Eich, Fingerspitzen,Träume,Hausgenossen

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Eich, Fingerspitzen,Träume,Hausgenossen
Texte von Günter Eich (1907-1972)
1
Betrachtet die Fingerspitzen, ob sie sich schon verfärben!
Eines Tages kommt sie wieder, die ausgerottete Pest.
Der Postbote wirft sie als Brief in den rasselnden Kasten,
Als eine Zuteilung von Heringen liegt sie dir im Teller,
Die Mutter reicht sie dem Kinde als Brust
Was tun wir, da niemand mehr lebt von denen,
Die mit ihr umzugehen wussten?
Wer mit dem Entsetzlichen gut Freund ist,
Kann seinen Besuch in Ruhe erwarten.
Wir richten uns immer wieder auf das Glück ein,
Aber es sitzt nicht gern auf unseren Sesseln.
Betrachtet die Fingerspitzen! Wenn sie sich schwarz färben,
Ist es zu spät.
(„Untergrundbahn“, 1949)
2
Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht! Bleibt wach, wenn das
Entsetzliche näher kommt.
Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den Stätten, wo Blut
vergossen wird, auch zu dir und zu deinem Nachmittagsschlaf, worin du
ungern gestört wirst. Wenn es heut nicht kommt, kommt es morgen, aber
sei gewiss.
„Oh angenehmer Schlaf auf dem Kissen mit roten Blumen, einem
Weihnachtsgeschenk von Anita, woran sie drei Wochen gestickt hat, oh,
angenehmer Schlaf, wenn der Braten fett war und das Gemüse zart.
Man denkt im Einschlummern an die Wochenschau von gestern Abend:
Osterlämmer, erwachende Natur, Eröffnung der Spielbank in BadenBaden, Cambridge siegt gegen Oxford mit zweieinhalb Längen, - das
genügt, das Gehirn zu beschäftigen.
Oh dieses weichen Kissen, Daunen aus erster Wahl! Auf ihm vergisst
man das Ärgerliche der Welt, jene Nachricht zum Beispiel: Die wegen
Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidigung: Die Frau, Mutter von
sieben Kindern, kam zu mir mit einem Säugling, für den sie keine
Windeln hatte und der in Zeitungspapier gewickelt war. Nun das sind
Angelegenheiten des Gerichts, nicht unsere. Man kann dagegen nichts
tun, wenn einer etwas härter liegt als der andere, und was kommt, unsre
Enkel mögen es ausfechten!
Ach du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund! Schon läuft der
Strom in den Umzäunungen und die Posten sind aufgestellt.
Nein schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid
misstrauisch gegen ihre Macht, die sei vorgeben für euch erwerben zu
müssen! Wacht darüber, dass eure Herzne nicht leer sind, wenn mit der
Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder,
die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand,
nicht Öl im Getriebe der Welt!
(„Träume“, 1953)
3
Hausgenossen
Was mir am meisten auf der Welt zuwider ist, sind meine Eltern. Wo ich auch
hingehe, verfolgen sie mich, da nützt kein Umzug, kein Ausland. Kaum habe
ich einen Stuhl gefunden, öffnet sich die Tür und einer von beiden starrt
herein, Vater Staat oder Mutter Natur. Ich werfe einen Federhalter, ganz
umsonst. Sie tuscheln miteinander, sie verstehen sich. In der Küche sitzt der
Haushalt, bleich, hager und verängstigt. Er ist auch ekelhaft, manchmal tut er
mir leid. Er ist nicht mir verwandt, ist aber nicht wegzubringen.
Eine halbe Stunde habe ich Freude an der Literatur. Die Kinks, denke ich, sind
so viel besser als die Dave Clark Fives. Aber plötzlich kommt sie wieder, mit
blutverschmiertem Mund, und zeigt mir ihr neues Modell. Alles zweigeteilt,
sagt sie, ein Stilprinzip, Männchen und Weibchen. Fällt dir nichts Besseres ein,
frage ich. Tu nicht so, alter Junge, sagt sie. Hier die Gottesanbeterin. Während
sein Hinterleib sie begattet, frisst sie seinen Vorderleib. Pfui Teufel, Mama, sage
ich, du bist unappetitlich. Aber die Sonnenuntergänge, kichert sie.
Ich versuche mich zu beruhigen und will meine Bakunin-Biographie um ein
paar Zeilen weiter treiben. Da hat dich der Marx aber ganz schön fertig
gemacht, Michael Alexandrowitsch, sage ich laut, und schon steht Papa im
Zimmer. Er fieselt an einem Rekrutenknochen. Ich ziehe unter seinem
misstrauischen Blick den Staatsanzeiger über mein Manuskript. Du singst zu
wenig, sagt er, und ich merke erst, als er wieder draußen ist, dass er mein
Portemonnaie mitgenommen hat.
In der Küche weint der Haushalt ohne Hemmung. Ich mache die Augen zu,
stopfe mir die Finger in die Ohren. Mit Recht.
(„Maulwürfe“,1968)