Alice Salomon und ihre Theorie des Helfens

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Alice Salomon und ihre Theorie des Helfens
1 _ Einleitung
Zur Annäherung an das Thema „Alice Salomon und ihre Theorie des Helfens“
sollen zunächst einige grundlegenden Begriffe, wenigstens ansatzweise, geklärt
werden. Gerade vor dem Hintergrund des großen, jedoch nicht systematischen,
Werkes von Alice Salomon macht es Sinn, sich noch einmal klar zu machen,
was Ethik, was Moral bedeutet. Für Alice Salomon spielt gerade der Gerechtigkeitsbegriff eine große Rolle, so dass auch diesbezüglich eine kleine Hinführung sinnvoll erscheint. Entsprechendes gilt für Salomons Theoriebegriff.
Die, dem Thema implizite, Frage nach dem Zusammenhang von Alice Salomons „Theorie der Hilfe“ und ihrer Persönlichkeit, kann hier nur „angerissen“
werden. Frau Salomon wurde geprägt und wirkte in gesellschaftlich stark bewegten Zeiten. Ihre Herkunft, ihre Erfahrungen, ihre Motive, ihre Begegnungen
und selbst ihr Werk, sind vielschichtig und umfangreich. Die Auswahl der Originalquellen erfolgte hier nach ihrem Bezug auf ethische Aspekte.
Folgende Arbeitshypothesen sollen formuliert werden:
1. Alice Salomons Persönlichkeit wurde geprägt von ihrem unreligiösjüdischen und liberal-kapitalistischen Elternhaus und einer Erziehung,
die den Vorstellungen des gehobenen Bürgertums im kaiserlichen
Deutschland ihrer Zeit entsprach.
2. Alice Salomons Werk und Schaffen wurden geprägt durch eine, in der
Lösung der „sozialen Frage“ engagierte Umgebung und – in der Folge – durch die zunehmende Institutionalisierung von sozialer Arbeit
durch das sozialpolitische System.
3. Die Begegnungen mit Einzelpersönlichkeiten hatten Einfluss auf die
Entwicklung von Alice Salomons Charakter und ihr Werk (z.B. Jeanette Schwerin)
Bei der Suche nach Alice Salomons Ethikkonzept als Theorie einer Praxis sollen hier, quasi als heuristisches Mittel im Hintergrund, die Fragen nach den
Umstandsbestimmungen menschlichen Handelns im Anschluss an Aristoteles
dienen (vgl. Zirfas 1999, S.76). Zu berücksichtigen wären demnach, (1) wer
etwas tut, (2) was einer tut, (3) in bezug auf was oder an wem, (4) wann, (5) wo,
(6) womit jemand etwas tut, (7) weshalb einer etwas tut und (8) mit welcher Intensität. Zu den Antworten auf die Fragen (1), (2), (3) sowie (6), (7) und (8) soll
diese Arbeit hinführen. Zumindest tendenziell.
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2 _ Begriffe
Ethik
Der Begriff der Ethik wird ganz allgemein verstanden als:
„[...] die Wissenschaft vom sittlichen Wollen und Handeln“ (Hartfiel S.184).
HUEGLI differenziert den Gegenstand genauer, wenn er beschreibt:
„[Ethik ist der] Zweig der Philosophie, der sich mit moralischen Phänomenen und Werten
beschäftigt. Drei Gebiete oder Problemkreise lassen sich innerhalb der Ethik unterscheiden: 1. Die normative Ethik diskutiert, welche Moral die richtige ist. 2. Die Moralwissenschaft untersucht z.B. die psychologischen, biologischen, sozialen und historischen
Grundlagen moralischer Phänomene. [...] 3. Die Metaethik fragt nach der Abgrenzung der
moralischen von den nicht-moralischen Phänomenen und nach den erkenntnistheoretischen, sprachphilosophischen und ontologischen Grundlagen moralischer Urteile“ (Huegli
2003, S.189).
Vor allem der normative Aspekt erscheint hier von Interesse. Noch weiter geht
KUNZMANN in seiner Beschreibung. Er fragt nach den Grundlagen für „richtiges“ menschliches Handeln:
„Die Grundfragen der Ethik betreffen das Gute, das Haltung und Handlung des Menschen
bestimmen soll. Ihr Ziel ist, methodisch gesichert die Grundlagen für gerechtes, vernünftiges und sinnvolles Handeln und (Zusammen-)Leben aufzuzeigen. Die Prinzipien und Begründungen der Ethik sollen ohne Berufung auf äußere Autoritäten und Konventionen allgemein gültig und vernünftig einsehbar sein, weshalb sie gegenüber der geltenden Moral
einen übergeordneten, kritischen Standpunkt einnimmt“ (Kunzmann 1991, S.13).
Die Herkunft des Begriffes zeugt von einem differenzierten griechischen Bedeutungsursprung. Die Nutzung des Begriffes liegt heute allerdings klar auf einem
philosophischen bzw. soziologischen Schwerpunkt:
Ethik, „Moralphilosophie, Sittenlehre; Gesamtheit moralischer Lebensgrundsätze“ wird ab
dem 17. Jahrhundert zurückgeführt auf das lateinische ethice, ethica. Der Bezug reicht
zurück auf den griechischen Begriff ethos der zwei Bedeutungen trägt: „Gewohnheit, Herkommen; Gesittung, Charakter“ (ethos mit kurzem e); „Sitte, Brauch“ (ethos mit langem
e). (vgl. Duden S.190)
Moral
Gegenüber der Ethik leitet und bewertet die Moral menschliches Handeln im
„Jetzt“, im „Sein“. Sie reflektiert nicht. Sie weiß, was richtig und was falsch ist:
„Sitte, Sittenlehre; [Moral] bezeichnet in der Soziologie ein mehr oder weniger umfassendes, integriertes und komplexes System von Normen zur Beurteilung von individuellem
oder sozialem Verhalten als `richtig´ oder `falsch´, `gut´ oder `böse´, und zwar aufgrund
spezifischer religiös-weltanschaulicher Orientierungen und kultureller Werte“ (Hartfiel
S.515).
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Auch die Herkunft des Begriffes macht dies noch einmal deutlich: Moral gibt
vor, sie leitet an, zeigt sich in Sitte und Brauch und spiegelt sich im Charakter
der Menschen:
Im 16. Jahrhundert bedeutete das Substantiv „sittliche Nutzanwendung; Sittlichkeit“ und
geht auf das lateinische moralis „die Sitte betreffend, sittlich“ zurück. Seit dem 17. Jahrhundert wird der Begriff als „Sittenlehre“ verwendet und entstammt dem französischen
morale, dessen lateinisches Stammwort mos (moris) ist und „Sitte, Brauch; Gewohnheit;
Charakter“ bedeutet.
Theorie
HUEGLI beschreibt den Begriff folgendermaßen:
„Eine Theorie lässt sich allgemein definieren als zusammenhängende Reihe von singulären und universalen Aussagen, die es – über ein reines Beschreiben hinaus – ermöglichen, den Gegenstand der Theorie zu begründen, zu erklären oder zu verstehen. [...]
Traditionell wird von einer Theorie verlangt, dass sie sich bestätigen lässt (Hügli 2003,
S.621).
