Porträt Heft 08/2005: Ray Kurzweil Leben Sie ewig!

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Porträt Heft 08/2005: Ray Kurzweil Leben Sie ewig!
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Leben Sie ewig!
Der Erfinder und Futurist Ray Kurzweil sieht die Unsterblichkeit in
greifbarer Nähe – und bereitet seine Anhänger mit zweifelhaften
Ratschlägen und Diätpräparaten aus der eigenen Firma darauf vor
VON STEFFAN HEUER; THOMAS KERN/LOOKATONLINE.COM (FOTOS)
Futurist und Visionär: Alter,
Krankheit, Tod – für Ray Kurzweil
sind das vermeidbare „Tragödien“
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an könnte es die Rosskur des 21. Jahrhunderts
nennen: 250 Pillen am Tag voller Vitamine, Enzyme,
Hormone und Pflanzenextrakte. Sechs intravenöse
Infusionen die Woche. Kein Fleisch außer magerem Geflügel.
Nicht mehr als 80 Gramm Kohlenhydrate am Tag. Kein Kaffee, kein Zucker, dafür täglich acht Tassen grünen Tee und
zehn Gläser gefiltertes, alkaliniertes Wasser mit einem pHWert von 9,5. Ionen-Luftfilter im Büro und im Schlafzimmer
sowie jeden Morgen eine Lage antioxidative Hautcreme für
Gesicht, Nacken und Hände. Die Amalgam-Plomben hat er
sich entfernen lassen, sein Handy benutzt er nur mit einem
speziellen Kopfhörer, der Keime aus dem Gehörgang fernhält.
Ray Kurzweil nennt dieses Programm zur Lebensverlängerung den „optimalen“ Fahrplan, um seinen 57 Jahre alten Körper in Bestform zu erhalten – bis das eintritt, was er seit den
90er Jahren in inzwischen vier großen Werken als seine Vision
der menschlichen Zukunft skizziert hat: das ewige Leben als
Verschmelzung von Mensch und Maschine. Wer noch auf
diesem Planeten sein will, wenn biologische und elektronische
Intelligenz eins werden, wie Kurzweil fest glaubt, sollte besser
jetzt Vorsorge treffen, damit die physische Hardware nicht
buchstäblich den Geist aufgibt. Für sein jüngstes Werk hat sich
der renommierte Technologe, Erfinder und Visionär aus Massachusetts mit einem zur ganzheitlichen Medizin konvertierten Arzt aus Colorado zusammengetan. Die beiden klopfen –
in Anlehnung an einen Science-Fiction-Thriller aus dem Jahr
1966 – schon auf dem Einband große Sprüche. „Die Fantastische Reise. Leben Sie lang genug, um ewig zu leben!“, verspricht das gut 450 Seiten starke Buch. Es ist, wie Kurzweils
gesamte Karriere, eine Verquickung aus penibel dokumentierter Zustandsbeschreibung des technischen und medizinischen
Fortschritts, Gesundheitstipps an der Grenze zwischen gesundem Menschenverstand, solider Schulmedizin und Spökenkiekerei sowie schließlich fantastisch anmutenden Versprechungen einer goldenen Ära unsterblicher Menschen in einer Welt
des Überflusses.
„Die Natur ist trotz all ihrer Kreativität auf dramatische
Weise suboptimal. Die kommende Revolution auf den Feldern
der Nanotechnologie und künstlichen Intelligenz“, so verkünden Kurzweil und sein Co-Autor Terry Grossman, „wird es uns
erlauben, unsere Körper und Gehirne Molekül für Molekül
neu zu designen und neu zu bauen. Die Unsterblichkeit ist in
Sichtweite.“
kurz gefasst
Ray Kurzweil wurde bekannt für zahllose Erfindungen,
unter anderem die erste Software zur optischen
Buchstabenerkennung und Lesemaschinen für Blinde.
Der Futurist prophezeit exponentiellen technischen
Fortschritt und die Verschmelzung des Menschen mit
zukünftiger Computertechnologie.
