Porträt Heft 08/2005: Ray Kurzweil Leben Sie ewig!
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Porträt Heft 08/2005: Ray Kurzweil Leben Sie ewig!
tr.0805.064-071.neu1 18.07.2005 14:30 Uhr ©Seite 64 64 PORTRÄT KURZWEIL TECHNOLOGY REVIEW August 2005 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.0805.064-071.neu1 18.07.2005 14:30 Uhr ©Seite 65 PORTRÄT KURZWEIL 65 Leben Sie ewig! Der Erfinder und Futurist Ray Kurzweil sieht die Unsterblichkeit in greifbarer Nähe – und bereitet seine Anhänger mit zweifelhaften Ratschlägen und Diätpräparaten aus der eigenen Firma darauf vor VON STEFFAN HEUER; THOMAS KERN/LOOKATONLINE.COM (FOTOS) Futurist und Visionär: Alter, Krankheit, Tod – für Ray Kurzweil sind das vermeidbare „Tragödien“ © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.0805.064-071.neu1 18.07.2005 14:30 Uhr ©Seite 66 66 PORTRÄT KURZWEIL M an könnte es die Rosskur des 21. Jahrhunderts nennen: 250 Pillen am Tag voller Vitamine, Enzyme, Hormone und Pflanzenextrakte. Sechs intravenöse Infusionen die Woche. Kein Fleisch außer magerem Geflügel. Nicht mehr als 80 Gramm Kohlenhydrate am Tag. Kein Kaffee, kein Zucker, dafür täglich acht Tassen grünen Tee und zehn Gläser gefiltertes, alkaliniertes Wasser mit einem pHWert von 9,5. Ionen-Luftfilter im Büro und im Schlafzimmer sowie jeden Morgen eine Lage antioxidative Hautcreme für Gesicht, Nacken und Hände. Die Amalgam-Plomben hat er sich entfernen lassen, sein Handy benutzt er nur mit einem speziellen Kopfhörer, der Keime aus dem Gehörgang fernhält. Ray Kurzweil nennt dieses Programm zur Lebensverlängerung den „optimalen“ Fahrplan, um seinen 57 Jahre alten Körper in Bestform zu erhalten – bis das eintritt, was er seit den 90er Jahren in inzwischen vier großen Werken als seine Vision der menschlichen Zukunft skizziert hat: das ewige Leben als Verschmelzung von Mensch und Maschine. Wer noch auf diesem Planeten sein will, wenn biologische und elektronische Intelligenz eins werden, wie Kurzweil fest glaubt, sollte besser jetzt Vorsorge treffen, damit die physische Hardware nicht buchstäblich den Geist aufgibt. Für sein jüngstes Werk hat sich der renommierte Technologe, Erfinder und Visionär aus Massachusetts mit einem zur ganzheitlichen Medizin konvertierten Arzt aus Colorado zusammengetan. Die beiden klopfen – in Anlehnung an einen Science-Fiction-Thriller aus dem Jahr 1966 – schon auf dem Einband große Sprüche. „Die Fantastische Reise. Leben Sie lang genug, um ewig zu leben!“, verspricht das gut 450 Seiten starke Buch. Es ist, wie Kurzweils gesamte Karriere, eine Verquickung aus penibel dokumentierter Zustandsbeschreibung des technischen und medizinischen Fortschritts, Gesundheitstipps an der Grenze zwischen gesundem Menschenverstand, solider Schulmedizin und Spökenkiekerei sowie schließlich fantastisch anmutenden Versprechungen einer goldenen Ära unsterblicher Menschen in einer Welt des Überflusses. „Die Natur ist trotz all ihrer Kreativität auf dramatische Weise suboptimal. Die kommende Revolution auf den Feldern der Nanotechnologie und künstlichen Intelligenz“, so verkünden Kurzweil und sein Co-Autor Terry Grossman, „wird es uns erlauben, unsere Körper und Gehirne Molekül für Molekül neu zu designen und neu zu bauen. Die Unsterblichkeit ist in Sichtweite.