Abweichend dazu sagt KUHLMANN über den von Alice Salomon verwendeten
Theoriebegriff (2000, S.223, Fußnote 2):
„Salomon selbst definierte Theorie in Abgrenzung zur Praxis: Praxis sei das, was man in
eigener Sache tue, Theorie, was man in einer Sache denke. Nehmen wir diese einfache
Definition, wie sie auch dem gängigen Verständnis im Begriffspaar `Theorie-Praxis´ entspricht, so könnten wir alles verschriftlichte Nachdenken über ein Problem (auch wenn es
nicht logisch und systematisch verfährt) als Theorie qualifizieren. Theorie wäre dann –
dem griechischen Ursprung des Wortes entsprechend, die „Anschauung“ von den Dingen.“
Die „Bestätigung“ der Theorie Alice Salomons scheint so nicht möglich. Eine
eingehendere Klärung des von Alice Salomon verwendeten Theoriebegriffes
wäre vielleicht wissenschaftstheoretisch interessant. An dieser Stelle reicht der
Hinweis auf die Vorstellung von Theorie als „Anschauung“. KUHLMANN ordnet
die Arbeiten von Alice Salomon aus heutiger Perspektive der „Frauenforschung“
(aufgrund ihrer „konsequent feministischen Perspektive“) und dem „Pragmatismus“ (aufgrund ihrer „praxisnahen Beschreibung und Interpretationen eines
Berufsfeldes“) zu (vgl. Kuhlmann 2000, S.224, Fußnote 5).
Gerechtigkeit
Der Gerechtigkeitsbegriff spielt bei Alice Salomon eine besondere Rolle. Der
hier eingeführte Begriff soll vor allem eine Vorstellung vom Inhalt des Begriffes
schaffen:
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„Als Minimalanforderung an eine gerechte Handlung oder einen gerechten Entschluss gilt,
dass gleiche Fälle gleich und ungleiche Fälle ungleich behandelt werden sollen. [...] [Dieser Grundsatz] ist Ausdruck einer Forderung nach Unparteilichkeit und Rationalität: Die
Art und Weise, in der ein Individuum behandelt wird, soll durch objektive Regeln bestimmt
werden. Dieses formale Prinzip gilt dabei für beide Hauptformen der Gerechtigkeit: die
austeilende oder distributive Gerechtigkeit, bei der es um die Verteilung von Rechten und
Pflichten, Gütern und Lasten geht, und die ausgleichende oder kommunitative Gerechtigkeit, die den Tausch verschiedenartiger Dinge betrifft, die Wiedergutmachung von Schaden und die Strafe bei Rechtsverletzungen“ (Hügli 2003, S.233).
Der Schlüssel zum Zugang des Begriffes liegt in der Beantwortung der Frage
nach den Kriterien zur Festlegung der Fallklassen und der entsprechenden Behandlungsweisen. Der Konsens über dieses Verfahren und dessen Transparenz macht Gerechtigkeit erst möglich. Verändert sich dieser Konsens, muss
neu verhandelt werden. Genau daran hat Alice Salomon mitgewirkt.
Zusammenfassend und im Hinblick auf die „Theorie des Helfens“ von Alice Salomon soll folgende These formuliert werden:
Die „Theorie des Helfens“ bei Alice Salomon basiert auf einer deontologischen Regel-Ethik, d.h. einer Pflichtethik, die an moralische Prinzipien gebunden und auf das Ziel (telos), soziale Gerechtigkeit zu erlangen, ausgerichtet ist.
Einen ersten Hinweis auf die Grundlage dieser Ethik liefert KUHLMANN: Die
Begründung einer „ethischen Verpflichtung zur sozialen Gerechtigkeit“ basiert
für Alice Salomon allein auf „Glaubenssätzen“ (vgl. Kuhlmann 2000, S.225).
3 _ Gesellschaftliche Situation gegen Ende des 19. Jahrhunderts
Allgemeine Situation
Die „Soziale Frage“ erzwang im kaiserlichen Deutschland den Staat zu Eingriffen in das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte. Auf den Sieg über Frankreich und der Reichsgründung 1871, folgte dem zunächst grenzenlosen wirtschaftlichen Optimismus bald der „Gründerkrach“(1873) und die Zeit der „Grossen Depression“: der durch die französischen Reparationszahlungen ausgelöste Wirtschaftsboom brach ein und beendete die Ära der liberal-kapitalistischen
Expansion in Deutschland. Der Übergang von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft war quasi abgeschlossen und wirtschaftliches Wachstum nur noch
beschränkt möglich (vgl. Sachße 2003, S.20). Erst die Elektrifizierung brachte
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ab 1893 neue Energie in die wirtschaftliche Entwicklung (vgl. Conze 1988,
S.215).
Während die Wirtschaft zu kollabieren drohte, wuchsen die Spannungen zwischen den Klassen vor allem in den (Groß-)Städten des Deutschen Reiches an.
Massive Binnenwanderungen von Osten nach Westen, vom Land in die Städte
im Zuge der Aufhebung der Leibeigenschaft 1807, hatten die Bevölkerungszahlen in den Städten ansteigen lassen. Die Menschen, die hier ihr Glück als Arbeiter in der Industrie suchten und fanden, verloren mit dem Gründerkrach und der
Wirtschaftsdepression ihre Arbeit oder fanden keine Anstellung mehr. Die Massenarmut wuchs. Entwurzelte und heimatlose Menschen, das „Lumpenproletariat“, wurden zu einem öffentlich relevanten Problem. Nach Schätzungen soll es
im Deutschen Reich 1880 zwischen 200.000 und 500.000 Menschen ohne
Wohnsitz gegeben haben (vgl. Sachße 2003, S.22).
In den Städten ballten sich das Industrieproletariat und „Arme“ auf engstem
Raum. Es gab nicht genug Wohnraum bzw. konnten sich viele Menschen eine
eigene Wohnung nicht leisten. „Schlafgänger“, Menschen ohne eigene Wohnung, ohne eigenes Bett, waren die Regel, genauso wie Menschen, die ihr eigenes Bett vermieteten, um das Dach über ihrem Kopf bezahlen zu können
(vgl. Sachße 2003, S.22). Die hohe Bewohnerdichte in Verbindung mit unadäquaten sanitären Bedingungen führten zu Seuchen und Epidemien: Cholera,
Tuberkulose. Daneben verschärften Mangelernährung, Arbeitsbelastungen und
Unfallgefahren sowie eine schlechte bis nicht vorhandene Gesundheitsversorgung die Lage der „Besitzlosen“ in dramatischer Weise.
Der Zwang zur Erwerbstätigkeit aus wirtschaftlichen Gründen, ließ Mütter und
Frauen als Betreuungs- und Erziehungsinstanzen ausfallen. Neben dem Anstieg nicht-ehelicher Geburten, einer hohen Säuglingssterblichkeit und immer
häufiger werdende Unterernährung der Kinder, wird für die zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts ein zunehmender Mangel an Versorgung von Kleinkindern
und eine wachsende Verwahrlosung von Jugendlichen konstatiert (vgl. Sachße
2003, S.24).
Es verfestigten sich in Deutschland „zwei Nationen“, die schon seit langem bestanden und über die Benjamin DISRAELI sagte: „Zwei Nationen, zwischen denen kein Verkehr und keine Sympathie bestand, die einander in ihrem Wollen,
Denken und Fühlen sowenig wie die Bewohner verschiedener Planeten ver5
standen, die durch eine verschiedene Erziehung gebildet, durch eine verschiedene Nahrung genährt wurden, die sich nach verschiedenen Sitten richteten
und über die nicht dieselben Gesetze geboten“ (Conze 1988, S.217).
Seit der Revolution von 1848 und verstärkt seit den 1860er Jahren weitete sich
vereinzelter Arbeiterprotest zu einer Arbeiterbewegung aus, deren soziale Ideen
und Ordnungsvorstellungen aus sehr unterschiedlichen ideologischen Quellen
gespeist wurden: Neben sozialistischer Einflüsse, waren bürgerliche Emanzipationsparolen in Erinnerung an die Französische Revolution (Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit) ebenso wirksam wie gesellschaftspolitisch-karitative Vorstellungen christlicher Soziallehren, was sich in unterschiedlichen Strategien ausdrückte. „Neben das Kampfziel des Umsturzes der bestehenden bürgerlichkapitalistischen Gesellschaftsordnung und der Herrschaftsübernahme durch
das Proletariat traten Vorstellungen von sozialer Emanzipation durch Wahlrechtsreformen, ökonomischer Demokratisierung durch betriebliche Mitbestimmung, Arbeiterbildung (Arbeiterbildungsverein), sowie durch erzieherische Realisierung christlich inspirierter Partnerschaft von Arbeit und Kapital“ (Hartfiel
S.34).
