Thalidomid (α-Phthalimidoglutarimid) ist der Wirkstoff des Schlaf

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Thalidomid (α-Phthalimidoglutarimid) ist der Wirkstoff des Schlaf
Thalidomid (α-Phthalimidoglutarimid) ist der Wirkstoff des Schlaf- und Beruhigungsmittels
Contergan®, das Ende der 1950er Jahre zu zahlreichen schweren Schädigungen an
ungeborenem Leben und damit zum Contergan-Skandal führte.
Thalidomid ist eine chirale Verbindung, die in Form des racemischen Gemischs der beiden
Enantiomere als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt gebracht wurde. Zunächst
wurde angenommen, dass für die Fehlbildungen (die teratogene Wirkung) allein das (S)Enantiomer verantwortlich sei und nur das (R)-Enantiomer die gewünschte beruhigende
Wirkung hervorrufe. Da die Enantiomere bei Thalidomid im Körper allerdings racemisieren,
kann keinem der beiden Enantiomere eine beruhigende bzw. teratogene Wirkung
zugesprochen werden. Die Gabe eines reinen Thalidomid-Enantiomers hätte die ConterganKatastrophe also nicht verhindern können.
Unter dem Namen K17 wurde 1954 in der Forschungsabteilung der Stolberger Pharmafirma
Grünenthal eine neuartige Substanz synthetisiert, die in Tierversuchen zu schnellerer
Ermüdung der Versuchstiere führte. Verantwortlicher Leiter war Heinrich Mückter, der
während des Zweiten Weltkriegs Stabsarzt und stellvertretender Direktor des Instituts für
Fleckfieber und Virusforschung des Oberkommandos des Heeres in Krakau gewesen und
nach dem Krieg von der polnischen Justiz wegen des Vorwurfs medizinischer Experimente an
KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern gesucht worden war.
Grünenthal vermarktete die Substanz vom 1. Oktober 1957 bis Ende 1961 unter dem Namen
Contergan als „erstes bromfreies Schlaf- und Beruhigungsmedikament ohne größere
Nebenwirkungen“. Da Contergan unter anderem auch gegen die typische, morgendliche
Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase hilft, wurde es Ende der
1950er Jahre gezielt als das Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen. Im
Hinblick auf Nebenwirkungen galt es als besonders sicher, denn als bromfreies Schlafmittel
sollten Nebenwirkungen, wie Verwirrtheitszustände, Delirien und Stottern ausbleiben.
Ein Zusammenhang zwischen der Häufung fehlgestalteter Neugeborener und der Einnahme
von Contergan wurde vom Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz entdeckt.
Contergan führt, innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft eingenommen, zu
schweren Fehlbildungen (Dysmelien) oder sogar Fehlen (Aplasien) von Gliedmaßen und
Organen der Kinder. Der medizinische Fachausdruck ist Thalidomid-Embryopathie. Bei der
Thalidomid-Embryopathie durch das Beruhigungsmittel Contergan ist besonders gut
untersucht, zu welchem Zeitpunkt der Einwirkung des Medikaments welche Schädigung
verursacht wird: zwischen dem 34. und 38. Tag nach der letzten Regelblutung kommt es zu
einem Fehlen der Ohrmuschel und zu einer Lähmung des Gesichtsnervs (Facialisparese),
zwischen dem 40. und 44. Tag treten Arm-, zwischen dem 43. und 46. Tag Bein- und
zwischen dem 48. und 50. Tag Daumenfehlbildungen und eine Verengung des Enddarms auf.
Die Dosis ist für das Ausmaß der Schädigung nicht relevant. Es genügte eine einzige Tablette.
Im Jahre 1964 fand der israelische Hautarzt Jacob Sheskin, der einer Lepra-Patientin
Contergan aus Restbeständen verabreichte, dass sich ihre Geschwüre am nächsten Tag
deutlich zurückgebildet hatten. Bedingt durch diese Entdeckung, verschwand der ConterganWirkstoff Thalidomid niemals aus der Wissenschaft, sondern wurde weiter an Tieren erprobt
und getestet, sowie vor allem in südamerikanischen Ländern wie Kolumbien und Brasilien
weiterhin als Medikament für Lepra-Kranke verwendet, ohne dass man die bekannten
Nebenwirkungen vermeiden konnte.
Wegen der hemmenden Wirkung auf die Neubildung von Blutgefäßen wurden auch schon
erfolglose Versuche gegen Krebs und Anfang der 1990er in England gegen AIDS
durchgeführt.
Bei Thalidomid handelt es sich um eine stereochemisch aktive Verbindung, die als (R)- und
(S)-Enantiomer enantiomerenrein hergestellt werden kann. Die Verbindung wurde als
Racemat verkauft und führte zu schweren Fehlbildungen am ungeborenen Leben. Man
vermutete zunächst eine teratogene Wirkung der (S)-Verbindung. Da jedoch beide
Enantiomere im Körper nach wenigen Stunden racemisieren, wenn auch unvollständig, lässt
sich keinem der Enantiomere eine teratogene bzw. beruhigende Wirkung zuschreiben. Dabei
wandeln sich die Enantiomere ineinander um, und zwar unabhängig davon, ob reines R- oder
S-Enantiomer verabreicht wird; es stellt sich ein R/S-Verhältnis von ca. 1:1,7 ein. Die
Geschichte vom „guten“ und „bösen“ Thalidomid-Enantiomer hat jedoch noch immer sehr
viele Anhänger und ist in vielen renommierten Lehrbüchern und Journalen zu finden. Sogar
das Nobel-Komitee macht davor nicht Halt.[2] Es gibt zwar Hinweise darauf, dass bei
ähnlichen Verbindungen das (S)-Enantiomer dennoch das wirksamere, d. h. das
fruchtschädigende Enantiomer sein könnte, das in das Immunsystem eingreift. Aber selbst
wenn man wüsste, dass nur eines der Enantiomere schädlich ist, würde das wenig nützen, da
im Körper durch die Racemisierung immer beide Formen präsent sind
Thalidomid blockiert den Wachstumsfaktor VEGF (vascular endothelial growth factor),
wodurch es zu einer fehlenden Vaskularisierung (Blutgefäßbildung) in den Extremitäten des
Embryos kommt. Dies führt zu einer verkürzten oder fehlenden Anlage der Arme und Beine.
