Faschismus und Judenverfolgung: Kinderschicksale im

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Faschismus und Judenverfolgung: Kinderschicksale im
Faschismus und Judenverfolgung:
Kinderschicksale im historischen Jugendbuch
Der folgende Artikel beschäftigt sich mit einer Auswahl historischer Jugendbücher
über das Schicksal jüdischer Kinder, die mit den Kindertransporten 1938/39 nach
Schweden und England kamen.
Annika Thor: Eine Insel im Meer. Eine Bank am Seerosenteich. In der Tiefe des
Meeres. Offenes Meer. 4 Bände. Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch.
Carlsen 2001 ff.
Die schwedische Autorin (geb. 1950) hat mit den vier Bänden über die beiden jüdischen Flüchtlingsmädchen aus Wien, die in Schweden eine neue Heimat fanden, ein
wichtiges Kapitel der Kriegsgeschichte mit Leben gefüllt.
Mit einem Kindertransport kommen die 12-jährige Steffi und ihre jüngere Schwester Nelli 1938 von Wien nach Schweden, um der immer stärkeren Bedrohung der
jüdischen Bevölkerung zu entgehen. Sie landen auf einer Insel vor Göteborg bei zwei
verschiedenen Fischerfamilien.
Annika Thor gibt ein differenziertes und aus der Sicht der heranwachsenden Steffi
emotionales Bild über ihr Leben auf der Insel, ihre Anpassungsschwierigkeiten in
einem streng christlichen, puritanischen und ärmlichen Milieu, das so ganz anders
ist als ihr großbürgerliches, liberales, künstlerisch geprägtes Elternhaus in Wien.
Dennoch gelingt es Steffi, die Zuneigung ihrer Pflegeeltern zu gewinnen, Freundinnen zu finden.
Ihre kleine Schwester Nelli hat auch durch ihre burschikose Art in ihrer Pflegefamilie
und unter den anderen Kindern schnell Anschluss. Steffi ist stärker an die in Wien
gebliebenen Eltern gebunden, wartet sehnsüchtig auf deren spärliche Nachrichten
und erlebt in der Schule wie bei schwedischen Touristen auf der Insel, dass sie ge-
hänselt und ausgegrenzt wird. Aber sie erfährt auch die starke Unterstützung ihrer
so spröden Pflegemutter, die „ihr Mädchen“ gegen die antisemitischen Tiraden der
städtischen Touristen verteidigt.
Steffi bekommt in der Schule, die sie nur dank sehr guter Noten und Unterstützung
eines Flüchtlingsfonds nach der achten Klasse weiter besuchen darf, durch eine
Klassenlehrerin Unterstützung, auch gegen Nazi-freundliche Kollegen. Um ihr Abitur
machen zu können, zieht Steffi in die Stadt. Eine Familie, die wiederholt bei ihrer Pflegemutter Ferien gemacht hat und in deren Sohn Nellie verliebt ist, hat ihr ein Zimmer angeboten. Aber sie gehört nicht zur Familie wie bei den Fischern, sondern ihre
Aufnahme im Haus wird den Freunden der Familie als gute Tat vorgeführt, während
Steffi den Gästen servieren darf. In solchen Szenen verdichtet die Autorin den Umgang mit den Flüchtlingen, setzt aber auch durchaus positive Beispiele dagegen.
Die Nachrichten von den Eltern werden immer spärlicher und trauriger.
Die Spannungen zwischen den beiden Schwestern führen fast zur Entfremdung,
denn die jüngere Nelli will ganz zu ihrer neuen Umgebung dazu gehören, will nicht
mehr Außenseiterin sein. Doch der gemeinsame Schmerz um den Tod der Mutter
und die dürren Nachrichten vom Vater bringen sie wieder zusammen.
In den vier Bänden über Stefanie und Nelli, die beiden jüdischen Mädchen aus Wien,
die in Schweden während des Krieges Aufnahme fanden, zeichnet die schwedische
Autorin ein glaubwürdiges und differenziertes Bild, das sich aus den Schicksalen vieler Flüchtlingskinder zusammen setzt und die Diskussion über den Umgang des
“neutralen” Schweden mit den jüdischen Flüchtlingen sehr angeregt hat. Die Autorin
schildert antisemitische oder gefühllose Reaktionen der schwedischen Umwelt genau so deutlich wie unerwartete Akzeptanz und Freundschaft, sei es unter Kindern,
sei es unter Erwachsenen.
