Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders

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Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders
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Leofranc Holford-Strevens
Kleine Geschichte
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Aus dem Englischen übersetzt
von Christian Rochow
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Mit 26 Abbildungen
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Titel der englischen Originalausgabe:
Leofranc Holford-Strevens: The History of Time.
A Very Short Introduction.
Oxford: Oxford University Press, 2005
Der Autor ist Consultant Scholar-Editor
bei Oxford University Press
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18483
Alle Rechte vorbehalten
© für die deutschsprachige Ausgabe
2008 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
Die Übersetzung erscheint mit Genehmigung von Oxford University Press,
Oxford. The History of Time. A Very Short Introduction was originally
published in English in 2005. This translation is published
by arrangement with Oxford University Press.
© 2005 Leofranc Holford-Strevens
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2008
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der
Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
ISBN 978-3-15-018483-7
www.reclam.de
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 Der Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 Monate und Jahre . . . . . . . . . . . . . . .
3 Vorgeschichte und Geschichte des modernen
Kalenders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 Ostern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 Wochen und Jahreszeiten . . . . . . . . . . .
6 Andere Kalender . . . . . . . . . . . . . . . .
7 Die Jahresdatierung . . . . . . . . . . . . . .
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Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Weiterführende Literatur . . . . .
Glossar . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildungsverzeichnis . . . . . . .
Personen-, Orts- und Sachregister
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Vorwort
Der Titel dieses Buches1 weckt vielleicht die Erwartung,
dass hier ein Überblick über philosophische oder physikalische Fragen gegeben werde: ob die Zeit einen Anfang
und ein Ende hat; ob die Gesetze von Raum und Zeit in
schwarzen Löchern vollständig unanwendbar sind; ob es
jemals möglich sein kann, den Fluss der Zeit umzukehren
und die Vergangenheit zu verändern – eine Lieblingsphantasie von Menschen, die sich gerne vorstellen, sie allein
würden jenes Privileg besitzen, dabei aber vergessen, dass
sich in der neuen, verbesserten Vergangenheit ihre Eltern
womöglich niemals begegnet wären.
Das alles sind unstreitig gute Fragen, auf die ich hier jedoch so wenig mich einlassen will wie auf eine Definition
dessen, was Zeit ist. Gegen das Jahr 268 n. Chr. bemerkte
der große neuplatonische Philosoph Plotin, dass wir zwar
beständig über Zeitalter und Zeit sprächen, als ob wir eine
klare Vorstellung davon hätten, bei näherer Untersuchung
dieser Frage jedoch in Verwirrung gerieten. Rund 130 Jahre später fasste der heilige Augustinus dieses Argument in
die prägnanten Worte: »Was also ist die Zeit? Wenn mich
niemand danach fragt, so weiß ich es; versuche ich, es zu
erklären, so weiß ich es nicht.«
Tiefere Einsichten zu bieten beansprucht dieses Buch
nicht: andere mögen zu bestimmen versuchen, ob die Zeit
eine vierte Dimension des Universums oder eine vergegenständlichte Abstraktion, ob sie ununterbrochen oder
atomistisch sei, ob sie unabhängig von messbarer Bewegung existiere, ob dem Wort »vor« in Formulierungen wie
»vor der Schöpfung« oder »vor dem Urknall« irgendein
Sinn zukomme. Auf die Frage, was Gott vor Erschaffung
1 Der englische Originaltitel lautet The History of Time. [Anm. des Übers.]
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der Welt getan hätte, zitierte derselbe heilige Augustinus,
ohne sich freilich zu diesem Ausspruch als seiner eigenen
Ansicht zu bekennen, die scherzhafte Antwort: »Höllen
für jene bereiten, die solche Rätsel erklügeln« – ich mag
mich dem Risiko nicht aussetzen, dass sich der Scherz als
Ernst erweise.
Genauso wenig werde ich auf die Frage eingehen, ob
die Zeit geradlinig voranschreitet oder zyklisch verläuft.
