Tokolyse – aktueller Stand
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Tokolyse – aktueller Stand
FORTBILDUNG + KONGRESS Schwangerschaft und Senkung der kindlichen Morbidität und Mortalität vor allem zwischen der 24. und 30. SSW (z.B. tägliche Steigerung der Überlebensraten von 3% zwischen der 23. und 27. SSW; 7). Tokolyse – aktueller Stand Werner Rath Die medikamentöse Wehenhemmung ist keine kausale, sondern eine symptombezogene Therapie, deren Indikation die funktionelle Beeinflussung der Zervix und nicht nur das Symptom der vorzeitigen Wehen berücksichtigen muss. Tokolytika sind in der Lage, die Geburt um zwei bis sieben Tage hinauszuschieben (Induktion der Lungenreifung, In-utero-Transfer in ein Perinatalzentrum). Die Wahl des Medikaments hat sich an den Zulassungsrichtlinien, der Effizienz sowie am Nebenwirkungsprofil für Mutter und Kind, aber auch an den Therapiekosten zu orientieren. Doch gibt es diesbezüglich bisher kein „ideales“ Tokolytikum, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Trotz weltweiter Bemühungen ist die Frühgeburtenrate in Deutschland in den letzten zehn Jahren um etwa ein Fünftel auf derzeit 9% angestiegen. Frühgeburten sind für 75–95% aller neonatalen Todesfälle verantwortlich; bei den überlebenden Kindern vor der 37. SSW beträgt das Gesamtrisiko für Behinderungen 10–15% (13). Bis heute gibt es infolge der multifaktoriellen Genese keine kausalen Therapieoptionen der Frühgeburt. Im Vordergrund der klinischen Symptome stehen vorzeitige Wehen, die seit mehr als 30 Jahren symptomatisch mit Tokolytika behandelt werden. Indikationen und Kontraindikationen Das Auftreten uteriner Kontraktionen allein ist keine Indikation zur Tokolyse und mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von mehr als 50% assoziiert (3). Als Indikationen zur Tokolyse gelten (16): spontane vorzeitige Wehen: schmerzhaft, palpabel, länger als 30 Sekunden dauernd, Häufigkeit mehr als 3 pro 30 Minuten und Verkürzung der funktionellen Zervixlänge und/oder Muttermundseröffnung. Ungeachtet individueller Ausnahmen besteht mehrheitlich die Auf- 528 sekundäres Ziel: Verlängerung der GEBURTSMEDIZIN FRAUENARZT 47 (2006) Nr. 6 Effizienz der Tokolytika Tokolytika sind – statistisch gesichert – in der Lage, die Geburt um mindestens 48 Stunden hinauszuschieben und die Rate an Frühgeburten innerhalb von sieben Tagen zu senken, ohne dass dies allerdings die perinatale Mortalität signifikant reduziert (9). Tabelle 1 gibt die diesbezüglichen Ergebnisse aus der Literatur wieder (Diskussion bei 16). fassung, die Tokolyse zwischen der 24. und 34. SSW durchzuführen. Nicht evidenzbasierte Vorgehensweisen Als Kontraindikationen gelten: Für eine orale Tokolyse (z.B. mit Beta-Agonisten) fehlt der Effektivitätsnachweis, insbesondere auch für die orale Langzeitgabe (El A; 1, 5), auch wenn in Einzelfällen „Plazeboeffekte“ bekannt sind. intrauterine Infektionen; nicht überlebensfähige Fehlbil- dung des Feten und intrauteriner Fruchttod; mütterliche und/oder kindliche Indikationen zur Schwangerschaftsbeendigung. Die Ziele der Tokolyse wurden vor kurzem wie folgt formuliert (12): Prolongation der Schwangerschaft um mindestens 48 Stunden zum Abschluss der Lungenreifebehandlung und zum In-utero-Transfer in ein Perinatalzentrum; Meta-Analysen sind bisher den Beweis schuldig geblieben, dass eine Dauer- oder Erhaltungs-Tokolyse zu einer signifikanten Verbesserung des fetal outcome und zu einer Senkung der neonatalen Morbidität und Mortalität führt (20), sodass das Royal College in seinen Leitlinien mit dem Evidenzgrad (El) Ia zu dem Schluss kommt: „Maintenance therapy can Hinausschieben der Geburt um mehr als 48 Stunden – randomisiert kontrollierte Studien Ritodrine 73–79% (Plazebo: 65–69%) Terbutalin Indometacin MgSO4 Nifedipin 45–73% (Plazebo: 27–38%) >48 h: 94% (1 Studie) 38–96% (4 Studien) 63–68% >7 Tage: 29% (2 