Sozialpolitik Bismarcks
Doch vor allem der Zweig der Arbeiterbewegung, der an Umsturz und Revolution dachte, ließ die Befürchtungen und Ängste unter der bürgerlichen Gesellschaft wachsen. Davon blieb auch Junker Bismarck, der Vater der Sozialgesetze, die in den 1880er Jahren etabliert wurden, nicht verschont. So wie er einerseits den Liberalismus ablehnte (vgl. Schmidt 1998, S.32), so machte er die
„Vernichtung der sozialistischen Arbeiterbewegung und die Integration der Arbeiter in die bürgerliche Gesellschaft“ (Sachße 2003, S.29) zu den Hauptzielen
seiner Sozialpolitik. Die Politik der „Peitsche“ und des „Zuckerbrots“ sollte dies
ermöglichen. Auf der einen Seite sollte das „Sozialistengesetz“ von 1878 den
radikalen Sozialismus stoppen. Die „Reichsidee“, der Gedanke an die Einheit
des Volkes und das Reich als Heimat und Versorger bzw. Fürsorger, sollte auf
der anderen Seite mit dem „Zuckerbrot“ der Sozialversicherungen integrierend
wirken (vgl. Sachße 2003, S.29). Die „Nachsorge“ (statt Vorsorge) sollte über
die Unfall-, Renten- und Krankenversicherung gleichzeitig politischen Druck aus
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der Auseinandersetzung mit der Arbeiterfrage nehmen und die unternehmerischen Entscheidungen von diesen Fragen unberührt lassen (vgl. Schmidt 1998,
S.26). Die Last der Versicherungen trugen primär die Erwerbstätigen. Der Erfolg der „Versicherungen“ bzw. einer Sozialreform von oben, linderte zwar die
Not, den politischen Konflikt zwischen den Arbeitern und dem monarchischen
Obrigkeitsstaat lösten sie nicht (vgl. Schmidt 1998, S.35). Die Weichenstellungen Bismarcks und deren weiterer Ausbau hielten zwar bis zum ersten Weltkrieg (das Sozialistengesetz wurde 1890 zurückgenommen). Den wachsenden
Zulauf zu den Arbeiterparteien allerdings verhinderten sie nicht.
Armenfürsorge
Parallel zum Aufbau der Arbeiterversicherung wurde auch die Armenfürsorge
oder Armenpflege reorganisiert. Vor allem das städtische Bürgertum, der wirtschaftliche und intellektuelle Mittelstand, war dabei Motor und Träger der Reformen im Bereich kommunaler Fürsorge: „In der kommunalen Sozialreform
fand das städtische Bürgertum ein Betätigungsfeld, auf dem sich die bürgerliche
Verantwortung für die Gesamtgesellschaft auch ohne durchgreifende politische
Demokratisierung demonstrieren ließ“ (Sachße 2003, S.31). Bürgerliche Vereine wurden mit dem Ziel gegründet, soziale Reformen zu realisieren. Bereits
1872 formierte sich der „Verein für Socialpolitik“, dessen „Kathedersozialismus“
maßgeblichen Einfluss auf das bürgerliche Fürsorgesystem und Alice Salomon
hatte (vgl. Landwehr 1981, S.15). Der „Deutsche Verein für Armenpflege und
Wohltätigkeit“, 1880 in Berlin als Zusammenschluss der städtischen Armenverwaltungen gegründet, sollte in Anbetracht der Größe und Qualität der zu bewältigenden Probleme, der „Information, Koordination und Systematisierung“ der
Erkenntnisse als Kompetenzzentrum für dessen Mitglieder dienen. Seit 1890
reformierten sich die Sozialverwaltungen hin auf präventive Strategien und eine
positive Gestaltung der Lebensverhältnisse der städtischen Unterschichten.
Schwerpunkte der neuen Leistungen umfassten vor allem die Bereiche Wohnungs- und Gesundheitsfürsorge, Erwerbslosenfürsorge und Fürsorge für
Säuglinge, Kinder und Jugendliche (vgl. Sachße 2003, S.31).
Seit dem Ende der 1880er Jahre existierten im Deutschen Reich somit zwei
Systeme sozialer Sicherung nebeneinander: Fürsorge und Sozialversicherung.
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Die Sozialversicherung war als Arbeiterversicherung beitragsgesteuert. Fürsorge hingegen eine Transferleistung. Mit der Etablierung dieser Dualität der Hilfe
ergab sich nach SACHSSE für die Institutionen der Fürsorge (oder die soziale
Arbeit) die Möglichkeit oder auch Notwendigkeit, den Verlust der Aufgabe finanzielle Transferleistungen zu erbringen, zu kompensieren durch die Entwicklung
spezifischer Hilfsangebote nicht-materieller Art: „Beratung, Belehrung und persönliche Beeinflussung“: „Dieser Entwicklungsprozess ist es, dem die moderne
Sozialarbeit ihre Entstehung verdankt“ (vgl. Sachße 2003, S.35). Diese folgt
nach SACHSSE drei parallelen Entwicklungslinien zwischen 1890 und 1910:
(1) dem organisatorischen Übergang vom Elberfelder zum Straßburger System, was die Beschäftigung ehrenamtlicher, vornehmlich weiblicher,
Helferinnen im Außendienst ermöglichte;
(2) der Übergang von klassischer ordnungspolitischer Armenfürsorge zu einer differenzierten Fürsorge als Profession;
(3) der Entwicklung der bürgerlichen Frauenbewegung, die Fürsorge entsprechend ihrem „spezifischen Ideal weiblicher Emanzipation“ zu einem
„Konzept sozialer Arbeit als Frauenberuf“ weiterentwickelte (vgl. Sachße
2003, S.35).
4 _ Alice Salomon
Alice Salomon wurde am 19.April 1872 in Berlin geboren. Am 30. August 1948
starb sie im Alter von 76 Jahren in New York. Zwischen diesen beiden Ereignissen liegt ein Leben, das im bürgerlichen deutschen Kaiserreich begann und
sich formierte, den Ersten Weltkrieg erlebte, genauso wie Revolution und Weimarer Republik. Die Nazis trieben sie 1937 ins Exil. Dort erlebte sie den Untergang des „Dritten Reiches“. Nach Deutschland kehrte Alice Salomon nicht mehr
zurück.
Die Lebensdaten der Alice Salomon sind bekannt, die wichtigsten Stationen im
Anhang aufgelistet. In dem Bemühen, Alice Salomons handlungstheoretischen
Ansatz zu verstehen – im Rahmen dieser Arbeit kann es dabei nur um Ansätze
eines Verstehens gehen – soll hier, ganz im Sinne von Max WEBER, den
Gründen des subjektiv gemeinten Sinns nachgegangen werden, die „Verhalten“
erst zu „Handeln“ machen. Und mit LUHMANN wird hier angenommen, dass
sich Sinn durch die Betrachtung der jeweils getroffenen Entscheidungen unter
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Voraussetzung eines gewissen Möglichkeitshorizontes („wir haben immer die
Wahl“) annäherungsweise erschließt (vgl. zur sinnverstehenden Methode in der
Sozialphilosophie z.B. Horster 2005).
Beschreibungen und Fingerzeige
„Ihre Lieblingsgestalten waren Florance Nightingale und Jane Addams. Ihnen
fühlte sie sich im Innersten wahlverwandt und das mit Recht; denn sie hatte mit
beiden wesentliches gemeinsam“ (Peyser 1958, S.11).
