Die perfektesten 1440 Minuten meines Lebens

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Die perfektesten 1440 Minuten meines Lebens
Shaun David Hutchinson
Die perfektesten
1440 Minuten
meines Lebens
Aus dem Amerikanischen
von Karlheinz Dürr
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
»The Deathday Letter«
bei Simon Pulse, einem Imprint von
Simon & Schuster, New York, NY 10020.
Copyright © 2010 by Shaun David Hutchinson.
Published by arrangement with Shaun David Hutchinson.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
1. Auflage 2012
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2012 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr
Covergestaltung: Frauke Schneider
Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau GmbH
ISBN 978-3-401-06734-6
www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de
Für Mom,
die mir das Werkzeug für den Erfolg
und die nötige Ausdauer mitgab
und mich jeden Tag aufs Neue inspirierte.
Okay, Mom –
krieg ich jetzt meine Lemon Meringue Pie?
Kurz vorab
Über Oliver Travers musst du vor allem eins
wissen: dass er am Ende dieser Geschichte
sterben wird. Keine Wendung des Schicksals,
kein Deus ex machina, kein Handel mit dem
Teufel wird das Unvermeidliche verhindern
können. Es gibt kein Happy End, er wird abnippeln, so ist es halt im Leben.
Aber in dieser Story hier geht’s gar nicht
um Oliver Travers’ Ableben, sondern um
sein Leben, und wer könnte diese Geschichte
besser erzählen als Oliver selbst?
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23h 59min, die Zeit läuft
Oliver! Oliver! Komm doch bitte runter!«
Echt, Leute, das geht gar nicht: Das Allerletzte, was ich
hören will, wenn ich meinen Solobeitrag zur Geburtenkontrolle leiste, ist die Stimme meiner Mutter. So lästig wie eine
Melodie, die einem ständig durch den Kopf dröhnt. Aber so
sieht’s aus: Da lieg ich unter der warmen Decke und fummle
an meinem Joystick herum und eigentlich sollte überhaupt
noch niemand im Haus wach sein, da muss sie natürlich
meinen Namen durch die ganze Hütte brüllen. Widerwillig lege ich eine Zwangspause ein und warte ab, vielleicht
denkt sie, dass ich noch fest schlafe. Aber genauso gut kann
ich jetzt den Hebel endgültig sinken lassen, denn ich weiß
genau, wenn ich die Augen wieder zumache, sehe ich sie
als Nächstes durch meine Bude schweben, mit wehendem
blondem Haar und ihrem rosa Frotteebademantel, der ein
bisschen weiter offen steht, als es mütterlicherseits erlaubt
sein sollte, und dann wird sie mir befehlen, meinen lahmen
Hintern endlich aus dem Bett zu hieven, weil ich sonst zu
spät zur Schule komme. Ich sag dir, Kumpel, das ist einfach
total ätzend.
Meine Mom hat einen geradezu teuflischen sechsten Sinn
für alles, nur eben nicht dafür. Die Frau ist ein menschlicher
Lügendetektor, sie kann ein miserables Halbjahreszeugnis
über die ganze Stadt hinweg wittern, hat aber trotzdem nicht
den blassesten Schimmer, was ein Fünfzehnjähriger wohl
treibt, wenn er volle dreißig Minuten unter der Dusche steht.
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Frustriert schiebe ich die ziemlich warm gewordene Bettdecke zurück und schlurfe ins Bad, um mein Morgenritual
zu absolvieren: pissen, Zähne schrubben, meinem afroähnlichen Haarbesatz mit einer Bürste zusetzen. Ob du’s glaubst
oder nicht, ich komme in ungefähr sechs Komma fünf Sekunden vom Tiefschlaf auf full action. Bin ziemlich sicher,
dass das Rekordzeit ist.
So gerüstet, steige ich die Treppe hinunter, um mich todesmutig in den durchgeknallten, halb irren Zirkus zu werfen, den die Travers-Familie darstellt.
Mom ist Zirkusdirektorin und Löwenbändigerin in einer
Person und manchmal gibt sie auch den Clown, aber ich
glaube nicht, dass sie die Clownrolle absichtlich spielt. Keiner von uns ist ein echter Morgenmensch und deshalb muss
Mom dafür sorgen, dass wir alle rechtzeitig dorthin kommen, wo wir hinmüssen, und dass dabei niemand ums Leben
kommt. In extremen Fällen muss sie dafür auch mal die
Peitsche einsetzen.