Studien) >7 Tage: 62/67% (2 Studien) Keine Senkung der perinatalen Mortalität und der Rate schwerer neonataler Respirationsprobleme Tab. 1: Studienergebnisse zur Effizienz der Tokolytika. Eine prophylaktische Tokolyse ist hinsichtlich ihrer Wirksamkeit ebenso wenig evidenzbasiert belegt wie die Wiederholung „akuter“ Tokolysezyklen nach Primärtherapie (El Ia; 1). Eine Kombination von Tokolytika sollte in der klinischen Routine nicht erfolgen, da diese bisher ungenügend untersucht und die Nebenwirkungen nach derzeitigem Kenntnisstand unübersehbar sind. Wahl des Tokolytikums Die Wahl des Tokolytikums hat sich vor allem an den Zulassungsrichtlinien, der Wirksamkeit und den mütterlichen und fetalen Nebenwirkungen sowie den Kosten im Vergleich untereinander zu orientieren. Beta-Agonisten Beta-Agonisten (z.B. Fenoterol) sind international zugelassene und im Sinne der Zielsetzung wirksame Tokolytika, die allerdings mit folgenden Problemen belastet sind (Übersicht bei 2): der hohen Rate mütterlicher Nebenwirkungen (vor allem kardiovaskulär in bis zu 80% der Fälle) und dementsprechend der hohen Frequenz an Therapieabbrüchen zwischen 14 und 16%; der Gefahr des Lungenödems (etwa 1:350 Anwendungen) einschließlich mütterlicher Todesfälle bei entsprechenden Risikokonstellationen (z.B. Mehrlinge, Glukokortikoid-Lungenreifung); dem diaplazentaren Transfer mit unterschiedlichen fetalen Neben- wirkungen, vor allem fetalen Tachykardien in bis zu 28% der Fälle; den zahlreichen Kontraindikationen und Anwendungsbeschränkungen vor allem kardiovaskulär und metabolisch; der Tachyphylaxie und damit der herabgesetzten Wirksamkeit bei Langzeitanwendung. Daher kommt das Royal College in seinen Leitlinien (17) zu dem Schluss „If a tocolytic drug is used, ritrodrine (betamimetics) no longer seems the best choice“. Allerdings wird in internationalen Leitlinien und Meta-Analysen die in Deutschland an 20–30% der Kliniken eingesetzte Bolustokolyse mit Fenoterol nicht berücksichtigt, die mit einer signifikant niedrigeren Rate mütterlicher Nebenwirkungen im Vergleich zur kontinuierlichen Gabe von Fenoterol assoziiert ist. Hier besteht Nachholbedarf durch randomisierte Studien. Magnesiumsulfat Magnesiumsulfat wird vor allem in den USA zur Tokolyse eingesetzt und ist in Deutschland ausweislich der Roten Liste in der Indikation „Behandlung von Frühgeburtsbestrebungen“ aufgeführt. Eine jüngste Cochrane-Analyse (4) kam zu dem Ergebnis, dass Magnesiumsulfat zu keiner signifikanten Schwangerschaftsverlängerung und damit Verminderung der Frühgeburten führt (Rate an Lungenödemen 1%, Therapieabbruchrate 2%). Aufsehen erregt haben Studien (14), nach denen bei Kindern unter 1.500 g nach Magnesiumsulfat dosisabhängig eine um 40% erhöhte pädiatrische Mortalität festgestellt wurde, insbesondere bei Überschreiten einer Gesamtdosis von 48 g (19). Allerdings sind dosisabhängige Folgestudien (z.B. neuroprotektiver Effekt von Magnesiumsulfat) unerlässlich. Prostaglandinsynthesehemmer Prostaglandinsynthesehemmer (z.B. Indometacin) sind zur Tokolyse nicht zugelassen. Indometacin weist eine vergleichbare tokolytische Effizienz auf wie die Beta-Agonisten, allerdings stehen den Vorteilen des einfachen Applikationsmodus und der geringen Rate mütterlicher Nebenwirkungen erhebliche Probleme gegenüber, vor allem die limitierte zeitliche Anwendung über zwei Tage. Bei längerer Anwendung oberhalb der 32. SSW besteht die Gefahr des Verschlusses/der Konstriktion des Ductus botalli (15), darüber hinaus sind erhebliche fetale Nebenwirkungen (z.B. Oligohydramnion, fetale Oligurie) und neonatale Komplikationen (z.B. NEC, IVH) bekannt, sodass Indometacin nur als Kurzzeit- oder Second-Line-Tokolytikum in Betracht kommt. NO-Donatoren Obwohl äquieffektiv zu Beta-Agonisten und Magnesiumsulfat, sind NODonatoren (z.B. Nitroglyzerin als Pflaster 10–20 mg/Tag) zur Tokolyse nicht