Mit F. Nightingale teilte Alice Salomon (vgl. Peyser 1958, S.11):
Die Schaffung eines (Frauen-)Berufes
Das Leiden unter der „Nutzlosigkeit einer bürgerlichen Jugend und
Lebensform“
Die Notwendigkeit den eigenen Weg „in die Freiheit eines tätigen
Lebens“ erkämpft haben zu müssen
Einen tiefen „religiösen Idealismus verbunden mit einer realistischen
Organisationsgabe auf sozialem Gebiet“
Ein „unerschöpflicher Tätigkeitsdrang“
Mit J. Addams verband sie ein ähnlicher Werdegang im sozialen Tätigkeitsfeld
(vgl. Peyser 1958, S.12):
Alice Salomon begann als Mitglied der „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ in Berlin
Alice Salomon entwickelte sich zu einer international anerkannten
Repräsentantin der sozialen Arbeit und v.a. der sozialen Berufsausbildung
Alice Salomon war eine wichtige Vertreterin der internationalen Frauenbewegung
„Wenn ich ihre hervorstechendste Fähigkeit mit einem Wort bezeichnen soll, so
würde ich sagen: sie war ein `Verwirklicher´“ (Peyser 1958, S.12).
„Alice Salomon war körperlich zart und anfällig“ (Peyser 1958, S.12).
„Sie war eine bürgerliche Frau ihrer Generation, eine Dame im besten Sinne,
und hielt an allem, was an ihrer sozialen Herkunft wertvoll war – Wohnkultur,
anregende Geselligkeit, Interesse an Kunst und Wissenschaft – ihr Leben lang
fest.“ (Peyser 1958, S.13)
„Für Gertrud Bäumer war Salomon die wichtigste Protagonistin des `großstädtischen geistigen Sozialismus´“ (Kuhlmann 2000, S.45).
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Charlotte Dietrich über Alice Salomon: Sie habe es verstanden, „die im Menschen liegenden Kräfte zu wecken“ (Dietrich nach Kuhlmann 2000, S.45).
Biographische Aspekte
Autoren die sich mit der Biographie Alice Salomons beschäftigen teilen ihren
Lebensweg meist in folgende Beschreibungszeiträume ein (hier z.B. nach Berger 1998):
1872-1892
1893-1918
1919-1932
1933-1948
Elternhaus, Kindheit und Jugend
Von der Gründung der „sozialen Gruppen“ zu Alice Salomons Tätigkeit im „Nationalen Frauendienst“
Vom Einsatz für die internationale Frauenbewegung und für die
professionelle Bildung der Frauen bis zu Alice Salomons 60. Geburtstag
Von der Entlassung aus allen öffentlichen Ämtern und Alice Salomons Emigration bis zu ihrem Tode
Je nach biografischem Schwerpunkt wird die eine oder andere Phase genauer
beleuchtet. Hier soll der Blick auf Alice Salomons Kindheit und Jugend, sowie
auf ihre „Lehrjahre“ gerichtet werden.
Kindheit und Jugend
Alice Salomon war Tochter eines wohlhabenden bürgerlichen Ehepaares. Vater
Albert Salomon entstammte einer Kaufmannsfamilie, die seit Anfang des 18.
Jahrhunderts in Norddeutschland ansässig und als Juden unter dem Schutz
Friedrich des Großen standen. In der dritten Generation betrieb Albert Salomon
zusammen mit seinen Brüdern einen Lederhandel (vgl. Peyser 1958, S.13). Die
Mutter Anna geb. Potocky-Nelken entstammte einer Breslauer Bankiersfamilie.
Alice Salomon war die zweite von vier Töchtern. Sie hatte noch einen Bruder.
Alice erhielt ihren Namen nach „Alice“, der Großherzogin von Hessen, einer
Tochter der Queen Victoria (vgl. Peyser 1958, S.14). Das Leben das die Familie
lebte, war ein bürgerliches: ein Leben in „hochherrschaftlicher Wohnung“ und
Garten, wohlbehütet und fernab von den Arbeitervierteln Berlins. Der Vater war
ein Mann mit liberaler Gesinnung und viel unterwegs (vgl. Kuhlmann 2000,
S.49). Die Mutter erzog Alice „konservativ-bürgerlich“ (Peyser 1958, S.15). Obwohl die Familie jüdisch war, spielte Religion im Hause Salomon keine große
Rolle (vgl. Kuhlmann 2000, S.50). Es wurden die christlichen Feste gefeiert (vgl.
Kuhlmann 2000, S.252). „Das Judentum war für die Mutter eine Sache der Tradition, die man hätte erhalten sollen, wozu sie aber den Mut nicht hatte“ (Peyser
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1958, S.15). Alice Salomon besuchte eine christlich-konfessionelle Schule. Allerdings wurde - als sie etwa zehn Jahre alt war - noch einmal versucht, Alice
und ihren Schwestern das Judentum mittels eines orthodoxen Hauslehrers näher zu bringen. Der Versuch scheiterte (vgl. Peyser 1958, S.16).
Mit dem Tod ihres Vaters begann sich das Leben von Alice Salomon zu verändern. Alice war mit der Schule fertig und die Familie zog in eine kleinere Wohnung. Sie führte das Leben einer „höheren Tochter“. Diesem „Nichtstun“ versuchte sich Alice Salomon zu entziehen. Sie wollte Lehrerin werden. Das lehnte
die konservative Familie von Alices Mutter und vor allem ihr Onkel als ihr Vormund ab. Doch sie ließ sich nicht von ihrem Streben nach „mehr“ (als das Warten auf die Ehe) abbringen. So bereitete sie sich erst heimlich und dann durch
den Besuch des Viktoria-Lyzeums auf weitere Herausforderungen vor. Der
Grund für ihr Engagement nach Bildung war, so PEYSER, „ihr Suchen nach
dem Sinn des Lebens“ (Peyser 1958, S.18), der sich nicht ohne weiteres von
den Eltern auf die Kinder dieser Zeit übertrug (vgl. Salomon in Berger 1998,
S.18). LANDWEHR sieht in dieser Situation des Wartens verallgemeinernd „die
latente Bereitschaft bürgerlicher Frauen zu einem sozialen Engagement“ begründet (vgl. Landwehr 1981, S.18).
Lehrjahre (1893-1899)
Nachdem Alice Salomon 1893 volljährig wurde, erreichte sie die Einladung zur
Gründungsversammlung der „Mädchen und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“, die am 5.Dezember 1893 im Bürgersaal des Berliner Rathauses stattfand.
Die Initiative zu dieser Veranstaltung ging aus von einem Komitee der 1892 in
Berlin gegründeten „Gesellschaft für ethische Kultur“. Ihm gehörten „eine Anzahl von, in Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege, führende Berliner Persönlichkeiten“ an, darunter Mitglieder des „Vereins für Sozialpolitik“ und Vertreterinnen
der Frauenbewegung (vgl. Landwehr 1981, S.19). Einen Überblick über die Initiatoren und Sponsoren (Auswahl) der „Gruppen“ gibt Abb.1 im Anhang.
Die „höheren Töchter“ befanden sich im Wartestand. Ihre Aktivierung sollte einen sich abzeichnenden Bedarf an qualifizierten Helferinnen decken helfen und
damit den bürgerlichen Bestrebungen zur Lösung der sozialen Frage zu gute
kommen und gleichzeitig zur Profilierung der Frauenbewegung beitragen (vgl.
u.a. Landwehr 1981, S.18f; Peyser 1958, S.22f). Kommuniziert wurde im Aufruf
an die jungen Mädchen und Frauen die Notwendigkeit zu „ernster Pflichterfül11
lung am Dienste der Gesamtheit“. Um „Emanzipationsbestrebungen“ ging es
bei den „Gruppen“ explizit nicht (Peyser 1958, S.20). Als Motiv zur Mitwirkung
diente die (Selbst-) Zuschreibung einer Schuld, aus der eine Pflicht zum Engagement erwachsen müsse:
„Der wirtschaftliche und kulturelle Notstand in großen Bevölkerungsschichten des
Vaterlandes, die zunehmende Verbitterung innerhalb weiter Kreise des Volkes, rufen
auch die Frauen gebieterisch zu sozialer Hilfstätigkeit auf. Es darf nicht länger verkannt
werden, dass gerade die Frauen und jungen Mädchen der besitzenden Stände vielfach
eine schwere Mitschuld trifft, jene Verbitterung durch den Mangel an Interesse und
Verständnis für die Anschauungen und Empfindungen der unbemittelten Klassen, durch
den Mangel jedes persönlichen Verkehrs mit diesen Volkskreisen gesteigert zu haben“
(Peyser 1958, S.20).