In seinem jüngsten Buch zusammen mit Arzt Terry
Grossman stellt er die Möglichkeit in Aussicht, das
menschliche Leben dramatisch zu verlängern.
Der Mann, der dies verkündet, ist seit meiner letzten
Begegnung mit ihm vor fünf Jahren sichtlich gealtert. Ray
Kurzweils Haar ist grau und schütterer geworden. Er macht
einen erschöpften Eindruck an diesem regnerischen Tag, als er
mit einem Pappbecher grünem Tee in das Besprechungszimmer seiner Firma außerhalb Bostons kommt, um seine Vision
vom ewigen Leben darzulegen. Im Flur hat der Kurierdienst
gerade ein Dutzend Kartons mit Erstdrucken seines nächsten
Buchs abgeladen: „The Singularity is Near“ („Die Einheit ist
nahe“) heißt der 600-Seiten-Wälzer, der im September in den
USA erscheinen wird. „Wenn Menschen die Biologie hinter
sich lassen“, verspricht der Untertitel.
RASENDER ERFINDER
„Ich habe mich schon lange für die zwei Gebiete Gesundheit
und Informationstechnologie interessiert“, sagt Kurzweil mit
leiser Stimme, während er den Blick fest auf seinen Pappbecher
grünen Tee richtet. „Technik beeinflusst alles, was uns wichtig
ist. Mein Interesse an Gesundheitsthemen stammt aus der eigenen Lebensgeschichte. Mit 35 bekam ich insulinunabhängige Diabetes und war gezwungen, mein eigenes Behandlungsprogramm zu entwickeln, da konventionelle Therapien nichts
nutzten.“ Dank einer radikalen Umstellung seiner Ernährung
und seines Lebenswandels ist Kurzweil heute nach eigenem
Bekunden nicht nur gesund, sondern hat das – unter Schulmedizinern umstrittene – „biologische Altersprofil“ eines
40-Jährigen. „In jüngster Zeit“, fährt Kurzweil fort, „haben
sich die beiden Gebiete zu überlappen begonnen. Wir verstehen zunehmend, dass Gesundheit, Biologie, Altern und Krankheit im Grunde genommen Informationsprozesse sind. Gene
sind Softwareprogramme, und die werden wir schon bald
punktgenau korrigieren und umprogrammieren können.“
Mit Software wie dieser Evolution 2.0 kennt sich Kurzweil
bestens aus. Seine Lorbeeren verdiente sich der MIT-Absolvent der Computerwissenschaften und Literatur auf dem
Gebiet der Informationstechnologie. In den 70er und 80er
Jahren entwickelte er viele Programme, ohne die die moderne
Informationsgesellschaft schwer vorstellbar wäre. Aus Kurzweils Tüftelei entstanden unter anderem die erste Software, um
Text in Maschinensprache umzuwandeln, der erste CCDFlachbett-Scanner, die erste Software zur optischen Buchstabenerkennung (OCR), aus der das heute noch erhältliche
Produkt TextBridge wurde, sowie eine ganze Reihe bahnbrechender Synthesizer. Bis heute ist Kurzweil berühmt für seine
Lesemaschinen für Blinde, die Xerox auf den Markt brachte
und für die Musiklegende Stevie Wonder mit dem Slogan
warb: „Raten Sie mal, wie er seine Post liest.“
Für seinen überbordenden Erfindergeist wurde Kurzweil
unter anderem vom amerikanischen Patentbüro in die „National Inventors Hall of Fame“ aufgenommen, von seiner Alma
Mater mit dem Lemelson-MIT-Preis ausgezeichnet (dotiert
mit einer halben Million Dollar) sowie von Präsident Clinton
2000 mit dem „Nationalorden für Technologie“ ausgezeichnet. In seinem Lebenslauf listet Kurzweil mehr als ein halbes
Dutzend von ihm gegründete Firmen und 14 Patente auf – also
alles andere als ein der Realität entrückter Fantast.