Zwar trifft es nicht zu, dass die lineare Zeit eine jüdischchristliche Besonderheit gegenüber der zyklischen Zeit
war, die das späte griechisch-römische Heidentum mit
dem Symbol der ihren Schwanz verschlingenden Schlange
darstellte; gleichwohl sprachen manche Philosophen von
der Zeit in zyklischen Begriffen. Das wirft konzeptionelle
Probleme auf, die ich hier nicht behandeln möchte; vielmehr möchte ich mich auf das Alltagsverständnis von Zeit
beschränken und mich auf die Verfahren konzentrieren,
mit deren Hilfe ihr Vergehen gemessen wurde und wird.
Das deutsche Wort Zeit kann sich auch auf mehr oder
weniger genau definierte Zeiträume beziehen, so in »kurze
Zeit lang« oder in »die Zeit der Pharaonen«, womit ein
bestimmter, rund dreitausend Jahre langer Zeitraum bezeichnet wird. Es kann sich auch auf die – wie das Oxford
English Dictionary das englische Wort time definiert –
»unbegrenzte, fortwährende Dauer« beziehen, in der alle
Ereignisse stattfanden, stattfinden und stattfinden werden.
Dieses Konzept, welches den Kern jener Verwirrung ausmacht, von der Plotin und der heilige Augustinus sprachen, setzt eine entwickelte Fähigkeit zum abstrakten
Denken voraus: Anthropologen berichten von verschiedenen Völkern, dass ihnen ein solches Zeitkonzept fehle.
Und in den aus dem 8. bis 7. Jahrhundert v. Chr. stammenden Epen »Homers«, welche die Griechen als die
Grundlage ihrer Kultur betrachteten, bezeichnet chrónos
nur eine Zeitspanne und nicht das, was wir als Zeit an sich
zu verstehen geneigt sind. Doch findet sich dann jene
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Vorstellung schon bei dem großen athenischen Gesetzgeber Solon im frühen 6. Jahrhundert v. Chr., der die Zeit
als einen Richter personifiziert: »vor dem Gericht der
Zeit«. Seit jener Zeit ist das Konzept der unbegrenzten,
fortwährenden Dauer in der westlichen Zivilisation so
vertraut, dass wir es für unvorstellbar halten, es könne in
irgendeiner fortgeschrittenen Kultur fehlen; und doch
wurde unlängst behauptet, dass weder die hebräische Bibel noch die rabbinische Literatur es kennten. Doch, wie
auch immer sich das verhalten mag: in jeder Gesellschaft,
außer den allereinfachsten, existiert das Bedürfnis, die Zeit
zu messen, selbst wenn die Menschen von ihr als einem
abstrakten Konzept nichts wissen. Dieses Buch handelt
von den Verfahren, mit denen das Vergehen von Zeit gemessen wurde.
Homer verwendet Ausdrücke für Jahre, Monate und
Tage; seine Hinweise auf Streitigkeiten und Prozesse erinnern uns an einen wichtigen Bereich, in dem Zeitmessung
eine Rolle spielt. Schon in seiner relativ einfachen Kultur
müssen Fälle aufgetreten sein, in denen die Frage nicht
lautete, ob etwas geschehen war, sondern ob ein Ereignis
vor einem bestimmten anderen stattgefunden hatte. Wenn
dieselben Zeugen beide Ereignisse beobachtet hatten,
musste nicht unbedingt ein Problem entstehen; wenn das
nicht der Fall war, konnten beide Ereignisse zu einem
dritten in Bezug gesetzt werden, vorzugsweise zu einem,
das beiden Parteien und dem Richter bekannt war, beispielsweise die Hochzeit des örtlichen Herrschers. Falls
ein solches Ereignis fehlte, musste es Schwierigkeiten geben, solange die für den Fall relevanten Ereignisse nicht
gegen ein gesellschaftlich verbindliches Zeitmaß gehalten
werden konnten.
Zur Aufzeichnung und Koordinierung menschlicher
Aktivitäten ist es erforderlich, Systeme zu entwickeln, mit
deren Hilfe Ereignisse zu einer Abfolge regelmäßiger,
vorhersagbarer und wiederkehrender natürlicher Gescheh-
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nisse in Beziehung gesetzt werden können. Da diese Systeme auf künstlicher Erfindung beruhen und sich teilweise
oder vollständig unabhängig voneinander entwickelten,
unterscheiden sie sich in vielen Details. Doch wird die Variationsbreite wiederum von den natürlichen Gegebenheiten eingeschränkt, insbesondere von der Erdumdrehung,
dem Umlauf des Mondes um die Erde und dem Umlauf der
Erde um die Sonne. Diese Tatsachen bilden die Grundlage
für die am weitesten verbreiteten Einheiten zur Messung
der Zeit: den Tag, den Monat und das Jahr.