Im Zentrum stand allerdings nicht, so PEYSER, eine „Wohltätigkeit“, sondern
planvolles Handeln aus dem „Pflichtgefühl für die Gemeinschaft“ heraus. Dafür
wurden die jungen Mädchen und Frauen, die ihre Aufgabe ehrenamtlich erfüllten, ausgebildet (vgl. Peyser 1958, S.22).
Alice Salomon arbeitete einmal wöchentlich in einem Mädchenhort und machte
auch Hausbesuche (vgl. Berger 1998, S.22f). Neben der Arbeit hatte vor allem
die Begegnung Alice Salomons mit Jeanette Schwerin nachhaltige Wirkung auf
ihre Persönlichkeitsentwicklung. Schwerin wurde für Alice Salomon zur mütterlichen Freundin und „geistigen Führerin“ (Peyser 1958, S.27). Jeanette Schwerin
war Mitgründerin der „Berliner Gesellschaft für ethische Kultur“, Mitglied des
Berliner Vereins „Frauenwohl“ und seit 1896 im Vorstand des „Bundes deutscher Frauenvereine“. Die Arbeit der „Gesellschaft für ethische Kultur“ war richtungsweisend: Frauen waren, im Gegensatz zur Gesellschaft, gleichberechtigte
Partnerinnen. Es wurde eine Reform der privaten Wohltätigkeit geplant, in deren Mittelpunkt Aufklärung und Beratung stehen sollten. Die „Gesellschaft“ realisierte dieses Konzept mit der „Auskunftsstelle der Gesellschaft für ethische
Kultur“ (später: „Zentrale für private Fürsorge“) (vgl. Peyser 1958, S.25).
„Das Vorbild für die `Gesellschaft für ethische Kultur´ waren in Amerika gegründete Gemeinden, in denen Denker dieser philosophischen Richtung [englischer Positivismus und
Darwinistische Entwicklungstheorie; M.J.] die Begriffe einer humanen Ethik in volkstümlicher Weise lehrten. Der Hauptgedanke war, `dass in dem Wohlfahrtsprinzip die Grundlage für das genetische Verständnis der sittlichen Regeln und der Maßstab für den Wert alles praktischen Verhaltens gewonnen wird´. Man hatte erkannt, `dass ethische Kultur der
Individuen und Reform der sozialen Zustände einander wechselseitig fordern und bedingen´, und glaubte, `an die Realisierbarkeit eines unbedingten sozialen Gleichgewichts
und einer allgemeinen Wohlfahrt auf Erden´“ (Peyser 1958, S.25).
Über Frau Schwerin erhielt Alice Salomon Zugang zu sozialkritischer Literatur.
Sie las Tolstoi, Disraeli, Ward, Besant, Goethe und insbesondere Thomas
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CARLYLE und John RUSKIN. „Frau Schwerin bestand darauf, dass Alice Salomon nicht in ihrer Tätigkeit aufging, sondern sich durch Lesen ihr eigenes soziales Weltbild formte“ (Peyser 1958, S.27). Von der „Settlement“-Bewegung
erfuhr Alice Salomon ebenfalls von Frau Schwerin. Bei ihrem Aufenthalt in London besuchte sie „Toynbee-Hall“. Die „Settlements of University Men in Great
Towns“ waren durchzogen von den Ideen der Engländer CARLYLE und
RUSKIN, die dadurch in praktische Reformen umgesetzt werden sollten. Während für CARLYLE die Zusammengehörigkeit der Klassen und damit die Einheit
der Gesellschaft als ein organisches Ganzes mit wechselseitig voneinander
abhängigen Teilen ein wichtiges Thema war, zielte RUSKIN mit seiner Arbeit
auf die besondere soziale Verantwortung der oberen für die unteren Klassen in
der Gesellschaft. Zur Begründung dieser persönlichen Verantwortung der
Wohlhabenden gegenüber den Besitzlosen bezog sich RUSKIN auf die christliche Sozialethik (vgl. Sachße 2003, S.113-116). Bei der Umsetzung der Reformen spielte die intellektuelle und politische Elite eine besondere Rolle. Sie sollte die Klassenspaltung durch persönlichen Kontakt mit den Armen überwinden
helfen, ihnen Bildung und Kultur geben und dabei ganz allgemein ihre Probleme
kennen und verstehen lernen (vgl. Sachße 2003, S.116). „Nicht Geldspenden
und Reformprogramme [...] würden von den Armen dringend benötigt, sondern
persönliche Begegnung, Freundschaft, Verständnis für ihre Situation“ (Sachße
2003, S.117). Hier zeigten sich die Ansätze, die auch den „Gruppen“ zur Richtschnur wurden.
Neben einem Überblick über die aktuellen Reformströmungen in Europa eröffnete Jeanette Schwerin Alice Salomon auch den Zugang zur nationalen und
internationalen Frauenbewegung. Als „rechte Hand“ von Frau Schwerin, reiste
Alice Salomon 1898 nach Hamburg zur Tagung des „Bundes Deutscher Frauenvereine“, wo sie erfolgreich ihre Jungfernrede hielt und später, als Vertretung
für Frau Schwerin, nach London zum Kongress des „Internationalen Frauenbundes“ reiste (vgl. Berger 1998, S.24).
Mit dem Tode von Jeanette Schwerin am 14. Juli 1899 verlor Alice Salomon
ihre Mentorin und die „Gruppen“ ihre Vorsitzende. Auf Anraten des Stadtrats
Münsterbergs wurde Alice Salomon, die ehemalige Schriftführerin, zur Nachfol13
gerin ernannt. Die Grundlagen waren gelegt, der Weg vorgezeichnet. Und Frau
Salomon erhielt die Bewegung, festigte und entwickelte sie, „energisch und mit
Erfolg“ (vgl. Peyser 1958, S.35).
Als Meilensteine ihres Einsatzes für Schaffung einer beruflichen Tätigkeit in der
Wohlfahrtspflege sind zu nennen (vgl. z.B. Landwehr 1981):
1899 die Organisation und Koordination eines Jahreskurses zur Vorbereitung der Frauen als Herzstück einer zukünftigen Profession Sozialer
Arbeit;
1908 die Eröffnung der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg mit einer dreijährigen Ausbildung zur sozialen Berufsarbeit;
1917 Vorsitz der von ihr begründeten Konferenz Sozialer Frauenschulen in
Deutschland;
1925 die Gründung der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische
Frauenarbeit;
1929 Gründung und Vorsitzende des Internationalen Komitees sozialer
Schulen.
Parallel war Alice Salomon in der Frauenbewegung sehr engagiert, auch international. FEUSTEL weist in ihrer Würdigung Alice Salomons auf deren vielseitige Engagements hin, die sie „initiativ, aufklärend und innovativ“ ausfüllte. Sie
war Lehrerin und Schulleiterin, Publizistin (LANDWEHR nennt 27 Buchveröffentlichungen und 247 Zeitschriftenbeiträge), Wissenschaftlerin (Promotion in
Nationalökonomie 1906 über die ungleiche Entlohnung von Männern und Frauen), Politikerin (national und international) und Rednerin.
Einordnung
SACHSSE sieht im Werk und Engagement Alice Salomons die Verknüpfung
eines Konzepts vom „sozialen Frieden“ mit dem Konzept einer „geistigen Mütterlichkeit“ als „spezifische Emanzipationsvorstellung des gemäßigten Flügels
der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland“ (Sachße 2003, S.121). Diese geistige Mütterlichkeit bestand aus einem spezifischen mütterlichen Wesen,
das einen „bewahrenden, hegenden und pflegenden Charakter“ hatte. Damit
war die bürgerliche Frau, nach SACHSSE, in der besonderen Lage, die Gegensätze zwischen den sozialen Klassen im „direkten persönlichen Kontakt mit den
Schwestern der unteren Volksklassen“ zu überbrücken und so an der „Herstellung des Volksganzen“ zu wirken (Sachße 2003, S.121).
