Leseprobe

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Es ist ein Junge!
Ich wusste es. Von Anfang an.
Nur Liv hatte zu Beginn noch vorsichtig auf ein
Mädchen gehofft.
Dabei war es sonnenklar, dass mein erstes Kind
ein Junge sein würde. Einer, mit dem man später die
samstäglichen Besuche im Fußballstadion ritualisiert. Mit der frühkindlichen Erziehung habe ich
noch im ersten Jahr begonnen: Jede Woche guckten
mein Sohn und ich gemeinsam Sportschau. Na ja, ich
guckte, so gut es ging. Und er versuchte, mich davon
abzuhalten.
Es ist schon seltsam: Die meisten Mütter wünschen
sich ein Mädchen, die meisten Väter einen Sohn. Doch
wenn man nach den Gründen forscht, liegen sie bei
den Frauen oft im Hier und Jetzt, bei den Männern in
der Zukunft.
Selten sagen werdende Mütter: »Ich wünsche mir
eine Tochter, weil man mit einem 15-jährigen Mädchen so wunderbar über Essstörungen debattieren
oder nächtelang dem verflossenen Klassenprinzen
nachweinen kann.« Nein, ihnen geht es um die ersten
Jahre – und es hat meistens mit Einkaufen zu tun.
Mütter wollen ihren Mädchen all das kaufen, was sie
eigentlich selbst gerne hätten, aber nicht zu tragen
wagen. Rosa T-Shirts, rosa Hosen, rosa Jacken, rosa
Socken, rosa Gummistiefel, rosa Mützen, rosa Schals,
rosa Handschuhe. Sie kaufen sogar rosa Regenschirme, rosa Rucksäcke und rosa Koffer.
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Ab und zu sieht man Väter von Mädchen, die peinlich berührt einen rosafarbenen Kinderwagen spazieren schieben oder am Flughafen mit rosa Rucksack
und Köfferchen aufs Einchecken warten. Das ist wohl
die Höchststrafe. Erst keinen Jungen bekommen und
dann auch noch die mitleidigen Blicke von Leuten
wie mir. Deshalb habe ich gleich zu Beginn alle Ambitionen meiner Frau gestoppt und ihr klargemacht,
dass wir uns keinen rosafarbenen Kinderwagen kaufen – noch bevor ich beschloss, dass es ohnehin ein
Junge wird.
Ehe jetzt erzürnte Mütter den Stab über mich brechen: Natürlich hätte ich mich auch über ein Mädchen gefreut.
Gut, es ist nicht auszuschließen, dass ich mich
anfangs für die lebendige Barbiepuppe in meinem
nicht-rosafarbenen Kinderwagen geschämt hätte, die
meine Frau unweigerlich aus ihr gemacht hätte. Sie
wissen schon: rosa T-Shirt, rosa Hose, rosa Jacke, rosa
Socken, rosa Mütze, rosa Gummistiefel, rosa Schal,
rosa Handschuhe.
Aber später wäre ich der Kleinen hilflos ausgeliefert gewesen. Wie so vielen Frauen in meinem Leben.
Rasch hätte meine Tochter herausgefunden, wie man
mich um den Finger wickelt – erst um ein Stückchen
Schokolade zu bekommen, später um länger aufbleiben und noch ein bisschen fernsehen zu dürfen,
schließlich um den Kinoeintritt herauszuschlagen
oder aus der Disco abgeholt zu werden. (»Aber park
bitte nicht direkt vor dem Eingang, sondern um die
Ecke, sonst ist das echt voll peinlich für mich!«)
Doch um ehrlich zu sein, bin ich auch nicht böse,
dass mir die Aufgabe erspart bleiben wird, bei
Teeniepartys im Kinderzimmer regelmäßig nach dem
Rechten zu sehen und die Hände diverser Gäste aus
dem Büstenhalter meiner Tochter zu holen. Ich wer16
de mein Telefon nicht mit einer dauerquasselnden
Mädchengang teilen müssen. Und ich werde nie bei
Pimkie mit einem Miniröckchen in der Hand an der
Kasse stehen.
Ein Hoch auf die pubertierenden Jungs, die als pickelgesichtige Kommunikationsdesaster einfach nur
schlecht Gitarre spielen und ansonsten das wollen,
was auch Väter kurz vor der Midlife-Crisis noch sehr
gut gebrauchen können: ihre Ruhe vom Rest der
Welt!
