Material - Martina Steinkühler

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Material - Martina Steinkühler
2012
Was können Kinder
im Religionsunterricht lernen?
Seminar zur Unterrichtsplanung L1
1. Die Lehrkraft und ihre elementare Wahrheit; die Unterrichtsidee 2.
Die Kinder und ihre elementaren Erfahrungen und Fragen 3. Der Stoff
und seine elementare Struktur 4. Die Punkte 1 bis 3 im Unterricht –
elementare Zugänge 5. Elementare Wege zur Anbahnung und Förderung des Lernens bezügl. 1 bis 4 6. Was können die Kinder anschließend
besser, als sie es vorher konnten?
Dr. Martina Steinkühler
Wissenschaftliche Mitarbeitende am Lehrstuhl „Praktische Theologie“
Goethe Universität Frankfurt
1
Inhalt
Aufbau eines Unterrichtsentwurfs (Übersicht)
1 Strukturen und Ziele des RU
•
Jahresfestekreis (Schema)
•
Kommunikation im RU (9 Forderungen nach R. Oberthür)
•
Was ReligionslehrerInnen heute für ihre SchülerInnen wollen …
(Präambel des Curriculums)
•
Bedürfnisse, Inhalte, Ziel (Schema)
2a Die Kinder
•
Kinder und RU (C. Grethlein)
•
Kinder und religiöse Entwicklung (2 Beispiele)
•
Stufenmodelle der Entwicklung (Piaget, Oser, Fowler, Erikson)
•
Beispiele aus der Praxis
•
Reden von Gott im Unterricht (P. Freudenberger-Lötz)
•
Kinder und Jugendliche und die Frage nach Gott (K.-E. Nipkow)
2b Die Vorgaben: Dimensionen, Kompetenzen, Standards
•
Religiöse Kompetenz (hess. Curriculum)
•
Inhaltsfelder (hess. Curriculum)
•
Standards nach Klasse 4 (hess. Curriculum)
•
Inhalte nach Klasse 4 (hess. Curriculum)
3 Die Inhalte
•
Zum Beispiel: Die Bibel (M. Steinkühler)
•
Zum Beispiel: Jesus Christus (U. Hahn)
2
4 Von der Idee zum Unterrichtsentwurf
Unterrichtsentwurf
•
Schema
•
Einen Unterrichtsentwurf schreiben (Gliederung)
•
Ein Beispiel: Nächstenliebe (Klasse 3)
5 Methoden
•
Beispiel 1: Ingo Baldermann und die existenzielle Bibellektüre
•
Beispiel 2: Hans Freudenberg und die Symboldidaktik
•
Beispiel3: Elisabeth Buck und der Bewegte RU
•
Beispiel 4: Karlo Meyer und der interreligiöse Dialog
Literatur
3
Aufbau eines Unterrichtsentwurfs – grob
1 Einleitung
Das Thema und ich – meine Zugänge / Erfahrungen /
was mir daran wichtig ist
ELEMENTARE WAHRHEIT
3 Sachanalyse
2 Kontext
a. Die Lerngruppe – die Lernumgebung – die
Lerngruppe im RU / b. Die Einheit und das
Curriculum / die Einheit und die Einzelstunde(n)
Die fachwissenschaftliche
Einordnung / theologische
Interpretation des Unterrichtsgegenstands
ELEMENTARE ERFAHRUNGEN UND FRAGEN
ELEMENTARE STRUKTUREN
4 Didaktische Analyse
Das Thema und die Kinder / Zugänge, Schwerpunkte und Erträge
ELEMENTARE ZUGÄNGE
5 DidaktischDidaktisch -methodische Strukturierung
a. Diskussion der Möglichkeiten / b. Echt-Planung
6 Kompetenzen
Was können die Kinder (nachweisbar!) nach der Stunde (besser), was sie vorher noch nicht (so gut)
konnten? / Welche Inhalte können sie wiedergeben, deuten, in ihren Erfahrungsschatz integrieren? /
Wo sind Fortschritte, z.B. in Methoden-, Ich-, Sozial-, Kommunikations-, Urteilskompetenz angebahnt / belegbar?
7 Verlaufsplan
Verlaufsplan
8 Anhang:
Anhang : Literatur, Arbeitsmaterial, Tafelbilder, Sonstiges
4
1 Strukturen und Ziele des RU
Der Jahresfestekreis – eine erste Orientierung für
LehrerInnen und SchülerInnen
Die Feste, als öffentlich sichtbarste Form von Religion, sind im RU der Grundschule unbedingt zu
begehen. Kinder lernen Teilhabe an Religion und Kult, religiöse Praxis. Sie bringen Vorerfahrungen
mit Festen ein (Familie, Umwelt, Medien) und erhalten einen (neuen) Deuterahmen).
5
Kommunikation im RU
Die Kinder machen eigene Erfahrungen und finden eigene Deutungswege. Die Aufgaben der
Lehrkraft sind dabei folgende:
1. Hinhören und sich einfühlen – Kinder verstehen (Inhalte des Religionsunterrichts
sind aus den Lebenserfahrungen der Schüler abgeleitet!)
2. Authentisch sein – Kindern glaubwürdig begegnen („persönliche Rechenschaft vom
Unterrichtenden als jemandem, der in der christlichen Religion verwurzelt und zugleich in Fragen des Glaubens auf dem Weg ist“)
3. Mit Kindern Gott »in Frage« stellen (die »Fragwürdigkeit Gottes« zum Thema machen)
4. Mit Kindern fragen und verstehen (zum Fragen anregen und vorläufige Antworten suchen)
5. Zeit lassen – Kinder entdecken lassen (exemplarisches, selbstständiges Lernen)
6. Sich mit Kindern in der Bibel entdecken (sich wiederfinden in Erfahrungen von biblischen Personen; Sprache für Gefühle entdecken)
7. Mit Kindern heute leben (unmittelbare Erfahrungen möglich machen, Gemeinschaft
anbieten, Hoffnungsperspektiven aufzeigen)
8. Mit Kindern Religion bedenken (Religion und Religionsunterricht selbst zum Thema
machen)
9. Mit Kindern Kind sein (kindliches Staunen, Einfühlungsvermögen u.ä. bewahren)
Vgl. Rainer Oberthür, München 1993, S.288-294 / kommentiert in: Examensarbeit von Claudia Brugger, Weingarten 2001: Kinderfragen im RU der Grundschule; http://www.theo-web.de/online-reihe/Kinderfragen.pdf
6
Was ReligionslehrerInnen heute für ihre SchülerInnen wollen …
(aus der Präambel des Curriculums für den Grundschul-RU in Hessen)
Religion ist durch einen eigenen Modus der Weltbegegnung und des Weltverständnisses gekennzeichnet. Durch diese spezifische Perspektive unterscheidet sich das Fach Religion von anderen Fächern:
Die Welt wird wahrgenommen in der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Die christliche Religion sieht Transzendenz im Medium des Endlichen erschlossen: In Jesus Christus ist Gott
Mensch geworden; so eröffnet sich die Möglichkeit einer Gottesbeziehung, in der sich Menschen als
Ebenbild Gottes und damit als Person erfahren können. Ihnen wird eine unbedingte Würde unabhängig von ihren Eigenschaften und Leistungen zugesprochen. Dieser Zuspruch mündet in ein verantwortliches Handeln des Einzelnen dem Mitmenschen und der Welt als Schöpfung gegenüber.
Auf der Grundlage dieses Welt- und Menschenbildes stärkt das Fach Evangelische Religion die Persönlichkeit, trägt zur Identitätsfindung bei und ermöglicht gesellschaftliche, kulturelle und religiöse
Orientierung. Es eröffnet Wege, Grundfragen des Menschseins zu stellen, erste Antworten zu finden,
mit anderen darüber in Austausch zu treten und eigene Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten zu
entdecken. Das Fach Evangelische Religion fördert die Fähigkeit zu Empathie und zu verantwortlichem Handeln im Rahmen einer demokratischen Teilhabe.
In unserer Gesellschaft leben Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation zusammen. Im
Hinblick darauf nimmt das Fach Evangelische Religion unterschiedliche Voraussetzungen der Lernenden auf, unterstützt die Entwicklung von Toleranz und fördert den offenen Dialog. Dies bereitet
die Lernenden auf ein gelingendes und bereicherndes Zusammenleben von Menschen verschiedener
Herkunft, Kulturen und Religionen vor.
Christliche Religion lässt sich nur in konkreter Gestalt, d h. in konfessionell geprägten Formen wahrnehmen. Im Fach Evangelische Religion werden die Lernenden mit der eigenen Konfession vertraut
und geben Auskunft über den christlichen Glauben in evangelischer Ausprägung. Konfessionelle Identität und Offenheit gegenüber der Ökumene bilden dabei ein produktives Spannungsfeld.
Christliche Religion kann für die Lernenden als befreiende und Hoffnung stiftende Lebensmöglichkeit
bedeutsam werden. Der Glaube selbst jedoch ist Gabe Gottes. Als individuelle Gewissheit, zu der sich
Gottvertrauen und Selbstvertrauen verbinden, bleibt er didaktisch unverfügbar und entzieht sich der
Überprüfbarkeit.
7
Bedürfnisse, Inhalte und Ziele
(Eigenmodell Stk)
Es ist dir gesagt, Mensch,
was gut ist und was der Herr von dir fordert:
nämlich Gottes Wort halten, Liebe üben
und demütig sein vor deinem Gott (Micha)
Von allen Seiten umgibst
du mich, Herr … (Ps 139)
STAUNEN / FRAGEN
Resilienz
Empathie
SINN / HALT
ORIENTIERUNG
Demut
Toleranz
SEHNSUCHT (NACH FREIHEIT, NACH GEBORGENHEIT)
Bei Gott sind alle Dinge
möglich (Jesus)
Das geknickte Rohr
wird er nicht abbrechen
(Matthäus)
Barmherzig, geduldig
und gnädig ist Gott (Jona)
Der Herr ist mein Hirte
(Psalm)
8
2a Die Kinder
Kinder und RU
Grethlein / Lück, Religion in der Grundschule: Aus 1.2. Religion – ein für Grundschülerinnen
und Grundschüler wichtiges Unterrichtsfach
Religionsunterricht ist bei Grundschulkindern nicht nur beliebt, sondern wird von ihnen mehrheitlich
auch als „beglückend und als wichtig“ für ihr eigenes Leben eingestuft.1 Zugleich schreiben sie dem
Fach hohe Lerneffekte zu – speziell bei theologisch zentralen Inhalten. Entgegen dem verbreiteten
Vorurteil, im Religionsunterricht werde nur Lebenskunde betrieben, sagen die allermeisten Schülerinnen und Schüler, sie hätten in Religion „viel“ über Jesus (89%) und Gott (85%) gelernt.