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5 _ Alice Salomons „Theorie des Helfens“
Alice Solomons „Theorie des Helfens“ besteht nicht aus einem systematisch
erstellten Werk mit dem Ziel eine solche Theorie zu entwerfen. Alice Salomon
war vielmehr eine „Pionierin der Wissenschaft der sozialen Arbeit, und ihr Beitrag war es vor allem, dass sie Perspektiven und Fragestellungen eröffnete“
(Kuhlmann 2000, S.223). Als das Ziel ihrer theoretischen Schriften nennt Alice
Salomon „`richtiges´ Handeln zu begründen und zwar ohne ins `Fahrwasser der
Abstraktionen´ zu geraten“ (Kuhlmann 2000, S.223).
Als These soll hier nochmals formuliert werden:
Die „Theorie des Helfens“ bei Alice Salomon basiert auf einer deontologischen Regel-Ethik, d.h. einer Pflichtethik, die an moralische Prinzipien gebunden und auf das Ziel (telos), soziale Gerechtigkeit zu erlangen, ausgerichtet ist.
Prämissen
KUHLMANN erarbeitete die Annahmen Alice Salomons über den Menschen als
eine Grundlage einer „Theorie des Helfens“ (vgl. Kuhlmann 2000, S.226-231):
„Alle Menschen sind gleichberechtigt, aber verschieden“:
dieses muss sich in sozialer Arbeit niederschlagen;
„Der Mensch ist nicht das bloße Produkt seiner Umwelt“:
Wille und innere Kraft sind eine entscheidende Größe im Leben;
muss durch soziale Arbeit berücksichtigt werden;
„Der Mensch wird zum Menschen durch Arbeit“:
Arbeit dient als Brücke zur Gesellschaft; Arbeit hilft dem Menschen
ein soziales Wesen zu bleiben; nicht arbeitsfähige Menschen bleiben
Menschen;
„Der Mensch ist verflochten mit der Gesellschaft“:
Das Wesen des Lebens erfülle sich in der Beziehung des Einzelnen
zu seinem Nächsten. Der Einzelne wird durch die Gesamtheit geschaffen. Daraus leitet sich eine Schuld der Gesamtheit gegenüber
ab, die jeder zu tilgen habe;
„Der Mensch ist verantwortlich für die, von deren Leistung er lebt“:
aus dem Bewusstsein der eigenen materiellen und geistigen Abhängigkeit erwächst das Gefühl zur sozialen Verpflichtung; Besitz verpflichte zum Handeln;
„Der Mensch ist egoistisch, aber zur selbstlosen Hilfe fähig“:
Selbstsucht führe zum Krieg aller gegen alle; Egoismus wird Altruismus, Individualismus wird Gemeinsinn gegenübergestellt.
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Pflichtbegriff
Aus diesen Grundannahmen über den Menschen entwickelte Alice Salomon
einen Pflicht-Begriff, der die Verantwortung der wohlhabenden bürgerlichen
Klasse, gegenüber den besitzlosen Klassen, in den Blick nimmt. In ihrer Schrift
„Die Entfaltung der Persönlichkeit und die sozialen Pflichten“ (1907), zielt Alice
Salomon auf die jungen Mädchen und Frauen ihrer Klasse. Nicht Individualismus oder die „Glückssuche“ nach den Vorstellungen von Ellen Kay könne deren Lebenssinn sein (vgl. Salomon 1907, S.14). Hoch moralisierend wendet
sich Alice Salomon gegen ein solches Leben – und wertet es ab:
„Die Mädchen, die nur der Entfaltung ihrer Eigenart leben, sich nur allseitig belehren und
entwickeln, ohne Pflichten zu erfüllen, die stellen sich aber in dieser Weise außerhalb des
Kreises der Werte schaffenden Menschheit. Sie sind Parasiten, die sich von der Kultur
nähren, die andere geschaffen haben“ (Salomon 1907, S.11).
Beim Streben nach Glück und Erfüllung gibt es für Alice Salomon nur einen
Weg:
„Ich sehe nur einen Weg, auf dem man für die Dauer Glück, Harmonie und Frieden finden
kann; und das ist der Weg, der durch Arbeit führt. Leben ist Wachstum, aber wir wachsen
nur bei der Arbeit; nur wenn wir einem Ziel zustreben, uns einer Aufgabe mit Treue, Geduld, Fleiß und Gewissenhaftigkeit zuwenden“ (Salomon 1907, S.14).
Der Grund, es klang schon oben an, diesen Weg zu gehen, ist die Pflicht, die
sich aus dem Wohlstand ergibt. Und diese besteht zwangsläufig und unabhängig von einem inneren Drang zur sozialen Tätigkeit – quasi als Gesetz:
„Denn `ist´s nicht Drang, so ist es Pflicht´; Pflicht eines jeden, der Not und Sorge nicht
kennt, nie zu vergessen, dass jeder seiner Atemzüge nur möglich ist, solange tausend
Hände sich für ihn regen; dass unsere Kultur aufgebaut ist auf den Opfern von Millionen
Menschen, zu denen unsere Gedankenlosigkeit in sozialen Dingen täglich neue trägt“
(Salomon 1907, S.15).
Soziale Gerechtigkeit
Das Handeln aus Verpflichtung hat für Alice Salomon als Ziel soziale Gerechtigkeit. Sie sei Aufgabe der Wohlfahrtspflege:
„Philosophisch gedacht, soll die Wohlfahrtspflege das Reich der sozialen Gerechtigkeit
schaffen helfen, einer Gerechtigkeit, die nicht nur jedem nach seiner Leistung gibt, sondern dem Schwachen Schutz und Hilfe bietet; die sich auf den Grundsatz stützt, dass die
Maxime unseres Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann“ (Salomon 1921,
S.199).
Die Instrumente, die Alice Salomon einsetzt, um soziale Gerechtigkeit zu erlangen, sind Ausbildung und Vernetzung bzw. die Einbettung ihres Handelns in die
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Zusammenhänge der öffentlichen Diskussion um die „Soziale Frage“, sowie der
nationalen und internationalen Frauenbewegung.
Fachliche Kompetenz und „soziale Gesinnung“
Die systematische Ausbildung gehörte von Anfang an zum Selbstverständnis
der „Gruppen“. Damit soziale Arbeit erfolgreich sein konnte, benötigten die Ausführenden Fachkenntnisse und Fertigkeiten (vgl. Sachße 2003, S.121f). Alice
Salomons Konzept von der sozialen Arbeit „als weiblichen Dienst am Volksganzen“, als spezifisch weibliche Fähigkeit, beinhaltete neben der Vermittlung von
Fachwissen auch die Schaffung einer Persönlichkeit mit „sozialer Gesinnung“
(vgl. Sachße 2003, S.122). Der Ort der Vermittlung dieser Kompetenzen war
die „soziale Schule“.
Auch der Bildungsauftrag ergibt sich aus der besonderen Verantwortung der
besitzenden Klasse. Und er unterstreicht die Rolle der sozialen Arbeit als Arbeit
und nicht als Beschäftigung oder Zeitvertreib, eben als eine sinnstiftende Tätigkeit zur Erfüllung der eigenen Existenz: „Gesegnet, wer seine Arbeit gefunden
hat!“ (vgl. Ansprache Alice Salomons zur Eröffnung der sozialen Frauenschule,
1908, in: Peyser 1958, S.59). Wobei für Alice Salomon bereits die Ausbildung
Teil der sozialen Arbeit ist, da sich für sie aus Bildung die Verpflichtung zur Anwendung des Gelernten zwangsläufig ergibt. Daher muss soziale Bildung ein
bestimmtes Qualitätsmerkmal aufweisen: die Erzeugung einer „sozialen Gesinnung“.