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Medizin für die Unsterblichkeit: 250 Pillen mit Vitaminen, Enzymen, Hormonen und Pflanzenextrakten pro Tag
Der Eindruck ändert sich ein wenig, wenn man Kurzweils
Bücher studiert. Von seinem 1990 erschienenen Buch „The
Age of Intelligent Machines“ (deutsch 1993 bei Hanser) zieht
sich ein roter Faden zu „The Age of Spiritual Machines“ 1999
(zu deutsch „Homo S@piens“) und den letzten beiden Werken, die noch nicht auf deutsch vorliegen. Die mechanistische
Weltsicht des in fast allen Disziplinen belesenen Informatikers
umspannt inzwischen das Universum. Was die Welt in Kurzweils Augen im Innersten zusammenhält, sind Informationsprozesse, die Atome wie Moleküle, Erbgut wie Proteine, Intelligenz wie Seele entstehen lassen.
Waren es in „Homo S@piens“ noch die intelligenten Maschinen, die den Menschen im 21. Jahrhundert erst an Rechenleistung und dann im Bewusstsein überflügeln werden, sodass
das Wesen eines Menschen als „Mind File“ samt Persönlichkeit auf einer Festplatte zwischengelagert werden kann, bis
neue Hardware zur Verfügung steht – sprich ein Designerkörper oder eine virtuelle Realität, die direkt ins Hirn anderer eingespeist werden kann –, so geht Kurzweil jetzt einen Schritt
weiter. „Die Fusion von biologischen Denkprozessen mit
nichtbiologischer Intelligenz, die wir schaffen, steht unmittelbar bevor“, schreibt er in „The Singularity is Near“: „Wir
haben die Fähigkeit, unseren Quellcode zu verstehen, ihn zu
revidieren und auszubauen.“ Wenn man nur genügend Rechenpower in die Schlacht schickt, lassen sich alle Probleme lösen.
Eines der drängendsten Probleme, das Kurzweil mit fortschreitendem Alter umtreibt, ist die eigene Sterblichkeit. Sein
Vater und Großvater starben beide vor ihrem 60. Geburtstag
an Herzversagen. „Hätte mein Vater gewusst, was in diesem
Buch steht, wäre er noch am Leben“, schreibt Kurzweil in
DIE BIOTECHNISCHE REVOLUTION
WIRD ES ERLAUBEN, GENE UND
PROTEINE EINFACH AUS- UND EINZUSCHALTEN, GLAUBT KURZWEIL
seiner Widmung von „Fantastic Voyage“. Alter, Krankheit und
Tod sind für ihn vermeidbare „Tragödien“, wie der Erfinder
im Gespräch ein halbes dutzend Mal wiederholt. „Der Tod ist
ein profunder Verlust an Wissen, Erfahrung, an Fähigkeiten
und zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Menschheit hat einen Großteil ihres Denkens in Philosophie und
Religion darauf verwendet, diese Tragödie zu rationalisieren.“
Kurzweil hingegen verbringt seine Zeit damit, Daten zu sammeln und auszuwerten, um jede nur denkbare Entwicklung
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als eine exponentielle Wachstumskurve darzustellen, die ausnahmslos dem von ihm formulierten „Gesetz der sich
beschleunigenden Erträge“ gehorchen. Dazu beschäftigt er einen Stab von zehn Mitarbeitern, die mathematische Modelle
bauen und mit Daten füttern. Moores Gesetz gilt laut Kurzweil nicht nur für Mikroprozessoren, sondern für die gesamte
uns umgebende Welt.
BRÜCKEN ZUR UNSTERBLICHKEIT
Deswegen ist es nur eine Frage weniger Jahrzehnte, bis Mediziner in der Lage sein werden, drahtlos kommunizierende
Nanoroboter in die Zellen zu schicken, um nicht nur genetisch
bedingte Krankheiten zu reparieren, Schad- oder Nährstoffe zu
dosieren, sondern sogar die Software des Lebens zu optimieren – also die Programmierungsfehler der Evolution zu beheben. Das gilt insbesondere für einen Prozess, den viele Experten nicht einmal als Krankheit, sondern als natürlichen Prozess
betrachten: das Altern.