Mein Dad ist eher der Messerwerfer, der spitze Klingen auf
die aufs Drehrad gefesselte scharfe Tussi schleudert. Meistens läuft er leicht benebelt durch die Gegend, prallt gegen
Wände und kippt Stühle um, aber wenn es dann an der Zeit
ist, mit Messern zu werfen, verwandelt er sich in ein Genie.
Mit Messerwerfen meine ich auch seine Kochkünste – einfach genial, solange er morgens seinen Kaffee bekommt.
Gott stehe dir bei, wenn du ihm beim Kochen (oder Messerwerfen) in den Weg gerätst, bevor er seinen Morgenkaffee
hatte.
Und dann gehören ganz offensichtlich noch zwei echte
Freaks dazu – das sind meine Schwestern, die Zwillinge
Edith und Angela.
Und was ist mit Nana? Keine Ahnung, wo ich sie einord10
nen soll. Tritt in einem Zirkus eigentlich auch eine außerordentlich süße, aber trügerisch harmlos wirkende Puppenspielerin auf, die einen mit einem einzigen Blick und einem
Schokokeks um den rosigen Finger wickeln kann?
Ach so, mich selbst hätte ich fast vergessen. Okay: Wenn
ich nicht gerade irre spät für die erste Stunde dran bin, bin
ich wahrscheinlich damit beschäftigt, auf den letzten Drücker irgendein Schulprojekt auf die Reihe zu kriegen, für das
ich eigentlich drei Monate Zeit gehabt hatte – aber natürlich
warte ich immer bis zur allerletzten Sekunde. Ich glaube, ich
kann nur unter Druck wirklich gut arbeiten. Wie ein Hochseilakrobat. Oder wie der Typ, der sich aus einer Kanone
schießen lässt … Vielleicht sollte ich mal Mom fragen, ob ich
nicht eine Kanone haben kann.
Du siehst, was hier abgeht, oder? Mein Zuhause ist morgens ein fast unkontrolliertes Chaos. Okay, es ist eigentlich
immer ein fast unkontrolliertes Chaos, aber vor allem am
Morgen. Und deshalb bin ich an diesem Morgen total verwirrt, als ich die Treppe herabkomme und in die Essküche
trete.
Normalerweise würde mich dort eine erste Breitseite mütterlicher Ermahnungen erwarten, dass ich wieder mal zu
spät ins Bett gegangen sei und zu lange mit Shane unser
Lieblingsgame Halo gespielt hätte. Heute nicht. Heute ist
die gesamte Familie brav um den Küchentisch versammelt.
Mom, Dad und Nana stehen darüber gebeugt wie Angler
über ihre Angelruten, an denen ein besonders fetter Fisch
hängt, und meine ansonsten teuflischen kleinen Zwillingsschwestern stehen gebannt auf Zehenspitzen wie Statuen.
Und alle starren auf etwas, das auf dem Tisch liegt.
»Oliver Aaron Travers!«, schreit meine Mutter, ohne sich
umzudrehen.
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Mom benützt ganz selten meinen vollen Namen, schon
deshalb, weil die Abkürzung OAT heißt, und wer in Englisch wenigstens mal vorübergehend wach genug war und
aufgepasst hat, wird wissen, dass das Hafer heißt und an
jeden Karrengaul verfüttert wird. Aber selbst wenn sie meinen Namen nicht so laut hinausposaunt und bei mir fast
einen blutigen Hörsturz ausgelöst hätte, an ihrem Tonfall
hätte ich sofort gemerkt, dass etwas ganz und gar nicht in
Ordnung war.
»Hier bin ich, Mom«, sage ich. »Du weißt doch: Brüllen am
frühen Morgen ist schlecht für den Blutdruck.«
Hast du auch schon mal einen dieser seltsamen Träume geträumt? Du bist auf dem Weg irgendwohin – zum Beispiel
auf dem Weg in die Bücherei oder zur Schule, dir geht’s super, die Welt ist super, überhaupt alles ist super, bis du in einen Raum kommst und alle drehen sich um und starren dich
an. Nicht so, dass sich erst einer umdreht und dann alle anderen, nein, alle drehen sich auf einen Schlag um, ungefähr
wie eine Gruppe Synchronschwimmer. Und in genau dem
Moment wird dir klar, dass du absolut splitternackt bist? Na
gut, ich bin in diesem Moment vielleicht nicht nackt, aber
ich könnte es ebenso gut sein.