Aufgrund des Rückgangs einer explizit christlich-religiösen Sozialisation in den Familien ist der Religionsunterricht an Grundschulen für immer mehr Kinder Ort der Erstbegegnung mit christlicher Religion. Von daher verwundert es nicht, dass diese an ihm größtenteils fragend-neugierig und sehr wissbegierig teilnehmen.
Nach dem Urteil von Religionslehrkräften interessieren sich Grundschülerinnen und Schüler „sehr für
die biblischen Geschichten im Religionsunterricht (spannend!)“.2 Viele „genießen“ es in den Religionsstunden „mit ihren Ängsten, Nöten, mit ihrem Kummer, aber auch ihren Freuden nicht allein gelassen zu werden und in Geschichten des Neuen Testaments ‚Hilfen‘ zu finden.“ Insbesondere „Fragen
von Kindern, die bewusst nichtreligiös aufwachsen, fördern häufig die Intensität des Nachdenkens
über Bilder, Texte, Lieder.“ Diese Lehrervoten schließen natürlich nicht aus, dass manche Kinder am
Religionsunterricht auch gelangweilt, inaktiv-indifferent oder kritisch-ablehnend teilnehmen.
Für andere hingegen ist das Fach die erste Chance mit religiös kompetenten Gesprächspartnern über
ihre eigenen „großen“ religiösen Fragen und Vorstellungen zu kommunizieren. Denn in zahlreichen
Familien werden die religiösen Fragen von Kindern zum Verschwinden gebracht. Ein nachdenklich
machendes Beispiel hierfür ist das vom Tübinger Religionspädagogen Friedrich Schweitzer wiedergegebene Gespräch eines Vaters mit seinem Kind:
„Du stelltest Fragen über die Tiere, manche davon richtig schwierig, und diese Fragen waren eine willkommene Abwechslung … . Als du gerade den Adler gesehen hattest, fragtest du mich, scheinbar aus
blauem Himmel: ‚Woher kommen die Menschen?‘ Ich war mir nicht sicher, ob du die Vögel und Bienen meintest oder die Arche oder was auch immer. Beide Richtungen waren damals aber zu viel für
mich … . Immer wieder hast du deine Frage wiederholt, und so gab ich dir eine ausweichende Antwort
von der Art, wie sie Eltern nicht geben sollen. Ich sagte dir einfach, daß die Menschen ‚von irgendwo
im Osten‘ kommen …“3
1
Vgl. Bucher: Religionsunterricht, 52f.
Die hier und im Folgenden zitierten Lehrervoten entstammen einer Briefumfrage unter 104 westfälischen Religionslehrkräften (vgl. Lück:
Religionsunterricht, 252ff.).
2
3
Schweitzer: Lebenszyklus, 53.
9
Kinder und religiöse Entwicklung
Eine religiöse Biografie
Früher als Kind, oder besser bis zu meinem 13. Lebensjahr glaubte ich noch an Gott, wie halt
Kinder an Gott glauben. Je älter ich wurde und je mehr ich darüber nachdachte, verschwand
mehr und mehr dieser Glaube. Wahrscheinlich machte ich einen Fehler. Ich wägte das Für
und Wider ganz genau ab, und zwar realistisch. Da gab es Wunder, die nicht zu erklären waren, wiederum gab es Widersprüchliches gegen die Kirche. Wie ich schon gesagt habe, dieses
Thema ist nicht realistisch zu bearbeiten. An Gott glauben muss von innen her miteinander
abgemacht werden. Sie (die Religion) ist ein guter Rückhalt, ein Nichtaufgeben, ein Glauben
an das Bessere, für Menschen, denen es schlecht geht und die dann Gott ansprechen. Wenn
jemand in Gefahr ist, Hilfe braucht, jemandem helfen will und nicht kann, er bittet Gott darum. Viele hätten schon den Mut verloren, wenn es ihn nicht gäbe.
Komisch ist, dass, obwohl viele Menschen Gott um etwas gebeten haben, es aber doch nicht
geklappt hat, und doch wenn es wieder Schwierigkeiten gibt, wieder sich Gott anvertrauen,
wenn sie in einer schwierigen Lage sind. Zum Schluss noch bemerkt.
Wenn Menschen in einer schwierigen Lage sind, Gott um Hilfe bitten und sie durch irgendeine Weise Hilfe bekommen, egal, welcher Art, werden sich die wenigsten bei Gott auch mal
bedanken. Das ist halt der Egoist Mensch. (Berufsschüler, Aus: Schuster 1984, s. 55, in:
Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion)
Zwei Götter
Ich erinnere mich, dass es zwei Götter gab: den lieben Gott meiner Mutter und den lieben Gott
von Schwester Lioba, der auch der von Vikar Wittkamp war. Der liebe Gott Schwester Liobas
war der Vater des nickenden Negerkindes aus Gips. Für einen Groschen zehnmal nicken. Der
liebe Gott Schwester Liobas war stets darauf bedacht, alles zu sehen, alles zu wissen und alles
zu bestrafen. Der liebe Gott Schwester Liobas hatte ewiges Leben und war mächtig und böse.
Der liebe Gott meiner Mutter war der Vater der Schutzengel. Der liebe Gott meiner Mutter
war ein freundlicher alter Herr, dem die Himmelsschlüssel aus der Hand gefallen waren und
jetzt als Blumen am Sielbach wuchsen. Der liebe Gott meiner Mutter war im Sommer ein leidenschaftlicher Gärtner und ab September arbeitete er aushilfsweise in der himmlischen Bäckerei, zusammen mit den pausbäckigen Engeln, deren Schicht mir dem Abendrot begann.
Meine Mutter kannte alle Sorten der Plätzchen, die dort für Weihnachten gebacken wurden,
und konnte sie mir aufzählen. Der liebe Gott meiner Mutter wäre niemals auf den Gedanken
gekommen, hinter Kindern herzuspionieren, er machte lieber beide Augen zu und schickte
den Schutzengel an die rechte Seite meines Bettes, wo er die ganze Nacht Wache hielt. Ich
konnte seinen Engelsatem spüren. Der liebe Gott meiner Mutter hatte nur einen Fehler: Er
starb, als ich fünf wurde und Schwester Lioba sagte: Seinen einzigen Sohn opferte Gott für die
Sünden der Menschen, auch für deine Sünden – und mich dabei ansah. (Jutta Richter 1985, S.
17f. in: Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion)
10
Stufenmodelle der Entwicklung
(Erikson: Persönlichkeit; Oser. Religiöses Urteil;
Fowler: Glauben / Symbolbildung
Jean Piaget: Stufen der kognitiven Struktur
Fritz Oser: Stufen des religiösen Urteils
11
Erik Erikson: Stufen der Persönlichkeitsentwicklung
J. W. Fowler: Stufen des Glaubens
12
Stufen des religiösen Urteils nach Oser/Gmünder
Stufen der Glaubensentwicklung nach Fowler
Stufe 0: Vorreligiöse Haltung
Stufe 0: Erster Glaube vorsprachliches Vertrauen
Stufe 1: Deus ex machina (8–10 Jahre)
Absolute Heteronomie: Gott handelt, der Mensch kann nur reagieren. Abhängigkeit von Gott, der unvermittelt in die Welt eingreift,
straft und belohnt.
Typische Antwort: „Paul muss das Versprechen halten, sonst macht
Gott, dass er Bauchweh kriegt.“
Stufe 1: Intuitiv-projektiver Glaube (ca. 3–7 Jahre)
Phantasie und Vorstellungskraft werden noch nicht durch Gesetze
der Logik eingegrenzt und hinterfragt.
Präoperationales, magisch-animistisches und egozentrisches Denken.
Stufe 2: Do ut des (8–18 Jahre)
Gott und Mensch im fairen Austausch: Beeinflussbarkeit Gottes
durch Gebete, Riten und rechtes Verhalten
Erste Subjektivität (relative Autonomie).
„Gott hat dem Paul geholfen, jetzt soll der auch etwas Gutes tun.“
Stufe 2: Mythisch-wörtlicher Glaube (ca. 7–12 Jahre)
Interesse an Geschichten, Mythen und Symbolen, die wortwörtlich
verstanden und noch nicht als symbolische Sprache dechiffriert werden.
Stufe 3: Deismus (ab 11/12 Jahre)
Stufe 3: Synthetisch-konventioneller Glaube (ab frühem Jugendalter)
Anthropomorphes, artifizialistisches Gottesbild.
Absolute Autonomie des Menschen durch Verdrängung des Göttli- Orientierung an der jeweiligen Bezugsgruppe (konventionell), eine
chen aus der Welt.
kritische Reflexion der eigenen Glaubensüberzeugung ist noch selten
„Paul muss sich selber entscheiden … Mit Gott hat das nichts zu tun.“ (synthetisch).
13
Beispiele aus der Praxis
Gottesbild / Stufen der religiösen Entwicklung
„Wie findet ihr das eigentlich“, fragt die Lehrerin (sinngemäß) ihre vierte Klasse, „dass Gott die Sintflut schickt?“ Sie bekommt drei Typen von Antworten:
•
Der war auch ein wenig beleidigt …
•
Er ist ein ganz böser Gott!
•
Der macht doch so was nicht!
Eine Trotzgeschichte?
„Der Weg auf den Berg ist nicht weit. Das, was wir zu sehen bekommen, wird euch gefallen.“ So mein
Mann und ich zu unseren Kindern, zu Beginn einer Wanderung mit Besichtigung. Monemvasia stand
auf der Tagesordnung, eine mittelalterlich Festung und Wohnanlage in Griechenland.
Die Kinder fanden bald, dass die Ansage mit ihrer Wahrnehmung nicht übereinstimmte. Für sie war
der Weg weit. Für sie war der Ort langweilig. Und so begann eine denkwürdige Szene: Die drei begannen zu murren.
Phase 1: „Mir ist heiß.“ – „Mir ist langweilig.“ – „Ich will da gar nicht rauf.“ – „Immer müssen wir …“
– „Das stimmt ja gar nicht, dass das hier sich lohnt.“ – „Und überhaupt: Das stimmt doch nie! Wenn
Mama sagt, es ist kurz, dann ist es lang …“
Phase 2: „Immer nur besichtigen …“ – „Immer alte kaputte Häuser.“ – „Und überhaupt: Das stimmt ja
gar nicht, dass die alt sind. Die hat da jemand absichtlich kaputtgemacht, damit wir denken, sie sind
alt.“ – „Damit wir sie besichtigen müssen. Nur deshalb!“ – „Genau! Das stimmt alles gar nicht!“
Phase 3: „Und es stimmt auch nicht, was Mama und Papa sonst so erzählen: Das mit dem Weihnachtsmann und dem Osterhasen. Stimmt alles nicht.“ – „Genau!“ – „Und ich glaub auch nicht dran!“
– „Das ist vorbei!“ – „Wir glauben gar nichts mehr!“ (Das alles so gesprochen, dass mein Mann und
ich es natürlich mithören mussten!)