In ihrem Buch samt begleitender Webseite zur „Fantastischen Reise“ nennen Grossman und Kurzweil den Kampf
gegen das Altern die „erste Brücke“ zur Unsterblichkeit. Wer
ihrem Programm aus ständigen Gesundheits-Checks, aggressivem Einsatz von Nahrungsergänzungsstoffen und generell
gesundem Lebenswandel folgt, versprechen sie, wird so lange
FÜR EIN PAAR HUNDERT DOLLAR
PRO SITZUNG KÖNNEN SICH PATIENTEN AN DEN VERMEINTLICHEN JUNGBRUNNEN ANSCHLIESSEN LASSEN
bei der Stange bleiben, bis die „zweite Brücke“ gebaut ist:
die biotechnologische Revolution, die es uns erlauben wird,
Gene und Proteine nach Belieben ein- und auszuschalten.
„In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren werden wir die Mittel und Technologien haben, um Krebs, Arteriosklerose und
Herzerkrankungen zu besiegen. Wir werden Alterungsprozesse erst verlangsamen, dann stoppen und rückgängig machen“,
prophezeit Kurzweil.
Bis es so weit ist, verdient sein Mitautor Terry Grossman
gutes Geld an der Angst der Amerikaner vor der vermeintlichen Krankheit „Altern“. Sein Frontier Medical Institute in
Golden bei Denver verlangt stolze 5000 Dollar für eine zweitägige „Langlebigkeits-Evaluierung“ – ein hochgestochener Begriff für einen umfassenden Check-up mit Belastungs-EKG,
Blutsenkung und mehreren anderen Tests, darunter umstrittene Analysen für genetische Auffälligkeiten und Entzündungsmarker wie Homocystein. Grossman lernte Kurzweil erst
1999 auf einer Nanotechnologie-Konferenz kennen und entwickelte die Idee eines gemeinsamen Buches über eine mehrjährige E-Mail-Korrespondenz.
„Früher hatte ich meine Zweifel an alternativer Medizin
und ernährte mich von Hamburgern, Pommes und jeder Menge Teigwaren“, berichtet der 58-jährige Arzt. Eine Knieverletzung brachte ihn zur Alternativmedizin. Grossman fährt allerdings ein weitaus weniger strenges Programm fürs ewige Leben
Vorbereitung aufs ewige Leben: Ray Kurzweil und seine
neuesten Langlebigkeits-Produkte, übers Web erhältlich in den
Geschmacksrichtungen Schoko und Beere-Vanille
als Kurzweil. Ein Blick auf den Einband des neuen Buches
zeigt, dass der angeblich so auf Umweltgifte bedachte Mediziner seine grauen Haare färbt. Zuweilen genehmigt er sich nach
eigenem Bekunden einen mit Bohnen und Reis gefüllten Burrito bei Taco Bell schräg gegenüber von seiner Vorstadt-Praxis. „Ich hoffe, ich habe genug von den Genen meines Großvaters geerbt. Er wurde 104 Jahre alt. Wenn wir mit unserem
Programm die Lebenserwartung um acht bis zehn Jahre verlängern, ist das ein enormer Unterschied, denn Ray hat ausgerechnet, wie viel weiter die Technik in diesen zehn Jahren sein
wird“, sagt Grossman zwischen zwei Patientenkonsultationen.