»Was ist?«, frage ich und es kommt aggressiver raus, als
ich eigentlich wollte, und ich krieg sofort ein schlechtes Gewissen.
Eine Millisekunde herrscht entsetztes Schweigen, dann,
wie auf Kommando, fangen Edith und Angela zu heulen an.
Jetzt bin ich sicher, dass was los ist. Meine Schwestern sind
die unangefochtenen Rekordhalterinnen in der Sportart des
vorgetäuschten Heulens. Darin sind sie absolute Superstars,
denn wenn sie ihre dicken nassen Tränen herausdrücken
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und ihre Unterlippen beben und zittern lassen, gibt es kaum
ein menschliches Wesen, das dann noch Nein sagen kann.
Aber ich kenne sie inzwischen gut genug, um den Unterschied zu erkennen, und diese Tränen sind echt.
Ich hab schon viel Zeit dafür aufgewendet, den lieben Gott
zu fragen, wie er das gemacht hat – so viel reine Bosheit
in zwei so reizende, anbetungswürdige kleine Päckchen zu
packen. Von meiner Mutter haben sie das Blondhaar und
die Grübchen geerbt und niemand hat sie jemals bei einer
Übeltat erwischt. Aber es kann ja wohl kein Zufall sein, dass
sämtliche Babysitter der Zwillinge entweder ins Kloster gingen oder in die kanadische Wildnis auswanderten.
»Was ist los? Was habt ihr denn?«, frage ich.
Mom deckt das, was immer da auf dem Tisch liegt, mit
ihrem Körper ab. Ich sehe, dass ihr mein Vater Den Blick
zuwirft. Ich kriege ziemlich oft Den Blick. Normalerweise
dann, wenn ich was Blödes getan habe, wie zum Beispiel
vergessen, meiner Mutter zu sagen, dass ich sie auf die Liste
für den Kuchenverkauf in der Schule gesetzt habe und sie
eine Hundertschaft Kekse backen müsse. Dad warnt mich
manchmal mit Dem Blick, besser sofort zuzugeben, was ich
angestellt habe, weil es die Strafe nur schlimmer macht, je
länger ich es aufschiebe. Aber noch nie habe ich gesehen,
dass er meiner Mutter Den Blick schickt, und prompt schüttelt sie ein wenig verkrampft den Kopf, als würde sie jeden
Augenblick einen Herzanfall bekommen.
Nach diesem unangenehmen Blickgefecht zwischen Dad
und Mom dreht sich Mom endlich zu mir um, sie weint
ebenfalls. Oder jedenfalls hatte sie geweint. Ihre Nase ist
clownrot und Tränenspuren laufen über ihre Wangen. Mom
versucht zwar, das vor mir zu verheimlichen, aber sie ist im
Verheimlichen ihrer Gefühle nicht mal halb so gut, wie sie
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denkt. Jedenfalls ist mir inzwischen klar, dass es um was
Schlimmes geht. Aber erst, als sie endlich zur Seite tritt,
kapier ich, dass es keinen geeigneten Ausdruck für diese
Sache gibt.
Es ist ein Todestagbrief.
Scheiße.
Unverwechselbar. Ein langer weißer Umschlag mit diesem
idiotischen Regenbogen in einer Ecke, als ob das bisschen
Farbe der schlimmsten aller Nachrichten den Stachel nehmen könnte. Echt jetzt – ein stinkender Scheißhaufen bleibt
ein stinkender Scheißhaufen, auch wenn du ihn in hübsches
Geschenkpapier mit rosa Schleifchen verpackst.
Ich bin geschockt und niemand scheint sich bewegen zu
wollen, bevor sie sehen, wie ich reagiere. Ich weiß nicht
warum, aber ich laufe instinktiv zu meiner Großmutter und
umarme sie heftig.
