Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders
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Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders
Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 3 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Leofranc Holford-Strevens Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders 11 12 13 14 Aus dem Englischen übersetzt von Christian Rochow 15 16 17 Mit 26 Abbildungen 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Philipp Reclam jun. Stuttgart Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 4 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Titel der englischen Originalausgabe: Leofranc Holford-Strevens: The History of Time. A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press, 2005 Der Autor ist Consultant Scholar-Editor bei Oxford University Press 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18483 Alle Rechte vorbehalten © für die deutschsprachige Ausgabe 2008 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Die Übersetzung erscheint mit Genehmigung von Oxford University Press, Oxford. The History of Time. A Very Short Introduction was originally published in English in 2005. This translation is published by arrangement with Oxford University Press. © 2005 Leofranc Holford-Strevens Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2008 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 978-3-15-018483-7 www.reclam.de Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 5 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Der Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Monate und Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 3 Vorgeschichte und Geschichte des modernen Kalenders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ostern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Wochen und Jahreszeiten . . . . . . . . . . . 6 Andere Kalender . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Jahresdatierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 15 36 48 68 95 122 149 Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Weiterführende Literatur . . . . . Glossar . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . Personen-, Orts- und Sachregister 183 186 188 190 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 7 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Vorwort Der Titel dieses Buches1 weckt vielleicht die Erwartung, dass hier ein Überblick über philosophische oder physikalische Fragen gegeben werde: ob die Zeit einen Anfang und ein Ende hat; ob die Gesetze von Raum und Zeit in schwarzen Löchern vollständig unanwendbar sind; ob es jemals möglich sein kann, den Fluss der Zeit umzukehren und die Vergangenheit zu verändern – eine Lieblingsphantasie von Menschen, die sich gerne vorstellen, sie allein würden jenes Privileg besitzen, dabei aber vergessen, dass sich in der neuen, verbesserten Vergangenheit ihre Eltern womöglich niemals begegnet wären. Das alles sind unstreitig gute Fragen, auf die ich hier jedoch so wenig mich einlassen will wie auf eine Definition dessen, was Zeit ist. Gegen das Jahr 268 n. Chr. bemerkte der große neuplatonische Philosoph Plotin, dass wir zwar beständig über Zeitalter und Zeit sprächen, als ob wir eine klare Vorstellung davon hätten, bei näherer Untersuchung dieser Frage jedoch in Verwirrung gerieten. Rund 130 Jahre später fasste der heilige Augustinus dieses Argument in die prägnanten Worte: »Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, so weiß ich es; versuche ich, es zu erklären, so weiß ich es nicht.« Tiefere Einsichten zu bieten beansprucht dieses Buch nicht: andere mögen zu bestimmen versuchen, ob die Zeit eine vierte Dimension des Universums oder eine vergegenständlichte Abstraktion, ob sie ununterbrochen oder atomistisch sei, ob sie unabhängig von messbarer Bewegung existiere, ob dem Wort »vor« in Formulierungen wie »vor der Schöpfung« oder »vor dem Urknall« irgendein Sinn zukomme. Auf die Frage, was Gott vor Erschaffung 1 Der englische Originaltitel lautet The History of Time. [Anm. des Übers.] Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 8 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Vorwort der Welt getan hätte, zitierte derselbe heilige Augustinus, ohne sich freilich zu diesem Ausspruch als seiner eigenen Ansicht zu bekennen, die scherzhafte Antwort: »Höllen für jene bereiten, die solche Rätsel erklügeln« – ich mag mich dem Risiko nicht aussetzen, dass sich der Scherz als Ernst erweise. Genauso wenig werde ich auf die Frage eingehen, ob die Zeit geradlinig voranschreitet oder zyklisch verläuft. Zwar trifft es nicht zu, dass die lineare Zeit eine jüdischchristliche Besonderheit gegenüber der zyklischen Zeit war, die das späte griechisch-römische Heidentum mit dem Symbol der ihren Schwanz verschlingenden Schlange darstellte; gleichwohl sprachen manche Philosophen von der Zeit in zyklischen Begriffen. Das wirft konzeptionelle Probleme auf, die ich hier nicht behandeln möchte; vielmehr möchte ich mich auf das Alltagsverständnis von Zeit beschränken und mich auf die Verfahren konzentrieren, mit deren Hilfe ihr Vergehen gemessen wurde und wird. Das deutsche Wort Zeit kann sich auch auf mehr oder weniger genau definierte Zeiträume beziehen, so in »kurze Zeit lang« oder in »die Zeit der Pharaonen«, womit ein bestimmter, rund dreitausend Jahre langer Zeitraum bezeichnet wird. Es kann sich auch auf die – wie das Oxford English Dictionary das englische Wort time definiert – »unbegrenzte, fortwährende Dauer« beziehen, in der alle Ereignisse stattfanden, stattfinden und stattfinden werden. Dieses Konzept, welches den Kern jener Verwirrung ausmacht, von der Plotin und der heilige Augustinus sprachen, setzt eine entwickelte Fähigkeit zum abstrakten Denken voraus: Anthropologen berichten von verschiedenen Völkern, dass ihnen ein solches Zeitkonzept fehle. Und in den aus dem 8. bis 7. Jahrhundert v. Chr. stammenden Epen »Homers«, welche die Griechen als die Grundlage ihrer Kultur betrachteten, bezeichnet chrónos nur eine Zeitspanne und nicht das, was wir als Zeit an sich zu verstehen geneigt sind. Doch findet sich dann jene Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 9 Vorwort 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 9 Vorstellung schon bei dem großen athenischen Gesetzgeber Solon im frühen 6. Jahrhundert v. Chr., der die Zeit als einen Richter personifiziert: »vor dem Gericht der Zeit«. Seit jener Zeit ist das Konzept der unbegrenzten, fortwährenden Dauer in der westlichen Zivilisation so vertraut, dass wir es für unvorstellbar halten, es könne in irgendeiner fortgeschrittenen Kultur fehlen; und doch wurde unlängst behauptet, dass weder die hebräische Bibel noch die rabbinische Literatur es kennten. Doch, wie auch immer sich das verhalten mag: in jeder Gesellschaft, außer den allereinfachsten, existiert das Bedürfnis, die Zeit zu messen, selbst wenn die Menschen von ihr als einem abstrakten Konzept nichts wissen. Dieses Buch handelt von den Verfahren, mit denen das Vergehen von Zeit gemessen wurde. Homer verwendet Ausdrücke für Jahre, Monate und Tage; seine Hinweise auf Streitigkeiten und Prozesse erinnern uns an einen wichtigen Bereich, in dem Zeitmessung eine Rolle spielt. Schon in seiner relativ einfachen Kultur müssen Fälle aufgetreten sein, in denen die Frage nicht lautete, ob etwas geschehen war, sondern ob ein Ereignis vor einem bestimmten anderen stattgefunden hatte. Wenn dieselben Zeugen beide Ereignisse beobachtet hatten, musste nicht unbedingt ein Problem entstehen; wenn das nicht der Fall war, konnten beide Ereignisse zu einem dritten in Bezug gesetzt werden, vorzugsweise zu einem, das beiden Parteien und dem Richter bekannt war, beispielsweise die Hochzeit des örtlichen Herrschers. Falls ein solches Ereignis fehlte, musste es Schwierigkeiten geben, solange die für