“ kurz gefasst Ray Kurzweil wurde bekannt für zahllose Erfindungen, unter anderem die erste Software zur optischen Buchstabenerkennung und Lesemaschinen für Blinde. Der Futurist prophezeit exponentiellen technischen Fortschritt und die Verschmelzung des Menschen mit zukünftiger Computertechnologie. In seinem jüngsten Buch zusammen mit Arzt Terry Grossman stellt er die Möglichkeit in Aussicht, das menschliche Leben dramatisch zu verlängern. Der Mann, der dies verkündet, ist seit meiner letzten Begegnung mit ihm vor fünf Jahren sichtlich gealtert. Ray Kurzweils Haar ist grau und schütterer geworden. Er macht einen erschöpften Eindruck an diesem regnerischen Tag, als er mit einem Pappbecher grünem Tee in das Besprechungszimmer seiner Firma außerhalb Bostons kommt, um seine Vision vom ewigen Leben darzulegen. Im Flur hat der Kurierdienst gerade ein Dutzend Kartons mit Erstdrucken seines nächsten Buchs abgeladen: „The Singularity is Near“ („Die Einheit ist nahe“) heißt der 600-Seiten-Wälzer, der im September in den USA erscheinen wird. „Wenn Menschen die Biologie hinter sich lassen“, verspricht der Untertitel. RASENDER ERFINDER „Ich habe mich schon lange für die zwei Gebiete Gesundheit und Informationstechnologie interessiert“, sagt Kurzweil mit leiser Stimme, während er den Blick fest auf seinen Pappbecher grünen Tee richtet. „Technik beeinflusst alles, was uns wichtig ist. Mein Interesse an Gesundheitsthemen stammt aus der eigenen Lebensgeschichte. Mit 35 bekam ich insulinunabhängige Diabetes und war gezwungen, mein eigenes Behandlungsprogramm zu entwickeln, da konventionelle Therapien nichts nutzten.“ Dank einer radikalen Umstellung seiner Ernährung und seines Lebenswandels ist Kurzweil heute nach eigenem Bekunden nicht nur gesund, sondern hat das – unter Schulmedizinern umstrittene – „biologische Altersprofil“ eines 40-Jährigen. „In jüngster Zeit“, fährt Kurzweil fort, „haben sich die beiden Gebiete zu überlappen begonnen. Wir verstehen zunehmend, dass Gesundheit, Biologie, Altern und Krankheit im Grunde genommen Informationsprozesse sind. Gene sind Softwareprogramme, und die werden wir schon bald punktgenau korrigieren und umprogrammieren können.“ Mit Software wie dieser Evolution 2.0 kennt sich Kurzweil bestens aus. Seine Lorbeeren verdiente sich der MIT-Absolvent der Computerwissenschaften und Literatur auf dem Gebiet der Informationstechnologie. In den 70er und 80er Jahren entwickelte er viele Programme, ohne die die moderne Informationsgesellschaft schwer vorstellbar wäre. Aus Kurzweils Tüftelei entstanden unter anderem die erste Software, um Text in Maschinensprache umzuwandeln, der erste CCDFlachbett-Scanner, die erste Software zur optischen Buchstabenerkennung (OCR), aus der das heute noch erhältliche Produkt TextBridge wurde, sowie eine ganze Reihe bahnbrechender Synthesizer. Bis heute ist Kurzweil berühmt für seine Lesemaschinen für Blinde, die Xerox auf den Markt brachte und für die Musiklegende Stevie Wonder mit dem Slogan warb: „Raten Sie mal, wie er seine Post liest.“ Für seinen überbordenden Erfindergeist wurde Kurzweil unter anderem vom amerikanischen Patentbüro in die „National Inventors Hall of Fame“ aufgenommen, von seiner Alma Mater mit dem Lemelson-MIT-Preis ausgezeichnet (dotiert mit einer halben Million Dollar) sowie von Präsident Clinton 2000 mit dem „Nationalorden für Technologie“ ausgezeichnet. In seinem Lebenslauf listet Kurzweil mehr als ein halbes Dutzend von ihm gegründete Firmen und 14 Patente auf – also alles andere als ein der Realität entrückter Fantast. TECHNOLOGY