»Es tut mir so leid, Nana«, sage ich, während ich versuche,
mein Gesicht in ihrer Schulter zu vergraben, wie ich das als
Kind immer tat. Nur funktioniert das jetzt nicht mehr so gut,
weil ich gewachsen bin und sie geschrumpft ist. »Ich will
nicht, dass du stirbst.«
Nana ist mein liebster Mensch auf der ganzen weiten
Welt. Ehrlich. Achtundsiebzig erstaunliche Jahre, verpackt
in einem winzigen, verschrumpelten Körper. Du würdest nie
glauben, dass sie so alt wie Methusalem ist, wenn du sie
herumrennen siehst. Den Kids aus der Nachbarschaft bringt
sie immer noch das Tennisspielen bei und sie ist die einzige Person in der Familie, mit der ich mich über Mädchen
unterhalten kann, ohne mir vor abgrundtiefer Verlegenheit
den eigenen Arm abbeißen zu wollen. Dad hatte sie dazu
überredet, bei uns einzuziehen, nachdem Großvater Lou gestorben war – Dad hatte einfach behauptet, er würde allein
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mit den Zwillingen nicht mehr fertig (was nicht weit von
der Wahrheit entfernt war). Ich hab keine Ahnung, wie ich
ohne Nana zurechtkommen soll. Ich weiß nur, dass ich sie
heftiger umarme als seit vielen Jahren und dass ich nicht
will, dass sie stirbt.
Nana packt mich an den Schultern und schiebt mich eine
Armlänge von sich weg. »Wie kommst du bloß auf die Idee,
dass der Brief für mich ist?«
Ich kann mir grade noch verkneifen zu sagen, weil du älter bist als die Erfindung des aufrechten Ganges, und schaue
meine Eltern an. »Mom? Dad? Wer von euch ist es denn
dann? Ich will keinen von euch verlieren!« Meine ganze Welt
scheint zu zerbröseln. Wenn es nicht Nana ist, dann muss es
entweder Mom oder Dad sein. Es kann keiner der Zwillinge
sein, sonst hätten meine Leute nicht gewartet, bis ich herunterkomme, sondern wären sofort ausgerastet. Aber Mom
oder Dad dürfen es einfach nicht sein. Ohne Mom würde ich
nie rechtzeitig in die Schule kommen und wüsste auch nie,
wo ich noch eine saubere Unterhose finde. Und ohne Dad
wüsste ich nie … na gut, ich hätte wahrscheinlich niemand
mehr, mit dem ich irgendwelche beschissenen Filme im Kino anschauen könnte. Einen von beiden zu verlieren, wäre
entschieden mehr, als ich ertragen könnte.
Nana schluchzt auf und schnäuzt sich und überhaupt
flippt sie genau so sehr aus wie die Zwillinge, die jetzt noch
ein paar Heuldezibel drauflegen. Die beiden sind der lebende Beweis für die überdurchschnittliche Lungenkapazität
von neunjährigen Mädchen. Nana schluchzt so sehr, dass
ich annehme, der Todestagbrief ist für Dad. Nicht dass ihr
mich falsch versteht, Nana liebt Mom, aber sie hat mir mal
verraten, dass sie es lieber gesehen hätte, wenn Dad seine
Sandkastenliebe Lily Purdy geheiratet hätte. Lily hatte näm15
lich naturrotes Haar und Nana hatte sich immer rothaarige
Enkel gewünscht.
»Ollie«, verkündet nun mein Dad, »ich meine, du solltest
dir das mal genauer anschauen.« Es ist ziemlich besorgniserregend, dass ausgerechnet mein Dad hier den Ruhigen und
Beherrschten gibt. Außerdem nennt er mich nur Ollie, wenn
wir eines unserer Männer-Gespräche führen, wie vor Kurzem, als er mir die Sache mit den Mädchen erklären wollte.
»Ollie«, hatte er angefangen, »Mädchen sind wie Berge, die
du besteigen musst. Nein, Moment … Äh. Also. Ollie: Mädchen sind wie Süßigkeitenautomaten – du steckst was in
den Schlitz und schon kommt was Süßes raus. Verdammt,
das ist auch nicht richtig ausgedrückt. Ollie – vergiss alles,
was ich gerade gesagt habe. Mädchen sind wie Tetris. Wenn
die Spalte erst mal frei ist, kannst du den Stein reinschieben …« Die weiteren Ratschläge waren noch schlimmer. Zum
Beispiel sagte er, dass es nicht so gut sei, einem Mädchen
»einen Braten in die Röhre zu schieben«. Er ist und bleibt
eben ein Koch. Dass er jetzt so ernst und ruhig redet, jagt
mir richtig Angst vor dem ein, was da auf dem Tisch liegt.