den Fall relevanten Ereignisse nicht gegen ein gesellschaftlich verbindliches Zeitmaß gehalten werden konnten. Zur Aufzeichnung und Koordinierung menschlicher Aktivitäten ist es erforderlich, Systeme zu entwickeln, mit deren Hilfe Ereignisse zu einer Abfolge regelmäßiger, vorhersagbarer und wiederkehrender natürlicher Gescheh- Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 10 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Vorwort nisse in Beziehung gesetzt werden können. Da diese Systeme auf künstlicher Erfindung beruhen und sich teilweise oder vollständig unabhängig voneinander entwickelten, unterscheiden sie sich in vielen Details. Doch wird die Variationsbreite wiederum von den natürlichen Gegebenheiten eingeschränkt, insbesondere von der Erdumdrehung, dem Umlauf des Mondes um die Erde und dem Umlauf der Erde um die Sonne. Diese Tatsachen bilden die Grundlage für die am weitesten verbreiteten Einheiten zur Messung der Zeit: den Tag, den Monat und das Jahr. Je komplexer das Leben wird, desto komplizierterer intellektueller Anstrengungen bedarf es, um nicht nur ein Jahr, einen Monat, einen Tag oder den Teil eines Tages genau zu bestimmen (die Wissenschaft der Zeitmessung), sondern auch die mittels Zeitmessung bestimmten Jahre usw. zueinander in Beziehung zu setzen (die Wissenschaft der Chronologie). Ein Bestandteil der Letzteren ist der Vergleich der zu diesem Zweck in verschiedenen Kulturen aufgestellten Systeme mit dem Ziel, zu bestimmen, ob sich zwei scheinbar ähnliche Bezeichnungen tatsächlich auf zwei verschiedene Sachverhalte beziehen oder ob sich unter den beiden Namen in Wahrheit der gleiche Sachverhalt verbirgt. In der Zeitmessung besteht vielfach ein Konflikt zwischen der Treue zur Natur und der Bequemlichkeit im Gebrauch. Zuweilen wird auf Erstere verzichtet, so wie dies bei westlichen Verfahren zur Bestimmung der Tageszeit wiederholt geschehen ist, zuweilen aber auch auf Letztere, so etwa durch die Reform Papst Gregors XIII., durch die der römische Kalender zwar genauer, aber auch komplizierter wurde. Hingegen ist die Bezeichnung des Jahres frei von Naturbezügen und beruht gänzlich auf Konvention. Trotzdem unterliegen diese Bezeichnungen leicht der Verdinglichung. In den ersten Monaten des Jahres 1961 pries ein Hersteller elektrischer Geräte seine Produkte mithilfe einer Hausfrau »Mrs. 1961« an, die, weil Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 11 Vorwort 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 11 sie Mrs. 1961 war, den neuesten Staubsauger und Kühlschrank brauchte. Der Lohn für ihre Mühen zur Hebung der Umsätze des Unternehmens war, dass sie 1962 verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen. Mrs. 1961 fiel der trügerischen Vorstellung zum Opfer, dass die Jahre, die unser Kalender misst und die nach unserer Zeitrechnung nummeriert sind, eine Realität jenseits der Konventionen besäßen, von denen sie erzeugt wurden. In anderen Kalendern jedoch war das Jahr 1961 der christlichen Ära nicht einmal eine abgegrenzte Einheit: in einer indischen Ära umfasste es Teile der Jahre 1882 und 1883, in einer anderen der Jahre 2017 und 2018, in der äthiopischen Jahresrechnung Teile von 1953 und 1954, nach dem jüdischen Kalender Teile von 5721 und 5722 und nach dem muslimischen Teile von 1380 und 1381. Jene Verdinglichung erfasst auch größere Einheiten. Mit dem Begriff der »Sixties«, also der 1960er Jahre, wird in Großbritannien ein gesamtes Jahrzehnt als eine Zeit der politischen Rebellion und kulturellen Innovation zusammengefasst; während die 1890er Jahre (während derer Oscar Wilde zu Gefängnis verurteilt wurde) als »Naughty Nineties«, die »Ungebärdigen Neunziger«, bezeichnet werden, weil in jenen Jahren die Elite wider den Stachel der Anpassung an konventionelle, bürgerliche Respektabilität löckte. Selbst ganze Jahrhunderte werden auf diese Weise etikettiert: »Im 15. Jahrhundert nahm die Frömmigkeit zunehmend private