann hat den Wohnraum betreten und eine Dunstwolke ihm
den Atem verschlagen. »Du meine Güte«, ruft er aus und wedelt mit der Hand vor seiner Nase herum, »wann hast du
denn bitte schön das letzte Mal gelüftet? Da sind ja schon Flecken auf meiner Brille.«
Vor der südlichen Balkontür sieht er eine Pizzaschachtel
von Jeffrey’s auf dem Boden liegen und in dieser, von einer
Fliege umkreist, den Rest von Joes gestrigem Abendessen. Er
kann Salami und Jalapeños erkennen und dem Geruch nach
zu urteilen, hat Joe extra viel Knoblauch und noch mehr
Zwiebeln geordert – was auf Luzifer schließen lässt, die
Nummer 13 von Jeffrey’s. Um die Schachtel herum liegen
mehrere Bierdosen. Zwölf Stück insgesamt. Alle leer.
»Das erklärt natürlich alles«, seufzt Nick. »Großartig.«
Er schüttelt den Kopf und beginnt, vorsichtig über die
Schmutzwäsche hinweg zu steigen. In »Jäger des verlorenen
Schatzes«-Manier setzt er einen Fuß vor den anderen, immer
darauf achtend, auf keines der Kleidungsstücke zu treten.
Wobei er mit seinen 64 Kilo deutlich weniger Schaden als
sein übergewichtiger Freund anrichten würde.
Am Bett angekommen, beugt sich der gelernte Koch zu Joe
hinunter, wobei ihm sein rotblonder Pferdeschwanz über die
Schulter fällt. »Alles in Ordnung mit dir? Lebst du noch?«
Joe öffnet kurz sein linkes Auge. »Wie sieht’s denn aus?«,
nuschelt er.
»Nun, es sieht ganz danach aus, als hättest du gestern eine
kleine Party gefeiert. Oder ist das etwa eine neue Trainingsmethode?«
»Und wenn schon. Was kümmert’s dich?«
»Tja, es kümmert mich, weil ich einerseits dein Freund, andererseits aber auch dein Manager bin. Und als dein Manager
muss ich dir sagen, dass es mir gar nicht gefällt, wenn du dich
vor einem Match derart volllaufen lässt.«
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Joe dreht sich auf die Seite, in seinem Blick eine Mischung
aus Trauer und Wut. »Willste wiss’n, was mir nich’ gefällt?«
Er öffnet die oberste Schublade seiner Kommode, nimmt ein
gelbes Blatt Papier heraus und drückt es seinem Kumpel in
die Hand. »Wenn man mich ’n Idiot nennt!«
Bei dem gelben Papier handelt es sich um ein Infoblatt von
Cerebral Entertainment, das von Joes gestrigem Match gegen
El Lobo berichtet.
In der Aula der Frederic-Ruse-Highschool in der Woolweaver Street unterlag er dem Maskenträger mit 0:2. Er ist
damit der einzige Imaginat in Hill Town, der noch keinen Sieg
erringen konnte und demzufolge weiterhin in der Undercard
(der niedrigsten der drei Klassen des städtischen Rangsystems) antritt. Da es außerdem bereits Joes zwölfte Niederlage
war, prangte noch am selben Abend, keine zwei Stunden nach
Ende des Matches, die Schlagzeile »Joe Fool (als Verballhornung seines von Snoopy geliehenen Spitznamens) macht das
Dutzend voll« überall in der Fußgängerzone.
Nick hat das Infoblatt bisher noch nicht zu Gesicht bekommen und liest es sich nun aufmerksam durch, wobei er
über seinen Henriquatre streicht. Schließlich fragt er: »Deswegen betrinkst du dich?« und zieht die Augenbrauen hoch.
»Diese beiden Spinner machen sich doch ständig über euch
Imaginaten lustig und kleben dann ihre pseudojournalistischen Ergüsse an jede Litfaßsäule in der Innenstadt.
Niemand, den ich kenne, nimmt diese Schmierzettel ernst.«
»Toll«, brummt Joe, während er den Kopf unter seinem
Kissen vergräbt. »Und was is’ mit den Leuten, die du nich’
kennst?«
»Das weiß ich nicht. Und ehrlich gesagt interessiert es mich
auch nicht. Ich weiß nur, dass jeder, der Cerebral Entertainment ernst nimmt, entweder mit den Schreibern befreundet
oder geistig minderbemittelt ist.«
»Ich bin keins von beiden«, raunt Joe.
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»Das weiß ich doch. Ich möchte dir ja auch nur klar machen, dass du nicht auf alles hören darfst, was andere sagen.
Vor allem darfst du nicht alles gleich so persönlich nehmen.
Die Leute reden nun einmal gerne. Lass sie einfach reden.
Wichtig ist nur, dass du immer dein Bestes gibst und … «
»Mach ich doch!« Joe schmeißt sein Kissen quer durch den
Raum. »Ich geb’ mir immer Mühe. Trotzdem gewinn’ ich
nich’. Ich gewinn’ nie.« Er bekommt feuchte Augen. »Vielleicht … Vielleicht sollte ich ja lieber aufhör’n.«
»Wie bitte?!« Nick ringt nach Luft. »Den Teufel wirst du
tun! Gerade jetzt darfst du noch nicht einmal daran denken,
deine Stiefel an den Nagel zu hängen. In deiner momentanen
Situation wäre das die dümmste Entscheidung, die du treffen
könntest.«
»Und warum, wenn ich mal fragen darf?«
Nick hebt den Zeigefinger. »Weil die Spinner von CE dann
nämlich Recht hätten«, sagt er. »Wenn du jetzt das Handtuch
werfen solltest, wärst du wirklich der Idiot, als den sie dich
bezeichnen. Nur ein Idiot lässt sich schließlich von solch
dummen Sprüchen beeindrucken. Und du bist kein Idiot!«
Joe zuckt zusammen, als Noble ihm einen Prankenhieb an
die Schläfe verpasst.
»Ja, es ist richtig, dass du bislang noch keinen Erfolg verbuchen konntest, doch das ist völlig irrelevant. Entscheidend
ist nämlich nicht, wie oft du schon am Boden warst, sondern
einzig und allein die Tatsache, dass du niemals unten geblieben, dass du immer wieder aufgestanden bist. Du hast niemals aufgegeben, du hast immer weitergemacht, du hast stets
Kampfgeist bewiesen. Du hast dich wie ein wahrer Champion
verhalten.«
Bei dem C-Wort durchfährt es Joe wie ein Blitz. Er hebt den
Kopf und blickt zu seinem Trophäenregal, das über dem Fernseher an der westlichen Wand des Wohnraums angebracht,
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bis heute allerdings noch völlig leer ist. »Klar«, flüstert er und
seufzt, »wie ’n Champion.«
Nick sieht ebenfalls zu dem gold lackierten Holzbrett, das
auf zwei langen Nägeln aufliegt, hinüber. »Eines Tages«, sagt
er und deutet mit ausgestrecktem Arm auf das Regal, »wird
dort der Gürtel des City-Champions liegen. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Außerdem soll es ja eh keinen anderen
Zweck erfüllen, wenn ich mich nicht irre.«
»Ja, schon, aber … «
»Nichts aber!«, unterbricht Nick seinen Freund. »Nach deinem Eintritt in die Liga hast du dieses Regal extra als Podest
für den Champion-Gürtel gebaut. Und diesen Zweck wird es
auch erfüllen!«
Joe saugt zischend die Luft ein, als Noble erneut gegen ihn
austeilt.