Obwohl der Stolberger Herstellerfirma 1961 bereits 1.600 Warnungen über beobachtete
Fehlbildungen an Neugeborenen vorlagen, wurde Contergan nach wie vor vertrieben. Zu
jenem Zeitpunkt hatte es 46 % des Marktes für barbituratfreie Schlafmittel erobert. In der Zeit
nach 1961, nachdem Contergan vom Markt zurückgezogen wurde, wurde es weiterhin an
verschiedenen Tierarten getestet. Die Resultate waren größtenteils negativ oder zeigten keine
vergleichbaren Fehlbildungen am Nachwuchs. Obwohl Ratten und Mäuse durch die Substanz
sediert wurden (der Grund, weshalb man überhaupt auf die sedierende Wirkung des
Thalidomid gekommen war, lag darin, dass bei einem Versuch, bei dem eine völlig andere
Wirkung des Wirkstoffes untersucht werden sollte, die Nagetiere, die Thalidomid erhielten,
wider Erwarten einschliefen), konnte auch in klassischen Tierversuchen mit hoher
Konzentration keine fruchtschädigende Wirkung des Präparates nachgewiesen werden. Erst
viel später nach der Contergankatastrophe zeigten sich bei einer bestimmten Kaninchenart,
die als Versuchstier vor Markteinführung überhaupt nicht als Tiermodell üblich war, eine
teratogene Wirkung. Diese dadurch nachgewiesene Artspezifität einer teratogenen Wirkung
war bis dato unbekannt und stellt bis heute ein Dilemma bei der Übertragbarkeit von
Tierversuchsergebnissen auf den Menschen dar.
Ca. 5.000 contergangeschädigte Kinder wurden laut Bundesverband Contergangeschädigter in
den darauffolgenden Jahren geboren. Andere Quellen sprechen von 10.000 Fällen weltweit,
von denen 4.000 auf Deutschland entfielen, von denen die Hälfte bereits verstorben ist. Hinzu
kommt eine unbekannte Zahl von während der Schwangerschaft gestorbenen Kindern. In den
Vereinigten Staaten immerhin war die von Richardson-Merrell beantragte Markteinführung
von einer misstrauischen Mitarbeiterin der Food and Drug Administration bis nach
Entdeckung der Schädlichkeit verzögert und damit vereitelt worden; allerdings wurden auch
dort aufgrund von Verabreichungen des Mittels in einer „Testphase“ 17 Kinder mit auf
Thalomid zurückzuführenden Behinderungen geboren.
In das juristische Nachspiel hatte sich auch der Henkel-Konzern (Hersteller von Persil) in
Gestalt des Dr. Konrad Henkel eingeschaltet. Dabei ging es nicht etwa um Medikamente,
sondern darum, zu verhindern, dass in Deutschland ein Hersteller für schädliche und
fehlerhafte Produkte in Haftung für dadurch entstandene Schäden genommen werden darf.
Ein entsprechendes Urteil hätte wahrscheinlich einen Präzedenzfall gebildet. In Deutschland
wird geschädigten Menschen u.a. mit Leistungen durch die Conterganstiftung für behinderte
Menschen geholfen. Ebenso wurde die Aktion Sorgenkind (heute: Aktion Mensch) aufgrund
dieses Vorfalls gegründet.
Erstmals wurde 1998 in den USA wieder geprüft, ob Thalidomid als Medikament zugelassen
werden soll. Der Pharmakonzern Celgene stellte bei der US-amerikanischen Food and Drug
Administration einen Antrag. Thalidomid sollte das meistkontrollierte in den USA
zugelassene Medikament sein. Ein Patient, der am von Celgene initiierten ThalidomidProgramm „S.T.E.P.S.“ teilnimmt, muss starke Auflagen akzeptieren und einhalten. Frauen
beispielsweise unterliegen wöchentlichen, von Ärzten kontrollierten Schwangerschaftstests.
Weltweit wird Thalidomid hauptsächlich zur Behandlung von Multiplem Myelom und ENL
(einer verschärften Form von Lepra) angewandt.
Eine Wiederholung der durch Thalidomid ausgelösten Körperbehinderungen gab es in
Brasilien und Kolumbien, wo das Mittel an Menschen mit Lepra ausgegeben wurde. Da die
Rate der Analphabeten in Brasilien extrem hoch ist, missverstanden viele Frauen das Etikett
mit einer durchgestrichenen schwangeren Frau auf der Verpackung als Antibabypille.
Dadurch kam es in Brasilien zu einer neuen Generation schwer fehlgebildeter Kinder.
Infolgedessen verbot Brasilien die Herausgabe von Thalidomid an Menschen im
zeugungsfähigen Alter. Thalidomid ist unter Berücksichtigung der fatalen Nebenwirkungen
dennoch eine gute Alternative zur Behandlung mit Cortison und kommt deshalb in diesen
Gebieten häufig zum Einsatz.
Thalidomid
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Contergan – Thalidomid: umfangreiche kommentierte Linksammlung
Darstellung aus Sicht des Contergan-Herstellers
Das britische Musical "Thalidomide"
The Return of Thalidomide - BBC