und emotionale Züge an«; »Die englische Literatur des 18. Jahrhunderts kam aus dem Kopf, nicht aus dem Herzen« – das klingt so, als wären zu Jahresbeginn 1401 bzw. 1701 (der, wie wir in Kapitel 7 erfahren werden, nicht unbedingt auf den 1. Januar fallen muss), alte Weisen des Denkens und Fühlens genauso auf der Müllkippe gelandet wie der alte Staubsauger von Mrs. 1961. Als der Kaiser Trajan, vielleicht gegen Ende des Jahres 110 n. Chr., Plinius ausdrücklich ermahnte, die Annahme Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 12 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Vorwort anonymer Denunziationen sei »mit unseren Zeiten« nicht vereinbar, meinte er ganz speziell »meine Herrschaft«, die Prinzipien, nach welchen er zu herrschen sich entschlossen hatte. Im Gegensatz dazu erklären heutige Journalisten und Politiker gern, dass es für bestimmte Regierungspraktiken (nicht die oben genannte) keinen Platz im 21. Jahrhundert gäbe; das Datum wird dabei mit so eherner Gewissheit verdinglicht, als ob es ein Naturereignis und ein Gesetzgeber wäre. Eine Absicht dieses Buches besteht darin, solche Gewissheiten zu bekämpfen, indem der kontingente und willkürliche Charakter der Maße gezeigt wird, auf welche diese Verdinglichung angewendet wird. Obwohl Politik und Religion nicht Thema dieses Buches sind, werde ich gelegentlich auf die politischen und religiösen Implikationen bei der Wahl des Kalenders und der Aufnahme oder Verwerfung von Reformen (z. B. des Gregorianischen Kalenders in der christlichen Welt; der »Shahänshahi«-Ära im Iran) eingehen: als die Regierung Indiens im Jahr 1957 einen neuen säkularen Kalender einführte, wagte sie die Vielfalt der religiösen Kalender nicht anzutasten, außer dass das Sonnenjahr anders berechnet wurde. Ein ganzes Kapitel dieses Buchs ist einem religiösen Fest, dem christlichen Ostern, gewidmet, und zwar nicht wegen dessen religiöser Bedeutung, sondern aufgrund seiner kalendarischen Komplexität. Das eigentliche Thema des vorliegenden Buchs sind gleichwohl die Kalender an sich und nicht ihr Gebrauch oder ihre Bedeutung. Viel lässt sich auch über die Zeit als soziales Konstrukt – und als Konstrukteur – schreiben sowie über ihre unterschiedliche Wahrnehmung durch Jung und Alt, Männer und Frauen, Büroangestellte, Arbeiter oder Bauern. Auch das ist nicht Thema dieses Buchs, da sich andere zu diesen Fragen qualifizierter äußern können als ich. Die Fachausdrücke, soweit sie erforderlich sind, werden im Glossar erläutert. Zahlen sind in wissenschaftlicher Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 13 Vorwort 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 13 Form geschrieben, ohne Tausenderpunkt: eintausend ist 1000, zehntausend 10 000, ein Zehntausendstel 0,0001, ein Hunderttausendstel 0,00001. Die traditionellen Bezeichnungen »v. Chr.« und »n. Chr.« wurden beibehalten und nicht durch »v. u. Z.« und »u. Z.« ersetzt. Im Englischen unterscheiden sich die Bezeichnungen BC (»Before Christ«) und AD (»Anno Domini«) deutlich besser als BCE (»Before Common Era«) und CE (»Common Era«). Die Epoche unserer Zeitrechnung ist zwar als Datum der Geburt Jesu Christi höchstwahrscheinlich falsch, bleibt aber dennoch auf dieses Ereignis bezogen, da kein anderes Ereignis aus diesem Jahr als Alternative von Weltbedeutung namhaft gemacht werden kann. Im Zeitalter der Globalisierung mag eine rein säkulare Zeitrechnung attraktiv erscheinen, doch lässt sich die christliche Zeitrechnung nicht einfach dadurch säkularisieren, dass man ihren Ursprung verleugnet. Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 36 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 2 Monate und Jahre Der Zeitraum einer Umdrehung des Mondes um die Erde ergibt zumindest nominell einen Monat, der in den meisten Sprachen mit dem gleichen Wort wie der Mond oder wie im Deutschen oder Englischen mit einer von diesem abgeleiteten Vokabel bezeichnet wird; die Dauer einer Erdumdrehung um die Sonne ergibt zumindest nominell ein Jahr. Tatsächlich kann kein Kalendersystem beiden Umdrehungen genau gerecht werden: entweder der Monat oder das Jahr müssen zu einem willkürlich festgelegten Zeitraum werden – so wie die verschiedenen Längenmaße, die »Fuß« heißen, nicht exakt mit der Länge irgendeines bestimmten menschlichen Fußes übereinstimmen müssen. In manchen Gesellschaften werden die Tage zudem noch nach einem zweiten, von Monaten und Jahren unabhängigen System gruppiert – am weitesten verbreitet ist die siebentägige Woche. Viele dieser Systeme sind Markttagszyklen; mehrere derartiger Zyklen von unterschiedlicher Länge finden sich in Afrika, am bekanntesten sind das achttägige nundinum der römischen Antike und die décade des französischen Revolutionskalenders (siehe Kap. 5). Jahre werden zu Jahrhunderten und Jahrtausenden zusammengefasst; längere Zeiträume, die als Weltalter verstanden werden, finden sich in Indien und fanden sich einst bei den östlichen Maya. Dort beruhten sie nicht auf dem Sonnenjahr oder dem 260-Tage-Zyklus (siehe Kap. 6), sondern auf dem tun zu 360 Tagen und seinen Vielfachen. Die längeren Zeitspannen werden häufig mit der Lebensdauer des jeweiligen Weltalters identifiziert. So erwarteten einige Menschen das Weltende für den Eintritt des Jahres 2000 n. Chr.; ähnliche Erwartungen knüpften Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 37 Monate und Jahre 37 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Abb. 6. Die Mondphasen sich seinerzeit in Russland an den Beginn des 7000. Jahres der Byzantinischen Weltära, welches nach westlicher Rechnung vom 1. September 1491 bis zum 31. August 1492 dauerte. Die astronomischen Grundlagen Die Erde rotiert um ihre Achse und kreist außerdem um die Sonne, wenngleich Letztere für den naiven Beobachter so wie der Mond um die Erde zu kreisen scheint. Stehen Sonne und Mond am Himmel nahe beieinander, kann der Mond das Sonnenlicht nicht reflektieren; der Punkt, an dem beide Gestirne den gleichen Himmelslängengrad haben, heißt Konjunktion oder Neumond. (Der Begriff Neumond wird aber auch für das erste Wiedererscheinen des Mondes nach der Konjunktion verwendet.) Wenn sich Sonne und Mond im Winkel von 180 Grad gegenüberstehen, wird das als Opposition oder Vollmond bezeichnet (siehe Abb. 6). Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 38 38 Monate und Jahre 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Abb. 7. Die Tierkreiszeichen Die Sonne zieht auf einer Bahn über den Himmel, die als Tierkreis oder Zodiakus – von griechisch zôdion ›Tierchen‹ – bezeichnet wird. Dieser wird in zwölf jeweils 30 Grad breite Abschnitte unterteilt, die nach Sternbildern benannt sind: Widder (Aries), Stier (Taurus) usw. (siehe Abb. 7). Diese Zeichen entsprechen jedoch nicht mehr der tatsächlichen Stellung der Sternbilder, was auf die langsame Umdrehung der Himmelssphäre um die Erdachse zurückzuführen ist. Diese Umdrehung dauert rund 25 780 Jahre und wird als die Präzession der Tagundnachtgleiche bezeichnet, weil sie dafür sorgt, dass die dynamische Tagundnachtgleiche – der Schnittpunkt zwischen Ekliptik und Himmelsäquator, an dem sich die Neigung der Erde von Süden nach Norden wendet – langsam, aber stetig den Sternbildern vorausläuft (siehe Abb. 8). Der erste Punkt des Widders, der in der nördlichen Hemisphäre die Tag- Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 39 Monate und Jahre 39 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Abb. 8. Die Präzession der Tagundnachtgleichen undnachtgleiche des Frühlings bezeichnet, befindet sich deshalb gegenwärtig im Sternbild der Fische und wandert auf den Wassermann zu; große Zivilisationen existierten aber schon, als er noch im Sternbild des Stieres stand. Die meisten Kalendersysteme beruhen entweder auf Mond oder Sonne. Mondkalender basieren theoretisch auf dem synodischen Monat (von griechisch sýnodos ›Konjunktion‹), auch