Kleines Finale: Der jüngste Sohn holt mich ein und kommt an meine Hand. „Mama?“ Und dann: „Das
mit dem Weihnachtsmann, das glaub ich aber trotzdem.“
14
Reden von Gott im Unterricht
L: Gott hat zu Jona gesprochen und zu ihm gesagt, er soll nach Ninive gehen. ( … ) Was denkt ihr, wie
fühlt er sich, wenn Gott so was zu ihm sagt? Wie fühlt man sich da, wenn man so was machen soll?
Christoph: Ängstlich.
L: Ängstlich, genau.
Sibylle: Ich wusste gar nicht, dass Gott sprechen kann.
Kian: Gott kann doch nicht sprechen, oder?
Mehrere: Doch, doch!
L: Er hat zu Jona gesprochen.
Young-Kwang: Denkst du, Gott hat keinen Mund?
Sibylle: Kann des sein, dass er ne Wolke ist?
L: Genau, des stellt sich jeder ein bisschen anders vor.
Richard: Meine Schwester stellt sich Gott als … äh … wie ein Licht vor.
L: Wie ein Licht, hmm … Der Jona wusste vielleicht auch nicht, dass Gott zu ihm sprechen kann, und
dann spricht er plötzlich, und dann sagt er auch noch so was! Wie ist des für ihn?
Ruben: Komisch.
Hannelore: Merkwürdig.
Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern, Stuttgart 2007, 15
Die Lehrerin hat während der Beobachtung der Arbeit in den Gruppen wahrgenommen, dass eine
Frage die Kinder besonders bewegte. Es war die Frage: „Gibt es Gott?“. Allerdings war die Unterrichtsstunde auch schon fast an ihrem Ende angelangt. Dennoch wollte die Lehrerin verstehen, wie die Kinder diese Frage für sich klären und ob sie weitere Hilfestellungen benötigen. Sie wollte wahrnehmen,
was die Kinder zu dieser Frage denken, um darauf aufbauend weitere Lerngelegenheiten anbieten zu
können. So schrieb sie die Frage auf ein DIN-A4-Blatt und legte sie beim Abschlussgespräch in die
Mitte des Sitzkreises. Gleich meldete sich Manuel.
Manuel: Ich habe mich vorhin gefragt, ob es Gott gibt. Und dann habe ich die Frage auch laut gesagt.
L: Ging es den anderen auch schon einmal so?
Steffi: Ich hab mir dir Frage vor ein paar Tagen gestellt. Sie ist mir einfach eingefallen.
Jenny: Als ich mal krank wurde, habe ich mir die Frage gestellt. Da wollten wir nach Spanien.
Lukas: Ich habe mich schon oft gefragt, ob es Gott wirklich gibt oder ob das nur ein alter Glaube ist.
L: Das war schon sehr viel, was ihr gesagt habt. Ihr stellt euch also die Frage in ganz unterschiedlichen
Situationen, z.B. wenn ihr im Religionsunterricht seid oder wenn etwas Trauriges passiert, manchmal
kommt die Frage auch aus heiterem Himmel. Und Lukas hat richtig beobachtet, dass manche Menschen denken, der Glaube an Gott wäre etwas Altes und gar nicht mehr aktuell. Und jetzt stehen wir
mit dieser Frage da. Wie können wir eine Antwort finden? (lange Pause)
Sebastian: Gott kann man nicht sehen. Also ist es ganz schwer, eine Antwort zu finden.
L: Da hast du etwas ganz Wichtiges gesagt, Sebastian. Können wir eine Antwort finden, auch wenn es
schwer ist?
Lukas: Manchmal brauche ich Mut, wenn mein Freund sagt, Reli ist doch doof.
15
L: Wie kommst du jetzt gerade darauf?
Lukas: Ja, weil man Gott nicht beweisen kann, findet er Reli doof. Und ich stehe auch blöd da, weil ich
keine Antwort habe. Dann frage ich mich eben, ob er Recht hat und der Glaube veraltet ist.
L: Ah, jetzt verstehe ich. Dann ist unser Gespräch für dich auch sehr wichtig? (Lukas nickt.) Also, wie
finden wir eine Antwort, die wir begründen können und hinter der wir stehen, auch wenn es andere
vielleicht ganz anders sehen?
Kinder: schweigen
L: Helft mir zum Beispiel einmal, über die Bibelgeschichten nachzudenken, ob sie uns eine Antwort
zeigen. Gibt es da Geschichten von Menschen, die geglaubt haben, dass Gott wirklich da ist?
Manuel: Alle eigentlich.
Lukas: Nein nicht alle.
L: Könnt ihr das noch genauer sagen?
Manuel: Ja, z.B. Abraham hat es geglaubt.
L: Die Geschichte haben wir im 1. Schuljahr besprochen. Da müssen wir mal zusammen nachdenken.
Steffi: Der ist ausgezogen aus seiner Heimat und hat eine Stimme gehört. Er hat wahrscheinlich ganz
fest geglaubt, dass es Gott war. Und das war auch so.
L: Glaubst du? Und warum?
Steffi: Ich weiß nicht, vielleicht, weil sich alles erfüllt hat. Und er hat daran geglaubt.
Jenny: Oder Mose, wie er seine Leute befreit hat.
Manuel: Daniel in der Löwengrube, das war krass. Oder David und Goliat.
L: Gibt es Gott wirklich, Lukas?
Lukas: Ich denke schon.
L: Was sagst du deinem Freund? Hast du schon eine Idee bekommen?
Lukas: Das muss ich mir noch überlegen. Ich kann ihm sagen, dass ich Reli gut finde und dass die Geschichten der Bibel gut sind.
L: Haben die anderen noch eine Idee? Was könnte Lukas noch sagen?
Manuel: Das ist echt schwer. Es ist ein bisschen eine Gefühlssache. Also ob man glaubt oder nicht. Und
wenn man die Geschichten liest, kriegt man Mut. Da kann man glauben. Und wenn einer so dumm
kommt, dann zweifelt man.
Jenny: Ja, das stimmt. Wenn ich Geschichten aus der Bibel höre, wird das Gefühl stärker.
L: Ich denke, wir sind schon weit gekommen in dieser Stunde. Wir haben gesagt, dass die Frage nach
Gott eine Glaubensfrage ist. Und wir haben festgestellt, dass die Bibel viele Geschichten von Menschen
erzählt, die auf Gott vertraut haben. Das Vertrauen ist stärker als das Misstrauen. Vertrauen und
Glaube hängen eng zusammen. Das kann man auch schön bei Noah sehen, wisst ihr noch? Dass er die
Arche baut, obwohl ihn andere für verrückt erklären. Der Gedanke mit dem Gefühl bringt uns auch
weiter. Glauben kann man nicht nur durch Nachdenken. Sondern der Glaube hat mit dem Gefühl zu
tun. Und solche Angriffe von anderen, die verunsichern uns, das sehe ich auch so. Ich werde mir einige Gedanken machen, wie wir noch weiter kommen können, und werde das Thema dann in der ganzen nächsten Stunde mit euch besprechen. Unser Ziel ist, dass wir eine Antwort finden, die wir ganz
persönlich vertreten können.
Lukas: Ich sage, dass ich von Gott überzeugt bin. Und lasse ihn reden.
Petra Freudenberger-Lötz, Und was denkst du? Theologische Gespräche mit Kindern, in: Andrea Braner,
Hinterm Bibeltor geht’s los, Göttingen 2011
16
Kinder und Jugendliche und die Frage nach Gott
(Karl Ernst Nipkow)
Schon Mitte der 80er Jahre schob sich mir ein empirischer Befund herausfordernd in den Vordergrund. Bei der Interpretation von über 1200 Texten von Berufsschul-Jugendlichen im Alter von 16 bis
über 20 aus Württemberg (1987) wurde sichtbar: Selbst wenn die Kirche und ihre Lehrtradition – was
ist die Kirche, was bedeuten Jesu Kreuzestod und Auferstehung, was meinen Sünde und Gnade? – die
Jugendlichen längst nicht mehr erreichen, bleibt die Frage nach Gott ein Thema. Als ein kleiner Rest?
Vielleicht, man kann aber nach den Befunden auch sagen, als der Kern von allem anderen.
„Gott“ ist ein Name für jemanden, den man im Gebet anrufen kann, ein „Du“ sondergleichen. Junge
Menschen beten mehr, als wir denken; sie haben Probleme, und als Kind ist ihnen Gott als „der liebe
Gott“ nahegebracht worden: Ist er vielleicht doch der große Helfer? Dies bleibt die unausgesprochene
Erwartung, Gott als große, geheime Vermutung, wobei Jungen weniger ihre Gefühle zeigen als Mädchen. Wenn Gott in den Äußerungen selten mit christlichen Glaubenslehren assoziiert wird, womit
aber dann? Es ließen sich seinerzeit besonders drei existenzielle Fragenkreise identifizieren, die auch in
neueren Untersuchungen wiederkehren und sich zu dem empirisch gut abgesicherten Gesamtbefund
fügen, dass es trotz der Abnahme kirchlicher Bindungen nicht zu einem Schwund religiöser Sinnsuche
gekommen ist.
Die Probleme haben mit dem zu tun, was auf der Zeitachse des eigenen Lebens und insgesamt hinsichtlich der Geschichte von Menschheit und Sein als Rätsel irritiert und belastet:
■ Was war am Anfang? Ist die Welt von Gott geschaffen? Ist damit dem Weltprozess ein Sinn eingestiftet?
■ Was wird am Ende sein? Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod bei Gott? Oder kommen wir aus
dem Nichts und fallen ins Nichts?
■ Warum gibt es so viel unverschuldetes Leid in der Welt zwischen Anfang und Ende? Warum lässt
Gott es zu? Darf und kann ich glauben, dass mein Leben auch im Leiden ein Leben mit Gott ist?
Gott ist zu Recht als Schlüsselthema des Religionsunterrichts zu bezeichnen, weil er auch heute noch
aus der Erwartung von Schülern und Schülerinnen der Schlüssel für die Sinnhaftigkeit des Lebens sein
könnte und ein Helfer in der Not, Gott als „die Tür“. Diese Position im Lehrplan kommt der Gottesthematik auch darum zu, weil jene drei Grundfragen geradewegs zur gründlichen Behandlung der drei
entsprechenden Hauptkomplexe des christlichen Glaubens veranlassen, des Sinns der Rede
■ von einer „Schöpfung“: Ist sie die Antwort auf das letzte Geheimnis des Anfangs?