„Alle soziale Bildung bleibt wirkungslos und unfruchtbar, wenn sie nicht zur sozialen
Gesinnung führt, wenn sie den Menschen nur etwas beibringt, was sie vorher nicht
wussten, und sie nicht auch zu etwas macht, was sie vorher nicht waren“ (Salomon 1917,
S.84).
Erreicht werden soll dies durch eine - letztlich - „religiös-sittliche Erziehung“ (Salomon 1917, S.86). War diese erfolgreich, so hat der Altruismus über die Individualität gesiegt:
„Der Erfolg aller sozialen Bildung ruht in der Erweckung sittlicher Kräfte, in der Unterwerfung aller individuellen Wünsche überindividuellen Ideale, in der Erlösung von der Gewalt
der Eigenliebe, in der Inspiration der Selbstverleugnung und des Opfers, in dem Glauben
an die Brüderlichkeit der Menschen, in einem lebendigen Glauben, der Taten wirken
muß“ (Salomon 1917, S.87).
Das besondere an dieser Gesinnung ist, wie Alice Salomon herausstellt, ihr
Doppelcharakter. Die „soziale Gesinnung“ erweitere einerseits die „äußere
Form“ der „charitativen Gesinnung“: Während die christliche Nächstenliebe
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(„Charitas“) von „Mitleid, der Barmherzigkeit, der Liebe zum einzelnen Individuum“ ausgeht, bezieht sich soziale Arbeit auf „ganze Klassen, sucht jene zu
heben und zu fördern, geht von ihren Bedürfnissen, die verstandesmäßig erfasst werden können aus“ (Salomon 1917, S.84). Soziale Arbeit beruhe auf Organisation, auf Einordnung individueller Hilfstätigkeit in allgemeine Reformarbeit, also auf planvollem und strategischem Handeln im Hinblick auf die Zielgruppe und im Zusammenhang des gesellschaftlichen Hilfesystems. Das Ziel
der „Hebung ganzer Klassen“ bzw. die soziale Reform werde nur durch die „Arbeit für einzelne“ erreicht. Damit dieses Ziel - die Reform des Großen durch die
Hilfe am einzelnen - erreicht werden kann, benötigt die „soziale Gesinnung“ die
„gleichen inneren Voraussetzungen und Empfindungen“ wie die „Charitas“ (vgl.
Salomon 1917, S.85):
„Der Mensch kann dem Menschen nur wahre Hilfe bringen, wenn er mit ihm fühlt; wenn
fremde Not, fremdes Leid für ihn zum eigenen wird. Verstand und Wissen können ihn lehren, die Not zu sehen, zu begreifen. Beseitigen kann er sie nur, wenn er sie auch empfindet, wenn sie ihm im Herzen brennt“ (Salomon 1917, S.85).
Andererseits gehe die „soziale Gesinnung“ für Alice Salomon über den einzelnen weit hinaus. Die „Taten für den einzelnen Menschen“ wirken auf die ganze
Menschheit. „Soziale Gesinnung“ sei, so Alice Salomon, nicht nur „Wärme“,
sondern auch Verantwortlichkeit, Verstehen und Gerechtigkeit. Sie sei, anders
als die „charitative Gesinnung“, „nicht zu wecken“, sondern müsse „fest in Geist
und Seele“ begründet sein (Salomon 1917, S.86). Die „soziale Gesinnung“ wird
so zu einer aufgeklärten rationalen Haltung, die mit „brennendem Herzen“, die
Welt zu einem besseren Ort machen will.
Soziale Diagnose
Mit ihrem Buch „Soziale Diagnose“ legte Alice Salomon 1926 einen methodischen Zugang zum Handlungsfeld der sozialen Arbeit bzw. zur Wohlfahrtspflege vor. Die Notwendigkeit ergab sich aus einer zunehmenden Professionalisierung spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkrieges (Gründung des Wohlfahrtsstaates in der Weimarer Republik) und einer Entwicklung der Profession
hin zur Erwerbsarbeit und weg von der Freiwilligenarbeit (vgl. z.B. Landwehr
1981, S.33). Das Buch ist angelegt an die Schrift „Social Diagnosis“ von Mary
E. Richmond aus dem Jahre 1917.
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Alice Salomon versucht die Methoden der fürsorgerischen Arbeit „gleichrangig
neben die Kenntnisse der sozialen Gesetze und Einrichtungen“ zu stellen (vgl.
Landwehr 1981, S.65). Sie zeigt systematisch auf, wie Erkenntnisse gewonnen
und interpretiert werden, damit eine dem Einzelfall gerechtwerdende Intervention („Verschiedenes für verschiedenartige Menschen“) eingeleitet werden kann.
Dabei vergleicht Alice Salomon das Vorgehen des „Fürsorgers“ mit dem eines
Arztes, der nach Anamnese und Diagnose eine Therapie verordnet. Der
„Klient“, den Begriff führt Alice Salomon statt der bisherigen „Bittsteller“ oder
„Hilfsbedürftiger“ ein, wird unter ganzheitlichen Aspekten betrachtet:
„Zum Material der Ermittlungen gehören daher alle Tatsachen aus dem Leben des Bedürftigen und seiner Familie, die dazu helfen können, die besondere soziale Not oder das
soziale Bedürfnis der Betreffenden zu erklären und die Mittel zur Lösung der Schwierigkeit aufzuzeigen“ (Salomon 1926, S.261).
Dabei sind einerseits die Objektivität gegenüber den Klienten zu erhalten und
gleichzeitig ein Vertrauensverhältnis zum Klienten („helfende Beziehung“) anzustreben. Ob dann die Intervention gelingt, ist letztlich abhängig von der Persönlichkeit des Fürsorgers (vgl. Landwehr 1981, S.67). Voraussetzung generell
ist die Bereitschaft der Klienten sich helfen zu lassen:
„Niemand kann für einen anderen leben oder sterben. Niemand kann auch für einen anderen Menschen die Anpassung an die Lebensumstände vornehmen, oder eine einzige
Gewohnheit des anderen ändern. Niemand kann einen anderen dadurch stark machen,
dass er für diesen anderen arbeitet. Niemand kann ihn dadurch zum Denken veranlassen, dass er für den anderen denkt. Das Glück das ein Mensch sich erwirbt, hängt im wesentlichen von ihm selbst ab. Alle Möglichkeiten, die sich uns bieten, alle Ratschläge, die
wir erhalten, nutzen uns nichts, sofern wir sie nicht nutzen wollen“ (Salomon 1926,
S.304).
Die Methode ist kein Selbstzweck. Sie muss sich den sich verändernden Aufgaben anpassen und immer wieder neu beweisen. Die Methode dient dem Ziel,
dem „höheren Wert“, „die Methode muß sich ihm unterordnen (Salomon 1926,
S.300). Und das Ziel ist die adäquate Hilfe im Zusammenhang von sozialer Gerechtigkeit.
6 _ Schlussbetrachtung
Ganz im Sinne von HUEGLIs Definition von Ethik als Diskurs um die „Frage der
richtigen Moral“ bzw. KUNZMANNs Definition des Ziels von Ethik als Grundlage
für individuelles und kollektives Handeln (siehe Einleitung), entwickelte Alice
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Salomon eine soziale Ethik, die einerseits in der jüdisch-christlichen Tradition
steht, und andererseits den Ideen der Aufklärung verpflichtet bleibt. Dabei verband sie „Charitas“ mit einer spezifischen sozialen Gesinnung zu einer neuen
Form von Hilfehandeln: der sozialen Arbeit.