Grossmans „Medizinisches Institut“ ist ein gutes Beispiel
für die heikle Gratwanderung zwischen Beratung für einen
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Druide Kurzweil: In einem wild brodelnden Hexenkessel aus
Jungbrunnen-Mitteln, Gentechnik und Informationstechnologie
rührt er den Zaubertrank des ewigen Lebens zusammen
pen, die vor dieser nicht erwiesenen Behandlungsmethode
warnt: „Patienten, die sich so behandeln lassen, setzen mehr
als ihr Geld aufs Spiel.“
Gut sichtbar neben den Infusions-Sesseln steht das Buch
von Grossman und Kurzweil auf einem Tischchen, eingerahmt
von zwei Dosen mit Supplementen ihrer eigenen Marke „Rays
& Terrys Langlebigkeits-Produkte“. Das Duo verkauft über
seine Webseite Mixturen für bessere Augen, gesunde Gelenke,
niedrigere Cholesterinwerte sowie Shakes für eine kalorienreduzierte Diät. Ein gutes Pfund des Proteinpulvers in den
Geschmacksrichtungen Schoko und bald auch Beere-Vanille
kostet 34 Dollar. Die Branche setzte allein in den USA 2003
knapp 20 Milliarden Dollar um – Tendenz steigend.
„Ich habe es nicht nötig, Supplemente zu verkaufen“,
verteidigt Kurzweil sein neuestes Geschäft, bei dem er Einzelhändler als Vertriebspartner anzuwerben versucht. „Die
Mischungen, die wir empfehlen, gibt es so nicht im Handel.
Deswegen haben wir die Präparate nach unseren Anforderungen zusammengestellt. Ich würde einem Blinden ja auch nicht
sagen, er soll sich einen Computer, einen Scanner und Software einzeln kaufen!“
ZWEIFEL AM JUNGBRUNNEN
gesunden Lebenswandel und Therapien mit zweifelhaftem
Nutzen. Im Empfangszimmer liegen Broschüren für BotoxSpritzen gegen Falten und chemisches Peeling aus. Im hinteren Teil der Praxis stehen rund 20 mit Kunstleder bezogene
Ohrensessel dicht an dicht, über denen Haken in die Decke gedübelt sind, an denen sich Infusionsbeutel befestigen lassen.
Die Neonröhren in der Decke sind mit Plastikfolien voller
Wölkchen und blauem Himmel beklebt; auf der billigen Stereoanlage läuft eine CD mit New-Age-Musik.
Für ein paar hundert Dollar pro Sitzung können sich Patienten hier an den vermeintlichen Jungbrunnen anschließen
lassen – etwa die umstrittene Chelat-Therapie, bei der die
Aminosäure EDTA intravenös verabreicht wird, die Schwermetalle und Kalzium bindet und so Gefäßwände angeblich
von gefährlichen Ablagerungen reinigt. Die renommierte
American Heart Association ist eine von vielen Expertengrup-
Das Renommee von Ray Kurzweil hilft seinem Geschäftspartner Grossman, neue Kunden zu akquirieren. Etwa das blinde
Ehepaar Norma und Glenn Crosby aus Louisiana. Seit 27 Jahren betreiben die beiden einen Coffee Shop in Houston. Über
ihren Lebenswandel machten sich die beiden bis vor kurzem
wenig Gedanken – bis sie auf einem landesweiten Blindenkongress vergangenes Jahr Kurzweil reden hörten und sich sein
Buch bestellten. „Ich nehme das Gerede vom ewigen Leben
nicht wörtlich“, sagt Norma Crosby, während ihr Mann beim
Belastungs-EKG nebenan ins Schwitzen gerät. „Aber wir wollen unser Leben so umstellen, dass wir uns noch an unseren
Enkeln und Urenkeln erfreuen können.“
Die zusammen 10 000 Dollar Behandlungsgebühren plus
Flug und Hotel sind ein erheblicher Batzen Geld, geben die
beiden zu. „Unsere Kinder denken, wir spinnen. Aber das Geld
ist für diese Tests wohl besser angelegt, als wenn wir später
chronisch krank sind“, sagt Glenn Crosby. „Es ist nie zu spät,
seinen Lebenswandel zu ändern. Immerhin habe ich vor 25
Jahren aufgehört, zwei bis drei Schachteln am Tag zu paffen.