■ von der „Auferstehung der Toten“ und dem „ewigen Leben“: Umschreiben sie das Mysterium des
Endes?
■ und vom „Leiden und Sterben Jesu“: Trägt Gott am Kreuz unser Leiden mit?
Die Lebensschwere lässt nach Glaubensantworten Ausschau halten. M. a. W.: Mit dem Thema „Gott“
befindet sich der christliche Religionsunterricht nicht nur bei den jungen Menschen, sondern auch
ganz in der Mitte seiner Sache. Alle Unterrichtsinhalte sind auf diese Mitte zu beziehen.
17
Durch das Gottesthema wird das Fach eindeutig als Religionsunterricht profiliert. Ich bin in den letzten
Jahren nicht müde geworden, zu unterstreichen und zu erläutern, warum der Religionsunterricht keine Dublette des Ethikunterrichts ist. Er ist nicht nur (wenngleich selbstverständlich auch) ein Unterricht über „Werte und Normen“, sondern primär über Religion. Und wenn er von moralischethischen Themen handelt, dann eben im Lichte des Willens des biblischen Gottes im Zeichen der
Zehn Gebote, der Botschaft der Propheten von Gerechtigkeit und Frieden, des Doppelgebots der Gottes- und Nächstenliebe sowie der Feindesliebe. Im Religionsunterricht wird gezeigt, dass das Leben
und Handeln von Christen in ein umfassendes Ganzes eingebettet ist, in die im Glauben erschlossene
Deutung der Wirklichkeit insgesamt und in eine letzte tragende Beziehung, eben in den Glauben an
Gott, wie er in Jesus Christus erfahren worden ist und erfahren wird.
( … ) Ein Religionsunterricht, der die conditio humana, die Verfassung des Menschen, in letzten Hinsichten bedenkt, vertieft durch die Auslegung biblischer, kirchengeschichtlicher und gegenwärtiger
Glaubenszeugnisse und durch eine offene Reflexion im Kontext von konkurrierenden Lebensdeutungen in den Kindern und Jugendlichen die Haltung der Nachdenklichkeit. Wer spürt nicht, wie sehr wir
in unserer Weltgesellschaft über das Wohl und Wehe besorgt nachzudenken haben und hierbei
Grundfragen letzter Vergewisserung aufbrechen! In einer Fächergruppe von miteinander kooperierenden Unterrichtsfächern vermag ein solcher Religionsunterricht zugleich seine mehrseitige
Verständigungsfähigkeit zu bewähren. Unter dieser Perspektive erhält er eine neue wichtige Funktion
in einer pluralen Welt.
Gott in der Öffentlichkeit und privatissime
Dem Staat ist gleichgültig, ob und wie seine Bürger an Gott glauben, solange es nicht den öffentlichen
Frieden stört. Positiv formuliert, hat er Interesse an dem gesellschaftlichen Nutzen von Religion. Die
religiösen Bindungen lassen erstens Gefühle der Verpflichtung wachsen, die helfen können, auch staatliche Vorschriften und Gesetze eher zu befolgen und die Lebens- und Berufsmotivationen zu vertiefen
Die Religion verleiht ferner weltlichen Institutionen und Unternehmungen (bis hin zu Kriegen!) eine
höhere Weihe. Drittens kann einem Gemeinwesen aber auch daran gelegen sein, durch die Anrufung
Gottes zu verhindern, dass sich die eigene Staatsmoral absolut setzt.
Unter dem ersten Gesichtspunkt des Integrationsinteresses konstruierte schon Jean Jacques Rousseau
im „Gesellschaftsvertrag“ seine „staatsbürgerliche Religion“. Bei Staatsakten Kirchenglocken läuten zu
lassen, ist ein Beispiel für den zweiten Zweck. Die invocatio Dei (Anrufung Gottes) in der Präambel
des Grundgesetzes verfolgt ausdrücklich den dritten Zweck. Nie soll sich wiederholen, wie sich im sog.
„Dritten Reich“ eine menschenverachtende staatliche Ideologie Köpfe, Herzen und Gewissen gefügig
gemacht hat. Für den gesellschaftlichen Gebrauch hat der amerikanische Soziologe Robert N. Bellah
den Begriff der „civil religion“ geprägt, der „Zivilreligion“, nicht zu verwechseln mit der „Zivil- bzw.
Bürgergesellschaft“. Es ist legitim, wenn sich Schulpolitiker in einem zivilreligiösen Sinn vom Religionsunterricht in der „Werteerziehung“ Unterstützung erhoffen.
Die Kirchen vertreten Werte, die wie der Schutz allen Lebens, das Wohl der Familie, das Recht der
Kinder, das Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und die natürlichen Lebensgrundlagen der Gesellschaft zugute kommen. Wenn der Religionsunterricht in dieser Hinsicht den Glauben an Gott zum
Thema macht, gerät er allerdings in eine Spannung. Er hat mit den Schülerinnen und Schülern Gottes
Forderungen und Verheißungen so zu bedenken, wie es theologisch sachgemäß und nicht wie es gesellschaftlich gefällig ist.
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In der Neuzeit hat sich der Glaube an Gott schrittweise individualisiert; die Menschen glauben in unterschiedlicher Weise. Die christliche Botschaft eröffnet Spielräume für eigene Auslegungen der Bibel
und eigene Wege des Christseins. Welche Aufgabe hat der Religionsunterricht nach dieser Richtung?
Aus evangelischer Sicht wird er diese Entwicklung hin zu einer „Privatreligion“ nicht sofort als individualistische Auflösung denunzieren, da der Protestantismus grundsätzlich die Selbständigkeit des
Glaubens fordert. Allerdings ist auch jetzt wieder prüfend zu vergleichen, was christlich genannt werden kann und was nicht. Der Religionsunterricht bezieht seine Aufgabe der prüfenden Vergewisserung
auch auf die kirchliche Religion. Er hat den Schülerinnen und Schülern darzustellen, was bei einer
Glaubens- oder Lebensfrage der gegebene kirchliche Konsens, was strittig und was im Wandel begriffen ist.
Für den evangelischen Religionsunterricht erwachsen die Kriterien aus der biblischen Botschaft, ihrer
Wirkungsgeschichte, den Bekenntnissen der Kirche und der wissenschaftlichen Theologie als der
fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplin des Faches. Die Unterrichtenden werden nicht dogmatisch
genötigt, ebenso wenig die Kinder und Jugendlichen.
Zusammengefasst umreißen die drei Zugänge, nämlich
■ die kirchlichen Glaubensüberlieferungen
■ die persönlichen Formen des Glaubens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
■ und die gesellschaftlichen Erwartungen und Interessen
ein wichtiges Lernfeld für die religiöse und ethische Urteilsbildung.
Der Religionsunterricht hat eine unersetzbare Funktion, weil er sachverständig Rede und Antwort
steht. Gegenüber einem wie immer beschaffenen Gebrauch und Missbrauch der Rede von Gott hat er
konsequent nach den Kriterien zu fragen, die den biblischen Gott Gott sein lassen und nicht zum
Spielball von Menschen herabwürdigen.
Gott im Verständnis der Kinder
Seit den 80er Jahren ist das Verhältnis von Kindern und Jugendlichen zur sog. Gottesfrage – so die
allgemeinste Fassung unseres Themas – intensiver erforscht worden. Dies hat auch mit einem Perspektivenwechsel zu tun, der wachsenden Erkenntnis, „Kinder als Theologen zu sehen – als Menschen,
die fähig sind, mit ihren Denkmöglichkeiten eigene Antworten auf Glaubensfragen zu finden“, so
Friedrich Schweitzer in seinem Vorwort zu John Hulls (1997) Gesprächen mit seinen eigenen kleinen
Kindern über Gott, die in aufschlussreicher Weise diese These belegen. „Jedes einzelne Kind wird zu
einem Sachverständigen“ (Coles 1992) und gibt „nicht zuletzt auch uns Erwachsenen neu zu denken“
(Schweitzer).
Vielfach lassen Unterrichtende die Kinder Gott malen, um das Gottesbild genauer zu erkennen und zu
verstehen (Fischer/Schöll 2000).Anhand der äußeren Bilder lassen sich die Gottesvorstellungen als
innere Bilder erkunden, die einen Einblick in das Gottesverständnis geben: Was verstehen sie, was
noch nicht? Wie erleben sie Gott? Welche Züge seines Wesens finden sie schön, merkwürdig oder
auch Angst erregend?
Andere Religionspädagogen finden den Zugang über Zeichnungen „unangemessen“ (Szagun 2000),
weil die Gottesvorstellung von Kindern in hohem Maße von konventionellen Einflüssen abhängig sei
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und die „mystische Dimension der Frage“ nach Gott mit einem „verständnisarmen Realismus“ beantwortet werde (Oelkers 1994; Szagun). Sie wählen wie Anna-Katharina Szagun den Weg über Metaphern und lassen die Kinder Satzanfänge wie „Gott ist für mich wie …“ bildhaft zu Ende führen. Ob in
Bildern oder Metaphern: In jedem Fall ist es richtig, die persönliche Gottesbeziehung zu erkunden.
Viviane (10) malt auf meine Bitte hin Gott nur als zwei Hände, die vom oberen Bildrand sich über eine
bunte Landschaft mit Tieren erstrecken, darin eingetragen auch zwei Brote und zwei Fische, wodurch
unversehens („gar nicht so absichtlich“ – und doch unbewusst-bewusst), wie das Gespräch im Anschluss ergab, Gott mit Jesus und seinem helfenden Wirken verbunden wird. Die Komposition ihres
Bildes ist ihr ganz eigenständig gelungen.
Der Weg zu symbolhafter Darstellung wird von Kindern selbst eingeschlagen, und der Religionsunterricht kann ihn unterstützen; Gott wird nicht begrifflich, sondern in Symbolen angemessen ‚angedeutet’. Bettina (10) (zit. n. Arnold/Hanisch/Orth 1997) malt Gott als eine Kerze, denn er ist „wie eine
Kerze“, weil „er Licht in die Welt“ bringt“. Gefragt nach Vorstellungen von Gott im früheren Alter,
antwortet sie: „Na ja, da war ich fünf Jahre alt, und da dachte ich immer, der schwebt auf einer Wolke
oder so.“
Dies Beispiel zeigt als nächstes, dass Kinder relativ bald die Entwicklung ihrer Gottesvorstellungen
und damit ihres Gottesverständnisses an sich selbst wahrnehmen. Stephanie Klein (2000) legt gemalte
Bilder ein Jahr später wieder vor, um die Weiterentwicklung zu begleiten.