Ganz rigide gestaltete Alice Salomon, im Fahrwasser des sozialreformerisch
engagierten Bürgertums, die Verpflichtung „ihrer“ bürgerlichen Klasse gegenüber der Klasse der Besitzlosen, entlang eines theorieführenden (kategorischen) Imperativs, der auf nichts anderes abzielt(e) als auf soziale Gerechtigkeit. Ihre Moral entfaltete dabei Wirkung auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft. Während sie einerseits die jungen Mädchen und Frauen ihrer Klasse in
eine sinnvolle Tätigkeit aus Verpflichtung führte, strebte sie dadurch andererseits einen gesellschaftlichen Ausgleich an, der integrativ wirken sollte. In beiden Bereichen wirkte das Konzept außerordentlich erfolgreich.
Bildung und die Verpflichtung zu deren Anwendung, mündete bei Alice Salomon in ein ganzheitliches Handlungskonzept, das auf der konkreten Handlungsebene der Hilfe maßgeblich wurde. Im Idealtypus eines Fürsorgers bzw.
einer Fürsorgerin vereinten sich Fachwissen und „soziale Gesinnung“ (vgl.
Landwehr 1981, S.57). Generiert wurden diese Sozialarbeiter(innen) zunächst
in den „Gruppen“ und später in der „Sozialen Frauenschule“, erst in Berlin und
dann bald auch in vielen anderen Städten. Mit der „Sozialen Diagnose“ wurde
das Hilfehandeln bezogen auf den Einzelfall systematisiert und auf eine gewisse Weise rationalisiert. Sie repräsentiert auch den Versuch, die Gerechtigkeit
am einzelnen zu verankern („verschiedenes für verschiedenartige Menschen“).
Das Werk Alice Salomons steht für einen idealistischen Einsatz für die Idee einer sozialen Gerechtigkeit zwischen den Klassen innerhalb der Gesellschaft
unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen. Dieser Idee hatte sich
Alice Salomon verschrieben. Das entsprang – möglicherweise – ihrem Charakter, den sie als ihr Schicksal bezeichnete (Titel ihrer Lebenserinnerungen: „Charakter ist Schicksal“) und damit eine Wahlmöglichkeit (Luhmann) gewissermaßen ausschloss. Es ist aber auch Ausdruck ihrer Individualität. Und nach Ansicht von ZELLER war diese - möglicherweise stärker als Alice Salomon je ahnte – durch ihr jüdisches Erbe (individuell, aber vor allem kollektiv) geprägt (vgl.
Zeller).
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7 _ Literatur
Berger, Manfred (1998):
Alice Salomon. Pionierin der sozialen Arbeit und der Frauenbewegung. Frankfurt/a.M.: Brandes + Apsel.
Conze, Werner u.a. (Hg.) (1988):
Ploetz. Deutsche Geschichte. Epochen und Daten. 4.Auflage. Freiburg: Ploetz.
Duden (2001):
Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim u.a.: Dudenverlag.
Feustel, Adriane (Hg.) (2004):
Alice Salomon. Frauenemanzipation und soziale Verantwortung. Ausgewählte
Schriften in drei Bänden. Band 3. München: Luchterhand.
Hartfiel, Günter u.a. (31982):
Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Kröner.
Horster, Detlev (2005):
Sozialphilosophie. Leipzig: Reclam.
Hügli, Anton u.a. (Hg.) (2003):
Philosophie-Lexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie
von der Antike bis zur Gegenwart. 5. Auflage. Reinbeck: Rowohlt.
Kuhlmann, Carola (2000):
Alice Salomon. Ihr Lebenswerk als Beitrag zur Entwicklung der Theorie und
Praxis Sozialer Arbeit. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Landwehr, Rolf (1981):
Alice Salomon und ihre Bedeutung für die soziale Arbeit. Ein Beitrag zur
Entwicklung der sozialen Berufsarbeit und Ausbildung anlässlich des 10jährigen Bestehens der FHSS Berlin. Berlin: Veröffentlichungen der FHSS
Berlin.
Peyser, Dora (1958):
Alice Salomon. Ein Lebensbild. In: Muthesius, Hans (Hg.): Alice Salomon. Die
Begründerin des sozialen Frauenberufs in Deutschland. Köln: Carl Heymanns
Verlag, 1958. S.9-121.
Sachße, Christoph (2003):
Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 18711929. Weinheim: Beltz.
Salomon, Alice (1907):
Die Entfaltung der Persönlichkeit und die sozialen Pflichten. In: Bäumer, Gertrud (Hg.): Neue Lebensziele. Ansprachen an junge Mädchen. Heft 3. Leipzig:
Voigtländer. S.7-16.
21
Salomon, Alice (1917):
Soziale Frauenbildung und Soziale Berufsarbeit. Leipzig: Teubner.
Salomon, Alice (1921):
Die sittlichen Grundlagen und Ziele der Wohlfahrtspflege. In: Muthesius, Hans
(Hg.): Alice Salomon. Die Begründerin des sozialen Frauenberufs in Deutschland. Köln: Carl Heymanns Verlag, 1958. S.188-199.
Salomon, Alice (1926):
Soziale Diagnose. In: Feustel, Adriane (Hg.) (2004): Alice Salomon. Frauenemanzipation und soziale Verantwortung. Ausgewählte Schriften in drei Bänden. Band 3. München: Luchterhand. S.255-314.
Salomon, Alice (1983):
Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen. Weinheim: Beltz.
Schmidt, Manfred G. (1998):
Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich. 2. Auflage. Opladen: Leske+Budrich.
Zeller, Susanne (o.J.):
„Gerechtigkeit“ und nicht Almosen. Jüdische Ethik und ihre historischen Wurzeln für die Professionalisierung in der Sozialen Arbeit. S.53-65. Online unter:
http://www.fherfurt.de/so/homepages/zeller/skripte/Entstehungsgeschichte1.doc,
[Stand: 17.3.2004].
Zirfas, Jörg (1999):
Die Lehre der Ethik. Zur moralischen Begründung pädagogischem Denken und
Handelns. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
22
8 _ Anhang
8 _ 1 Alice Salomon – Lebensdaten
1872
1893
1899
1900
1902
1906
1908
1909
1914
1917
1920
1925
1929
1932
1933
1937
1939
1944
1945
1948
Am 19. April in Berlin geboren.
Mitglied der „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit".
Vorsitzende der „Gruppen"; im gleichen Jahr Eröffnung eines Jahreskurses zur Ausbildung in der sozialen Arbeit.
Mitglied des Bundes Deutscher Frauenvereine, dann Stellvertretende Vorsitzende des Bundes bis 1920.
Studium der Nationalökonomie in Berlin.
Abschluss des Studiums mit der Promotion zum Dr. phil.
Eröffnung der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg.
Ehrenamtliche Schriftführerin im Internationalen Frauenbund.
Übertritt zum evangelischen Glauben.
Vorsitzende der von ihr ins Leben gerufenen Konferenz sozialer
Frauenschulen Deutschlands.
Rücktritt aus dem Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine.
Gründung der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische
Frauenarbeit.
Gründung des Internationalen Komitees sozialer Schulen, dessen
Vorsitzende sie wird.
Verleihung des Dr. med. h. c. durch die medizinische Fakultät der
Berliner Universität, Ehrung durch das preußische Staatsministerium und Umbenennung der Sozialen Frauenschule in Alice Salomon Schule" anlässlich ihres 60. Geburtstages.
Verlust aller öffentlichen Ämter; in den folgenden Jahren arbeitet
sie in einem Hilfskomitee für jüdische Emigranten.
Verhör durch die Gestapo und Ausweisung aus Deutschland; sie
emigriert über England in die Vereinigten Staaten und lebt in New
York.
Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft.
Erwerb der amerikanischen Staatsbürgerschaft.
Ehrenpräsidentin des Internationalen Frauenbundes und der
Internationalen Vereinigung der Schulen für Sozialarbeit.
Alice Salomon stirbt am 30. August in New York.
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8 _ 2 Initiatoren und Sponsoren der „Gruppen“
Abb. 1: Initiatoren und Sponsoren der „Gruppen“ (Quelle: eigene Darstellung)
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