Glaubte Steffi im 1. Band am Ende der Welt angekommen zu sein, als sie zum Haus
der Fischersleute auf einer Schäre vor Göteborg eintraf, so greift die Autorin dies
Bild im Titel des 4. Bandes wieder auf und lässt Steffi das Meer nicht als Ende, sondern als Brücke und Aussicht in ein neues Leben erfahren.
Der 4. Band spielt am Ende des 2. Weltkrieges und ist stärker als die vorhergehenden Bände an den zeitgeschichtlichen Geschehnissen orientiert. Die jetzt 18-jährige
Steffi erlebt mit Sven ihre erste Liebe und Enttäuschung. Die 13-jährige Nelli fürchtet sich davor, von ihrer schwedischen Pflegefamilie in ein Kinderheim abgeschoben
zu werden. Steffi sucht mit ihrer Freundin Judith nach überlebenden Familienangehörigen. Monate später trifft ein Lebenszeichen des Vaters ein. Die Schwestern entscheiden sich für einen neuen Aufbruch in die USA.
Lebendig in der Gestaltung und Sprache (in der immer vorzüglichen Übersetzung
von Angelika Kutsch) und anteilnehmend wie in allen Bänden folgt die Autorin in diesem Band wechselnd den beiden Schwestern, Steffi in ihre Suche nach dem Vater,
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ihr erstes Arbeitsverhältnis und intensiv in ihre Liebesbeziehung zu Sven, den Doktorsohn, in den sie sich schon als Dreizehnjährige (im 2. Band) verliebt hatte. Deswegen ist ihre Enttäuschung über seinen Betrug so groß, dass sie ihn und die Familie sofort verlässt. Sie findet Aufnahme in der Familie ihrer Schulfreundin, obwohl
diese Arbeiterfamilie unter recht beengten Verhältnissen wohnt.
Schmerzhaft wird die Suche nach überlebenden Angehörigen. Obwohl Nellis Freundin Judith eine ältere Schwester in einem der Krankentransporte findet, löst deren
Tod einen psychischen Zusammenbruch bei Judith aus, in dem sie wenig Hilfe bei
den schwedischen Ärzten findet.
Nelli schließt die Volksschule auf der Insel ab, muss danach arbeiten gehen und
fürchtet, ihren Platz in der schwedischen Pflegefamilie zu verlieren. Ihr Hin- und Hergerissensein zwischen dem Wunsch in Schweden adoptiert zu werden oder zu dem
kaum noch erinnerten Vater zu gehen, gibt ihr mehr Raum als in den früheren Bänden.
Als Modell einer Malerin erlebt sie statt der anfänglichen Anerkennung für ihre Geduld, dass die Malerin sie für ihre Interpretation der Shoa missbraucht. Denn Nelli
will leben, nicht Symbol der Vernichtung sein.
Sehr einsichtig wird die schwierige Entscheidung beider Schwestern geschildert, ob
sie in Schweden bleiben oder in die USA fahren sollen. Sicher ist für beide nur, dass
sie sich nicht trennen wollen, obwohl das Verhältnis beider selten unbelastet oder
einfach gewesen ist.
Wie in allen Bänden ist der Text auch dank seiner stark dialogischen Form und seiner situationsbezogenen Erzählweise leicht lesbar, so dass auch jüngere LeserInnen
dem Leben der beiden Schwestern gut folgen können, das sie in den früheren Bänden kennen gelernt haben.
Dabei ist jeder Band auch einzeln lesbar, da Vorausgegangenes soweit nötig jeweils
aufgegriffen wird. Die dialogreiche Sprache und die einfühlsame Haltung der Autorin
lassen heranwachsende LeserInnen die Gefühle und Entscheidungen der beiden
Mädchen intensiv miterleben.
Man kann den Büchern nur weite Verbreitung wünschen, weil sie die Frage nach
dem Weiterleben nach dem Holocaust für Kinder und Jugendliche in eine verständliche und zum Nachdenken anregende Form bringt.
Mehr für Jungen und Action-LiebhaberInnen ist das folgende Buch gedacht, zumal
der Autor sich einen Namen durch Abenteuerromane für Jugendliche gemacht hat.