REVIEW August 2005 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.0805.064-071.neu1 18.07.2005 14:30 Uhr ©Seite 67 PORTRÄT KURZWEIL 67 Medizin für die Unsterblichkeit: 250 Pillen mit Vitaminen, Enzymen, Hormonen und Pflanzenextrakten pro Tag Der Eindruck ändert sich ein wenig, wenn man Kurzweils Bücher studiert. Von seinem 1990 erschienenen Buch „The Age of Intelligent Machines“ (deutsch 1993 bei Hanser) zieht sich ein roter Faden zu „The Age of Spiritual Machines“ 1999 (zu deutsch „Homo S@piens“) und den letzten beiden Werken, die noch nicht auf deutsch vorliegen. Die mechanistische Weltsicht des in fast allen Disziplinen belesenen Informatikers umspannt inzwischen das Universum. Was die Welt in Kurzweils Augen im Innersten zusammenhält, sind Informationsprozesse, die Atome wie Moleküle, Erbgut wie Proteine, Intelligenz wie Seele entstehen lassen. Waren es in „Homo S@piens“ noch die intelligenten Maschinen, die den Menschen im 21. Jahrhundert erst an Rechenleistung und dann im Bewusstsein überflügeln werden, sodass das Wesen eines Menschen als „Mind File“ samt Persönlichkeit auf einer Festplatte zwischengelagert werden kann, bis neue Hardware zur Verfügung steht – sprich ein Designerkörper oder eine virtuelle Realität, die direkt ins Hirn anderer eingespeist werden kann –, so geht Kurzweil jetzt einen Schritt weiter. „Die Fusion von biologischen Denkprozessen mit nichtbiologischer Intelligenz, die wir schaffen, steht unmittelbar bevor“, schreibt er in „The Singularity is Near“: „Wir haben die Fähigkeit, unseren Quellcode zu verstehen, ihn zu revidieren und auszubauen.“ Wenn man nur genügend Rechenpower in die Schlacht schickt, lassen sich alle Probleme lösen. Eines der drängendsten Probleme, das Kurzweil mit fortschreitendem Alter umtreibt, ist die eigene Sterblichkeit. Sein Vater und Großvater starben beide vor ihrem 60. Geburtstag an Herzversagen. „Hätte mein Vater gewusst, was in diesem Buch steht, wäre er noch am Leben“, schreibt Kurzweil in DIE BIOTECHNISCHE REVOLUTION WIRD ES ERLAUBEN, GENE UND PROTEINE EINFACH AUS- UND EINZUSCHALTEN, GLAUBT KURZWEIL seiner Widmung von „Fantastic Voyage“. Alter, Krankheit und Tod sind für ihn vermeidbare „Tragödien“, wie der Erfinder im Gespräch ein halbes dutzend Mal wiederholt. „Der Tod ist ein profunder Verlust an Wissen, Erfahrung, an Fähigkeiten und zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Menschheit hat einen Großteil ihres Denkens in Philosophie und Religion darauf verwendet, diese Tragödie zu rationalisieren.“ Kurzweil hingegen verbringt seine Zeit damit, Daten zu sammeln und auszuwerten, um jede nur denkbare Entwicklung TECHNOLOGY REVIEW August 2005 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.0805.064-071.neu1 18.07.2005 14:30 Uhr ©Seite 68 68 PORTRÄT KURZWEIL als eine exponentielle Wachstumskurve darzustellen, die ausnahmslos dem von ihm formulierten „Gesetz der sich beschleunigenden Erträge“ gehorchen. Dazu beschäftigt er einen Stab von zehn Mitarbeitern, die mathematische Modelle bauen und mit Daten füttern. Moores Gesetz gilt laut Kurzweil nicht nur für Mikroprozessoren, sondern für die gesamte uns umgebende Welt. BRÜCKEN ZUR UNSTERBLICHKEIT Deswegen ist es nur eine Frage weniger Jahrzehnte, bis Mediziner in der Lage sein werden, drahtlos kommunizierende Nanoroboter in die Zellen zu schicken, um nicht nur genetisch bedingte Krankheiten zu reparieren, Schad- oder