»Du träumst doch schon seit deiner Kindheit davon, ein
Champion zu sein. Andauernd hast du dir Wrestling auf SIN
(Sports International Network) angesehen, den goldenen Gürtel des Weltmeisters bewundert und dir vorgestellt, ihn selber
um die Hüften zu tragen. Dann hast du die Kämpfe mit deinen Wrestling-Figuren nachgespielt und dich dabei wie ein
Superstar gefühlt. Und nun hast du in der Liga die Möglichkeit, wirklich einer zu werden. Denn du hast alles, was einen
erfolgreichen Imaginaten auszeichnet: Du hast Hirn, du hast
Herz und du hast Humor. All das zeichnet einen erfolgreichen
Imaginaten aus. Und du hast es. Du könntest es also ohne
Probleme bis ganz nach oben schaffen. Du musst deine Fähigkeiten nur richtig einsetzen. Und du musst vor allem an dich
glauben.«
»Ich glaub’ ja an mich«, sagt Joe. »Es is’ nur … Ach, ich
weiß auch nich’.«
»Aber ich weiß es. Und deswegen sage ich es dir jetzt zum
allerletzten Mal … « Nicks Miene verfinstert sich. »Zur Hölle
mit Cerebral Entertainment!« Er zerreißt das Infoblatt in kleine
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Stücke und wirft sie in die Luft; wie Schneeflocken sinken sie
zu Boden. »Ist dir denn nicht klar, warum sich diese beiden
Spinner ständig über euch Imaginaten lustig machen?«
»Keine Ahnung«, grummelt Joe. »Sag’s mir.«
»Weil sie frustriert sind. Weil sie sauer sind. Weil sie sich
darüber ärgern, dass sie immer wieder an den Aufnahmeprüfungen der Liga scheitern. Deswegen.«
Joe macht große Augen. »Stimmt«, sagt er, »die schaff’n
das echt nie.«
»So ist es. Und ihren ganzen Frust lassen sie dann an euch
Imaginaten aus. Besonders gerne an denen, die keine sonderlich positive Erfolgsbilanz aufweisen.«
»Dabei sind die selbst voll die Loser.«
»Eben!« Nicks Miene hellt sich wieder auf; sein Freund
scheint endlich zu begreifen. »Gary Lambino und der dumme
Jacob sind die wahren Verlierer. Und das weiß auch jeder.
Und deswegen nimmt sie auch niemand ernst.«
»Das … Das würd’ ja bedeuten … «
» … dass dich niemand für einen Idioten hält. Genau so ist
es. Und solange du stets dein Bestes gibst, wird dich auch in
Zukunft niemand für einen Idioten halten. Auch wenn du
nicht immer erfolgreich sein solltest.«
Diese Worte muss Joe erst einmal verarbeiten. Schweigend
starrt er auf den Boden und denkt nach. »Hast Recht«, sagt er
schließlich. »Wenn ich jetzt aufhör‘, bin ich auch voll der Loser. Ich mach’ weiter.«
»Na, Gott sei Dank«, sagt Nick hörbar erleichtert. »Du hast
es wirklich begriffen. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«
»Keine Panik. Ich tret’ an.« Joe setzt sich auf und fährt sich
mit den Händen durch seine kurzen, dunkelbraunen Haare.
»Will ja kein Loser sein.«
»Und das wirst du auch nicht«, sagt Nick.
»Vielleicht is‘ ja heut‘ auch mein Glückstag. Ich mein‘, es is‘
mein dreizehntes Match, es is‘ Freitag, der 13. – wer weiß … «
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Nick legt den Kopf schief. »Möchtest du vielleicht etwas
essen? Du siehst aus, als könntest du eine Kleinigkeit vertragen.«
Joe winkt ab. »Hab‘ kein’ Hunger«, sagt er.
»Soll ich dir vielleicht den Rest der Pizza aufwärmen?«
»Bloß nich‘. Ich krieg‘ kein’ Biss’n runter.«
»Gut, dann nicht. Doch ich glaube, du könntest dennoch
eine kleine Starthilfe gebrauchen. Moment, ich bin gleich wieder da.« Nick dreht sich um, steigt über Luzifer hinweg und
betritt durch den türlosen Durchgang in der westlichen Wand
die Küche.
Diese hat, wie auch Joes Klamotten, eine gründliche Reinigung nötig: Auf der klebrigen Arbeitsplatte stehen benutzte
Gläser neben Stapeln schmutzigen Geschirrs, pelziger Schimmel macht sich über ein angebissenes Sandwich her und in der
Spüle liegen zwei tote Fliegen. Die Luft ist nicht ganz so stickig wie im Wohnraum, riecht dafür aber etwas strenger.
Nick verzieht das Gesicht und hält sich die Hand vor den
Mund. »Gute Güte, hier sieht es ja immer noch aus wie im
Saustall. Wolltest du nicht endlich einmal Ordnung machen?«
»Ja, Mutter«, kommt es von Joe zurück.
Nick lacht amüsiert und geht vor dem Kühlschrank, eines
dieser klassischen, nostalgischen 50er-Jahre-Modelle, in die
Knie. Er öffnet den eierschalfarbenen Kasten und wirft, nachdem sich seine Augen an das grelle Licht in seinem Inneren
gewöhnt haben, einen aufmerksamen Blick hinein: In den drei
breiten Schubfächern unter dem Gefrierfach hat Joe seinen
Biervorrat, eine große Dose Würstchen, mehrere Flaschen Coca-Cola, Ravioli und zwei Gerichte für die Mikrowelle deponiert. In den Türfächern reihen sich, neben einzeln verpackten
Käsescheiben, einem angefangenen Stück Butter in Folie, zwei
Gläsern mit Marmelade (Erdbeer und Kirsche) sowie Apfelund Orangensaft im Tetrapack, insgesamt sieben Flaschen aneinander, die mit scharfen Saucen in verschiedenen Rottönen
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gefüllt sind. Sie tragen solch martialische Namen wie etwa
»Blood of Kali«, »Undying Flames« oder auch »Latino Heat«
und auf fast allen ihrer Etiketten ist ihr Schärfegrad in Scoville
angegeben.
»Immer wieder beeindruckend«, meint Nick angesichts
dieser Hexenküche. Für Joe allerdings wählt er eine DrittelLiter-Flasche Coke, geht mit ihr in den Wohnraum zurück und
hält sie seinem Freund an die Wange.
Joe zuckt zusammen, wobei ihm ein überraschtes »Whoa!«
entfährt. Schnell spürt er jedoch, wie die Kälte seine Kopfschmerzen etwas lindert und Noble ein wenig die Krallen
stutzt. Seufzend entspannt er sich wieder, nimmt seinem
Kumpel die Flasche ab und drückt sie sich gegen die Stirn, um
regungslos in dieser Position zu verharren.
Nick sieht derweil durch die fleckige Glasscheibe in der
Balkontür in die Wohnung von Joes Nachbarn Bobby Anderson hinüber.