zugelassen. Anwendungslimitierend sind vor allem die hohe Rate an Therapieabbrüchen (bis zu 25%) infolge quälender Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Orthostase und Reflextachykardien (18). Laut Cochrane-Analyse (6) reicht die derzeitige Datenlage nicht aus, um die Routineanwendung von NO-Donatoren zu empfehlen. FORTBILDUNG + KONGRESS not be recommended for routine use“. Dennoch, zumal gerade in Deutschland häufig praktiziert, bleibt die Dauertokolyse angesichts des gegenwärtigen Wissensstandes eine individuelle ärztliche Entscheidung, bei der nicht zuletzt das Verlangen der Schwangeren nach „Therapie“ zu berücksichtigen ist; dies gilt insbesondere bei frühem Gestationsalter (vor der 30. SSW) und symptomatischer Placenta praevia (El IV). Kalziumantagonisten Kalziumantagonisten (z.B. Nifedipin) sind grundsätzlich in der Schwangerschaft kontraindiziert, weswegen plazebokontrollierte Studien fehlen. Meta-Analysen (z.B. 21) haben aber gezeigt, dass Nifedipin anderen Tokolytika, insbesondere Beta-Agonisten, hinsichtlich der Verlängerung der Schwangerschaft sowie der Rate mütterlicher Nebenwirkungen und der Frequenz an Therapieabbrüchen signifikant überlegen ist, sodass eine Cochrane-Analyse (11) zu dem Schluss kam: „When tocolysis is indicated for women in preterm labour, calciumblockers are preferable to other tocolytic agents, mainly betamimetics“. Die Vor- und Nachteile von Nifedipin zur Tokolyse sind in Tabelle 2 zuFRAUENARZT 47 (2006) Nr. 6 529 FORTBILDUNG + KONGRESS Nifedipin zur medikamentösen Wehenhemmung Vorteile einfache orale Applikation billig (ca. 4 Euro/Tag) Wirkungsvorteile gegenüber β-Agonisten – tokolytischer Effekt besser – neonatale Morbidität – RDS-Rate – maternale NW-Rate – Therapieabbrüche – keine nachteilige Wirkung auf utero-feto-plazentare Durchblutung weltweit keine Zulassung in der SS kontraindiziert (Off-Label Use Therapiefreiheit des Arztes) optimale Dosis/Präparat? keine plazebokontrollierten Studien Sicherheitsprofil unklar: keine Langzeituntersuchungen beim Kind Tab. 2: Vor- und Nachteile von Nifedipin zur Tokolyse. sammengefasst (16). Als gebräuchliche (aber bisher nicht klar definierte) Dosis gilt 10 mg Nifedipin oral alle 20 Minuten (bis zu vier Dosen) bis zum Sistieren der Wehen, dann 20 mg oral alle 4–8 Stunden oder 60–160 mg pro Tag retardiertes (slow release) Nifedipin. Inzwischen wurde zunehmend Kritik an der Qualität dieser „Nifedipin-Vergleichsstudien“ und Meta-Analysen laut (8), in Kasuistiken wurden schwere mütterliche Komplikationen mitgeteilt (z.B. Lungenödem, Herzinfarkt, schwere mütterliche Hypoxien; Übersicht bei 16). Gerade die Anwendung von Nifedipin (Tokolyse, Schwangerschaftshochdruck) hat hier zu Lande die Diskussion um das Problem des Off-Label Use intensiviert, dem die Therapiefreiheit des Arztes in Kenntnis eines hochwirksamen Medikamentes, belegt durch zahlreiche Studien, gegenübersteht. Oxytozinantagonisten Oxytozinantagonisten (Atosiban, Tractocile®): Lagen die Nachteile bisheriger Tokolytika weniger in ihrer Effizienz, sondern vielmehr in der mangelnden pharmakologischen Spezifität für das Zielorgan Uterus und damit in dem ubiquitären Nebenwirkungsspektrum, so wurden diese Probleme mit der Einführung des kompetitiven Oxytozinantagonisten Atosiban über- 530 Nachteile FRAUENARZT 47 (2006) Nr. 6 wunden. Einen „Steckbrief“ dieses seit April 2000 in Deutschland zur Tokolyse zugelassenen Oxytozinantagonisten gibt Tabelle 3 wieder. Die Indikationen für Atosiban sind im Prinzip die oben genannten zur Tokolyse. Als Kontraindikationen schränken vor allem das limitierte Zeitfenster (24.