Die Leute kriegen ständig Todestagbriefe. Deine Mutter,
deine Lehrer, der Typ, den du neulich im Auto an der Ampel
gesehen hast und der den Finger bis zum zweiten Glied in
der Nase stecken hatte. Jeder kriegt irgendwann mal Den
Brief. Und wenn der Brief kommt, dann – päng! – fängt der
vierundzwanzigstündige Countdown an, der mit dem Tod
endet. Es sind nicht genau vierundzwanzig Stunden, aber
doch fast. Es ist der schlimmste Brief, den du jemals kriegen
kannst, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie die Welt aussehen würde, wenn die Leute plötzlich keine Todestagbriefe
mehr bekommen würden. Unheimlich irgendwie.
Der Brief auf dem Tisch ist nicht der erste, den ich zu
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sehen bekommen habe. Mein Großvater und ich standen
uns wirklich sehr nahe. Er hatte mir beigebracht, wie man
Raketenmodelle baut, und wir hatten zusammen stundenlang daran gebastelt. Großvater Lou mochte alle, aber ich
war sein Liebling. Nachdem er gestorben war, schlich ich
in sein Zimmer und klaute seinen Todestagbrief. Ich weiß,
es war ziemlich gemein, etwas zu stehlen, das mein Dad
wahrscheinlich gern als Andenken aufbewahrt hätte, aber
ganz bestimmt hätte Großvater Lou gewollt, dass ich den
Brief erbe.
Aber auf dem Briefumschlag auf dem Tisch steht nicht
Großvater Lous Name. Auch nicht Nanas. Auch nicht Moms
oder Dads Name. In sauberer, schräger Schreibschrift steht
auf dem Umschlag:
Oliver Aaron Travers
Ich kann es gar nicht glauben, nehme ihn sofort in die
Hand, schiebe den Finger unter die zugeklebte Klappe und
reiße ihn auf, wobei mir die Frage durch den Kopf schießt,
wer wohl den Scheißjob hatte, die Umschlaggummierung zu
lecken. Im Brief steht:
16. Oktober
Mister Oliver Aaron Travers
Es ist unsere Pflicht, Sie zu informieren, dass Ihr
Tod planmäßig in den frühen Morgenstunden des
17. Oktober eintreten wird.
Wir wären Ihnen für Ihre uneingeschränkte Mitwirkung in dieser Angelegenheit dankbar. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Todestag!
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»Ach so. Hm. Okay.« Ja, klar, das ist meine Reaktion auf die
Entdeckung, dass mein Leben durch diesen Brief mit einer
Frist von 24 Stunden gekündigt wird. Meine Eltern erwarten offenbar, dass ich jetzt total geschockt und am Boden
zerstört bin, denn sie stürzen sich sofort auf mich und ersticken mich fast mit ihren Umarmungen und zausen und
verwühlen mein Haar, das von Natur aus sowieso schon eine Katastrophe ist und keine zusätzliche Zerstörung mehr
nötig hat.
»Ollie, ich liebe dich so sehr«, schluchzt Mom. »Hey, ihr
beiden, sagt eurem Bruder, dass ihr ihn lieb habt.«
»Ollie, wir haben dich lieb«, flöten meine Schwestern im
Chor. Sie haben ihr Weinen inzwischen weitgehend eingestellt und sind offenbar der Meinung, dass das Leben trotzdem weitergeht. Du kannst mir glauben – ihnen überhaupt
ihre Krokodilstränen entlockt zu haben, ist schon so was wie
ein kleines Wunder. Ich sag dir, Kumpel, meine Schwestern
werden eines Tages entweder irre erfolgreiche Rechtsanwältinnen oder eiskalte Profikiller. Ich drücke mal die Daumen
für Profikiller, das wäre doch echt cool, oder nicht?
Nana schubst Mom und die Zwillinge beiseite, sie ist die
Einzige, die mit so etwas durchkommt. »Es tut mir so leid,
Ollie. Ich wünschte, es wäre mein Brief.«
»Nein, das wünschst nicht mal du, Nana«, sage ich und
schenke ihr eins meiner schrägen, zähneblitzenden Lächeln,
die sie, wie sie ständig behauptet, ganz besonders gern
mag. Wenn die Leute über ein Lächeln reden, das nur einer
(Groß-)Mutter gefallen würde, dann meinen sie mit absoluter Sicherheit mein Lächeln.