Der hochgewachsene, sportliche Enddreißiger mit der Igelfrisur sitzt im Pyjama am Küchentisch, liest die aktuelle Ausgabe des Summit, der regionalen Tageszeitung, und trinkt seinen obligatorischen Morgenkaffee. Als er merkt, dass er über
den Innenhof hinweg beobachtet wird, winkt er Nick lächelnd
zu.
»Ein netter Mann«, sagt dieser, während er den Gruß erwidert, »findest du nicht auch?«
Joe blickt seinen Kumpel fragend an. Der sieht erneut zu
Mister Anderson hinüber. Joe folgt dem Blick. »Du meinst
Bobby? Ja, der is’ echt cool. Geht seit ’nem Jahr regelmäßig ins
Muscle-Buster-Fitnessstudio. Immer montags und mittwochs.
Hat schon 50 Kilo abgespeckt.«
»Und er scheint Kaffee zu mögen«, sagt Nick hinsichtlich
eines großformatigen Bildes, das neben Bobbys Kühlschrank
an der Wand hängt und eine Kanne sowie zwei Tassen inmitten eines Haufens von Kaffeebohnen zeigt.
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»Mögen? Der Typ is’ süchtig nach dem Zeug. >Kaffee ist
mein Geschäft< sagt er immer. Und erst neulich hat er sich so
’ne sauteure Maschine gekauft. Für 2.000 Dollar! Kannste dir
das vorstell’n?«
»Ja, sicher. Warum denn nicht? Manche Leute trinken nun
einmal gerne Kaffee. Und wenn man sich für eine Sache begeistert, dann gibt man auch gerne etwas mehr für sie aus. Bei
dir ist das übrigens nicht anders. Ich möchte nicht wissen, wie
viel du schon in Bier investiert hast.«
»Hey, da gibt’s aber fünf Prozent drauf«, grinst Joe und
bricht in ein heiseres Lachen aus, das schnell in ein keuchendes Husten übergeht. Als er sich wieder einigermaßen gefangen hat, öffnet er die Cola-Flasche und leert sie in einem hastigen Zug. Die süße, schwarze Flüssigkeit weckt seine Lebensgeister und beruhigt seinen Magen; Toby beendet sein Säurebad und Joes Sodbrennen schwächt zu einem kaum noch
merklichen Glimmen ab. »Das is’ besser«, seufzt er und gibt
einen lauten, langgezogenen Rülpser von sich.
»Na, dann nichts wie ab ins Bad mit dir«, fordert Nick seinen Freund auf. »Wir wollen Mister Munyard schließlich nicht
warten lassen.«
Joe stellt die Cola-Flasche auf die Kommode, steht ächzend
auf und marschiert los. Nach sechs kleinen Schritten stößt er
polternd die Tür zum Badezimmer auf und wankt hinein.
Nick räumt währenddessen ein wenig auf: Er klappt Joes
Bett wieder zu einer Couch zusammen, verstaut Kissen und
Decke im Bettkasten und legt die gesamte Schmutzwäsche
seines Freundes auf einen großen Haufen. Aus den leeren
Bierdosen baut er eine kleine Pyramide, die Pizzaschachtel mit
dem kalten Rest von Luzifer landet auf dem Balkon und Nick
selbst auf den rotbraunen Sofapolstern, von wo aus er Bobby
Anderson dabei beobachtet, wie er sich eine weitere Tasse
Kaffee einschenkt und sich danach wieder seiner Zeitung zuwendet.
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Nachdem Joe seine Morgentoilette beendet hat, verlässt er
das Bad (das direkt an die Küche grenzt) und geht in den
Wohnraum zurück – wo er verwundert stehenbleibt. »Wow.
Was’n hier passiert?«
»Ich gebe zu«, sagt Nick, »es ist ein ungewohntes Bild.
Doch keine Sorge. Wie ich dich kenne, wird hier schon bald
wieder das Chaos herrschen.«
Joe nickt seinem Kumpel lächelnd zu, öffnet seinen Kleiderschrank (der im Vorraum steht) und zieht sich um. Als er
fertig ist, greift er sich die braune, abgewetzte Jacke mit den
etwas zu langen Ärmeln sowie die Umhängetasche und verlässt die Wohnung.
Nick steht auf, schlüpft in seinen Mantel und folgt seinem
Freund.
Die beiden gehen das Treppenhaus hinunter, treten auf die
schmale, verschneite Miner Street hinaus und steigen in Nicks
feuerroten Dodge Challenger, Chrissy genannt, der/die nur
wenige Meter entfernt steht.
»Also los«, sagt Joe und schnallt sich an. »Bringen wir’s
hinter uns.«
»Immer positiv denken«, meint Nick, »dann wirst du es
schon schaffen.« Er startet den Motor und lässt ihn aufheulen.
»Let’s ride!«
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Kapitel 2
Eine Viertelstunde später – es ist jetzt kurz vor 12 Uhr mittags – parkt Nick seinen Wagen im zum Shopping Court gehörenden Parkhaus in der Tanner Street.
Von dort aus geht es weiter in südlicher Richtung in die
Cinnamon Street, vorbei am Haupteingang des Falcon Hotels.
Neben der doppelflügeligen Glastür informieren zwei mannshohe Aufsteller die Passanten darüber, dass der russische
Bestsellerautor Juri Romaneskow zu Gast ist und es morgen
Nachmittag eine Signierstunde seines neuen Romans in der Filiale der Centius-Buchhandlung am Highway Boulevard geben wird.
Als glühender Verehrer der Werke Romaneskows (»Gottes
Schöpfer« liest er mittlerweile zum dritten Mal) hat sich Nick
diesen Tag natürlich rot im Kalender angestrichen.
Momentan jedoch macht er sich darüber keine Gedanken,
denn in diesem Augenblick betreten die beiden langjährigen
Freunde den historischen Marktplatz der Stadt.
Links von ihnen befindet sich der Seiteneingang des Falcon
Hotels. Rechts von ihnen, an der Westseite des Marktes, erhebt sich das Bonebash Building, ein imposantes Fachwerkhaus, welches teilweise als Café und teilweise als Museum genutzt wird; es wurde ohne einen einzigen metallenen Nagel
oder Winkel errichtet und seine Fassade ist mit aufwändigen,
farbenprächtigen Schnitzereien verziert.
Ihr gegenüber, 50 Meter entfernt, steht das Rathaus von
Hill Town. Der 25 Meter hohe und 31 Meter breite Sandsteinbau hat eine dreiteilige, gotische Fassade. Der Mittelteil wird
durch einen hohen Treppengiebel gekrönt. Die rechte Seite
verfügt über zwei spitze Giebel, während die linke Seite mit
einem Glockenspiel geschmückt ist. Ein Arkadengang erstreckt sich ebenerdig zum Marktplatz offen über die Front
des Hauses. In der Mitte der Arkade führt ein zweiseitiger
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Treppenaufgang in die Rathaushalle, darunter steigen steile
Stufen in den Rathauskeller hinab.
Ebenfalls erwähnenswert ist das Temple House, das wie
ein Patrizierhaus im frühgotischen Stil erbaut wurde, zusätzlich aber über einen Renaissance-Erker verfügt. Es steht an der
Südseite des Marktes, links neben dem Eingang zur Jew Street,
und beherbergt eine kleine Buchhandlung.