–33. SSW) und der vorzeitige Blasensprung unterhalb der 30. SSW die Anwendung ein. Zur Langzeittherapie über 48 Stunden hinaus ist Atosiban nicht geeignet. Hinsichtlich der tokolytischen Effizienz bestehen keine signifikanten Unterschiede zu den Beta-Agonisten, allerdings liegen die Vorteile von Atosiban in einer 10fach geringeren Frequenz kardiovaskulärer Nebenwirkungen (8,3 vs. 81,2%) und dementsprechend in der deutlich niedrigeren Therapieabbruchrate (1,1 vs. 15,4%; 23). Eine jüngste randomisierte Vergleichsstudie zwischen Atosiban und Nifedipin zeigte tendenziell bessere Ergebnisse zu Gunsten des Oxytozinantagonisten hinsichtlich der Verlängerung der Schwangerschaft, vor allem aber eine signifikant niedrigere Rate maternaler Nebenwirkungen (17,5 vs. 40%, 10). Atosiban-induzierte Lungenödeme sind bisher nicht bekannt, relevante Nebenwirkungen beim Feten sind nicht zu befürchten. Langzeituntersuchungen der Kinder nach Atosibananwendung in der Schwangerschaft erbrachten keine negativen Auswirkungen (Übersicht bei 16). Limitierend für die Gabe von Atosiban sind neben dem begrenzten Anwendungszeitraum die im Vergleich zu Beta-Agonisten 50fach höheren Therapiekosten (Diskussion bei 22). Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Ressourcenverknappung wurde „Steckbrief“ Atosiban Eigenschaft reversible, dosisabhängige Hemmung Oxytozin-induzierter Kontraktionen Tokolysewirkung: äquieffektiv wie Beta-Agonisten kein Einfluss auf ZNS, kardiovaskuläres System, Niere, Lunge kardiovaskuläre NW etwa 8%, kein Lungenödem keine signifikanten metabolischen Wirkungen (KH, Lipide) geringe Plazentagängigkeit (10–12%), geringe Akkumulation im Neugeborenen geringe kindliche NW-Rate zugelassen Therapieabbruchrate 1,1% hohes Sicherheitsprofil keine negativen Langzeitfolgen für das Kind (2 Jahre) International Preterm Labor Council (2003): „Atosiban should be considered as a first line tocolytic (Grade A)” Tab. 3: „Steckbrief“ Atosiban. Die Leitlinien zur medikamentösen Wehenhemmung bei drohender Frühgeburt werden derzeit neu verfasst und in Kürze publiziert. Literatur 1. ACOG Practice Bulletin: Behandlung von vorzeitigen Wehen. Frauenarzt 44 (2003) 1200–2004. 2. Besinger PE, Jannucci TA: Tocolytic therapy. In: Elder MG, Lamont RF, Romero R (eds): Preterm Labour. Churchill Livingstone, New York, 1997, 243–297. 3. Creasy RK: Early detection of preterm labour: In: Queenan JT, Hobbins JC (eds): Protocols for high risk pregnancies. 3rd Edition. Blackwell Science, London, 1996, 535–538. 4. Crowther CA, Hiller JE, Doyle LW: Magnesium sulphate for preventing preterm birth in threatened labour (Cochrane Review) Oxford. The Cochrane Library 2003, Issue 2. 5. Dodd JM, Crowther CA, Dare MR, Middelton P: Oral betamimetics for maintenance therapy after threatened preterm labour (review). Cochrane Library 2006, Issue 1. 6. Duckitt K, Thornton S: Nitric oxid donors for the treatment of preterm labour. Cochrane Database Syst Rev 2003 CD 002.860. 7. Finnström O, Otterblad O, Olansson P et al.: The Swedish national prospective study on extremely low birth weight infants. Acta paediatrica 86 (1997) 503–511. 8. 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King JF, Flenady VJ, Papatsonis D et al.: Calcium channel blockers for inhibiting FORTBILDUNG + KONGRESS daher (quasi als Kompromisslösung) empfohlen, Atosiban vor allem folgenden geburtshilflichen Indikationen vorzubehalten: Therapieversager nach Beta-Agonisten: Gabe von Atosiban als alternatives und zugelassenes Tokolytikum; nicht zu tolerierende mütterliche Nebenwirkungen mit Konsequenz des Therapieabbruches nach Beta-Agonisten; notwendige Tokolyse bei erhöhtem Risiko für ein Lungenödem; Kontraindikationen und Anwendungsbeschränkungen für BetaAgonisten (vor allem kardiovaskulär und metabolisch). preterm labor (Cochrane Review) Chicester UK. The Cochrane Library 2003, Issue 4. 12. Lamont RF and the International Preterm Labour Council: Evidence-based labour ward guideline for the diagnosis, management and treatment of spontaneous preterm labour. J Obstet Gynecol 23 (2003) 469–478. 13. 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