»Ehrlichkeit ist nicht immer eine gute Eigenschaft, Oliver.«
Nana lächelt zurück. Ihr Gesicht ist heute ein wenig aufgeschwollen und ihre faltige Haut hängt herab wie bei einem
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Truthahn. Aber wenn sie lächelt, ist es, als würden tausend
Jahre spurlos von ihrem Gesicht geblasen. »Aber du hast
natürlich recht«, flüstert sie mir ins Ohr. »Ein paar Jahre habe ich schon noch in den Knochen und kann deine Mutter
weiter ärgern.«
Gibt es jemand, der Nana nicht gern haben würde?
»Okay, jedenfalls habe ich jetzt Hunger«, sage ich und
winde mich aus Nanas Umarmung. Im ganzen Durcheinander hatte Mom offenbar völlig vergessen, für das Frühstück
zu sorgen, und ich bin am Verhungern. Eigentlich bin ich
immer am Verhungern.
Pass auf, Kumpel, es gibt vier Dinge im Leben, auf die du
dich verlassen kannst, die beiden ersten kennst du schon:
Steuern und Todestagbriefe. Und die beiden anderen Dinge
sind dir vielleicht auch nicht völlig neu.
Das dritte unwiderlegbare Gesetz im Leben lautet, dass ein
Junge während 99,999 Prozent seines Lebens (im wachen
oder schlafenden Zustand) an Sex denkt. Er sitzt in der Kirche? Er denkt an Sex. Er muss eine Dokumentation über den
Zweiten Weltkrieg anschauen? Er denkt an Sex. Er mäht den
Rasen? Er denkt an Sex.
Und die vierte unwiderlegbare Tatsache im Leben ist, dass
Jungs immer hungrig sind. Selbst wenn wir behaupten, wir
seien nicht hungrig, können wir essen. Ich glaube, das ist so
eine Art Jägerinstinkt, der sich bei uns seit Millionen Jahren
erhalten hat, als die Jungs noch im Bärenfell herumliefen
und auf Höhlenwände malten. Schau: Wenn du in deiner
Höhle chillst und nicht hungrig bist, warum solltest du dich
mit einem Säbelzahntiger einlassen, nur um was Essbares
für dich und deine Horde zu bekommen? Eben. Denn wir
sind von Natur aus faul. Das können wir auch noch auf
die Liste setzen: Steuern, Todestagbriefe, immer nur Sex im
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Kopf, immer hungrig und außerdem auch noch stinkfaul.
Stell dir doch bloß mal einen Neandertaler vor, wie er in
Zeiten der Dinosaurier in seiner Höhle hockt, nicht hungrig
ist, nur die Felswand anstarrt und murrt: »Eigentlich bin ich
nicht richtig hungrig. Reicht doch noch lässig, wenn ich erst
morgen auf die Jagd gehe.« Vor allem, wenn auf der Felswand grade ein Fußballspiel übertragen wird.
Also ich jedenfalls bin eindeutig hungrig und es gibt kein
Frühstück.
»Was möchtest du denn?«, fragt Dad. »Ich koch dir alles,
was du willst.« Und schon rast er in der Küche herum und
schmeißt mit Pfannen und Töpfen nur so um sich, was Mom
richtig sauer macht. Und weil er noch keinen Kaffee intus hat, ähnelt er einer Ein-Mann-Schrottpresse und macht
Moms Sachen kaputt.
»Was auch immer, aber mach schnell«, sage ich. »Ich muss
zur Schule.«
»Rede keinen Unsinn«, sagt Mom. »Du gehst heute nicht
zur Schule.«
»Nicht fair!«, kräht Edith sofort.
»Wenn er nicht gehen muss, müssen wir auch nicht hin«,
ergänzt Angela.
Nana streicht den beiden über die Köpfe. »Wenn hier irgendjemand zur Schule muss, dann seid das ihr beide.«
»Ich gehe zur Schule!«, erkläre ich allen. »Hab keine Lust,
den ganzen Tag hier herumzusitzen. Nana muss zu ihrem
Tennisunterricht, Dad muss ins Restaurant und Mom hat bestimmt auch was zu tun.«
Dad blickt auf, er kniet gerade vor einem der unteren Küchenschränke. »Aber gibt es denn nichts, was du heute gern
tun möchtest? Der ganze Tag gehört dir.«
Mich überkommt wieder dieses Gefühl, total nackt zu sein.
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Es ist, als ob sie alle darauf warteten, dass ich meine düstersten Träume vor ihnen auf den Boden schütte, damit sie
so richtig darin wühlen können.
Liebes Tagebuch.