Lunation genannt, dem Zeitraum zwi- Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 40 40 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Monate und Jahre schen Neumond und Neumond (Tibet und Nordindien rechnen hingegen von Vollmond zu Vollmond). Dieser Zeitraum beträgt durchschnittlich 29,53059 Tage, das sind 29 Tage 12 Stunden 44 Minuten und 2,976 Sekunden; zwölf derartige Monate werden zu einem Jahr zusammengefasst. Sonnenkalender gruppieren Tage zu Jahren, die der Umdrehung der Erde um die Sonne entsprechen; diese werden dann zwar in als Monate bezeichnete Einheiten unterteilt, deren Länge aber nicht vom Mondwechsel bestimmt wird. Die meisten Sonnenkalender versuchen, dem tropischen Jahr (von griechisch tropaí ›Sonnenwende‹) zu entsprechen, dem Zeitabschnitt zwischen zwei aufeinanderfolgenden Durchgängen des Sonnenmittelpunkts durch den Punkt der Frühlings-Tagundnachtgleiche; der gegenwärtig gültige Wert beträgt 365,24219 Tage, das sind ungefähr 365 Tage 5 Stunden 48 Minuten und 45,2 Sekunden. Soll jedoch der Zeitraum zwischen einer FrühlingsTagundnachtgleiche und der nächsten angegeben werden, sind 365,242374 Tage bzw. 365 Tage 5 Stunden 49 Minuten und 1,1 Sekunden ein genauerer Näherungswert. Diese Durchschnittswerte verändern sich schrittweise: vor 2000 Jahren betrugen sie 365,243210 und 365,242137 Tage. Aufgrund der Präzession ist das tropische Jahr ein wenig kürzer als das siderische Jahr (von lateinisch sidus ›Konstellation‹), das Wiedereintreten der gleichen Erdposition gegenüber den Sternen, ein Zeitabschnitt von 365,25636 Tagen bzw. 365 Tagen 6 Stunden 9 Minuten und 9,5 Sekunden. Die meisten komplexen Kalendersysteme beruhen auf dem tropischen Jahr, außer in Indien, wo eine Vielzahl von Sonnen- und Mondkalendern existieren, wobei die Sonnenkalender bis 1957 auf dem siderischen Jahr beruhten. Unglücklicherweise sind 12 synodische Monate zusammengenommen rund 11 Tage kürzer als ein tropisches oder siderisches Sonnenjahr. Aus diesem Grunde kann kein Kalendersystem wirklich auf beiden Einheiten beru- Holford-Strevens, Zeitrechnung 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18483/2800184-u2.pod Seite 41 Monate und Jahre 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 41 hen: eine Wahlentscheidung muss getroffen werden. Die meisten Mondkalender versuchen jedoch, die Sonne zu berücksichtigen, während Sonnenkalender dem Mondwechsel, abgesehen von der konventionellen Unterteilung in Monate, keine Beachtung schenken. Mondkalender Die älteste Methode, den Neumond zu bestimmen, bestand in der Beobachtung seines ersten Wiedererscheinens. Die zuständigen Autoritäten beobachteten den Himmel entweder selber oder erhielten Berichte von als vertrauenswürdig angesehenen Beauftragten. Zwar konnte dieses System als das genaueste betrachtet werden, solange der Mond als ein optisches und nicht als ein astronomisches Phänomen angesehen wurde, doch war es anfällig gegenüber dem Missbrauch im Interesse einer Partei sowie gegenüber schlechtem Wetter, dessen Einfluss sich dadurch begrenzen, aber nicht beseitigen ließ, dass man die Regel einführte, dass, wenn nach 29 Tagen des laufenden Monats der neue Mond am Abend nicht beobachtet worden war, er am nächsten als beobachtet galt, so dass kein Monat länger als 30 Tage dauerte. Die Beobachtung als Grundlage war zudem in Gemeinschaften problematisch, die zu groß für einen schnellen Nachrichtenaustausch waren, und äußerst unpraktisch für Astronomen, die bestimmen wollten, wie viele Tage zwischen zwei Ereignissen in der Vergangenheit verflossen waren, oder die das Datum eines bestimmten Ereignisses in der Zukunft voraussagen wollten. Da der synodische Monat etwas länger als 29,5 Tage ist, wird ein halbwegs genauer Mondkalender daher mit einem Wechsel von »langen« Monaten zu 30 Tagen und »kurzen« zu 29 Tagen arbeiten, was ein Jahr zu 354 Tagen ergibt. Dieses Schema liegt dem modernen jüdischen Kalender (aller-