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Rainer M. Schröder, Die lange Reise des Jakob Stern. Random House 2003
(kommt im November 2006 als cbt-TB heraus).
Der 15-jährige Jakob wird nach der Reichspogromnacht Anfang
1939 von seinen Eltern mit einem der Kindertransporte nach
England geschickt, wandert dort nach Kriegsbeginn von einem
Lager zum andern, überlebt die Torpedierung eines Transportschiffes nach USA und gelangt schließlich in ein Lager in
Australien.
Dass es diese Kindertransporte nach England überhaupt gab, mit
denen ca. 10 000 jüdischen Kindern aus Deutschland, Österreich
und der Tschechoslowakei das Leben gerettet wurde, während
ihre Eltern, Geschwister, Verwandte im “Reich” deportiert und
ermordet wurden, war der Rezensentin lange nicht bekannt. Erst die vier Bücher
von Annika Thor über Steffi und Nelli aus Wien, die mit einem Kindertransport nach
Schweden gelangten und dort den Krieg bei Pflegeeltern überlebten, und erste Zeitzeugenberichte in Berlin machten mich auf dieses Thema aufmerksam.
Insofern war mein Interesse an dem Buch des Autors Rainer M. Schröder (geb.
1953) groß. Das Ergebnis ist allerdings niederschmetternd, obwohl der Autor mit
Hinweisen auf sein ausführliches Quellenstudium und ein Quellenverzeichnis (S.343345) sich den Anschein der historischen Objektivität gibt.
Er nimmt die zunehmende Ausgrenzung der Juden in Deutschland und negative Erfahrungen erwachsener Flüchtlinge in England als Staffage für einen Abenteuerroman, in dem der 15-jährige Jakob in allen Tiefen, die er von 1935 bis 1940 durchleiden muss, seinen edlen Charakter zu bewahren hat, zu seinem (jüdischen) Glauben zurückfinden muss, um in einem frei erfundenen Epilog seinen Weg nach Erez
Israel zu finden. Das Ganze wird mit einer sehnsuchtsvollen Liebesgeschichte zwischen Jakob und der gleichaltrigen Erika garniert, die im Zug nach England beginnt,
und fertig ist der spannende Jugendroman!
Dabei soll nicht verkannt werden, dass der Autor spannend schreiben kann, dass
viele Dialoge gut zu lesen sind, dass ihm die Gestaltung z.B. des Verhältnisses von
Jakob zu dem drei Jahre jüngeren Lukas überzeugend gelingt in der Mischung von
Fürsorge und Bewunderung, Anhänglichkeit und gelegentlichem Überdruss. Die
Gestalt des gleichaltrigen Viktors, der sich in allen Lebens- und Notlagen auch mit
miesen Tricks und Lügen über Wasser und am Leben erhält, dabei Jakob oft genug
hilft, wirkt lebensecht und bringt Witz und Dramatik in die Geschichte.
Weniger glaubwürdig erscheint mir die Auseinandersetzung mit dem jüdischen
Glauben, die aber jüngeren Lesern/-innen eine Vorstellung von Ritualen und ihrer
Bedeutung geben kann.
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Aber: Schon im ersten der sechs Kapitel “Heimatstadt 1935–1939” werden Gräuel
angehäuft, wird Jakob in der Klasse und von seinem besten Freund nicht nur ausgegrenzt, sondern auch bedroht. Die allmählich sich steigernde Ausgrenzung der Juden wird zusammen gezogen zu einer einzigen angsterregenden Szenerie, in der die
Weigerung des Vaters, Deutschland zu verlassen, nur dumm erscheint. Jakobs Vater ist ein dekorierter Veteran des Ersten Weltkrieges, der zu Beginn der Erzählung
den sich kontinuierlich steigernden Antisemitismus lediglich für ein vorübergehendes Phänomen hält und der durch die Reichspogromnacht sowie die anschließende
Inhaftierung völlig verändert wird und sogar an kollektiven Suizid der Familie denkt.
Die Stadt bleibt ungenannt, als sei es unerheblich, wo Jakob gelebt haben soll.
Schlimmer wird es in England: Es gibt in ganz England, wie der Autor es schildert,
nur zwei halbwegs freundliche Menschen. Alle anderen Engländer sind feindselig bis
bösartig, “brutal, pöbelhaft, unverschämt, dreist, brüllen vulgäre Beleidigungen”,
sind Diebe und Räuber, das Essen ist eine Zumutung, organisatorisch sind die Engländer die reinen Nieten.