Wenn ich groß bin, will ich eine berühmte Primaballerina
werden.
»Ey, Leute, ihr macht mir richtig Angst. Mein Leben war
super. Echt. Ich glaube, ich hab so ziemlich alles gemacht,
was ich wollte. Klar, ich werde nie ein Basketball-Superstar
werden, aber davon hab ich auch nie geträumt. Ich glaube,
ich will heute einfach nur zur Schule und ganz normale
Sachen machen.« Alle starren mich an, also füge ich hinzu:
»Das ist nicht so wichtig, wisst ihr.«
Aber natürlich ist es wichtig! Aber ich will meinen Abgang nicht unter den glasigen tränenreichen Blicken und
laufenden Nasen meiner lieben Familie durchziehen.
»Wenn er zur Schule geht …«, fängt Angela an.
»… dürfen wir dann an seiner Stelle zu Hause bleiben?«,
vollendet Edith hoffnungsvoll. Beide knipsen ihr liebstes Lächeln an. Man könnte glauben, dass die Schülerinnen des
Bösen in der Bösen Akademie für Böse Mädchen als Allererstes lernen müssen, wie sie lächeln sollen, ohne gleich wie
das vom Teufel besessene Mädchen in Der Exorzist auszusehen (hab ich gesehen und ja – hab dabei an Sex gedacht).
»Nein«, verkünden Mom, Dad und Nana in einem Atemzug. Das ist schon mal sehr eigenartig, denn ich weiß zwar,
dass Mom und Nana gegen die Zauberkräfte der Zwillinge
vollkommen immun sind, aber Dad habe ich nur allzu oft
unter der sengenden Hitze ihrer Schmollmünder und bambiäugigen Blicke hinwegschmelzen sehen.
Ein unangenehmes Schweigen folgt, während Dad Rührei
zubereitet. Das Problem mit dieser Aussage ist, dass mein
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Dad absolut unfähig ist, ganz normales Rührei zuzubereiten – er bombardiert die Eimasse flächendeckend mit so
ziemlich allen Gewürzen, die er in der Küche findet. In einer dunklen Ecke seines noch nicht von Koffein geweckten Hirns lauert der Gedanke, dass Sellerie aufgrund seiner
besonderen Wirkung eine großartige Zutat ist, aber so, wie
er die Sache anpackt, möchte man sich am liebsten sofort
umbringen. Oder vielleicht doch nicht sofort.
Ich werde also wohl die entsetzlichsten Rühreier der Welt
essen müssen, aber das ist noch nicht alles. Ich spüre förmlich, dass in meiner Familie währenddessen ein stiller Dialog
abläuft, der ungefähr so geht:
Das ist das letzte Mal, dass Ollie Rühreier schmatzt.
Das ist das letzte Mal, dass Ollie seinen Orangensaft
schlürft.
Das ist das letzte Mal, dass Ollie Rüffel bekommt, weil er
bei Tisch rülpst.
Das ist das letzte Mal, dass Ollie seine Serviette nicht benutzt.
Nur meine Schwestern beteiligen sich nicht daran, sie
brüten immer noch über der Frage, wie sie meinen Todestagbrief strategisch nutzen können, um entweder nicht zur
Schule zu müssen oder Ponys geschenkt zu bekommen. Ich
würde eher auf die Ponys setzen. Die beiden würden die
coolsten ponyberittenen Profikiller in der Vierten abgeben
und wahrscheinlich als Erstes sämtliche Mathelehrer zum
Gratistarif umlegen.
Irgendwann habe ich genug. »Leute!«, brülle ich. »Hört
endlich auf, so zu tun, als müsste ich bald sterben!«
Mom, die nervös in der Küche herumläuft und eine Liste für die Einkäufe fürs Abendessen schreibt, bleibt abrupt
stehen. Nana hört auf, in dem Album mit Oliver-Fotos zu
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blättern, als sei ich schon im Jenseits. Und Dad hört auf, in
einem giftbraunen Schleim zu rühren, aus dem in besseren
Zeiten vielleicht mal Kartoffelpuffer geworden wären.
»Ollie«, sagt Nana ruhig, »du wirst aber bald sterben.«
Mir ist klar, dass das gerade alle denken, und ich liebe Nana dafür, dass sie den Mut hat, es auszusprechen. Aber das
heißt natürlich noch lange nicht, dass ich mich gleich zum
Sargshoppen aufmache.