Von all diesen Gebäuden flankiert, findet in diesen Tagen
(nach deutschem Vorbild) der alljährliche Weihnachtsmarkt
statt: Festlich geschmückte Buden, kunsthandwerkliche und
gastronomische Stände, führen in einem großen Carré um den
in der Mitte des Platzes stehenden Brunnen herum; die Besucher laben sich an allerlei süßen und herzhaften Leckereien
oder besorgen Geschenke für ihre Liebsten, während von
überall her Weihnachtsmusik erklingt.
Zusätzlich sorgt ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm für Unterhaltung: So wird zum Beispiel Alec Feather
morgen im Arkadengang des Rathauses mit seiner Kettensäge
Figuren aus Holzblöcken zaubern. Heute noch (Nick freut sich
schon sehr darauf) wird Juri Romaneskow im Glühweinstand
von Joaquín aus seinem neuen Buch »Judas der Erlöser« vorlesen. Und gleich wird Joe ein Match vor dem Brunnen bestreiten.
Wo in den letzten Jahren immer eine Kindereisenbahn ihre
ovalen Runden drehte, wird aufgrund von Reparaturarbeiten
an dem Schienenfahrzeug diesen Dezember der Platz für Imaginaten-Kämpfe genutzt. Zu diesem Zweck wurde der etwa
sechs Meter lange und drei Meter breite Bereich mit einem
Absperrgitter umzäunt und neben der Arena ein Klapp- sowie
ein Hochstuhl aufgestellt. An Letzterem wird vor jedem
Kampf ein Schild angebracht, das die Erfolgsstatistiken der
jeweiligen Kontrahenten zeigt.
Demnach hat Joes heutiger Gegner, im Gegensatz zu ihm,
zwar erst acht Matches bestritten, davon aber schon zwei ge© Jens Volling
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winnen können, und somit der Midcard bereits zwei kurze
Besuche abgestattet.
Keine leichte Aufgabe also für Joe.
Auf dem Weg zur Arena fallen ihm zwei Mädchen auf, die
tuscheln und kichern, als sie ihn sehen (Joe nennt sie Kichererbsen). Ein junger Mann hat ein gelbes Plakat dabei, auf dem
»0:13« steht. Und ein anderes Mädchen nennt ihn gar bei seinem von Cerebral Entertainment verliehenen Spottnamen, als
sie zu ihrem Freund sagt: »Da ist ja unser Mister Fool.«
Es ist Joe überdeutlich anzusehen, dass ihm nicht gefällt,
was er da hört. Er will den Leuten gerade eine passende Antwort an den Kopf werfen, als Nick ihn am Arm packt und zu
sich heranzieht. »Sei bloß still«, flüstert er ihm ins Ohr. »Du
darfst nicht auch noch Öl ins Feuer gießen. Lass sie einfach reden und konzentriere dich lieber auf dein Match.«
Obwohl es ihm äußerst schwer fällt, verkneift sich Joe jedes
weitere Wort und trottet schweigend, dafür aber mit äußerst
grimmiger Miene neben seinem Kumpel her – was diesen erleichtert aufatmen lässt, da Nick sehr genau weiß, dass seinem
Freund schnell der Kragen platzen und er dann ganz schön
ausfallend werden kann.
Ein fetter Typ mit ungepflegten roten Haaren und einem
Streuselkuchengesicht schält sich aus der Menge, stellt sich
vor Joe und hält ihm ein Diktiergerät vor die Nase. »Jacob
Reggan, CE-News. Wie fühlen Sie sich kurz vor Ihrer dreizehnten Niederlage in Folge?«
Joe ist im ersten Moment so verblüfft, dass er gar nicht realisiert, wen er da vor sich hat und was die Person mit ihrer
Frage aussagen will. Als er es aber endlich begreift, steigt ihm
die Zornesröte ins Gesicht. Er ballt die Fäuste und sein linkes
Bein beginnt zu zittern.
Nick rutscht das Herz in die Hose. Bis jetzt hat sich sein
Freund ja erstaunlich gut unter Kontrolle gehabt, aber diese
Provokation könnte letztlich doch zu viel für ihn sein. Er hofft
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inständig, dass es Joe allerhöchstens bei ein paar üblen Beleidigungen belässt, falls ihm jetzt doch noch der Kragen platzen
sollte.
Einmal ist ihm nämlich schon die Hand ausgerutscht: Vorherige Woche verpasste er seinem Cousin Timothy eine derart
schallende Ohrfeige, dass sie in der ganzen City Library (in
der Jew Street) deutlich zu hören war.
Timothy Beatem (auch Timothy B. genannt) ist drei Jahre
jünger als Joe, ebenfalls Imaginat, momentan in der Midcard
und tritt unter dem Namen T-Mo an. Er und sein Cousin verstehen sich nicht sonderlich gut und kriegen sich bei jeder Gelegenheit in die Haare. Wenn das Regelwerk der Liga nicht
besagen würde, dass Familienangehörige nicht gegeneinander
antreten dürfen, hätten sie ihre Streitigkeiten schon längst in
einem offiziellen Match beigelegt. So allerdings werden sie zu
den unpassendsten Zeiten an den unpassendsten Orten ausgetragen.
Wie vergangenen Freitag, als Joe und Nick in der Kinderecke mal wieder in Snoopy-Büchern schmökern wollten, wie
sie es früher nach Schulschluss oft getan haben. Joe hatte am
Mittag gegen Sam Sation verloren und benötigte daher etwas
Aufmunterung.
Und er hätte sie auch bekommen, wäre nicht Timothy zu
ihnen gestoßen. Er schien seinen Cousin zu verfolgen, da er
sich normalerweise nie in die Bibliothek verirrt. Doch egal, ob
Absicht oder Zufall, begann er sofort damit, Joe mit seinem
jüngsten Erfolg, dem Sieg über Axel Lance und dem damit
verbundenen Aufstieg in die Midcard, aufzuziehen: Ich habe
gewonnen, du noch nie, ich bin besser als du – das Übliche
halt. Man hätte fast meinen können, Timothy würde für Cerebral Entertainment arbeiten.
Joe hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine einzige Zeile gelesen und war dementsprechend angepisst. Mit viel zu lauter
Stimme forderte er seinen Cousin auf, die Fresse zu halten,
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doch Timothy gab keine Ruhe. Er ließ weitere Sticheleien vom
Stapel.
Und dann knallte es.
Timothys Kopf flog zur Seite und Joes Cousin taumelte gegen ein Regal. »Der kleine Hobbit« fiel heraus und traf ihn an
der Schulter. Ein 4-jähriges Mädchen, das den Streit mit ansehen musste, fing an zu weinen. Bevor jedoch eine handfeste
Schlägerei ausbrechen konnte, wurden Joe und Timothy vor
die Tür gesetzt und bekamen ein 6-monatiges Hausverbot
aufgebrummt.
Nicks Sorge ist also durchaus berechtigt, als er ein stilles
Gebet zum Himmel schickt, sein Freund möge sich doch bitte
wieder beruhigen und nichts Unüberlegtes tun.
Und anscheinend hat Gott heute seine Spendierhosen an.
»Ich werd‘ nich‘ verlier‘n«, zischt Joe. Er muss sich unglaublich zusammenreißen, um nicht der Versuchung zu erliegen, Jacob gleich hier und jetzt den Kopf mitsamt Wirbelsäule vom Körper zu reißen. Aber er schafft es irgendwie. Innerlich immer noch kochend, lässt er Jacob einfach stehen und
geht weiter.