Dabei macht der Autor nicht kenntlich, dass er ab Kriegsbeginn das Schicksal Jakobs und Lukas’ mit den Schicksalen erwachsener Emigranten aus Deutschland
vermischt, die wegen des Kriegsbeginns in England zunächst interniert wurden.
Das ist untypisch für das Schicksal der Kinder, die mit Kindertransporten nach England kamen und zwischen vier und sechzehn Jahren alt waren, bei allen Schwierigkeiten, die die Auswahl, der Transport, die Versorgung und Unterbringung so vieler
Kinder in der kurzen Zeit zwischen November 1939 (Reichspogromnacht) und September 1939 (Kriegsbeginn) mit sich brachten.
Ich verweise ausdrücklich auf das Buch Wolfgang Benz (Hg.):
Die Kindertransporte 1938/39. Fischer TB 2003, auch wenn
sich dieser Sammelband mit Artikeln ausschließlich mit den
Kindertransporten nach England befasst.
Bei Schröder wird einfach ausgelassen, dass es sich bei dieser
von englischen und deutschen Institutionen und vielen Privatpersonen mit hohem Einsatz und unter massivem Zeitdruck
betriebenen Aktion um eine Rettung der Kinder vor dem sicheren Tod in den KZs “Großdeutschlands” handelte.
Auf S. 310 legt der Autor einem der Flüchtlinge auf dem Weg nach Australien beim
Selbstmord eines Flüchtlings sogar einen Mordvorwurf in den Mund: ”›Die haben ihn
umgebracht!‹, sagte jemand mit Mut und Verzweiflung in der Stimme... er meinte
auch alle die Beamten und Politiker in englischen Regierungsämtern, die ihre Versprechen gebrochen und ihren Teil dazu beigetragen hatten, dass jüdische Flüchtlinge in ihrem Land statt Freiheit eine neue Art der Verfolgung und auf ihren Schiffen
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Internierung, Willkür und Elend erlebt hatten....” Die Interpretation erfolgt direkt
durch den Autor!
Kein Wort davon, dass Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Krieg begonnen
und England im ersten Kriegsjahr, in dem das Buch spielt, die Hauptlast des Krieges
zu tragen hatte. Kein Wort von der Integration vieler Kinder, die trotz eines anderen
Glaubens und einer anderen Sprache in Pflegefamilien aufgenommen wurden und
die Chance bekamen, nicht nur zu überleben, sondern auch eine Ausbildung in England zu machen und nach dem Krieg sich entscheiden zu können, wohin ihr Weg sie
führen sollte.
Fatal finde ich auch im Gegensatz zu anderen Rezensenten, dass der Autor im Epilog, obwohl er ihn eine fiktive Gestalt nennt, Jakob eine Biografie in Israel erfindet
und vor allem seinen Anteil an den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den
Nachbarn hervorhebt. Als sei der Weg ins israelische Militär und in die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den arabischen Nachbarn der folgerichtige Weg
für einen Menschen, der soviel Verfolgung erlitten hat.
Im Nachwort (S. 336–339) erwähnt der Autor in e i n e m Absatz Umfang und Bedeutung der Kinder-Rettungsaktion. Welche Jugendlichen lesen Nachwörter? Dieser Absatz rettet m. E. seine Erzählung nicht vom Vorwurf der tendenziösen und
ideologisch fragwürdigen Darstellung. Seine Geschichte mag auf der derzeitig aktuellen Linie liegen, die Deutschen durch den Vergleich mit Gräueltaten der Kriegsgegner zu entlasten (“Coventry gegen Dresden”). Ich kann dieses Buch trotz Thematik und Spannung wegen dieser Tendenz für Jugendliche nicht empfehlen.
Anm. Eine Gruppe eifrig lesender Jugendlicher, die die für den Deutschen Jugendbuchpreis nominierten Bücher gelesen hatten, empfahl das Buch mit einer “Zitrone”
zu bedenken. So steht es auch im ESELSOHR, allerdings wird in der Laudatio von
Schröder, die sich im gleichen Heft befindet, dies Buch lobend als lesenswerte Darstellung der Verfolgung der Juden in Deutschland erwähnt. In diese Kategorie gehört es bestimmt nicht.
Ute Wolters
für www.julim-journal.de
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