»Kann schon sein, aber das müsst ihr mir ja nicht ständig
unter die Nase reiben.« Ich schiebe meinen Teller weg und
mache mich auf die Suche nach meinem Rucksack. Die Zwillinge machen sich immer einen Heidenspaß daraus, ihn zu
verstecken, aber es gibt eben nur eine beschränkte Anzahl
von Verstecken, in die ein Rucksack passt, der so schwer ist,
dass ich davon Rückgratverkrümmung bekomme.
»Oliver …«, fängt Dad wieder an.
»Jeder kriegt mal einen Todestagbrief!« Ich brülle schon
wieder, obwohl ich das eigentlich nicht will, aber manchmal
geht es eben nicht anders. Ich zähle auf zehn und fange
noch mal an. Ohne zu brüllen. »Irgendwann bekommt jeder
einen Brief. Mein Leben ist ziemlich super gelaufen und ich
habe keine Lust, an meinem letzten Tag hier im Haus hocken zu bleiben, während ihr mich alle anstarrt und heulend
darauf wartet, dass ich tot umkippe. Ich will zur Schule,
will mit meinen Freunden abhängen, nach Hause kommen
und euch nach Möglichkeit nicht übern Weg laufen, bis ich
ins Bett falle. Der einzige Unterschied zwischen heute und
irgendeinem anderen Tag ist, dass ich mir keine faule Ausrede ausdenken muss, warum ich die Hausaufgaben nicht
gemacht habe. Alles klar?«
Wow. Das saß, aber es musste nun mal gesagt werden.
Und sie haben es kapiert, das merke ich schon daran, dass
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Mom die Zwillinge anschreit, weil sie noch nicht mal ihre
Haare gebürstet haben – wahrscheinlich hatten sie gehofft,
dass Mom doch noch klein beigeben würde und sie daheim
bleiben dürften. Nana verschanzt sich wie sonst auch hinter
ihrer Zeitung, die sie beim Lesen derart misshandelt, bis diese nur noch eine Art zerknittertes, schwarz-weißes Blutbad
ist. Ach so, und Dad terrorisiert noch mehr Eier. Keine Ahnung, wer mir mehr leidtun sollte, die Zeitung oder die Eier.
»Du kommst zu spät«, sagt Mom. Sie schaut mich aus den
Augenwinkeln an – klar, es nagt an ihr, dass sie mich nicht
bis zum Umfallen umsorgen, bedauern und bemuttern kann,
aber ich weigere mich entschieden, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen und irgendeine stupide Talkshow anzuschauen.
Ich mache mich fertig und stelle fest, dass meine Schwestern doch noch ein Fünkchen Menschlichkeit besitzen, denn
ich finde meinen Rucksack tatsächlich direkt an der Haustür.
Ich weiß, dass sich alle zusammenreißen, und ich fühle
mich deshalb wie ein totaler Blödmann. Ich weiß auch, dass
die ganze Heulerei und Schnieferei wieder losgeht, sobald
ich aus dem Haus bin. Und weil ich eben kein totaler Blödmann bin, umarme ich alle kurz, bevor ich gehe. Sogar meine Schwestern.
»Hier«, sagt Dad und händigt mir ein Bündel Dollarscheine
aus. »Fürs Mittagessen.«
Ich schaue auf das Bündel. Ein Schulessen, dessen Qualität
Dad sowieso entsetzlich findet, kostet nur etwa fünf Grüne,
aber er hat mir genug Geld für ungefähr sechzig Schulessen
gegeben. »Wofür soll das sein?«
Dad zuckt die Schultern. »Man kann nie so genau wissen,
wohin einen dieser Tag noch bringt.«
»Eigentlich weiß ich das ziemlich genau«, sage ich. »Erster
Block ist Geschichte, dann Alge …«
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»Wenn du nicht mein umwerfendes Aussehen geerbt hättest, mein Sohn«, sagt mein Vater, »würde ich dich manchmal echt eher für den Sohn des Müllmanns halten.« Dad
kichert und schließt meine Hand um das Geld. »Dir wird
schon was einfallen. Und jetzt geh endlich, sonst kommst
du noch zu spät.«
Das ist alles vollkommen surreal, aber mit dem Zuspätkommen hat Dad recht. Und, mal ehrlich, es hängt tatsächlich ein riesiges Neonzeichen über meinem Kopf, das ständig flimmert: Sonderangebot: Auslaufmodell.
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