Nick fällt ein Stein vom eben wieder in seine Brust zurückgekletterten Herzen. Er hatte Joes Faust schon auf Jacobs Nase
treffen gesehen – wozu es ja zum Glück nicht gekommen ist.
Joe hat seine Aggressionen auch weiterhin im Griff. Es hat den
Anschein, als ob er niemandem eine Möglichkeit geben will,
irgendetwas Schlechtes über ihn sagen zu können – schon gar
nicht den Jungs von Cerebral Entertainment. Nick jedenfalls
ist sehr stolz auf seinen Freund. Vor allem aber ist er erleichtert. Er ist dermaßen erleichtert, dass es ihm nur schwer gelingt, eine ernste Miene aufzusetzen, als er Jacob sanft aber bestimmt zur Seite schiebt, um seinem Freund zur Arena zu folgen.
Dort wird Joe schon von Tom Wright, einem dicklichen
ALC-Mitarbeiter mit Halbglatze und Schnauzbart, der wie ein
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Tiger im Käfig innerhalb des Gitters auf und ab geht, erwartet.
Als er von seiner Armbanduhr auf- und Joe erblickt, entspannen sich seine Gesichtszüge – zumindest ein wenig.
»Ah ja, Beatem, da sind Sie ja.« Er tritt ans Gitter heran und
zieht dabei ein mobiles Kartenlesegerät mit Zahlentastenfeld
aus seiner Jackentasche.
Ohne ein weiteres Wort fischt Joe seine ALC-Card aus seinem Portemonnaie, schiebt sie in das Lesegerät und tippt seinen Code 9-6-5-3 ein, um sich für das Match anzumelden.
Das rote Lämpchen über dem Zahlenfeld wird grün und
Wright gibt Joe seine Karte zurück. »Danke, Mister Beatem«,
sagt er. »Sie kämpfen übrigens in der roten Ecke.« Er deutet
auf ein rotes Tuch, das an der östlichen, dem Brunnen zugewandten Seite der Arena am Gitter hängt.
»Alles klar«, sagt Joe. »Und wo is‘ P-Man?«
In diesem Moment tritt Patrick Munyard, besser bekannt
als Patricius der Straßenphilosoph, hinter der Bratwurstbude
der Firma Bright Peak hervor. Der kauzige Obdachlose hat
sich eine Toga über die Winterjacke geworfen und zieht einen
Bollerwagen hinter sich her, in dem er seine Utensilien transportiert. Vor der Westseite der Arena trifft er auf seinen Gegner.
»Gegrüßt seid ihr alle«, ruft er ihm und den Leuten zu,
wobei er seine lückenhaften Zahnreihen entblößt. »Nun aber
fort mit diesem fetten Typen, damit ich meinen Kontrahenten
auch sehen kann. Er muss wohl irgendwo hinter ihm stehen.«
»Haha«, ist Joes kaltschnäuzige Antwort, »sehr witzig.«
»Die Schicksalsgöttin scheint mich übervorteilen zu wollen.
Gibt es denn keine richtigen Gegner mit Stil und Noblesse
mehr für mich?«
»Ich zeig‘ dir gleich mal Noblesse, Sportsfreund. Noblesse
in die Fresse!«
»Gentlemen, bitte«, sagt Wright, »sparen Sie sich die Energie lieber für das Match auf.« Er wendet sich an Munyard, um
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auch ihn sich anmelden zu lassen und ihm seine Ecke zuzuweisen. Danach schiebt er ein Gitterelement zur Seite und lässt
beide Kontrahenten sowie Nick die Arena betreten, während
knapp ein Dutzend Zuschauer sie umstellen. Er selber geht
zum Hochstuhl, unter dem ein Aluminiumkoffer steht, der
mit »Eigentum der American League of Creativity« (ALC) beschriftet ist. Wright öffnet ihn und legt das Lesegerät hinein.
Stattdessen nimmt er zwei Fähnchen heraus, ein rotes und ein
blaues, eine schwarz-weiß gestreifte Baseballkappe, die er
auch gleich aufsetzt, und ein Mentalith-Amulett.
Dabei handelt es sich um eine Kette, an der ein etwa kastaniengroßer, kugelförmiger, geschliffener Kristall hängt, ähnlich einem Diamanten.
Dann blickt Wright zur Bratwurstbude hinüber und ruft:
»Terry, es geht los!«
Der indianisch-stämmige Terence Whitehorse unterbricht
seinen Flirt mit der Wurstverkäuferin Madison und eilt zu
seinem Kollegen. Er nimmt ihm das Amulett ab, hängt es sich
um den Hals und setzt sich auf den Klappstuhl. Whitehorse
wird im folgenden Match nämlich als Medium fungieren. Das
bedeutet, dass er mit Hilfe des Mentalith-Kristalls die Gedanken eines Imaginaten lesen und die Bilder, welche er in seinem
Geist erzeugt, in die Köpfe seines Kontrahenten und aller anderen Anwesenden projizieren wird.
So können alle sehen, was sich der Imaginat ausgedacht
hat.
Und sein Gegner sogar fühlen.
Wright klettert derweil auf den Hochstuhl, die beiden
Fähnchen in den Händen, um das Match als Schiedsrichter zu
leiten.
»Jetzt wird’s ernst«, sagt Joe und sieht seinen Kumpel an.
»Keine Sorge«, antwortet der und erwidert den Blick, »du
wirst es schon schaffen. Du musst nur immer daran denken,
was ich dir gesagt habe. Lass dich nicht vom Publikum ablen© Jens Volling
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ken. Du darfst nicht auf das hören, was sie sagen. Konzentriere dich nur auf deinen Gegner, dann wirst du auch ein gutes
Match abliefern.« Nick gibt seinem Freund einen Klaps auf
den Rücken. »Viel Erfolg.«
Joe entledigt sich seiner Tasche und seiner Jacke und hängt
beides über das Gitter.
»Das solltest du vielleicht lieber lassen«, meint Nick. »Du
könntest dich erkälten.«
»Keine Panik«, beruhigt Joe seinen Kumpel. »Wird schon
nix passier‘n. Mein Pullover is‘ warm genug.«
Patricius stellt währenddessen seinen Bollerwagen ab und
fixiert ihn mit zwei Holzkeilen. Im Gegensatz zu seinem Gegner lässt er seine Jacke an. Und natürlich seine Toga – schließlich ist er der Straßenphilosoph.
Und als der große Zeiger der Rathausuhr auf die zwölf
springt und das Glockenspiel in der linken Frontseite des Gebäudes »Greensleeves« intoniert, ist es endlich soweit: Das
Match beginnt.
Wright erhebt seine Stimme: »Meine Damen und Herren,
ich darf Sie wieder einmal zu einem Undercard-Match auf unserem schönen Marktplatz begrüßen. Lassen Sie mich Ihnen
an dieser Stelle die Kontrahenten vorstellen.« Er streckt seinen
Arm aus. »Zu meiner Rechten, in der roten Ecke, sehen Sie Joe
Beatem, auch bekannt als Joe Cool.«
Die Zuschauer spenden ihm verhaltenen Applaus, auch ein
Buhruf ist zu hören. Der Typ mit dem »0:13«-Plakat hält es in
die Höhe und die beiden Kichererbsen sind schon wieder am
Kichern. Wie sollte es auch anders sein?