Nährstoffe zu dosieren, sondern sogar die Software des Lebens zu optimieren – also die Programmierungsfehler der Evolution zu beheben. Das gilt insbesondere für einen Prozess, den viele Experten nicht einmal als Krankheit, sondern als natürlichen Prozess betrachten: das Altern. In ihrem Buch samt begleitender Webseite zur „Fantastischen Reise“ nennen Grossman und Kurzweil den Kampf gegen das Altern die „erste Brücke“ zur Unsterblichkeit. Wer ihrem Programm aus ständigen Gesundheits-Checks, aggressivem Einsatz von Nahrungsergänzungsstoffen und generell gesundem Lebenswandel folgt, versprechen sie, wird so lange FÜR EIN PAAR HUNDERT DOLLAR PRO SITZUNG KÖNNEN SICH PATIENTEN AN DEN VERMEINTLICHEN JUNGBRUNNEN ANSCHLIESSEN LASSEN bei der Stange bleiben, bis die „zweite Brücke“ gebaut ist: die biotechnologische Revolution, die es uns erlauben wird, Gene und Proteine nach Belieben ein- und auszuschalten. „In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren werden wir die Mittel und Technologien haben, um Krebs, Arteriosklerose und Herzerkrankungen zu besiegen. Wir werden Alterungsprozesse erst verlangsamen, dann stoppen und rückgängig machen“, prophezeit Kurzweil. Bis es so weit ist, verdient sein Mitautor Terry Grossman gutes Geld an der Angst der Amerikaner vor der vermeintlichen Krankheit „Altern“. Sein Frontier Medical Institute in Golden bei Denver verlangt stolze 5000 Dollar für eine zweitägige „Langlebigkeits-Evaluierung“ – ein hochgestochener Begriff für einen umfassenden Check-up mit Belastungs-EKG, Blutsenkung und mehreren anderen Tests, darunter umstrittene Analysen für genetische Auffälligkeiten und Entzündungsmarker wie Homocystein. Grossman lernte Kurzweil erst 1999 auf einer Nanotechnologie-Konferenz kennen und entwickelte die Idee eines gemeinsamen Buches über eine mehrjährige E-Mail-Korrespondenz. „Früher hatte ich meine Zweifel an alternativer Medizin und ernährte mich von Hamburgern, Pommes und jeder Menge Teigwaren“, berichtet der 58-jährige Arzt. Eine Knieverletzung brachte ihn zur Alternativmedizin. Grossman fährt allerdings ein weitaus weniger strenges Programm fürs ewige Leben Vorbereitung aufs ewige Leben: Ray Kurzweil und seine neuesten Langlebigkeits-Produkte, übers Web erhältlich in den Geschmacksrichtungen Schoko und Beere-Vanille als Kurzweil. Ein Blick auf den Einband des neuen Buches zeigt, dass der angeblich so auf Umweltgifte bedachte Mediziner seine grauen Haare färbt. Zuweilen genehmigt er sich nach eigenem Bekunden einen mit Bohnen und Reis gefüllten Burrito bei Taco Bell schräg gegenüber von seiner Vorstadt-Praxis. „Ich hoffe, ich habe genug von den Genen meines Großvaters geerbt. Er wurde 104 Jahre alt. Wenn wir mit unserem Programm die Lebenserwartung um acht bis zehn Jahre verlängern, ist das ein enormer Unterschied, denn Ray hat ausgerechnet, wie viel weiter die Technik in diesen zehn Jahren sein wird“, sagt Grossman zwischen zwei Patientenkonsultationen. Grossmans „Medizinisches Institut“ ist ein gutes Beispiel für die heikle Gratwanderung zwischen Beratung für einen TECHNOLOGY REVIEW August 2005 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.0805.064-071.neu1 18.07.2005 14:30 Uhr ©Seite 69 PORTRÄT KURZWEIL 69 Druide Kurzweil: In einem wild brodelnden Hexenkessel aus Jungbrunnen-Mitteln, Gentechnik und Informationstechnologie rührt er den Zaubertrank des ewigen Lebens zusammen pen, die vor dieser nicht erwiesenen Behandlungsmethode warnt: „Patienten, die sich so behandeln lassen, setzen mehr als ihr Geld aufs Spiel.