Je komplexer das Leben wird, desto komplizierterer intellektueller Anstrengungen bedarf es, um nicht nur ein
Jahr, einen Monat, einen Tag oder den Teil eines Tages genau zu bestimmen (die Wissenschaft der Zeitmessung),
sondern auch die mittels Zeitmessung bestimmten Jahre
usw. zueinander in Beziehung zu setzen (die Wissenschaft
der Chronologie). Ein Bestandteil der Letzteren ist der
Vergleich der zu diesem Zweck in verschiedenen Kulturen
aufgestellten Systeme mit dem Ziel, zu bestimmen, ob sich
zwei scheinbar ähnliche Bezeichnungen tatsächlich auf
zwei verschiedene Sachverhalte beziehen oder ob sich unter den beiden Namen in Wahrheit der gleiche Sachverhalt
verbirgt.
In der Zeitmessung besteht vielfach ein Konflikt zwischen der Treue zur Natur und der Bequemlichkeit im
Gebrauch. Zuweilen wird auf Erstere verzichtet, so wie
dies bei westlichen Verfahren zur Bestimmung der Tageszeit wiederholt geschehen ist, zuweilen aber auch auf
Letztere, so etwa durch die Reform Papst Gregors XIII.,
durch die der römische Kalender zwar genauer, aber auch
komplizierter wurde. Hingegen ist die Bezeichnung des
Jahres frei von Naturbezügen und beruht gänzlich auf
Konvention. Trotzdem unterliegen diese Bezeichnungen
leicht der Verdinglichung. In den ersten Monaten des Jahres 1961 pries ein Hersteller elektrischer Geräte seine Produkte mithilfe einer Hausfrau »Mrs. 1961« an, die, weil
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sie Mrs. 1961 war, den neuesten Staubsauger und Kühlschrank brauchte. Der Lohn für ihre Mühen zur Hebung
der Umsätze des Unternehmens war, dass sie 1962 verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen.
Mrs. 1961 fiel der trügerischen Vorstellung zum Opfer,
dass die Jahre, die unser Kalender misst und die nach unserer Zeitrechnung nummeriert sind, eine Realität jenseits
der Konventionen besäßen, von denen sie erzeugt wurden.
In anderen Kalendern jedoch war das Jahr 1961 der christlichen Ära nicht einmal eine abgegrenzte Einheit: in einer
indischen Ära umfasste es Teile der Jahre 1882 und 1883,
in einer anderen der Jahre 2017 und 2018, in der äthiopischen Jahresrechnung Teile von 1953 und 1954, nach dem
jüdischen Kalender Teile von 5721 und 5722 und nach
dem muslimischen Teile von 1380 und 1381.
Jene Verdinglichung erfasst auch größere Einheiten. Mit
dem Begriff der »Sixties«, also der 1960er Jahre, wird in
Großbritannien ein gesamtes Jahrzehnt als eine Zeit der
politischen Rebellion und kulturellen Innovation zusammengefasst; während die 1890er Jahre (während derer Oscar Wilde zu Gefängnis verurteilt wurde) als »Naughty
Nineties«, die »Ungebärdigen Neunziger«, bezeichnet
werden, weil in jenen Jahren die Elite wider den Stachel
der Anpassung an konventionelle, bürgerliche Respektabilität löckte. Selbst ganze Jahrhunderte werden auf diese
Weise etikettiert: »Im 15. Jahrhundert nahm die Frömmigkeit zunehmend private und emotionale Züge an«;
»Die englische Literatur des 18. Jahrhunderts kam aus
dem Kopf, nicht aus dem Herzen« – das klingt so, als wären zu Jahresbeginn 1401 bzw. 1701 (der, wie wir in Kapitel 7 erfahren werden, nicht unbedingt auf den 1. Januar
fallen muss), alte Weisen des Denkens und Fühlens genauso auf der Müllkippe gelandet wie der alte Staubsauger
von Mrs. 1961.