Joe lässt sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen. Er hat
nur Augen für seinen Gegner – so wie es Nick ihm gesagt hat.
»Und zu meiner Linken«, setzt Wright die Vorstellung der
Kontrahenten fort, »in der blauen Ecke: Patricius der Straßenphilosoph.«
Wieder nur verhaltener Applaus, teilweise sogar Gelächter.
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Patricius verbeugt sich trotzdem.
»Den folgenden Kampf gewinnt der Imaginat, der zuerst
zwei Punkte erringt. Das Medium ist Terry Whitehorse. Terry
wird jetzt auch gleich eine Münze werfen, damit wir herausfinden, wer die erste Runde eröffnet. Beatem, Sie haben Kopf.
Munyard, Sie demzufolge Zahl. Terry, darf ich bitten?«
Whitehorse holt eine Dollarmünze aus der Hosentasche
und schnippt sie in die Luft. Er fängt sie wieder auf, klatscht
sie auf seinen Handrücken und verkündet das Ergebnis:
»Zahl.«
»Munyard, legen Sie los!«
»Nun gut«, sagt Patricius und reibt sich die Hände, »setzen
wir diesem Zeitpunkt den Stempel des Kampfbeginns auf.«
Der Mentalith-Kristall beginnt zu glitzern, als Whitehorse
sich auf die Gedanken des Straßenphilosophen konzentriert.
Dieser startet seine erste Offensive damit, dass er ein großformatiges Plakat, welches er aus seinem Bollerwagen zieht,
vor Joes Füßen auf dem Boden ausrollt; es zeigt die Luftaufnahme einer Eisscholle inmitten azurblauen Wassers. Dann
fordert er Joe auf, sich auf das Plakat zu stellen, genau auf die
Scholle. Als Joe der Aufforderung nachgekommen ist (er muss
es tun, da er sonst disqualifiziert wird), reicht ihm Patricius
die Hand.
»Gestatten, Patrick Munyard der Name. Aber man nennt
mich auch Patricius den Straßenphilosophen. Du weißt schon,
ich kümmere mich nicht um den Rest der Welt, ich verachte
sie, ihre Menschen, und drücke das in teils humorvollen und
wahrheitsschwangeren Gedichten und Sprüchen aus. Mein
Lieblingsessen sind diese kleinen grünen Dinger, die man
häufig auf der Straße findet. Man kocht sie bei großer Hitze
etwas auf und erhält einen wunderschönen … «
»Munyard«, unterbricht Wright den Straßenphilosophen,
»worauf wollen Sie hinaus?«
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Patricius blickt zum Schiedsrichter hinauf und breitet die
Arme aus. »Ich breche das Eis!«
Joe hört ein Knacken, ein Knirschen. Er sieht nach unten
und bemerkt einen kleinen Riss in der Scholle, der schnell länger und größer wird. Schließlich bricht sie entzwei und Joe
fällt in das Wasser. Geistesgegenwärtig kann er sich am Kopfsteinpflaster festkrallen, so dass er nur bis zur Brust eintaucht.
Dennoch verschlägt ihm die Kälte den Atem.
Sofort ist Nick bei ihm, greift sich Joes Arm und zieht seinen Freund aus dem Loch heraus. Er will ihm auf die Beine
helfen, doch Joe entgleitet seinem Griff und fällt zu Boden, wo
er zusammenkrümmt liegen bleibt und am ganzen Körper zu
zittern beginnt.
Die erste Offensivaktion von Patricius ist also ein voller Erfolg und das Publikum, das deutlich Joes Zähneklappern hören kann, ist entsprechend begeistert. Während Patricius das
Plakat wieder in seinem Bollerwagen verstaut, bekommt er
von ihnen nun schon deutlich mehr Beifall als noch bei seiner
Vorstellung. Sie scheinen langsam aufzutauen – ganz im Gegensatz zu Joe.
»Mister Beatem«, meldet sich Tom Wright von oben, »Sie
sind am Zug.«
Doch Joe ist momentan nicht zu einer eigenen Offensive in
der Lage. Er liegt weiterhin zusammengekrümmt und zitternd
am Boden. Auch wenn er schon wieder vollkommen trocken
ist (die Mentalith-Vision endete schließlich mit der Offensive
von Patricius), ist ihm noch immer kalt.
Da sieht man mal wieder, wie sehr einem etwas, das sich
nur im Geist abspielt, auch körperlich zusetzen kann.
»Mister Beatem, wir warten.«
Nick möchte seinem Freund helfen, weiß nur leider nicht,
wie er das anstellen soll – immerhin ist die Kälte, die Joe empfindet, nur psychischer Natur. Was soll er also tun?
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»Mister Beatem, Sie haben noch dreißig Sekunden. Dann
geht der Punkt in dieser Runde an Ihren Gegner.«
Nick wird nervös. »Hast du das gehört, Joe? Du musst aufstehen!«
»Ich k-k-k-kann nich‘.«
»Du musst aber!« Er fasst Joe unter die Arme und schafft
es, ihn zumindest auf die Knie zu hieven. »Hoch mit dir!«
»Mir is‘ so k-k-k-kalt.«
»Wir haben aber nicht mehr viel Zeit! Du solltest dir lieber
ganz schnell ein paar warme Gedanken machen, sonst wirst
du diese Runde noch verlieren!«
Joe wird von einem Geistesblitz getroffen. Jetzt weiß er, mit
welcher Defensivaktion die Kälte besiegt werden kann. Er
schließt die Augen und denkt an Jennifer Lopez, …
»Noch zwanzig Sekunden.«
… am Strand, …
»Noch zehn Sekunden.«
… im Bikini!
»Fünf Sekunden.«
Und kaum, dass er J.Los Hintern vor seinem geistigen Auge sieht, spürt er, wie sein Körper sich erwärmt, als hätte er
einen großen Schluck Whiskey genommen, und aufhört zu zittern. Ohne mit den Zähnen zu klappern steht Joe wieder auf –
nur leider zu spät.
»Die dreißig Sekunden sind vorbei«, verkündet Wright.
»Beatem, Sie sind disqualifiziert. Munyard, der erste Punkt in
diesem Match geht an Sie.« Er streckt seinen linken Arm aus
und hält das blaue Fähnchen in die Höhe.
»Mit der Hitze eines Sieges vor Augen, lässt man alle Eispanzer bersten! Tochter aus Elysium, dir schenke ich meinen
Sieg!«
Die Zuschauer freuen sich mit Patricius, klatschen ihm Beifall – und machen sich gleichzeitig über Joe lustig. Die Kicher-
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erbsen lachen nun hämisch und Jacob Reggan sagt: »Joe Cool
vom Straßenphilosophen kaltgestellt – das gefällt mir.«
Doch Joe hört gar nicht hin. Im Augenblick gilt seine Aufmerksamkeit einzig und allein dem Schiedsrichter. »Willste
mich verarsch’n?«, ruft er ihm zu. »Das war doch noch voll in
der Zeit!« Er macht einen Schritt auf den Hochstuhl zu, wird
aber von Nick am Arm gepackt.