Eine zentrale Herausforderung des Religionsunterrichts ist sodann, dass die Kinder darauf bestehen, es
genau begreifen zu wollen. Lea (11): „…das ist mir sehr wichtig. Wenn ich nichts verstehe, dann kann
ich auch nichts damit anfangen … Also erst begreife ich was und dann kann ich auch richtig daran
glauben. Also, die gehören schon zusammen, denke ich, Glauben und Begreifen, die gehören zueinander. … Ich kann einfach nicht glauben, wenn ich nichts begreife und nichts begreifen, wenn ich nicht
glaube.“ (zit. n. Arnold u. a. 1997)
„Schon die überwältigende Mehrheit der 10jährigen beansprucht, jede/r solle selber glauben, was er/sie
für richtig halte (80%)… Bis zu den 18jährigen steigen die Quoten um gut 17% auf 98%.“ (Bucher
1996, S. 159)
Heute zählt nur der wirklich selbst gewählte Glaube an Gott. Wenn aber dann im Unterricht ein solcher persönlicher Gottesglaube in Äußerungen aufblitzt, werden entweder alle vor gespannter Aufmerksamkeit ganz still oder es bricht auch aus anderen hervor, was für sie Gott bedeutet, weil sie ihn
erlebt haben und darum etwas von ihm erhoffen oder aber auch, weil er sie enttäuscht hat.
Der Religionsunterricht ist folglich gerade in jenen späteren Jahren unersetzbar, wenn die Auseinandersetzung einen existenziellen, ernsten Charakter annimmt, und es ist unverantwortlich, wenn er in
einer Schule anderen Prioritäten oder – schlimmer – rein organisatorischen Umständen geopfert
wird. Der Staat hat jetzt besonders gewissenhaft die Unterrichtsversorgung zu sichern. Das Alter von
16 bis 20 ist für die Persönlichkeitsentwicklung hochbedeutsam.
In alledem setzen sich Religionspädagogen realitätsgerechte Ziele. Schon 1974 hielt es der Beschluss
der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland in Würzburg für einen
maximalen Gewinn, „wenn die Schüler, je nach Möglichkeit, angestoßen von diesem Unterricht, zu
einer engagierten Begegnung mit der Wirklichkeit des Glaubens, einschließlich der konkreten Kirche,
bereit und fähig sind“.
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Auf dem anderen Pol heißt es: Es ist schon ein Gewinn, wenn die Schüler beim Verlassen der Schule
Religion und Glaube zumindest nicht für überflüssig oder gar unsinnig halten“ (ebd.). Der Ausdruck
„Glaube an Gott“ ist im Verhältnis zu den Ausdrücken „Gottesbild“, „Gottesvorstellung“, „Gottesverständnis“ und erst recht „Gottesfrage“ der anspruchsvollste. Für die evangelische Religionspädagogik
ist er kein direktes Bildungsziel.
Die Absicht, im Kind oder Jugendlichen den Glauben erzeugen zu wollen, indem man nur etwas „anbildet“, überschätzt erstens die pädagogische Reichweite des eigenen Handelns und verletzt zweitens
die ethische Achtung vor der Würde der Person. Hinzu tritt eigenständig die theologische Erkenntnis,
wonach der Glaube an Gott, der sich in dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus von Nazareth
geoffenbart hat und mein Gott ist, auf den ich mich im Leben und Sterben verlassen darf, in der Tat
nur ein Geschenk sein kann. Aus der menschlichen Vernunft folgt dieser Glaube nicht. ( … )
Der Religionsunterricht zielt den Glauben nicht unmittelbar an, nimmt aber diese letzte Dimension
der Gottesfrage sehr ernst. „Gott“ ist ein Name und keine Idee oder gar ein Ding. Darum hantiert man
nicht mit Gott, wie man es vielleicht mit anderem noch gerade darf. Das Thema Gott bewahrt den
Religionsunterricht vor einer Betriebsamkeit und Verflachung, die für seine Aufgabe tödlich ist. Es
benennt sein Herzstück, an dem Ehrfurcht und Verantwortung gelernt werden können wie sonst nirgendwo.
Literatur
U. Arnold/H. Hanisch/G. Orth (Hg.):Was Kinder glauben. 24 Gespräche über Gott und die Welt,
Stuttgart 1997
R. Coles: Wird Gott nass, wenn es regnet? Die religiöse Bilderwelt der Kinder, (am.:The Spiritual Life
of Children, 1990), Hamburg 1992
D. Fischer/A. Schöll (Hg.): Religiöse Vorstellungen bilden. Erkundungen zur Religion von Kindern
über Bilder, Münster 2000
S. Klein: Gottesbilder von Mädchen als Zugang zu ihrer religiösen Vorstellungswelt, in: Fischer/Schöll,
aaO., S. 97–128
K.E. Nipkow: Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, Gütersloh 2000 (5.Aufl.)
Ders.: Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 1: Moralpädagogik im Pluralismus, Bd. 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998
A.-K. Szagun, Zugänge zur Gottesfrage. Anspruch – Wirklichkeit – Möglichkeiten, in: Schulfach Religion, 19. Jg., Nr. 1–2, hg. u.a. vom Institut für Religionspädagogik an der Theol. Fakultät der Universität Wien, 2000
Karl Ernst Nipkow, Kinder und Jugendliche und die Frage nach Gott, in: M. Wermke (Hg.), Aus gutem
Grund Religionsunterricht, Göttingen 2003
21
2b Die Vorgaben: Dimensionen, Kompetenzen,
Standards
Religiöse Kompetenz (aus dem Hessischen Curriculum)
Religiöse Kompetenz ist die Basis für selbstverantwortete religiöse Praxis. Sie entwickelt sich in
Gesprächen über Religion und Glaube, in der Auseinandersetzung mit Widerfahrnissen des Lebens, im sozialen Handeln sowie in Begegnungen mit religiöser Praxis im Lebensumfeld. Dazu
werden im Folgenden sechs Kompetenzbereiche ausgewiesen.
Wahrnehmen und beschreiben
Die Lernenden nehmen sich selbst und die Welt in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit mit ihren
Möglichkeiten, Grenzen und Brüchen wahr und bringen ihre Erfahrungen zum Ausdruck. Sie beschreiben ihr Erleben, Fühlen und Denken und stellen fest, dass es im Leben mehr gibt als das
Sichtbare und Machbare.
Fragen und begründen
Unvoreingenommen fragend erschließen sich Kinder die Welt. Sie fragen nach dem Woher, Wozu
und Wohin des Lebens. Auf der Suche nach Antworten entwickeln und begründen sie eigene Orientierungen vor dem Hintergrund des biblisch-christlichen Glaubens.
Deuten und verstehen
Religiöse Deutung erschließt einen besonderen Zugang zur Wirklichkeit. Ebenso kann Religion an
sich nur deutend verstanden werden. Die Lernenden deuten Grundformen religiöser Sprache und
verstehen biblische Überlieferung im Kontext ihrer Entstehungsgeschichte. Sie bringen Erfahrungen von Menschen in der biblisch-christlichen Tradition mit dem eigenen Leben in Verbindung.
Kommunizieren und Anteil nehmen
Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit sind grundlegende Kompetenzen für das Zusammenleben von Menschen. Diese Fähigkeit zeigt sich im Zuhören, Mitteilen, Anteil nehmen und Verständnis entwickeln. Zu einer reflexionsfähigen Religionspraxis gehört außerdem die Fähigkeit,
über Religion zu kommunizieren sowie die Fähigkeit, religiöse Sprache und Symbole zu verwenden.
Ausdrücken und gestalten
Religiöse Kompetenz ist beobachtbar auf der Ebene der Performanz. Die Lernenden setzen religiöse Inhalte und Aussagen in vielfältigen Ausdrucksformen gestalterisch um. Sie gestalten christliche
Feste und Feiern im schulischen Leben mit.
Handeln und teilhaben
Vor dem Hintergrund evangelischer Lebens-, Glaubens- und Handlungspraxis bedenken die Lernenden das eigene Handeln, nehmen ein menschenfreundliches Miteinander in den Blick und erleben Formen von Gemeinschaft. Damit wird die Fähigkeit zur Entscheidung für eine aktive Teilhabe an religiösem Leben angebahnt.
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Inhaltsfelder (aus dem hessischen Curriculum)
Für das Fach Evangelische Religion sind drei Leitperspektiven grundlegend, die abbilden, wie uns Religion in der Lebenswirklichkeit begegnet: „Eigene Erfahrungen und individuelle Religion“ – „Christliche
Religion in evangelischer Perpektive und christliche Traditionen“ – „Religiöse und gesellschaftlichkulturelle Pluralität“.
Die Leitperspektiven strukturieren die Auseinandersetzung mit den Inhaltsfeldern des Faches Evangelische Religion von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe. Die Inhaltsfelder orientieren sich an der
Fachwissenschaft und haben sich fachdidaktisch bewährt. Sie fokussieren die wesentlichen inhaltlichen
Aspekte des Faches Evangelische Religion und lauten wie folgt:
Mensch und Welt
In der jüdisch-christlichen Tradition wird der Mensch als ein Geschöpf Gottes gedeutet. Im Miteinander und in der Auseinandersetzung in Familie und Schule, Gesellschaft und Welt erfährt er sich selbst
in seinen Möglichkeiten und Grenzen. Er begegnet der Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit seiner
Mitmenschen. Auf seine Fragen nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Identität kann ihm die
christliche Religion Antworten geben. Die auf der Grundlage menschlicher Erfahrungen erworbenen
Handlungskonzepte und Haltungen werden von der biblisch-christlichen Tradition her gedeutet und
sind in ihrem Sinne gestalt- und veränderbar.
Gott
Die Frage nach Gott gehört zu den Grundfragen des Menschseins. Dieser Frage wird Raum gegeben,
damit eigene Vorstellungen von Gott zum Ausdruck gebracht und entwickelt werden können. Das
biblisch-christliche Gottesverständnis basiert auf der Beziehung Gott – Mensch, die in Jesus Christus
erschlossen wird. In biblischen Geschichten begegnen uns Menschen, die von ihren Erfahrungen mit
Gott erzählen und damit Orientierung für das eigene Leben bieten.
Jesus Christus
Nach christlichem Glauben erschließt sich durch Jesus unsere Beziehung zu Gott. In Jesus Christus
zeigt sich uns Gott. Jesu Leben, sein Kreuzestod und seine Auferweckung werden als Gottes erlösendes
Handeln gedeutet. Die Evangelien erzählen von der vorbehaltlosen Zuwendung Gottes zu den Menschen durch Jesus Christus. Das Leben Jesu und seine Botschaft können Beispiel sein für eigenes Leben
und Handeln.