“ Gut sichtbar neben den Infusions-Sesseln steht das Buch von Grossman und Kurzweil auf einem Tischchen, eingerahmt von zwei Dosen mit Supplementen ihrer eigenen Marke „Rays & Terrys Langlebigkeits-Produkte“. Das Duo verkauft über seine Webseite Mixturen für bessere Augen, gesunde Gelenke, niedrigere Cholesterinwerte sowie Shakes für eine kalorienreduzierte Diät. Ein gutes Pfund des Proteinpulvers in den Geschmacksrichtungen Schoko und bald auch Beere-Vanille kostet 34 Dollar. Die Branche setzte allein in den USA 2003 knapp 20 Milliarden Dollar um – Tendenz steigend. „Ich habe es nicht nötig, Supplemente zu verkaufen“, verteidigt Kurzweil sein neuestes Geschäft, bei dem er Einzelhändler als Vertriebspartner anzuwerben versucht. „Die Mischungen, die wir empfehlen, gibt es so nicht im Handel. Deswegen haben wir die Präparate nach unseren Anforderungen zusammengestellt. Ich würde einem Blinden ja auch nicht sagen, er soll sich einen Computer, einen Scanner und Software einzeln kaufen!“ ZWEIFEL AM JUNGBRUNNEN gesunden Lebenswandel und Therapien mit zweifelhaftem Nutzen. Im Empfangszimmer liegen Broschüren für BotoxSpritzen gegen Falten und chemisches Peeling aus. Im hinteren Teil der Praxis stehen rund 20 mit Kunstleder bezogene Ohrensessel dicht an dicht, über denen Haken in die Decke gedübelt sind, an denen sich Infusionsbeutel befestigen lassen. Die Neonröhren in der Decke sind mit Plastikfolien voller Wölkchen und blauem Himmel beklebt; auf der billigen Stereoanlage läuft eine CD mit New-Age-Musik. Für ein paar hundert Dollar pro Sitzung können sich Patienten hier an den vermeintlichen Jungbrunnen anschließen lassen – etwa die umstrittene Chelat-Therapie, bei der die Aminosäure EDTA intravenös verabreicht wird, die Schwermetalle und Kalzium bindet und so Gefäßwände angeblich von gefährlichen Ablagerungen reinigt. Die renommierte American Heart Association ist eine von vielen Expertengrup- Das Renommee von Ray Kurzweil hilft seinem Geschäftspartner Grossman, neue Kunden zu akquirieren. Etwa das blinde Ehepaar Norma und Glenn Crosby aus Louisiana. Seit 27 Jahren betreiben die beiden einen Coffee Shop in Houston. Über ihren Lebenswandel machten sich die beiden bis vor kurzem wenig Gedanken – bis sie auf einem landesweiten Blindenkongress vergangenes Jahr Kurzweil reden hörten und sich sein Buch bestellten. „Ich nehme das Gerede vom ewigen Leben nicht wörtlich“, sagt Norma Crosby, während ihr Mann beim Belastungs-EKG nebenan ins Schwitzen gerät. „Aber wir wollen unser Leben so umstellen, dass wir uns noch an unseren Enkeln und Urenkeln erfreuen können.“ Die zusammen 10 000 Dollar Behandlungsgebühren plus Flug und Hotel sind ein erheblicher Batzen Geld, geben die beiden zu. „Unsere Kinder denken, wir spinnen. Aber das Geld ist für diese Tests wohl besser angelegt, als wenn wir später chronisch krank sind“, sagt Glenn Crosby. „Es ist nie zu spät, seinen Lebenswandel zu ändern. Immerhin habe ich vor 25 Jahren aufgehört, zwei bis drei Schachteln am Tag zu paffen. Und wenn Rays Prognosen stimmen und das ewige Leben in ein paar Jahrzehnten technisch machbar ist – ich hätte bestimmt nichts dagegen!