Und wenn Rays Prognosen stimmen und das ewige Leben in
ein paar Jahrzehnten technisch machbar ist – ich hätte bestimmt nichts dagegen!“
Mediziner, Biologen und andere Experten zum Thema
Alterungsprozesse melden ernste Bedenken an, zweifelhafte Jungbrunnen-Mittelchen mit Abenteuergeschichten
aus der Biotechnologie und Computertechnik in einen wild
brodelnden Hexenkessel zu werfen. Der Tüftler steht dabei
nicht allein da. Prominentester Theoretiker des ewigen
Lebens ist der Biogerontologe Aubrey de Grey von der Univer-
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sität Cambridge. Er behauptet, dass Menschen bis zum Jahr
2100 eine Lebenserwartung von 5000 Jahren haben werden.
„Kurzweils Buch ist ein Mischung aus guten und schlechten Elementen, aber es ist nicht alles Fantasie“, sagt Jay Olshansky, einer der angesehensten Experten für so genannte
„Biodemografie“ an der Universität von Illinois in Chicago,
der sich seit vielen Jahren mit der menschlichen Lebenserwartung beschäftigt. „Es gibt ohne Frage Fortschritte in der Biomedizin und bei der Genetik, um einzelne Zellen und ihre
Funktionen zu manipulieren. Da zeichnet sich viel am
Horizont ab. Dass Kurzweil das Nachdenken über diese
Möglichkeiten forciert, gefällt mir.“
KOMPLEXE PROZESSE
Kurzweils Luftschlösser haben in der Tat irdische Fundamente. Es gibt erste Versuche, Nanotechnologie in der Medizin einzusetzen. Rhesusaffen lernten in vom Pentagon finanzierten
Versuchen, per Hirnsonde einen Roboterarm nur mit ihren
Gedanken zu steuern. IBM hat sich vor kurzem mit der eidgenössischen Polytechnischen Hochschule in Lausanne zusammengetan, um einen Supercomputer zu bauen, der neuronale Schaltungen im Neokortex simulieren soll. Charles Peck
von IBM meint, in zehn bis fünfzehn Jahren könnte es möglich
sein, das gesamte menschliche Hirn im Labor nachzubauen.
DIE ALTERSFORSCHER TAPPEN IM
DUNKELN: NIEMAND WEISS, WELCHE
ROLLE GENE, UMWELTFAKTOREN
UND ERNÄHRUNG WIRKLICH SPIELEN
Problematisch wird es für Olshansky, wenn Kurzweil solche Experimente benutzt, um die Verschmelzung von Mensch
und Maschine als „Brücke zur Unsterblichkeit“ zu postulieren: „Seine Prognose des ewigen Lebens basiert auf Trends in
der Informationstechnologie, die er einfach auf Dinge wie Lebenserwartung extrapoliert.“ Olshanskys statistische Analysen
– im März im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht – warnen vor einem gänzlich anderen Trend. Während
die Kurve bei der Rechenleistung steil nach oben zeigt, droht
die Lebenserwartung in den USA zum ersten Mal seit langem
wieder zu sinken, vor allem aufgrund der weit verbreiteten
Fettleibigkeit von Kindern und Jugendlichen.
„Da braut sich ein bedrohlicher Sturm zusammen“, sagt
Olshansky. „Wir sollten uns glücklich schätzen, wenn wir die
allgemeine Lebenserwartung um zehn Jahre hochschrauben
können, aber nicht um 1000 Jahre!“ Experten am Max-PlanckInstitut für demografische Forschung in Rostock unter Leitung
des US-Forschers James Vaupel etwa prognostizieren bis zum
Jahr 2050 eine durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland von 93 bis 94 Jahren. Viel mehr ist nicht drin, glaubt Olshansky: „Wir haben bereits das Mögliche an Lebenserwartung
herausgeschlagen, indem wir uns von schädlichen Umwelteinflüssen isoliert haben. Aber gegen Unfälle, Verletzungen und
Gewalt sind wir machtlos. Und wir sind immer noch in denselben Körpern gefangen, die dem Verfall ausgesetzt sind. Un-
Maschine Mensch: „Gene sind Software-Programme – und die
werden wir schon bald punktgenau umprogrammieren können“
sere Gelenke nutzen sich ab, Muskelmasse und Hirn bauen sich
im Alter ab. Das sind enorm komplexe Prozesse, deren Interaktion wir weder verstehen noch einfach stoppen oder umkehren können.“
Dass ein Individuum selbst unter besten Voraussetzungen
älter als 130 werden kann, hält Olshansky aufgrund dieser Abnutzungs- und genetischer Degenerationserscheinungen für
höchst unwahrscheinlich. Für Kurzweil sind solche Einwände
Beweise für die Kurzsichtigkeit traditioneller Wissenschaftler.