Als der Kaiser Trajan, vielleicht gegen Ende des Jahres
110 n. Chr., Plinius ausdrücklich ermahnte, die Annahme
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anonymer Denunziationen sei »mit unseren Zeiten« nicht
vereinbar, meinte er ganz speziell »meine Herrschaft«, die
Prinzipien, nach welchen er zu herrschen sich entschlossen hatte. Im Gegensatz dazu erklären heutige Journalisten und Politiker gern, dass es für bestimmte Regierungspraktiken (nicht die oben genannte) keinen Platz im 21.
Jahrhundert gäbe; das Datum wird dabei mit so eherner
Gewissheit verdinglicht, als ob es ein Naturereignis und
ein Gesetzgeber wäre. Eine Absicht dieses Buches besteht
darin, solche Gewissheiten zu bekämpfen, indem der kontingente und willkürliche Charakter der Maße gezeigt
wird, auf welche diese Verdinglichung angewendet wird.
Obwohl Politik und Religion nicht Thema dieses Buches sind, werde ich gelegentlich auf die politischen und
religiösen Implikationen bei der Wahl des Kalenders und
der Aufnahme oder Verwerfung von Reformen (z. B. des
Gregorianischen Kalenders in der christlichen Welt; der
»Shahänshahi«-Ära im Iran) eingehen: als die Regierung
Indiens im Jahr 1957 einen neuen säkularen Kalender einführte, wagte sie die Vielfalt der religiösen Kalender nicht
anzutasten, außer dass das Sonnenjahr anders berechnet
wurde. Ein ganzes Kapitel dieses Buchs ist einem religiösen Fest, dem christlichen Ostern, gewidmet, und zwar
nicht wegen dessen religiöser Bedeutung, sondern aufgrund seiner kalendarischen Komplexität.
Das eigentliche Thema des vorliegenden Buchs sind
gleichwohl die Kalender an sich und nicht ihr Gebrauch
oder ihre Bedeutung. Viel lässt sich auch über die Zeit als
soziales Konstrukt – und als Konstrukteur – schreiben sowie über ihre unterschiedliche Wahrnehmung durch Jung
und Alt, Männer und Frauen, Büroangestellte, Arbeiter
oder Bauern. Auch das ist nicht Thema dieses Buchs, da
sich andere zu diesen Fragen qualifizierter äußern können
als ich.
Die Fachausdrücke, soweit sie erforderlich sind, werden
im Glossar erläutert. Zahlen sind in wissenschaftlicher
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Form geschrieben, ohne Tausenderpunkt: eintausend ist
1000, zehntausend 10 000, ein Zehntausendstel 0,0001, ein
Hunderttausendstel 0,00001.
Die traditionellen Bezeichnungen »v. Chr.« und
»n. Chr.« wurden beibehalten und nicht durch »v. u. Z.«
und »u. Z.« ersetzt. Im Englischen unterscheiden sich die
Bezeichnungen BC (»Before Christ«) und AD (»Anno
Domini«) deutlich besser als BCE (»Before Common
Era«) und CE (»Common Era«). Die Epoche unserer
Zeitrechnung ist zwar als Datum der Geburt Jesu Christi
höchstwahrscheinlich falsch, bleibt aber dennoch auf dieses Ereignis bezogen, da kein anderes Ereignis aus diesem
Jahr als Alternative von Weltbedeutung namhaft gemacht
werden kann. Im Zeitalter der Globalisierung mag eine
rein säkulare Zeitrechnung attraktiv erscheinen, doch lässt
sich die christliche Zeitrechnung nicht einfach dadurch säkularisieren, dass man ihren Ursprung verleugnet.
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Monate und Jahre
Der Zeitraum einer Umdrehung des Mondes um die Erde
ergibt zumindest nominell einen Monat, der in den meisten Sprachen mit dem gleichen Wort wie der Mond oder
wie im Deutschen oder Englischen mit einer von diesem
abgeleiteten Vokabel bezeichnet wird; die Dauer einer
Erdumdrehung um die Sonne ergibt zumindest nominell
ein Jahr. Tatsächlich kann kein Kalendersystem beiden
Umdrehungen genau gerecht werden: entweder der Monat oder das Jahr müssen zu einem willkürlich festgelegten Zeitraum werden – so wie die verschiedenen Längenmaße, die »Fuß« heißen, nicht exakt mit der Länge
irgendeines bestimmten menschlichen Fußes übereinstimmen müssen.