*
Der Tag, an dem ich dann erfuhr, dass Liv tatsächlich
einen Jungen bekommen würde, war voller Symbolik.
Sogar Franz Beckenbauer schickte mir ein Zeichen!
Aber der Reihe nach: Heutzutage kann die moderne Medizin nach 26 Wochen Schwangerschaft den
Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, mit welchem Geschlecht sie die nächsten 18 Jahre ein zweites
Mal erwachsen werden müssen. Die Eltern gehen zu
einem Spezialisten, der ihnen mit Hilfe eines ultramodernen Ultraschallgeräts das Kind quasi aus dem
Bauch der Mutter an die Wand projiziert.
Unser Spezialist hatte seine Praxis in Giesing.
Nicht-Münchnern sei gesagt, dass Giesing der Stadtteil Münchens ist, in dem sich die Zeit seit den 60ern
wohl am wenigsten weitergedreht hat. Haidhausen
und Giesing galten damals als Arbeiterviertel im
Münchner Osten. Seitdem hat sich Haidhausen, wo
ich mit Liv, Ben und Hund wohne, zum alternativen
In-Viertel gewandelt, in dem zwar nicht die Schicken
und Hippen, aber viele Studenten, Künstler und junge Familien leben.
In Giesing heißen die Kneipen dagegen auch heute
noch Bierschänke Bauerngirgl, Schinken-Peter oder
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Kastanien-Klause. Das muss man mögen. Ich besuche
Lokalitäten mit derlei Namen erst ab 1,5 Promille.
Giesing steht aber auch für Fußball. Sowohl der
FC Bayern als auch der TSV 1860 haben hier ihr
Trainingsgelände. Doch Giesing und das traditionsreiche Grünwalder Stadion sind unweigerlich mit
den Blauen verbunden. Demnach wäre der TSV
1860 eigentlich auch die natürliche Heimat für das
Giesinger Arbeiterkind Franz Beckenbauer gewesen,
doch der ging zu den Bayern – weil er in einem Jugendspiel seines SC München von 1906 von einem
1860er-Spieler eine Ohrfeige kassiert hatte. Wer weiß,
wie die Münchner Fußballhierarchie heute aussähe,
hätte dieser unbekannte Giesinger Bub damals sein
Temperament im Griff gehabt. So aber unterschrieb
Beckenbauer einen Aufnahmeantrag beim FC Bayern
und Giesing blieb Giesing. Letztlich wurde es sogar
den Löwen für ihre Spiele zu klein. Heute sind sie
bei den Bayern Untermieter in der mondänen Allianz Arena.
Ausgerechnet hier sollte also ein Spezialist mit modernsten Methoden für uns in die Zukunft blicken.
Liv hatte sich mit Hilfe des Stadtplans kundig gemacht, und dank ihres im Freundeskreis legendären
Orientierungssinns irrten wir durch Giesing, wobei
sie an jeder zweiten Straßenecke ein »Hier muss es
sein« von sich gab.
War es aber nie.
Irgendwann waren wir im Kreis gelaufen und standen wieder dort, wo unsere Odyssee ihren Ausgang
genommen hatte. Diesmal gingen wir in die andere
Richtung, und plötzlich tauchte vor uns jenes Mehrfamilienhaus an der Zugspitzstraße auf, in dem der
kleine Franz Beckenbauer einst vor Wut kochend beschlossen hatte, sich nicht den Löwen, sondern dem
FC Bayern anzuschließen. Ich machte meine Frau
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auf diese wichtige Münchner Sehenswürdigkeit aufmerksam, doch ihr gingen in diesem Moment offenbar andere Gedanken durch den Kopf.
Ich dagegen hatte mein Tagesthema.
»Wir bekommen einen Sohn«, sagte ich bestimmt.
»Die 20 Minuten kannst du doch jetzt noch abwarten«, sagte Liv.
»Muss ich gar nicht: Franz Beckenbauer hat uns ein
Zeichen geschickt.«
»Du spinnst. Als Nächstes behauptest du wahrscheinlich auch noch, dass er deshalb Profifußballer
wird.«
Diese Idee fand ich gar nicht so schlecht.