„Leute wie Olshansky vergessen, wie sehr sich technischer
Fortschritt Jahr um Jahr beschleunigt. Es ist ein unvermeidlicher Prozess. Sie blicken nur auf den gegenwärtigen Stand der
Forschung und tun alles andere als Science-Fiction ab. Ich hingegen stelle seit Jahrzehnten Trend-Prognosen auf und habe
meistens richtig gelegen.“
Es gibt allerdings sehr wohl Mediziner und Biologen, die
solche Zukunftsmusik ernst nehmen – und trotzdem Zweifel
an solch glänzenden Vorhersagen hegen. Im Gegensatz zu
Kurzweil befassen sie sich mit Altern und Mortalität im Labor,
anstatt Daten in theoretische Trendlinien umzurechnen.
Einer von ihnen ist der Evolutionsbiologe Michael Rose an
der University of California in Irvine. Er wurde für seine
langjährigen Experimente mit Fruchtfliegen berühmt, die er
durch künstliche Selektion und Variation der Umweltbedingungen doppelt so alt werden ließ wie ihre in freier Natur vorkommenden Artgenossen. „Aus biologischer Sicht ist es nicht
unmöglich, unsterblich zu sein. Bei 130 Jahren hat der Mensch
noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht“, widerspricht
Rose seinem Kollegen Olshansky.
Der Biologe hat zu diesem Thema gerade ein autobiografisch geprägtes Buch namens „The Long Tomorrow“ geschrieben. Für ihn ist Altern kein fein reguliertes Geschehen, sondern
eine „Mülldeponie, auf der sich die Abfälle der Reproduktion in
jungen Jahren ansammeln: verstopfte Arterien, ausgebrannte
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Partner für die Ewigkeit: Terry Grossman verlangt stolze 5000
Dollar für eine zweitägige „Langlebigkeits-Evaluierung“
Lebern und Nieren, misshandelte Lungen. Dazu kommen
unschöne genetische Effekte wie biochemische Mängel. Wenn
man jung ist, macht einem das nicht viel aus, aber den Alten
setzen sie gehörig zu.“
Unsterblichkeit – definiert als die Abwesenheit von
Alterungsprozessen – ist an einer ganzen Reihe von Organismen bewiesen worden, von Seeanemonen und Wacholderbüschen über Nematoden bis zu Fruchtfliegen und Mäusen, erklärt Rose. „Heute bestreitet kaum jemand mehr die
Tatsache, dass Alterungsprozesse irgendwann enden. Es
gibt kein Gen oder Gene, in denen der Tod eines Lebewesens
vorprogrammiert ist. Dieser Übergang zur Spätphase des
Lebens lässt sich zumindest im Labor vollständig manipulieren. Meine Forschung zeigt, dass man die individuelle Lebensdauer in dieser Plateauphase immer weiter nach hinten
verschieben kann.“
dritten Anlauf, eine eigene Firma auf der Basis seiner Forschung zu gründen, will sich aber über Details nicht äußern.
Die Grenze zwischen visionärer Wissenschaft und abstruser Science-Fiction, auf der Theoretiker wie Kurzweil balancieren, ist unscharf. „Ich sehe sein Buch als philosophisches
Traktat. Er geht weiter, als es wissenschaftliche Kenntnisse erlauben“, urteilt der Biochemiker Felipe Sierra vom National
Institute on Aging, einer Unterabteilung der National Institutes of Health. „Nicht einmal ein Auto lebt ewig, obwohl es
millionenfach simpler ist als der menschliche Körper.“
„Wir fördern Forschungsarbeit, um die gesunde Lebensspanne zu verlängern“, sagt Sierra. „Unsterblichkeit ist für uns
kein ernst zu nehmendes Thema. Doch selbst mit diesem begrenzten Anspruch stehen wir am Anfang. Nehmen wir Krebs.