“ Mediziner, Biologen und andere Experten zum Thema Alterungsprozesse melden ernste Bedenken an, zweifelhafte Jungbrunnen-Mittelchen mit Abenteuergeschichten aus der Biotechnologie und Computertechnik in einen wild brodelnden Hexenkessel zu werfen. Der Tüftler steht dabei nicht allein da. Prominentester Theoretiker des ewigen Lebens ist der Biogerontologe Aubrey de Grey von der Univer- TECHNOLOGY REVIEW August 2005 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.0805.064-071.neu1 18.07.2005 14:30 Uhr ©Seite 70 70 PORTRÄT KURZWEIL sität Cambridge. Er behauptet, dass Menschen bis zum Jahr 2100 eine Lebenserwartung von 5000 Jahren haben werden. „Kurzweils Buch ist ein Mischung aus guten und schlechten Elementen, aber es ist nicht alles Fantasie“, sagt Jay Olshansky, einer der angesehensten Experten für so genannte „Biodemografie“ an der Universität von Illinois in Chicago, der sich seit vielen Jahren mit der menschlichen Lebenserwartung beschäftigt. „Es gibt ohne Frage Fortschritte in der Biomedizin und bei der Genetik, um einzelne Zellen und ihre Funktionen zu manipulieren. Da zeichnet sich viel am Horizont ab. Dass Kurzweil das Nachdenken über diese Möglichkeiten forciert, gefällt mir.“ KOMPLEXE PROZESSE Kurzweils Luftschlösser haben in der Tat irdische Fundamente. Es gibt erste Versuche, Nanotechnologie in der Medizin einzusetzen. Rhesusaffen lernten in vom Pentagon finanzierten Versuchen, per Hirnsonde einen Roboterarm nur mit ihren Gedanken zu steuern. IBM hat sich vor kurzem mit der eidgenössischen Polytechnischen Hochschule in Lausanne zusammengetan, um einen Supercomputer zu bauen, der neuronale Schaltungen im Neokortex simulieren soll. Charles Peck von IBM meint, in zehn bis fünfzehn Jahren könnte es möglich sein, das gesamte menschliche Hirn im Labor nachzubauen. DIE ALTERSFORSCHER TAPPEN IM DUNKELN: NIEMAND WEISS, WELCHE ROLLE GENE, UMWELTFAKTOREN UND ERNÄHRUNG WIRKLICH SPIELEN Problematisch wird es für Olshansky, wenn Kurzweil solche Experimente benutzt, um die Verschmelzung von Mensch und Maschine als „Brücke zur Unsterblichkeit“ zu postulieren: „Seine Prognose des ewigen Lebens basiert auf Trends in der Informationstechnologie, die er einfach auf Dinge wie Lebenserwartung extrapoliert.“ Olshanskys statistische Analysen – im März im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht – warnen vor einem gänzlich anderen Trend. Während die Kurve bei der Rechenleistung steil nach oben zeigt, droht die Lebenserwartung in den USA zum ersten Mal seit langem wieder zu sinken, vor allem aufgrund der weit verbreiteten Fettleibigkeit von Kindern und Jugendlichen. „Da braut sich ein bedrohlicher Sturm zusammen“, sagt Olshansky. „Wir sollten uns glücklich schätzen, wenn wir die allgemeine Lebenserwartung um zehn Jahre hochschrauben können, aber nicht um 1000 Jahre!“ Experten am Max-PlanckInstitut für demografische Forschung in Rostock unter Leitung des US-Forschers James Vaupel etwa prognostizieren bis zum Jahr 2050 eine durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland von 93 bis 94 Jahren. Viel mehr ist nicht drin, glaubt Olshansky: „Wir haben bereits das Mögliche an Lebenserwartung herausgeschlagen, indem wir uns von schädlichen Umwelteinflüssen isoliert haben. Aber gegen Unfälle, Verletzungen und Gewalt sind wir machtlos. Und wir sind immer noch in denselben Körpern gefangen, die dem Verfall ausgesetzt sind. Un- Maschine Mensch: „Gene sind Software-Programme – und die werden wir schon bald punktgenau umprogrammieren können“ sere Gelenke nutzen sich ab, Muskelmasse und Hirn bauen sich im Alter ab. Das sind enorm komplexe Prozesse, deren Interaktion wir weder verstehen noch einfach stoppen oder umkehren können.