Als wir die Praxis endlich gefunden hatten, war ich
überrascht: Normalerweise habe ich eine ausgeprägte Ärztephobie, aber hier ließ es sich aushalten. Alles
war hell und modern. Flur, Anmeldung und Wartezimmer bestanden aus einem großen, sonnendurchfluteten Raum. Es war niemand hier – außer einer
Arzthelferin, die uns fürsorglich beim Ausfüllen des
Anmeldebogens half und dann fragte, ob wir Wasser
oder einen Kaffee haben wollten.
»Das ist ein Service«, sagte ich beeindruckt.
Beeindruckend war hier im Übrigen alles. Ich hatte
gerade zwei Schluck Kaffee genommen, als ein verdammt gut aussehender Arzt auf uns zukam. Er führte uns in eines der vielen Behandlungszimmer und
fing an, meiner Frau mit dem Ultraschallgerät über
den Bauch zu streichen. Hier gab es keinen kleinen
Bildschirm wie beim Frauenarzt, auf dem man ohne
entsprechende Zusatzausbildung nichts erkennen
konnte, aber trotzdem behauptete, diesmal »ganz
deutlich« das eigene Kind gesehen zu haben.
Hier sahen wir Ben zum ersten Mal in Großaufnahme. Kopf, Arme, Beine – es schien alles dran zu sein.
Der verdammt gut aussehende Arzt klopfte auf
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dem Bauch meiner Frau herum. Dem Kind schien das
nicht zu gefallen: Es bewegte sich – und als es kurz
die Beine breit machte, sah man, dass sich zwischen
ihnen ein kleines, aber nicht unwichtiges Detail befand.
Der Arzt vergrößerte das Bild noch einmal und fing
an, Bens Entwicklung zu überprüfen: Der Oberarmknochen maß 30,6 Millimeter, die Elle 30,2 und die
Speiche 26,7. Der Kopfumfang betrug 186,6 Millimeter.
»Das wird mal ein Dickschädel«, sagte der Arzt.
Wir lachten dankbar, weil wir eigentlich beide zu
Tränen gerührt waren.
Bislang war die Schwangerschaft seltsam theoretisch gewesen. Klar, in ihrem Bauch trug Liv ein
Kind umher und seit kurzem trat der junge Mann
auch recht resolut um sich. Dennoch erschien uns das
alles noch schwer vorstellbar. Nun hatten wir unseren
Sohn zum ersten Mal plastisch vor Augen.
Dem immer noch verdammt gut aussehenden Arzt
schien sein Job Spaß zu machen. Vielleicht fuhr er
meiner Frau aber auch nur gerne über den Bauch. Er
hörte mit dem Messen gar nicht mehr auf: äußerer
Augenabstand 33,2 Millimeter, Nasenbein 7,6 Millimeter. Sollte Ben meinen Zinken geerbt haben?
Der Arzt zählte die Finger. Zehn. Gut!
Dann die Zehen. Auch zehn.
»Dann steht der Karriere als Profifußballer ja
nichts im Wege«, sagte er lächelnd.
Ich nickte wissend, Liv verdrehte die Augen.
Dann wurde es richtig unheimlich. Mit Hilfe einer
Computersimulation konnte man das Ultraschallbild
in ein relativ normales Foto verwandeln. Wir bekamen gleich mehrere Ausdrucke. Ich muss sagen: Der
erste Schnappschuss von meinem Sohn konnte sich
sehen lassen. Er wirkte zwar etwas verpennt, aber es
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schien so, als sei er mit sich und seiner Fruchtblasenwelt ganz zufrieden.
Glücklich traten wir den Heimweg an. Wir bekamen einen Sohn. Und er war gesund.
»Und er wird Profifußballer«, sagte ich. »Erst Franz
Beckenbauer, dann der Arzt, wenn das keine Zeichen
sind.«
Irgendwann bat mich Liv, einfach meinen Mund
zu halten und mich auf meinen ersehnten Sohn zu
freuen. Sie hofft noch immer auf einen talentierten
Eistänzer, dem sie ein glitzerndes Kostüm schneidern
kann.
Aber sie lag ja schon mal daneben – und wird nun
wohl nur schmutzige Fußballtrikots waschen müssen.
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