In manchen Gesellschaften werden die Tage zudem noch
nach einem zweiten, von Monaten und Jahren unabhängigen System gruppiert – am weitesten verbreitet ist die siebentägige Woche. Viele dieser Systeme sind Markttagszyklen; mehrere derartiger Zyklen von unterschiedlicher
Länge finden sich in Afrika, am bekanntesten sind das
achttägige nundinum der römischen Antike und die décade
des französischen Revolutionskalenders (siehe Kap. 5).
Jahre werden zu Jahrhunderten und Jahrtausenden zusammengefasst; längere Zeiträume, die als Weltalter verstanden werden, finden sich in Indien und fanden sich
einst bei den östlichen Maya. Dort beruhten sie nicht
auf dem Sonnenjahr oder dem 260-Tage-Zyklus (siehe
Kap. 6), sondern auf dem tun zu 360 Tagen und seinen
Vielfachen. Die längeren Zeitspannen werden häufig mit
der Lebensdauer des jeweiligen Weltalters identifiziert. So
erwarteten einige Menschen das Weltende für den Eintritt
des Jahres 2000 n. Chr.; ähnliche Erwartungen knüpften
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Abb. 6. Die Mondphasen
sich seinerzeit in Russland an den Beginn des 7000. Jahres
der Byzantinischen Weltära, welches nach westlicher
Rechnung vom 1. September 1491 bis zum 31. August
1492 dauerte.
Die astronomischen Grundlagen
Die Erde rotiert um ihre Achse und kreist außerdem um
die Sonne, wenngleich Letztere für den naiven Beobachter
so wie der Mond um die Erde zu kreisen scheint. Stehen
Sonne und Mond am Himmel nahe beieinander, kann der
Mond das Sonnenlicht nicht reflektieren; der Punkt, an
dem beide Gestirne den gleichen Himmelslängengrad haben, heißt Konjunktion oder Neumond. (Der Begriff
Neumond wird aber auch für das erste Wiedererscheinen
des Mondes nach der Konjunktion verwendet.) Wenn sich
Sonne und Mond im Winkel von 180 Grad gegenüberstehen, wird das als Opposition oder Vollmond bezeichnet
(siehe Abb. 6).
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Abb. 7. Die Tierkreiszeichen
Die Sonne zieht auf einer Bahn über den Himmel, die
als Tierkreis oder Zodiakus – von griechisch zôdion ›Tierchen‹ – bezeichnet wird. Dieser wird in zwölf jeweils 30
Grad breite Abschnitte unterteilt, die nach Sternbildern
benannt sind: Widder (Aries), Stier (Taurus) usw. (siehe
Abb. 7). Diese Zeichen entsprechen jedoch nicht mehr der
tatsächlichen Stellung der Sternbilder, was auf die langsame Umdrehung der Himmelssphäre um die Erdachse zurückzuführen ist. Diese Umdrehung dauert rund 25 780
Jahre und wird als die Präzession der Tagundnachtgleiche
bezeichnet, weil sie dafür sorgt, dass die dynamische Tagundnachtgleiche – der Schnittpunkt zwischen Ekliptik
und Himmelsäquator, an dem sich die Neigung der Erde
von Süden nach Norden wendet – langsam, aber stetig den
Sternbildern vorausläuft (siehe Abb. 8). Der erste Punkt
des Widders, der in der nördlichen Hemisphäre die Tag-
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Abb. 8. Die Präzession der Tagundnachtgleichen
undnachtgleiche des Frühlings bezeichnet, befindet sich
deshalb gegenwärtig im Sternbild der Fische und wandert
auf den Wassermann zu; große Zivilisationen existierten
aber schon, als er noch im Sternbild des Stieres stand.