Wir haben bislang nur wenig Fortschritte erzielt, Krebs zu begreifen, obwohl das nur eine einzige Krankheit ist – also ein
weitaus weniger komplexer Prozess als das Altern. Bücher wie
die ,Fantastische Reise‘ von Kurzweil erweisen der Öffentlichkeit keinen guten Dienst, denn sie schüren falsche Ängste und
wecken falsche Hoffnungen.“
Wie schnell die von Kurzweil in Aussicht gestellten neuen
Behandlungsmethoden Wirklichkeit werden, mag strittig sein.
In einem Punkt sind sich Olshansky, Rose und Sierra allerdings
einig: Sich mit hunderten von Präparaten vollzupumpen, ist
bestenfalls nutzlos, wahrscheinlich sogar schädlich. Evolutionsbiologe Rose: „Kurzweil wird in den nächsten 25 Jahren
an Leber- und Nierenvergiftungen leiden. Ich hoffe nur, dass
er nicht an seinen 250 Supplementen am Tag eingeht.“
Den Tüftler lassen solche Warnungen ungerührt. Aber
wieso will er überhaupt ewig leben? Kurzweil schweigt und
blickt in seinen grünen Tee, ehe er antwortet: „Das einzige, was
bleibenden Wert hat, ist Wissen. Solange die Komplexität
neuen Wissens zunimmt, und das tut sie, und zwar exponentiell, solange gibt es keinen Grund zu sterben. Wenn sich unser Wissen nicht immer weiter ausdehnte, bis wir schließlich
unser Sonnensystem und das gesamte Universum mit unserer
Mensch-Maschinen-Intelligenz erhellt haben, wäre die Aussicht auf ewiges Leben wirklich deprimierend. Wie ein Tonband in der Endlosschleife.“ y
MENSCH-MASCHINEN-INTELLIGENZ
Die große unbeantwortete Frage dabei ist allerdings, welche
Faktoren – etwa Gene, die Menge zugeführter Kalorien, Umwelteinflüsse, Nahrungsmittelergänzungen – dabei eine entscheidende Rolle spielen. „Es gibt so viele Dinge, bei denen wir
im Dunkeln tappen und weiter forschen müssen“, gibt Rose zu
bedenken. „Wenn man zum Mond fliegen will, braucht man
ein wissenschaftlich fundiertes Apolloprogramm. Was Kurzweil praktiziert, kommt dem Vorhaben gleich, im Garten sein
eigenes Raumschiff zu bauen. Es bedarf eines Durchbruchs in
der Gerontologie, eines ersten Medikaments, mit dem sich eine
lebensbedrohliche Krankheit signifikant verlangsamen lässt.
Wenn es einen solchen ersten Beweis gibt, wird Altersforschung endlich die nötige Aufmerksamkeit finden.“ Das werde
in den nächsten ein bis zwei Jahren passieren, ist der Biologe
überzeugt. Rose hat nicht nur wissenschaftliches Interesse an
der Jagd nach dem Jungbrunnen. Er unternimmt gerade den
Steffan Heuer ist USA-Korrespondent von Technology
Review in San Francisco. Nach dieser Recherche hat ein
Topf grüner Tee die altersschwache Kaffeemaschine im
Büro abgelöst.
links + bücher
www.kurzweilai.net Die Website des Erfinders, Visionärs
und Futuristen Ray Kurzweil
www.quackwatch.org/01QuackeryRelated
Topics/antiagingpp.html Positionspapier von 51 führenden Wissenschaftlern zum Thema Alterungsprozesse
Ray Kurzweil, Terry Grossman: „Fantastic Voyage“.
Rodale, 2005 Alles über den richtigen Weg zur
Unsterblichkeit
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