»Halte dich bloß zurück«, rät er Joe. »Du darfst dich auf
keinen Fall mit den Offiziellen anlegen, da wirst du immer
den Kürzeren ziehen.« Und an Wright gewandt sagt er: »Bitte
entschuldigen Sie die Wortwahl meines Klienten, er ist nur ein
wenig aufgebracht.« Nick setzt sein freundlichstes Schwiegersohn-Lächeln auf. »Was er damit eigentlich sagen möchte, ist,
ob Sie Ihre Entscheidung vielleicht nicht noch einmal überdenken wollen. Ich meine nämlich auch, dass … «
»Die Entscheidung steht«, würgt Wright ihn ab.
»Und ich auch«, fügt Joe trotzig hinzu.
»Sei jetzt bitte still«, mahnt Nick seinen Freund zur Ruhe.
»Hören Sie lieber auf Ihren Manager, Mister Beatem. Noch
ein Wort und Sie verlieren das ganze Match.«
Diese Drohung zeigt Wirkung; Joe hält seinen Mund.
»Die dreißig Sekunden waren vorbei, Sie haben die Runde
verloren, der Punkt geht an Patricius. Es steht eins zu null.
Und jetzt will ich nichts mehr hören.« Er blickt zu Munyard
hinüber. »Sie haben die Runde gewonnen, Sie machen weiter.«
Zähneknirschend zieht sich Joe in seine Ecke zurück. Er ist
mit der Entscheidung des Offiziellen ganz und gar nicht einverstanden. Seiner Meinung nach war er rechtzeitig wieder
auf den Beinen und hätte seine Offensivaktion starten können.
Doch der Schiedsrichter sieht das anders.
»Lass es gut sein«, sagt Nick. »Es hat keinen Sinn, sich noch
weiter darüber aufzuregen. Bereite dich lieber auf die nächste
Aktion von Patricius vor. Das ist jetzt wichtiger.«
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Joe hätte zwar noch einige Flüche für Wright auf Lager,
verkneift sie sich aber. »Is‘ okay«, sagt er stattdessen und
schluckt seinen Ärger hinunter.
Normalerweise hätte er eine hitzige Diskussion mit dem
Schiedsrichter angefangen, ihn angeschrien und beschimpft.
Aber nicht heute. Aus irgendeinem Grund haben Nicks Worte
heute eine besondere Wirkung auf ihn. Für seine Verhältnisse
ist er viel ruhiger als sonst, viel gelassener – was ihm heute
schon viel Ärger und höchstwahrscheinlich auch ernsthafte
Konsequenzen erspart hat.
Nicht so wie letzte Woche.
Und wer weiß, ob es ihm vom Schicksal nicht vielleicht
noch gedankt wird.
Runde zwei.
Patricius greift in seinen Bollerwagen und fördert ein Einmachglas zu Tage, in dem ein Plastikmoskito an der Spitze eines am Boden festgeklebten Kunststoffdorns befestigt ist. Der
Straßenphilosoph stellt das Glas vor sich auf den Boden und
betrachtet die winzige Narbe an seinem rechten Zeigefinger,
die er sich gestern beim Öffnen einer Konservendose zugezogen hat.
»Lass mich dir eine Geschichte erzählen«, ruft er Joe zu –
und übertreibt maßlos: »Gestern wäre ich glatt vor meinen
Schöpfer getreten. Meiner Grundnot der Nahrungsversorgung
nachkommend, zog ich mir beim Öffnen einer Dose italienischer Teigtaschen eine tiefklaffende Wunde zu. Schon leicht
benommen und schwarz vor den Augen war mir. Eine riesige
Lache aus Blut breitete sich auf dem Boden aus. Die Schmerzen und der Wundbrand waren unerträglich.«
Der Moskito in dem Glas beginnt sich zu verändern; er
gewinnt an Masse und Volumen und wechselt dabei Form
und Farbe. Schließlich ist das ganze Glas mit einer grauen,
wabernden Masse gefüllt, die immer weiter wächst. Dann zer-
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springt das Glas mit einem lauten Knall in tausend Scherben,
und der graue Klumpen wird immer größer.
Mit offenen Mündern beobachten die Menschen im Publikum, wie dem inzwischen einen Meter hohen und anderthalb
Meter langen Klumpen Beine wachsen, vier Stück insgesamt.
Außerdem ein Kopf und zwei Ohren. Und ein Rüssel.
Schlussendlich steht in der Arena ein Babyelefant.
»Darf ich vorstellen«, sagt Patricius, während er dem Tier
den Rücken streichelt, »das ist Quentin!«
Die Zuschauer klatschen beeindruckt Beifall. »Oh, ist der
süß«, jauchzt eine der Kichererbsen.
»Und jetzt … « Patricius zeigt mit dem Finger auf Joe. »Los,
Quentin, Angriff mit Rüsselschuss!«
Der Elefant hebt seinen Rüssel und eine winzige Flamme
schießt heraus, wie bei einem Feuerzeug. Sie wird schnell größer und wächst zu einer Feuerkugel mit einem Durchmesser
von einem halben Meter an. Dann lässt Quentin seinen Rüssel
nach vorne schnellen und schleudert Joe die Kugel entgegen.
Joe sieht das flammende Geschoss auf sich zu fliegen. Ihm
bleibt nur wenig Zeit zu reagieren. Er muss sich jetzt ganz
schnell etwas einfallen lassen, sonst wird ihn die Feuerkugel
treffen – doch was soll er tun?
»Oh, Mann«, seufzt er angesichts dieser scheinbar ausweglosen Situation, »am liebsten wär‘ ich jetzt … «
Unsichtbar! Das ist es!
Joe schlägt die Hacken einander, presst die Arme an den
Körper und kneift die Augen zusammen. Völlig regungslos
steht er da – und löst sich auf. »Wenn ich nix seh‘, sieht man
mich auch nich‘«, hat er als Kind immer gedacht. Doch erst in
der ALC funktioniert dieser Trick – Mentalith sei Dank.
Die Feuerkugel durchschießt die Wolke, die Joe bei seinem
Verschwinden hinterlassen hat, und zerplatzt am Gitter dahinter. Quentin verwandelt sich in einen Moskito zurück und
Patricius legt das Einmachglas wieder in seinen Bollerwagen.
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»Traurigkeit übermannt mich«, sagt der Straßenphilosoph.
»Es ist kein Scherz. Fast bleiern wiegt der Schmerz über Niederlage und Verlust in meinem Herz.«
Joe materialisiert sich wieder in der Arena – und bekommt
Applaus. Zum ersten Mal in diesem Match wird auch ihm
Respekt gezollt. Zwar nicht vom gesamten Publikum (Jacob
Reggan verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust),
aber immerhin von etwa der Hälfte der anwesenden Zuschauer.
Und natürlich von Nick. Er freut sich sehr über den Teilerfolg seines Freundes. »Gut gemacht«, sagt er. »Das ist deine
Chance auszugleichen. Los jetzt!«
Joe weiß auch bereits, wie er das anstellen wird.
Er holt einen Tablettenstreifen aus seiner Umhängetasche,
drückt eine Tablette heraus und gibt sie Patricius. »Schluck!«,
fordert er ihn auf.
Patricius tut es – und fängt an, wie am Spieß zu schreien.
»Oh, verdammt seist du!«, jammert er mit grotesk verzerrtem
Gesicht, schlingt die Arme um den Bauch und sinkt röchelnd
zu Boden, wo er sich windet und mit den Beinen strampelt.