Die meisten Kalendersysteme beruhen entweder auf
Mond oder Sonne. Mondkalender basieren theoretisch auf
dem synodischen Monat (von griechisch sýnodos ›Konjunktion‹), auch Lunation genannt, dem Zeitraum zwi-
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schen Neumond und Neumond (Tibet und Nordindien
rechnen hingegen von Vollmond zu Vollmond). Dieser
Zeitraum beträgt durchschnittlich 29,53059 Tage, das sind
29 Tage 12 Stunden 44 Minuten und 2,976 Sekunden;
zwölf derartige Monate werden zu einem Jahr zusammengefasst. Sonnenkalender gruppieren Tage zu Jahren, die
der Umdrehung der Erde um die Sonne entsprechen; diese
werden dann zwar in als Monate bezeichnete Einheiten
unterteilt, deren Länge aber nicht vom Mondwechsel bestimmt wird. Die meisten Sonnenkalender versuchen, dem
tropischen Jahr (von griechisch tropaí ›Sonnenwende‹) zu
entsprechen, dem Zeitabschnitt zwischen zwei aufeinanderfolgenden Durchgängen des Sonnenmittelpunkts durch
den Punkt der Frühlings-Tagundnachtgleiche; der gegenwärtig gültige Wert beträgt 365,24219 Tage, das sind ungefähr 365 Tage 5 Stunden 48 Minuten und 45,2 Sekunden. Soll jedoch der Zeitraum zwischen einer FrühlingsTagundnachtgleiche und der nächsten angegeben werden,
sind 365,242374 Tage bzw. 365 Tage 5 Stunden 49 Minuten und 1,1 Sekunden ein genauerer Näherungswert. Diese Durchschnittswerte verändern sich schrittweise: vor
2000 Jahren betrugen sie 365,243210 und 365,242137 Tage.
Aufgrund der Präzession ist das tropische Jahr ein wenig kürzer als das siderische Jahr (von lateinisch sidus
›Konstellation‹), das Wiedereintreten der gleichen Erdposition gegenüber den Sternen, ein Zeitabschnitt von
365,25636 Tagen bzw. 365 Tagen 6 Stunden 9 Minuten
und 9,5 Sekunden. Die meisten komplexen Kalendersysteme beruhen auf dem tropischen Jahr, außer in Indien, wo
eine Vielzahl von Sonnen- und Mondkalendern existieren,
wobei die Sonnenkalender bis 1957 auf dem siderischen
Jahr beruhten.
Unglücklicherweise sind 12 synodische Monate zusammengenommen rund 11 Tage kürzer als ein tropisches
oder siderisches Sonnenjahr. Aus diesem Grunde kann
kein Kalendersystem wirklich auf beiden Einheiten beru-
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hen: eine Wahlentscheidung muss getroffen werden. Die
meisten Mondkalender versuchen jedoch, die Sonne zu
berücksichtigen, während Sonnenkalender dem Mondwechsel, abgesehen von der konventionellen Unterteilung
in Monate, keine Beachtung schenken.
Mondkalender
Die älteste Methode, den Neumond zu bestimmen, bestand in der Beobachtung seines ersten Wiedererscheinens.
Die zuständigen Autoritäten beobachteten den Himmel
entweder selber oder erhielten Berichte von als vertrauenswürdig angesehenen Beauftragten. Zwar konnte dieses
System als das genaueste betrachtet werden, solange der
Mond als ein optisches und nicht als ein astronomisches
Phänomen angesehen wurde, doch war es anfällig gegenüber dem Missbrauch im Interesse einer Partei sowie gegenüber schlechtem Wetter, dessen Einfluss sich dadurch
begrenzen, aber nicht beseitigen ließ, dass man die Regel
einführte, dass, wenn nach 29 Tagen des laufenden Monats
der neue Mond am Abend nicht beobachtet worden war, er
am nächsten als beobachtet galt, so dass kein Monat länger
als 30 Tage dauerte.
Die Beobachtung als Grundlage war zudem in Gemeinschaften problematisch, die zu groß für einen schnellen
Nachrichtenaustausch waren, und äußerst unpraktisch für
Astronomen, die bestimmen wollten, wie viele Tage zwischen zwei Ereignissen in der Vergangenheit verflossen
waren, oder die das Datum eines bestimmten Ereignisses
in der Zukunft voraussagen wollten. Da der synodische
Monat etwas länger als 29,5 Tage ist, wird ein halbwegs
genauer Mondkalender daher mit einem Wechsel von
»langen« Monaten zu 30 Tagen und »kurzen« zu 29 Tagen arbeiten, was ein Jahr zu 354 Tagen ergibt. Dieses
Schema liegt dem modernen jüdischen Kalender (aller-