“ Dass ein Individuum selbst unter besten Voraussetzungen älter als 130 werden kann, hält Olshansky aufgrund dieser Abnutzungs- und genetischer Degenerationserscheinungen für höchst unwahrscheinlich. Für Kurzweil sind solche Einwände Beweise für die Kurzsichtigkeit traditioneller Wissenschaftler. „Leute wie Olshansky vergessen, wie sehr sich technischer Fortschritt Jahr um Jahr beschleunigt. Es ist ein unvermeidlicher Prozess. Sie blicken nur auf den gegenwärtigen Stand der Forschung und tun alles andere als Science-Fiction ab. Ich hingegen stelle seit Jahrzehnten Trend-Prognosen auf und habe meistens richtig gelegen.“ Es gibt allerdings sehr wohl Mediziner und Biologen, die solche Zukunftsmusik ernst nehmen – und trotzdem Zweifel an solch glänzenden Vorhersagen hegen. Im Gegensatz zu Kurzweil befassen sie sich mit Altern und Mortalität im Labor, anstatt Daten in theoretische Trendlinien umzurechnen. Einer von ihnen ist der Evolutionsbiologe Michael Rose an der University of California in Irvine. Er wurde für seine langjährigen Experimente mit Fruchtfliegen berühmt, die er durch künstliche Selektion und Variation der Umweltbedingungen doppelt so alt werden ließ wie ihre in freier Natur vorkommenden Artgenossen. „Aus biologischer Sicht ist es nicht unmöglich, unsterblich zu sein. Bei 130 Jahren hat der Mensch noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht“, widerspricht Rose seinem Kollegen Olshansky. Der Biologe hat zu diesem Thema gerade ein autobiografisch geprägtes Buch namens „The Long Tomorrow“ geschrieben. Für ihn ist Altern kein fein reguliertes Geschehen, sondern eine „Mülldeponie, auf der sich die Abfälle der Reproduktion in jungen Jahren ansammeln: verstopfte Arterien, ausgebrannte TECHNOLOGY REVIEW August 2005 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.0805.064-071.neu1 18.07.2005 14:30 Uhr ©Seite 71 PORTRÄT KURZWEIL 71 Partner für die Ewigkeit: Terry Grossman verlangt stolze 5000 Dollar für eine zweitägige „Langlebigkeits-Evaluierung“ Lebern und Nieren, misshandelte Lungen. Dazu kommen unschöne genetische Effekte wie biochemische Mängel. Wenn man jung ist, macht einem das nicht viel aus, aber den Alten setzen sie gehörig zu.“ Unsterblichkeit – definiert als die Abwesenheit von Alterungsprozessen – ist an einer ganzen Reihe von Organismen bewiesen worden, von Seeanemonen und Wacholderbüschen über Nematoden bis zu Fruchtfliegen und Mäusen, erklärt Rose. „Heute bestreitet kaum jemand mehr die Tatsache, dass Alterungsprozesse irgendwann enden. Es gibt kein Gen oder Gene, in denen der Tod eines Lebewesens vorprogrammiert ist. Dieser Übergang zur Spätphase des Lebens lässt sich zumindest im Labor vollständig manipulieren. Meine Forschung zeigt, dass man die individuelle Lebensdauer in dieser Plateauphase immer weiter nach hinten verschieben kann.“ dritten Anlauf, eine eigene Firma auf der Basis seiner Forschung zu gründen, will sich aber über Details nicht äußern. Die Grenze zwischen visionärer Wissenschaft und abstruser Science-Fiction, auf der Theoretiker wie Kurzweil balancieren, ist unscharf. „Ich sehe sein Buch als philosophisches Traktat. Er geht weiter, als es wissenschaftliche Kenntnisse erlauben“, urteilt der Biochemiker Felipe Sierra vom National Institute on Aging, einer Unterabteilung der National Institutes of Health. „Nicht einmal ein Auto lebt ewig, obwohl es millionenfach simpler ist als der menschliche Körper.“ „Wir fördern Forschungsarbeit, um die gesunde Lebensspanne zu verlängern“, sagt Sierra. „Unsterblichkeit ist für uns kein ernst zu nehmendes Thema. Doch selbst mit diesem begrenzten Anspruch stehen wir am Anfang. Nehmen wir Krebs. Wir haben bislang nur wenig Fortschritte erzielt, Krebs zu begreifen, obwohl das nur eine einzige Krankheit ist – also ein weitaus weniger komplexer Prozess als das Altern. Bücher wie die ,Fantastische Reise‘ von Kurzweil erweisen der Öffentlichkeit keinen guten Dienst, denn sie schüren falsche Ängste und wecken falsche Hoffnungen.“ Wie schnell die von Kurzweil in Aussicht gestellten neuen Behandlungsmethoden Wirklichkeit werden, mag strittig sein. In einem Punkt sind sich Olshansky, Rose und Sierra allerdings einig: Sich mit hunderten von Präparaten vollzupumpen, ist bestenfalls nutzlos, wahrscheinlich sogar schädlich. Evolutionsbiologe Rose: „Kurzweil wird in den nächsten 25 Jahren an Leber- und Nierenvergiftungen leiden. Ich hoffe nur, dass er nicht an seinen 250 Supplementen am Tag eingeht.“ Den Tüftler lassen solche Warnungen ungerührt. Aber wieso will er überhaupt ewig leben? Kurzweil schweigt und blickt in seinen grünen Tee, ehe er antwortet: „Das einzige, was bleibenden Wert hat, ist Wissen. Solange die Komplexität neuen Wissens zunimmt, und das tut sie, und zwar exponentiell, solange gibt es keinen Grund zu sterben. Wenn sich unser Wissen nicht immer weiter ausdehnte, bis wir schließlich unser Sonnensystem und das gesamte Universum mit unserer Mensch-Maschinen-Intelligenz erhellt haben, wäre die Aussicht auf ewiges Leben wirklich deprimierend. Wie ein Tonband in der Endlosschleife.“ y MENSCH-MASCHINEN-INTELLIGENZ Die große unbeantwortete Frage dabei ist allerdings, welche Faktoren – etwa Gene, die Menge zugeführter Kalorien, Umwelteinflüsse, Nahrungsmittelergänzungen – dabei eine entscheidende Rolle spielen. „Es gibt so viele Dinge, bei denen wir im Dunkeln tappen und weiter forschen müssen“, gibt Rose zu bedenken. „Wenn man zum Mond fliegen will, braucht man ein wissenschaftlich fundiertes Apolloprogramm. Was Kurzweil praktiziert, kommt dem Vorhaben gleich, im Garten sein eigenes Raumschiff zu bauen. Es bedarf eines Durchbruchs in der Gerontologie, eines ersten Medikaments, mit dem sich eine lebensbedrohliche Krankheit signifikant verlangsamen lässt. Wenn es einen solchen ersten Beweis gibt, wird Altersforschung endlich die nötige Aufmerksamkeit finden.“ Das werde in den nächsten ein bis zwei Jahren passieren, ist der Biologe überzeugt. Rose hat nicht nur wissenschaftliches Interesse an der Jagd nach dem Jungbrunnen. Er unternimmt gerade den Steffan Heuer ist USA-Korrespondent von Technology Review in San Francisco. Nach dieser Recherche hat ein Topf grüner Tee die altersschwache Kaffeemaschine im Büro abgelöst. links + bücher www.kurzweilai.net Die Website des Erfinders, Visionärs und Futuristen Ray Kurzweil www.quackwatch.org/01QuackeryRelated Topics/antiagingpp.html Positionspapier von 51 führenden Wissenschaftlern zum Thema Alterungsprozesse Ray Kurzweil, Terry Grossman: „Fantastic Voyage“. Rodale, 2005 Alles über den richtigen Weg zur Unsterblichkeit TECHNOLOGY REVIEW August 2005 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. 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