»Es reißt mich innerlich entzwei! Wie Feuer brennt es, als ob
mein Leib ein Ofen wäre!«
Ein erschrockenes Raunen geht durch die Zuschauerreihen.
Auch Tom Wright ist sichtlich schockiert. Ȁh, was haben Sie
da gerade eben getan, Mister Beatem? Was bitte schön haben
Sie Munyard gegeben?«
»Das war ’ne Schmerztablette!«, ruft Joe und grinst. »Der
Name is‘ Programm!«
»Allerdings«, sagt Wright, immer noch völlig durch den
Wind, »das ist nicht zu übersehen.« Schnell besinnt er sich jedoch darauf, dass er immer noch der Schiedsrichter in diesem
Match ist und hebt das rote Fähnchen. »Der Gewinner dieser
Runde ist Joe Beatem.«
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Schon lassen die Schmerzen des Straßenphilosophen nach.
»Gott sei gepriesen«, seufzt er und stemmt sich auf die Beine,
während seine Wangen langsam wieder Farbe bekommen.
»Alles Leid der Welt könnte mich nicht so quälen, wie das gerade eben. Umso erleichternder ist es, wenn alles endet.«
Joe hat seine Chance also nutzen können. Da lediglich seine
Offensive Erfolg hatte, bekommt er den Punkt gutgeschrieben
und kann somit ausgleichen. Nun ist der Gesamtsieg nur noch
einen Punkt entfernt – so nah wie nie zuvor. Joe ist ganz aufgeregt. Sein Herz schlägt direkt schneller, wenn er daran
denkt.
Auch im Publikum macht sich Unruhe breit. Eine kleine
Sensation bahnt sich an. Wird Joe es diesmal endlich in die
Midcard schaffen?
Er arbeitet zumindest daran.
Joe weiß, dass seine nächste Offensivaktion spektakulärer
sein muss als die von Patricius. Nur so kann er den entscheidenden Punkt holen.
»Es sei denn … «
Es sei denn, er gibt dem Straßenphilosophen gar keine
Möglichkeit, selbst eine Aktion durchzubringen.
Das ist die Idee!
Joe hat immer einen Stift und einen Block dabei. Er holt
beides aus seiner Umhängetasche, reißt ein Blatt aus dem
Block heraus, schreibt etwas auf jede Seite und gibt es seinem
Gegner. »Hier«, sagt er, »lies das!«
Patricius sieht sich die Vorderseite des Blattes an: »Bitte
wenden!« steht in großen Lettern darauf. Also dreht er das
Blatt um und liest, was auf der Rückseite steht: »Bitte wenden!« Also dreht er das Blatt um und liest, was auf der anderen Seite steht: »Bitte wenden!« Also …
… ist Patricius gefangen – was ihm auch gerade schmerzlich bewusst wird. Immer schneller dreht er das Blatt herum,
wieder und wieder, während er fieberhaft nach einer Mög© Jens Volling
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lichkeit sucht, dieser Endlosschleife zu entkommen. Um zu
behaupten, er wäre Analphabet, ist es leider schon zu spät.
Tom Wright lehnt sich nach vorne. »Munyard«, ruft er dem
Straßenphilosophen zu, »noch 30 Sekunden.«
Die Enola Gay startet in Joes Magen.
… 25 …
Sie gewinnt an Höhe und setzt Kurs auf Hiroshima.
… 20 …
Über der Stadt wird die Bombenklappe geöffnet.
… 15 …
Little Boy wird ausgeklinkt.
… 10 …
Unaufhaltsam nähert sich die Bombe dem Erdboden.
…5…4…3…2…1…
BOOM!!!
Es ist tatsächlich passiert: Der Imaginat Joe Cool hat ein
Match gewonnen – unfassbar!
Seine ganze Wut, sein ganzer Zorn, all seine aufgestauten
Emotionen entladen sich in einem markerschütternden Schrei.
Er reißt die Arme hoch und seine Füße verlieren kurz den Bodenkontakt.
Tom Wright hebt zum zweiten Mal an diesem Tag das rote
Fähnchen. »Der Gewinner dieser Runde und damit auch des
Kampfes ist Joe Beatem!«
Nun brechen alle Dämme: Joe zeigt den Kichererbsen den
doppelten Stinkefinger, zerreißt das »0:13«-Plakat in kleine
Stücke und pfeffert sie Jacob Reggan vor die Füße. »Sieg!«,
brüllt er. »Sieg, Baby!«
Nick klatscht sich die Hände wund. Er achtet zwar immer
noch darauf, dass Joe keine Dummheit begeht, wofür er nachträglich noch disqualifiziert werden könnte, doch hauptsächlich freut er sich riesig über den Triumph seines Freundes; es
ist ihm deutlich anzusehen.
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Patricius‘ Gesicht dagegen spiegelt bittere Enttäuschung
wider. Er lässt das Blatt fallen und senkt den Kopf. Niedergeschlagen zieht er mit seinem Bollerwagen von dannen. »Besiegt und vernichtet«, sagt er, »ausgebrannt und ausgeblutet.
Oh, warum straft man mich nun noch mit fortdauernder Existenz? Nicht einmal die habe ich noch verdient.« Mit diesen
Worten verlässt er den Marktplatz.
Tom Wright verlässt auch, nämlich den Hochstuhl, und
holt erneut das Kartenlesegerät aus dem Aluminiumkoffer.
»Mister Beatem«, ruft er Joe zu, »darf ich Sie kurz stören?«
Beide Hände zum Victory-Zeichen erhoben, schreitet der
strahlende Sieger zur Preisverleihung: Nach den 200 Credits,
die er alleine für die Teilnahme an dem Match erhält, gesellen
sich für den Sieg nun weitere 400 auf sein Guthabenkonto.
Damit hat Joe genug Credits, um seinen Mitgliedsbeitrag
für Dezember bezahlen zu können. Normalerweise braucht er
dafür nur einmal pro Woche anzutreten, viermal im Monat.
Da er seine Credits aber auch gerne mal für Bier und Pizza
ausgibt (so wie gestern geschehen), musste er heute außerplanmäßig noch einmal ran. Und hätte Joe heute keinen Sieg
errungen, hätte er noch vor Weihnachten ein weiteres Match
bestreiten müssen, da die Liga zwischen den Feiertagen Pause
macht.
»Meinen Glückwunsch«, sagt Wright, während Joe seine
Karte in das Lesegerät schiebt, »nun haben Sie es auch endlich
geschafft.«
»Wurde auch verdammt nochmal Zeit«, meint Joe und gibt
seinen Code ein. »Jetzt lass‘n wir die Party steigen!«
Dann lässt er sich von Nick in die Jacke helfen, als wäre sie
eine Robe und er ein König, schnappt sich seine Umhängetasche und verlässt zusammen mit seinem Kumpel die Arena.
Seite an Seite marschieren sie in Richtung Cinnamon Street,
wobei sich Joe immer wieder mit der rechten Hand auf die
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Brust klopft, sie anschließend zur Faust ballt, hochreißt und
ruft: »Sieg, Baby!«
Lachend und johlend gehen die beiden Freunde zum Parkhaus zurück und holen Chrissy ab.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Nick. »Wohin fahren wir?«
»Zu Marty«, antwortet Joe, ohne lange überlegen zu müssen, »der wird Augen mach’n!«
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