Kirche
Christen leben nicht für sich allein, sondern in der Gemeinschaft mit anderen. Damit stehen sie in der
Nachfolge Jesu und leben und handeln aus dem Glauben an das Evangelium. Kirche ist auch sakraler
Raum, in dem das Wort Gottes verkündigt wird und die eigene religiöse Praxis ihren Ausdruck findet.
Religionen
Religionen ermöglichen jeweils unterschiedliche Perspektiven, die Welt zu deuten und ihr zu begegnen. Sie prägen das persönliche Leben und die jeweilige Gesellschaft und Kultur.
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Bibel
Die Bibel in der Einheit von Altem und Neuem Testament ist für Christen das Fundament ihres Glaubens. Elemente der Entstehungsgeschichte und ausgewählte Inhalte der Bibel sind die Grundlage, um
die christliche Religion und Tradition verstehen zu können.
Biblische Erzählungen sind überlieferte Erfahrungen von Menschen mit Gott aus einer anderen Zeit
und Kultur. Sie müssen auf die heutige Zeit übertragen und gedeutet werden.
Die Bibel ist auch in anderen Inhaltsfeldern zentrale Bezugsgröße.
Standards nach Klasse 4 (aus dem hessisches Curriculum)
Wahrnehmen
und beschreiben
Die Lernenden
können
eigene Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle wahrnehmen und sie zum Ausdruck bringen,
die Schöpfung in ihrer Vielfalt und die Einmaligkeit des Menschen mit seinen
Möglichkeiten und Grenzen wahrnehmen und beschreiben,
Gestaltungs- und Handlungsräume für einen verantwortungsvollen Umgang
mit sich und der Welt wahrnehmen und beschreiben,
eigene Gottesvorstellungen beschreiben.
fragen und
begründen
Die Lernenden
können
deuten und
verstehen
Die Lernenden
können
nach Entstehung, Grund und Sinn der Welt fragen; Antworten begründen,
nach Grunderfahrungen menschlichen Lebens fragen und Zusammenhänge
zum eigenen Leben herstellen,
nach der eigenen Religionszugehörigkeit fragen und sie begründen.
die Welt und den Menschen als Gottes Schöpfung deuten,
Gottesvorstellungen der Bibel deutend beschreiben,
Geschichten der Bibel aus Altem Testament und Neuem Testament als Erfahrungen von Menschen mit Gott einordnen und deuten,
elementare Ausdrucksformen religiöser Praxis erklären und deuten.
kommunizieren elementare religiöse Sprach- und Ausdrucksformen anwenden,
Anteil nehmen Möglichkeiten verantwortungsvollen Umgangs miteinander kommunizieren
und Anteil nehmen am Leben der anderen,
Die Lernenden
können
über die eigene Religion und andere Religionen sprechen und Mitmenschen
in Toleranz und Respekt begegnen.
ausdrücken
gestalten
Inhalte des Faches gestalterisch zum Ausdruck bringen,
handeln und
teilhaben
im Umgang mit der Schöpfung und dem Mitmenschen verantwortungsvoll
handeln, an religiös bedeutsamen Vorhaben des Schullebens partizipieren.
christliche Feste und Feiern im schulischen Leben mitgestalten.
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Inhalte nach Klasse 4 (aus dem hessischen Curriculum)
Inhaltsfelder
Gott
Kompetenzen
Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der eigenen Identität und Alle benannder Welt stellt sich die Frage nach Gott. Dabei geht es vor allem um ten Kompedie Art und Weise der Gottesbeziehung.
tenzbereiche
können mit
Sie stellt sich dar in den Erfahrungen von Menschen sowohl aus bib- den Inhaltslischer Sicht als auch im eigenen Lebenskontext. Beispiele biblischer feldern verErzählungen von Gotteserfahrungen in AT und NT sind grundle- knüpft wergend.
den.
Die Gottesbeziehung kann in unterschiedlichen Formen biblischchristlicher Glaubenspraxis ausgedrückt werden. Die Kommunikation mit Hilfe von Symbolen nimmt hier einen wichtigen Raum ein.
Mensch
und Welt
Die Fragen nach dem Woher, Wozu und Wohin des Lebens sind
grundlegend bei der Suche nach Identität und der Auseinandersetzung mit der Welt. Vielfältige Erfahrungen, Möglichkeiten und
Grenzen, Brüche und Übergänge kennzeichnen unser Menschsein. In
biblischen Texten finden wir hierfür Beispiele.
Das christliche Menschenbild beschreibt den Menschen als von Gott
geschaffen und bedingungslos angenommen und geliebt. Aus diesem
Zuspruch erwächst ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Mitmenschen und der Schöpfung.
Bibel
Ein Grundwissen über die Entstehungsgeschichte der Bibel erschließt
ein Verständnis für Inhalte und Sprache im AT und NT. Die Begegnung mit ausgewählten Psalmworten und Gleichnissen verdeutlicht
die Symbolhaftigkeit der Sprache des Glaubens und schafft ein
Grundverständnis für religiöse Kommunikation.
Die Erzählungen und Erzählzyklen des AT sind als ein Spezifikum
der jüdisch-christlichen Tradition bedeutsam. Ausgewählte Texte aus
dem NT sind grundlegend für den christlichen Glauben.
Jesus
Christus
Die Lebensgeschichte Jesu erzählt von der Menschenfreundlichkeit
Gottes, die durch Jesu Handeln und Wirken sichtbar wird und Mög-
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lichkeiten zur Identifikation und Lebensorientierung bietet.
In den Geschichten von Jesu Geburt, Wirken, Tod und Auferstehung
zeigt sich Gott als Mensch, der dem Menschen nah ist. Jesu Rede vom
Reich Gottes weist auf die befreiende und Hoffnung stiftende Perspektive für das Leben der Menschen – damals und heute.
Kenntnisse über die Merkmale der Zeit und Umwelt Jesu schaffen
Grundlagen und vertiefen das Verständnis für seine Person, sein Leben und seine Botschaft. Dies wird auch in Lebensgeschichten von
Menschen in der Nachfolge Jesu aus Geschichte und Gegenwart deutlich.
Kirche
Christ sein erschließt sich in der Gemeinschaft mit anderen, die durch
den gemeinsamen Glauben an Jesus Christus und durch die Taufe
miteinander verbunden sind. So wird Kirche als die Gemeinschaft
aller Christen verstanden, die sich in unterschiedlich konfessioneller
Prägung zeigt. Ebenso ist Kirche auch als sakraler Raum zu verstehen,
in dem Gottesdienste und die wichtigsten Feste des Kirchenjahres
miteinander gefeiert werden. Formen der darstellenden und bildenden Kunst geben Zeugnis christlichen Glaubens.
Religionen
Kenntnisse über eigene Konfessions- und Religionszugehörigkeit sind
Voraussetzung für das Verständnis Andersdenkender. Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition ist notwendig, um das Verständnis für die christliche Religion anzubahnen. Ein respektvoller
Umgang mit Menschen anderer Religionszugehörigkeit im eigenen
Lebensumfeld erfordert Grundkenntnisse der jeweils anderen Kultur
und Glaubenspraxis.
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3 Die Inhalte
Zum Beispiel:
Beispiel: Die Bibel
„Kindergruppe ist leicht“, sagt Carola. „Da erzähle ich einfach eine schöne Bibelgeschichte.“
Wenn es nur so einfach wäre! Gewiss: „Noah und die Arche“, „Abraham bricht auf“, „Jakob betrügt Esau“, „Josef wird verkauft“, „David besiegt Goliat“ und: „Jesus ist immer lieb und gut und
heilt alle Gebrechen“ – das sind spannungsreiche Geschichten, ihre Struktur ist leicht durchschaubar, schon junge Kinder kommen gut mit. Wenn da nicht dieser eine Haken wäre: Es sind
Geschichten mit Gott.
Gott ist größer als alle Geschichten (vgl. auch Teil B), und wenn da erzählt wird, dass Gott handelt, fühlt und spricht wie ein Mensch, spiegeln sich darin geistliche Erfahrungen und individuelle Deutungen. Sie sind mit menschlichen Mitteln erzählt, aber symbolisch gemeint.
Religiöse Sprache
Da aber religiöse Symbolsprache heute kaum noch verstanden wird, führt sie zu Missverständnissen. Ungeübte Zuhörer meinen allzu leicht, wir wollten ihnen weismachen, das sei alles fotografierbar und protokollierbar genau so geschehen. Und auch schon Kinder legen die „spannenden
Bibelgeschichten“ zur Seite, sobald sie meinen, sie seien nun „groß“ – und erklären sie für kindisch und unwahr.
Eine eigene Auseinandersetzung, ein Ringen um die Wahrheit hinter der spannenden Oberfläche
der Geschichte findet kaum statt. Weglegen fällt leichter – zumal, wenn die Umwelt nichts anderes zu erwarten scheint.
Stufen religiösen Verstehens
Idealerweise reift beim heranwachsenden Menschen die Gottesvorstellung mit seinen Verstehensmöglichkeiten. Entwicklungspsychologen beschreiben mehrere einander ablösende Phasen,
die mit der zunehmenden Reife im abstrakten Denken, Rechnen und Formulieren einhergehen.
Zuerst trauen Kinder Gott einfach alles zu; er ist für sie unberechenbar und handelt „aus heiterem Himmel“ (Stufe 1); dann nehmen sie an, dass Gott sich an Regeln hält, dass man also mit
ihm „handeln“ kann: „Ich gebe dir meine Gebete – und was gibst du mir?“ (Stufe 2). Und schließlich fangen sie an, Gottes Unverfügbarkeit zu erahnen und Menschenworte von Gott symbolisch
zu verstehen (ab Stufe 3).
Von ihren intellektuellen Möglichkeiten her sind Kinder etwa am Ende der Grundschulzeit fähig,
Geschichten von Gott symbolisch zu verstehen und differenziert und existenziell über Gottesbilder und ihre Beziehung zu Gott nachzudenken.
Die Realität sieht anders aus: Wie viele Jugendliche und Erwachsene sind mit ihrem Gottesverständnis auf Stufe 2 stehen geblieben – und sagen sich daher von Gott los. „Der soll das Wasser
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geteilt haben? So ein Quatsch! Kindergeschichten.“ Keine Auseinandersetzung, keine Entwicklung. Keine Gottesbeziehung.
Ich meine: Es ist an Ihnen / an dir und jedem Mitarbeitenden in der Gemeinde, hier vorzubeugen. Es ist heute wichtig, Bibelgeschichten anders zu erzählen. Sie von Anfang an so zu erzählen,
dass sie ihre Lebenskraft entfalten. Es ist vor allem wichtig, von Gott anders zu erzählen. Nicht so,
als hätten wir ihn – als hätten wir ihm bei der Schöpfung zugeschaut und Protokoll geführt, sondern so, dass wir Gott seine Freiheit lassen – und dem Zuhörer auch.
Wir müssen behutsam mit Gottes Namen umgehen. Zum Beispiel sollten wir nicht sagen: „Gott
machte …“, sondern: „Es geschah – und da sagten die Leute: „Das kommt von Gott.“
Auch sollten wir uns, bevor wir eine Geschichte erzählen, genau überlegen, welche Erfahrung mit
Gott da im Mittelpunkt steht und ob wir diese teilen – und mitteilen wollen.
Und schließlich sollten wir immer so erzählen, dass das Entscheidende offen bleibt zum Erfahrungsaustausch.
All dies ist Bibeldidaktik. Dem voraus geht die eigene kritische und erfahrungsbezogene Bibellektüre (vgl. Teil B). Das eigene (sich immer wieder ändernde und entwickelnde) Gottesbild und der
eigene biblische Kanon. Das eigene pädagogische Ziel.
„Stufe drei“
Mein pädagogisches Ziel ist schon verraten – ich untermale es mit einem Beispiel. „Stufe drei“ ist
mein Ziel – so wunderbar unabhängig und vertrauensvoll:
Eine Lehrerin fragt Kinder in einer dritten Klasse: „Was haltet ihr davon, dass Gott die Sintflut
geschickt hat?“ Einige Kinder (Stufe 1) zeigen Verständnis: „Der war auch ein bisschen beleidigt.“
Andere (Stufe 2) empfinden das Unrecht: „Das ist ein ganz böser Gott!“ oder das Recht: „Die haben es nicht besser verdient!“ Ein Kind aber (Stufe 3) trennt sein persönliches Gottesbild von der
Geschichte ab und sagt: „Das hätte Gott nie gemacht.“4
Abgesehen davon, dass die Lehrerin anders hätte fragen sollen (Was haltet ihr davon, dass die
Menschen erzählen, dass Gott die Sintflut geschickt hat?): Nur auf dieser dritten Stufe lässt sich
auf Dauer eine tragfähige Gottesbeziehung aufbauen – und so sollte es unser erstes und wichtigstes Ziel sein, mit allem, was wir sagen und erzählen, eine solche Weise, von Gott zu denken, zu
fördern.
Dazu sollen die folgenden Schritte befähigen: Es geht ums eigene Bibellesen und -verstehen, um
den Anspruch des Erzählens und um praktische Tipps zum Erzählen elementarer Bibelgeschichten.
4
Nachzulesen im Jahrbuch Kindertheologie, Sonderband I, Stuttgart 2004, S. 44–56: Brigitte Ertl, Susann Lojewski, Ich will da raus!“
Mit Kindern über die Sintflutgeschichte nachdenken.
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Was dem Leben dient
Das Alte Testament ist eine Sammlung von Texten aus vielen Jahrhunderten. Daher verwundert
es nicht, dass sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Gott darin ihren Niederschlag gefunden haben. Und doch ist das Alte Testament auch eine Einheit: Denn in all den Erfahrungen hat Israel
immer den einen und einzigen Gott erkannt. Es gibt verschiedene Versuche, „rote Fäden“ zu finden, „Grundbescheide“, „Elementares“. Ich schlage drei Merkmale vor, an denen ich Gott erkenne, die ihn mir unverwechselbar machen:
Gott sucht – Gott stört – Gott bleibt ein Geheimnis
Gott sucht Menschen auf in ihrem Leben, wählt sie aus, geht ihnen nach, begleitet sie, gibt sie
nicht verloren.
Gott stört die Selbstsicheren und allzu Selbstzufriedenen, die Selbstgerechten und die Ungerechten.
Und in allem, was wir von ihm erfahren können, ist er doch immer unergründlich, unerschöpflich, unverfügbar – einm Geheimnis.
Alle Geschichten des Suchens, Störens und Unverfügbar-Bleibens Gottes im Alten Testaments
münden in diese Erkenntnis: Gott liebt das Leben, Gott ist da, alle Dinge sind möglich bei Gott.
Oder, wie es pointiert im Buch Jona steht: „Barmherzig, und gnädig ist der Herr, geduldig und
von großer Güte“ (Jona 4,2; nach: Psalm 103,8).
Das schließt nicht aus, dass Menschen Gott auch als hart, fern, gar grausam und rachsüchtig erlebt haben. Aber es ermächtigt uns, uns auf andere, auf Leben fördernde Erfahrungen zu verlassen.
Auch Jesus, der Gott-bei-den-Menschen,
sucht, stört und bleibt ein Geheimnis
Und dann ist da Jesus. Auch Jesus spricht bisweilen vom Gericht und von Strafe. Aber mehr, viel
mehr erzählt er von Gott, der das Verlorene sucht, der die Ungerechten nicht in Ruhe lässt, der
sich nicht verfügbar machen lässt. Erzählt nicht nur von diesem Gott – ist selbst dieser Gott-beiden-Menschen. Sucht, stört (bis sie ihn umbringen), bleibt dabei über den Tod hinaus und durch
den Tod hindurch ein Geheimnis.
In der Fremdheit liegt die Wahrheit
Diese drei roten Fäden verbinden in staunenswerter Einheit Altes und Neues Testament. Und sie
eignen sich daher als rote Fäden, weil sie eine „schwere Lesart“ sind: Sie sind so unerwartet, so
anders als alles, was „man“ gewöhnlich von Göttern erwartet – seien es die der Lebenswelt oder
der grauen Vorzeit –, dass sie einfach echt sein müssen!
Ein „gewöhnlicher“ Gott hat Macht und nutzt sie. Ein „gewöhnlicher“ Gott hat sich selbst und
braucht kein Gegenüber (allenfalls Diener). Ein „gewöhnlicher“ Gott hält sich die Welt vom Hals,
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sonnt sich in seinem Glanz und setzt sich gern in Szene. Suchen? Stören? Im Verborgenen bleiben? – Doch wohl eher nicht. So ist nur einer.
Was es zu wissen gibt
Die Bibel ist klar und einfach. Jeder kann sie selbst lesen und verstehen. Das sagt Martin Luther.
Darum wollte er, dass jeder sie in seiner Sprache selbst lesen kann. Darum hat er jedem Christen
die Verantwortung für seinen Glauben selbst in die Hand gegeben.
Dennoch ist es gut, einiges über die Bibel und die Textsorten, die in ihr versammelt sind, zu wissen. Das räumt Stolpersteine aus, die einer dem Leben dienlichen Gottesbeziehung im Weg stehen können.
Die Bibelwissenschaft muss nicht jedes Mal miterzählt werden, wenn eine Bibelgeschichte erzählt
wird. Sie gehört aber in den Hinterkopf. Damit wir ballastfrei erzählen.
Die Urgeschichte (Genesis 1 bis 11)
Von der Erschaffung der Welt und des Menschen, vom Paradies und seinem Verlust, von den
ersten Menschen, dem ersten Mord, der großen Flut, der ersten großen Stadt wird in den ersten
Kapiteln der Bibel erzählt. Es wird mythisch erzählt.
Mythen bewahren zeitlose Weisheit und verwandeln sie in Geschichten. Mythen sind niemals so
geschehen und doch immer wahr. Um das zu verstehen, muss man auf ihren Kern schauen. Mythen erzählen, wie die Welt ist und wie der Mensch ist, und warum die Welt und der Mensch so
sind, wie sie sind. Mythen begründen dies mit dem Wirken und Willen übermenschlicher, göttlicher Macht.
Mythen fanden die Vorfahren Israels vor, als sie begannen, eigene Erfahrungen mit dem Übermenschlichen zu machen. Und sie stellten fest, dass ihre Gotteserfahrungen sich von den Erfahrungen, die in Göttermythen aufbewahrt waren, auf eine spezifische Weise unterschieden. Die
Themen mochten die gleichen sein: Wo kommen wir her? Warum sind wir auf der Erde? Was ist
gut und böse? Wie lange wird die Erde bestehen? Was wird aus uns? Aber die Behandlung unterschied sich.
Israel erzählte ebenso wie seine Umwelt, dass die Welt durch göttliche Schöpfung entstanden sei
– aber nicht aus Kampf, sondern aus dem göttlichen Wunsch heraus, etwas Schönes und Gutes
zu schaffen.
Israel erzählte ebenso wie seine Umwelt, dass die Menschen in einem besonderen Verhältnis zur
göttlichen Macht standen – aber nicht als Diener, sondern als Partner.
Israel erzählte ebenso wie seine Umwelt, dass ein großer Regen beinahe alles Leben auf der Erde
vernichtet hätte, dass aber einer den Tipp bekam, ein Boot zu bauen. In den Mythen waren hier
verschiedene Götter am Werk – für Israel gab es nur einen. Und so erzählte Israel mit den Worten und Motiven des Mythos und erzählte doch anders.
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Für den, der diese Geschichten heute weitererzählt, heißt das: Er muss von einem besonderen
Gott und seinem besonderen Verhältnis zu den Menschen erzählen, von Fürsorge und Zuneigung. Er kann die mythischen Züge – Fremdheit, Zorn und Strafe – zurückdrängen. Die sind
nicht der Kern. Und wichtig ist: Mythos ist etwas ganz anderes als Geschichtsschreibung. Er ist
erzählte Weisheit.
Die Erzelterngeschichten (Gen 12 bis 50)
Die Geschichten von Abraham und Sara, von Isaak, von Jakob und seinen zwölf Söhnen sind Sagen und Sagenkränze. Aus ursprünglich einzelnen Erzähltraditionen wurde eine Generationenfolge zusammengestellt. So wurde erzählt, wie aus dem „umherirrenden Aramäer“ (Dtn 26,5) Abraham Schritt für Schritt unter Gottes Segen ein großes Volk wurde. Diese Konstruktion erzählt
den Juden bis heute ihre Heilsgeschichte. Für Christen sind die elementaren Gotteserfahrungen,
die in den Einzelgeschichten erzählt werden, beinahe bedeutsamer: die Erfahrung, dass Abrahams Aufbruch von Gott gewollt und begleitet war, dass er einen Sinn und ein gutes Ziel hatte;
die Erfahrung, dass Kinder um Gottes Willen nicht geopfert werden dürfen; die Erfahrung, dass
Gott selbst auf krummen Wegen mitkommt und Acht gibt – dass Gottes Segen kein Schild gegen
Schlimmes ist, aber ein steter Quell von Zuspruch, Trost und Kraft.
Für den, der diese Geschichte heute weitererzählt, heißt das: Er schaut genau hin, welche Gotteserfahrung er weitergeben will. Er erzählt von Menschen, die in entscheidenden Augenblicken
sagen: „Ich hoffe auf Gott“, „Oh Gott, hilf!“ oder „Das war Gott. Gott sei Dank.“
Die Mosegeschichten (von Exodus bis Deuteronomium)
Dass hebräische Nomadensippen hin und wieder nach Ägypten kamen, ist historisch greifbar.
Der große Nachbar mit seinen Nilschwellen und seinen Kornkammern war in Dürren und Hungersnöten das rettende Ufer. Zu Sklavenarbeit gezwungene Hebräer lassen sich angesichts der
Prunkbauten ägyptischer Pharaonen gut vorstellen.
In so einer Situation setzt das zweite Buch Mose, Exodus, an und erzählt das Urerlebnis des Judentums: Gott selbst konnte die Unterdrückung nicht länger mit ansehen. Er offenbarte sich Mose und beauftragte ihn, das „Volk Israel“ aus der Knechtschaft zu befreien und in ein Land zu
führen, wo „Milch und Honig“ fließt.
Historisch greifbar – da ist etwas geschehen. Symbolisch erzählt aber dennoch. Deutung sind
Gottes Rettungstaten, Deutung, dass er die Plagen sandte, Deutung, dass er das Meer teilte. Deutung, dass die Bewahrung in der Wüste von Gott kam und auch die Leiden und die Sterbefälle.
Deutung aufgrund von Erfahrung.
Für den, der die Geschichten heute weitererzählt, heißt das: Er erzählt nicht, was Gott getan
hat. Er erzählt, was die Menschen erlebten. Er bietet Deutung an – die Deutung Israels. Und
seine eigene. Und er setzt seinen Akzent da, wo er das allgemein Lebensdienliche entdeckt:
Gott, der parteiisch ist für die Unterdrückten, Gott, der ein Herz für die Schwachen hat, Gott,
der mit diesem Mose etwas anfangen kann, obwohl der jähzornig, schwerzüngig und zaghaft ist.
Gott, der eine besondere Beziehung zu diesem Menschen eingehen kann, so dass der die Erfah-
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rung macht: Gott ist für mich wie ein Freund. Er geht vorüber und ich sehe seine Spuren.
Die Königs- und Prophetengeschichten (1 Samuel bis 2 Könige)
In den Büchern Josua und Richter geht es weiter um das Geschick des Volkes Israel, des Volkes
Gottes. Nun siedeln sie im „gelobten Land“ in ständigem Konflikt mit den Nachbarn. Bearbeiter
haben ein starres Schuld-und-Strafe-Schema über die einzelnen Erzählungen gelegt, mit dem sie
Niederlagen und Siege deuten. Die Botschaft: Wenn ihr Gott untreu seid, straft er euch; wenn ihr
bereut und umkehrt, hilft er euch wieder. Abgesehen davon, dass dieses Schema ein verzerrtes
Gottesbild spiegelt – die Geschichten enthalten wenig Zeitloses.
Anders die Geschichten von Saul, David und Salomo, den drei ersten Königen Davids: Die Davidsgeschichte vornehmlich wird als Roman entfaltet, voller Höhen und Tiefen, menschlicher
Güte und menschlicher Schwäche. Und die Geschichte von David und Goliat wird gern als Parabel erzählt für die Möglichkeiten des Kleinen, wider alles Erwarten dem Großen und Starken zu
trotzen.
Für den, der heute von David oder auch von Propheten wie Elia, Jesaja, Jeremia erzählen will,
heißt es: Er erzählt von Menschen, die sich von Gott an ihren Platz gestellt, mit ihrer Aufgabe
betraut wissen. In Glück und Leid, Macht und Ohnmacht fragen sie nach Gott – daran lässt sich
lernen.
Weisheitsgeschichten
Und dann ist da noch die Weisheitsliteratur. Sie ist erzähltes Nachdenken über Gott und die
Welt, Gut und Böse, Gerechtigkeit und Gnade. Von König Salomo wird erzählt, dass Gott ihm
einen Wunsch gewährte und Salomo sich Weisheit erbat. Von Salomo dem Weisen erzählt man
sich u.a. die Geschichte von zwei Frauen, die sich um ein Kind stritten (1 Kön 3,16–28). Der
Weisheitsliteratur gehören das Buch Hiob und das kleine Prophetenbuch Jona zu. Das Buch Hiob
entfaltet erzählerisch die Frage, ob es Guten immer gut geht bzw. ob Leiden eine Strafe Gottes sei,
und das Jona-Buch ist ein erzählender Hymnus auf Gottes kreative Geduld.
Für den, der heute von Hiob oder Jona erzählt, heißt es: Er erzählt von fantasievoll konstruierten
Wechselfällen und sorgsam gestalteten Figuren, an denen Grundsätzliches deutlich wird. Ebenso
wenig wie im Mythos erzählt er tatsächliche Begebenheiten.
Die Evangelien
Um von Jesus zu erzählen, erfanden die frühen Christen eigens eine neue Gattung: die Evangelien. Erzählt wie eine Biografie, sind sie zugleich und vor allem Bekenntnis und Predigt. Von dem
Menschen Jesus, der in Israel gelebt, gepredigt und geheilt hat, der verurteilt und gekreuzigt wurde, können sie nicht erzählen, ohne ihn zugleich als Messias und Gottessohn zu deuten und verkündigen (vgl. Teil B).
Für den, der heute von Jesus erzählt, bedeutet das: Er erzählt „von rückwärts“. Er kennt den
Ausgang der Geschichte und seinen eigenen Standpunkt – für ihn ist Jesus lebendig – und so erzählt er zwar vom Menschen Jesus, aber immer auch das Besondere an ihm. Wie die Menschen
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damals über Jesus staunten und Anstoß nahmen, so staunen auch die Leser heute: Was sollen
wir nun glauben, wer er ist?
Vier Evangelien
Für den, der heute von Jesus erzählt, ist es wichtig zu wissen, dass er aus vier Versionen wählen
kann, die in unterschiedlicher Absicht und Haltung verfasst worden sind. Ganz grob kann man
unterscheiden:
Das Markus-Evangelium ist das älteste und kürzeste; es setzt mit Jesu Taufe ein und endet (ursprünglich) mit der Flucht der Frauen vom leeren Grab. Markus erzählt vom Menschen Jesus, der
immer deutlicher seine Aufgabe erkennt. Aus seiner Messianität macht er ein Geheimnis, das erst
nach seinem Tod aufgedeckt wird.
Das Matthäus-Evangelium ist etwas jünger. Es ist in der Absicht verfasst, Jesus als den in den alten Schriften vorausgesagten Messias kenntlich zu machen, ja: zu beweisen. Es setzt mit einem
Stammbaum ein, der von Abraham über David bis zu Josef, dem Vater Jesu reicht. Die Weihnachtsgeschichte des Matthäus stellt Josef in den Vordergrund. Weder Bethlehem noch Stall
noch Hirten kommen vor – jedoch die Weisen aus dem Morgenland, Herodes und die Flucht der
jungen Familie nach Ägypten.
Das Lukas-Evangelium wendet sich an die griechisch-römische Welt und zeigt ihr Jesus als ihren
Heiland und Erlöser. In seinem Auftreten ist Jesus sicher und sanft; Frauen, Kinder, Sünder, Aussätzige – sie alle finden bei ihm Nähe und Gehör. Das Lukas-Evangelium beginnt mit einer doppelten Engel-Botschaft: Gabriel verkündigt dem Priester Zacharias die Geburt Johannes des Täufers sowie der jungen Maria die Geburt des Jesuskindes. Es folgen das Gebot des Kaisers Augustus, der Weg von Nazareth nach Bethlehem, der Stall, die Hirten, die „Darstellung“ im Tempel.
Das Johannes-Evangelium ist das jüngste und inhaltlich sehr eigenständig. Es setzt mit einem philosophischen Mythos ein: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott.“ Jesus wird
dargestellt als einer, der sich seiner besonderen Abkunft und Aufgabe jederzeit bewusst ist. Er offenbart Gott, indem er sich selbst offenbart – diesen Zirkel können die einen (bedingt) nachvollziehen, viele andere aber nicht. Im Johannes-Evangelium finden sich die „Ich-bin“- Worte: Ich
bin der Weinstock; ich bin der gute Hirte; ich bin das Brot des Lebens …
Begegnungsgeschichten, Wunder, Gleichnisse
Innerhalb der Evangelien gibt es wiederum unterschiedliche Gattungen.
Es wird erzählt, wie Jesus Menschen begegnet – wie er Jünger beruft, mit Pharisäern und Schriftgelehrten streitet, die Kinder segnet.
Wer solche Geschichten heute erzählt, wird darauf achten, sich einen „Fluchtpunkt“ zu suchen:
Woraufhin erzähle ich? Was ist der Höhepunkt? Was ist die eine Aussage, die uns heute zum
Weiterdenken anregt?
Es wird erzählt, dass sich die Menschen über Jesus wunderten, z.B. wenn Lahme wieder gehen,
Blinde wieder sehen, Stumme wieder sprechen konnten nach der Begegnung mit Jesus.
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Wer solche Geschichten heute erzählt, wird offen lassen, was da geschehen ist. Das eine Extrem
– Zauberei – wird Jesus ebenso wenig gerecht wie eine gesucht natürliche Erklärung.
Er wird erzählt, dass Jesus übernatürliche Kräfte hat: Er wandelt über Wasser, er stillt den Sturm,
er begegnet dem Satan sowie Mose und Elia. Das sind Glaubensgeschichten, die die Gemeinde
nach Ostern sich erzählt hat, um das Besondere an Jesus zur Sprache zu bringen und für sich
selbst daraus Kraft und Mut zu schöpfen. Hier wird von Jesus so erzählt wie im Alten Testament
von Gott. Als sei es so fotografierbar und protokollierbar geschehen.
Zu diesen Verkündigungs- und Glaubensgeschichten gehören auch die Weihnachtslegenden: die
Engel über Bethlehem, die Engel bei Zacharias und Maria. Und selbstverständlich am Ende: die
Engel beim leeren Grab. Die Auferstehungsgeschichten.
Für den, der diese Geschichten heute erzählt, gilt: Vorsicht – nicht als „Nachrichten“ berichten.
Sondern ausdrücklich erzählen. Ganz subjektiv und ganz offen: Für mich bedeutet das … – und
was bedeutet das für dich …?
Jesus selbst erzählt Symbolgeschichten. