Erika Fischer-Lichte. Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die

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Erika Fischer-Lichte. Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die
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hingegen ist in der Mathematik ein Grenzwert zur
Berechnung von Flächen und Volumina, für
Schmidt ein “Verfahren, das der funktionalen
Komplexität (Bedeutungs- und Stilvielfalt) gerecht
wird, zugleich aber durch Summenbildung einen
neuen Sinnhorizont schafft” (97). Für Ostdeutschland privilegiert Schmidt in Einklang mit der
üblichen Theatergeschichtsschreibung Autoren,
die sich der von ihm konstatierten “Tangente”
weitgehend entziehen: Brecht, Hacks und Heiner
Müller. In Bezug auf die BRD wertet er jene
Formen auf, die er als “integral” bezeichnet: im
Theater wären dies z.B. die Arbeiten von Gründgens, Sellner oder Fehling. Schmidt sieht in ihren
künstlerischen Verfahren den Versuch, “postidealistisch Sinn zu stiften” (127), der zwar einerseits eine konservative Abschottung von jeder Idee
gesellschaftlichen Wandels bedeute, zugleich aber
eine neue – vermeintlich postideologische –
Identitätsbildung als “Summe verschiedener
Rollenentwürfe” (127) ermögliche.
Problematisch an Schmidts diskussionswürdigen Thesen wie an der Studie im Allgemeinen sind
die methodischen Voraussetzungen. Am geringsten fällt dabei die verkürzende Übernahme
theaterwissenschaftlichen Vokabulars ins Gewicht,
die z.B. Intermedialität primär als Beziehung
zwischen Dramentext und Aufführung begreift
(96). Schwerer wiegt, dass sich Schmidt zu sehr auf
Selbstaussagen der Künstler verlässt, ohne diese
angemessen zu historisieren. Das Konstrukt der
Ideologiefreiheit im Spiel verschiedener Rollenentwürfe wird etwa gegen die Ideologie des Nationalsozialismus ausgespielt, aber nicht als mögliche Legitimationsstrategie der jeweiligen Künstler
untersucht. Weiterhin erhält das Verhältnis von
Theater und Drama nicht genug Aufmerksamkeit:
so wird die Ideologiefreiheit des “Integrals” zwar
als Effekt dieses Verhältnisses begriffen (insofern
jede Aufführung dem dramatischen Text eine
Interpretationsebene hinzufüge und damit ins
Spiel möglicher Sinnstiftungen eingreife), doch
jenseits dieser These geht der Bezug von Theater
und Drama verloren. Das ist insofern problematisch, als Schmidt aufweisen will, dass das Drama
der fünfziger Jahre Themen behandelt, von denen
die bisherige Forschung nicht wisse, z.B. sei während der Nachkriegsepoche “ein politisch-engagierter Diskurs virulent” (205). Hier fehlen klare
Forum Modernes Theater, Bd. 25/1 (2010), 107–109.
Gunter Narr Verlag Tübingen
Angaben darüber, was tatsächlich produziert oder
auch nur veröffentlicht wurde, und welche Dramen letztlich in die Schublade wanderten. Ohne
diese Transparenz differenzieren Schmidts Erkenntnisse zwar das Bild vom Schweigen des
Dramas, aber sie suchen die Gründe für die bisherige Auffassung zu einseitig bei der Forschung statt
die tatsächlichen Produktionsverhältnisse der
Fünfziger in ihre Überlegungen mit einzubeziehen.
Trotz einiger methodologischer Schwächen
bietet Schmidts Studie wertvolle Grundlagenforschung zum Drama und Theater der Nachkriegszeit, die nicht nur durch Materialfülle beeindruckt,
und die zu einem Standardwerk für die Epoche
werden könnte.
Mainz
MICHAEL BACHMANN
Erika Fischer-Lichte. Theaterwissenschaft.
Eine Einführung in die Grundlagen des Faches.
Tübingen/Basel: Francke Verlag, 2009, 273
Seiten, 19,90 L.
Theaterwissenschaft wird im deutschsprachigen
Raum mit seiner Vielzahl an Stadt-, Staats- und
Nationaltheatern in erster Linie als Wissenschaft
von Aufführungen studiert und dass dies so ist
knüpft sich an die national wie international viel
beachtete Forschung Erika Fischer-Lichtes. Mit der
nun vorliegenden Einführung in die Grundlagen
des Faches dokumentiert die Grande Dame der
deutschen Theaterwissenschaft den Werdegang
dieser noch immer relativ jungen akademischen
Disziplin als die erfolgreiche Emanzipation aus der
Literaturwissenschaft. Der Band liest sich somit als
Genealogie und Methode des Faches zugleich, was
die Lektüre nicht nur für Studienanfänger, sondern auch für fortgeschrittene Semester durchaus
interessant macht. Ausgehend vom Begriff des
Theaters, das als Ort der Schau immer auch Raum
für performatives Entstehen von Wissen konstituiert, expliziert Fischer-Lichte die Bedeutung
theaterwissenschaftlicher Analysemethoden für
den jüngsten Paradigmenwechsel in der Kulturwissenschaft. Aufführung und Spiel als zentrale
Kategorien des Theaterereignisses begründen so
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die Plattform einer weitgreifenden Identitätsanalyse, die über das Kunsttheater hinaus in
nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche von Politik
bis Soziologie, Philosophie und Medienanalyse
hineingreift. Im Mittelpunkt steht dabei das
Moment der Flüchtigkeit körperlich vermittelter
Prozesse wie sie die Schauspielerin in der jeweiligen Interpretation der gegebenen Rolle traditionell
verkörpert. Dabei geht es der Theaterwissenschaft
eben nicht in erster Linie um die Analyse textueller
Verfahren, sondern um das sinnliche Wahrnehmen körperlicher Kopräsenz von Zuschauern und
Darstellern.
Diese grundlegende Definition des Theaterereignisses gehört inzwischen zu den Grundfesten
theaterwissenschaftlicher Forschungsarbeit und in
der Vehemenz, mit der Fischer-Lichte die Aufführungsanalyse als Kernkompetenz der Theaterwissenschaft verteidigt, besteht die eigentliche
Radikalität ihres Arguments. Denn indem sie den
Theaterbesuch als notwendige Bedingung der
Aufführungsanalyse voraussetzt, ordnet sie jegliche
Forschung, die sich nicht auf die eigene körperliche Erfahrung des Theaterereignisses als Forschungsgegenstand beruft, kategorial der Historiographie zu. Sie schreibt:
Von Aufführungsanalyse ist daher im Folgenden nur die Rede, wenn vorausgesetzt werden
kann, dass die/der Analysierende an der betreffenden Aufführung selbst teilgenommen hat
und so Teil des autopoietischen Prozesses
gewesen ist, in dem die Aufführung entstand.
In allen anderen Fällen handelt es sich um die
Analyse von Quellen und Dokumenten zu
einer Aufführung oder auch von Spuren, die
sie hinterlassen hat. Ein solches Verfahren
wird als theaterhistoriografisch bezeichnet
(S. 70).
Eine solche phänomenologische Perspektive
schlägt sich vollends auf die Seite der Rezipienten,
die das Ereignis originär wahrnehmen und als
solches vermittels der eigenen Interpretation des
Bühnengeschehens erst begründen. Körper, Energie, Präsenz, Atmosphäre und Rhythmus sind
entscheidende Analyseparameter, die hier Eingang
finden und Fischer-Lichtes frühere Forschung zur
Semiotik um die entscheidenden phänomenologischen Kategorien ergänzen, die das performative
Erleben von Theater als transformatives Schwellenereignis kennzeichnen.
Studierenden in den ersten Semestern wird
hier das wesentliche Analyseinstrumentarium auf
klar strukturierte Weise an die Hand gegeben mit
dem sie lernen wie Bedeutung auf dem Theater
entsteht und dass sie wesentlicher Bestandteil
dieser Bedeutungskonstitution sind. Aufführungsanalyse ist notwendigerweise subjektiv und zuweilen verbleibt das erlebte Erspüren der besonderen
Atmosphäre schwitzender Körper vage formuliert,
doch wer das Geschehen methodisch strukturiert
zu analysieren gelernt hat, vermeidet den Vorwurf
der Beliebigkeit wie dies der zweite Teil des Buches
anhand der Arbeitsfelder, Theorien und Methoden
im Einzelnen näher vorstellt. Fischer-Lichtes
Fokussierung auf die Aufführungsanalyse markiert
somit die Stärke dieser Einführung für das Fach
insbesondere im deutschsprachigen Raum. Denn
ihr Ansatz verdeutlicht wie sehr sich das Entstehen
der deutschen Theaterwissenschaft an die Vielfalt
und Besonderheit der deutschen Theaterlandschaft
knüpft, die nicht zuletzt mit Berlin als Theaterhauptstadt einen singulären Status erhält, der
ein solches Primat der Aufführungserforschung für
Studierende attraktiv und praktikabel macht.
Was jenseits der Aufführung von der Theaterwissenschaft erforscht wird und die verbleibenden
Kapitel des Bandes bestimmt, sind desweiteren
Theatergeschichte, Theorie und Ästhetik. Im
Vergleich zu den Ausführungen zu Aufführungsbegriff und -analyse werden diese Kapitel weniger
ausführlich behandelt, was jedoch im Rahmen
einer Einführung durchaus gerechtfertigt erscheint. Theaterwissenschaft stellt auch in diesen
Feldern ihre originären Fragen an den Forschungsgegenstand, allerdings steht sie hier im interdisziplinären Dialog mit den jeweilig angrenzenden Disziplinen der anderen Geisteswissenschaften. Der zugrunde gelegte Theaterbegriff dient
auch an dieser Stelle zur Orientierung mit Hilfe
derer das historische Quellenmaterial dezidiert
theaterwissenschaftlich zu befragen ist. Jüngste
Forschung zur Theatergeschichtsschreibung erweist sich dergestalt als performativer Lektüreprozess und bezeugt den weitreichenden Einfluss
der performativen Wende in den Geisteswissenschaften. Fischer-Lichte erläutert in diesem Zusammenhang:
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Wie sich vor allem an diesen Beispielen gezeigt
hat, sollte Theatergeschichtsschreibung immer
theoriegeleitet vorgehen. Es sind theoretische
Vorannahmen, die zu bestimmten methodischen und konzeptuellen Entscheidungen
führen und entsprechend zu erläutern sind.
Die Anlage einer historiographischen Untersuchung ist daher ohne den Rekurs auf bestimmte Theorien gar nicht möglich (S. 134).
Mit dieser Überleitung zur Theorie als nächstem
Forschungsfeld wird erneut kenntlich, wie zentral
der von Fischer-Lichte maßgeblich in den Vordergrund internationaler Theaterwissenschaftsforschung gerückte Aufführungsbegriff geworden ist
und unter anderem eben auch einen neuen Blick
auf die zeitgenössischen Methoden der Geschichtsschreibung eröffnet.
Auf die notwendige Erweiterung theaterwissenschaftlicher Theoriebildung bezieht FischerLichte sich abschließend im dritten Teil des Bandes, der sich an Studierende in den aufbauenden
Masterstudiengängen des Faches richtet. FischerLichtes originelle Wende besteht in diesem Teil
vor allem darin, den von ihr jüngst neu postulierten Begriff der “Verflechtung” als Alternative zur
umstrittenen Interkulturalitäts- und Hybriditätsforschung der 1990er Jahre vorzustellen. Erstmalig
verwirft Fischer-Lichte auf diese Weise herkömmliche Analysemodelle, die den Modernisierungsgedanken als einseitige Verwestlichung internationaler Theaterformen betrachten und weist im
Gegenzug darauf hin, dass Modernisierung in
jedweder Form und jeder Kultur gleichwertig
auftreten kann (S. 174f.). Diese These ist durchaus
so provokant, wie man das von ihrer langjährigen
Forschung gewohnt ist, doch liefert sie auch hier
wieder den entscheidenden Impuls zu bislang
ausstehender Forschung auf diesem Gebiet. Erika
Fischer-Lichte beweist damit einmal mehr wie sehr
ihre singuläre Forscherpersönlichkeit maßgebliche
Grundsteine legt, die dem Fach inzwischen zu
unentbehrlichen Eckpfeilern geworden sind.
Nachkommenden Generationen junger Studierender ist die kritische Lektüre dieser Einführung
daher besonders zu empfehlen, da sie im Vergleich
zu den bereits existierenden Einführungen die
Genealogie der deutschsprachigen Theaterwissenschaft aufzeigt und damit das vorgestellte Primat
der Aufführungsanalyse als Kernkompetenz im
Forum Modernes Theater, Bd. 25/1 (2010), 109–111.
Gunter Narr Verlag Tübingen
Kontext deutscher Theatergeschichte überzeugend
darlegt.
Aberystwyth
SABINE SÖRGEL
Dennis Kennedy. The Spectator and the
Spectacle. Audiences in Modernity and Postmodernity. Cambridge: Cambridge University
Press, 2009, 249 Seiten, ca. 60 L
Der Zuschauer gehört zu jenen Konstanten des
theaterwissenschaftlichen Diskurses, dessen Anwesenheit (oder Abwesenheit) als factum brutum
angenommen wird. Bei näherer Betrachtung aber
verkompliziert sich der Sachverhalt sofort: In
einem Dickicht von Spekulationen und Verallgemeinerungen, Stereotypen und Mutmaßungen
windet sich die Rede vom Zuschauer um die
Erkenntnis herum, dass wir eigentlich keine
verlässlichen Aussagen über diesen so wichtigen
Teil des theatralen Prozesses machen können.
Und mit dieser Erkenntnis beginnt Dennis
Kennedy seine Überlegungen zu diesem Thema:
“A spectator is a corporeal presence but a slippery
concept.” (S. 3)
Ausgehend von diesem Eingeständnis der
Komplexität und Schwierigkeit des Themas unternimmt Kennedy dann eine umfassende tour
d’horizon, die das Thema aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet.
Das Panorama der Reflexion beginnt im Paris
des 19. Jahrhunderts: Es ist die Figur des Regisseurs – als Korrelat zum Autor –, die für Kennedy
zum Ausgangspunkt einer Revision des grand récit
der Moderne wird: So diskutiert er ausführlich die
Nähe der Avantgarde zum kommerziellen, urbanen Unterhaltungstheater, gerade auch dort, wo
die Selbstbeschreibung der Künstler in eine andere
Richtung deutet. In einer originellen Überblendung parallelisiert Kennedy Gustave Eiffel und
seinen Turm mit den Reformprojekten von André
Antoine. Doch diese historischen Skizzen bilden
keinen Selbstzweck, sondern formen den Ausgangspunkt einer Weiterführung zu einer Theorie
und Historiographie der Regie, die nicht in hagiographischer Bewunderung erstarrt, sondern die
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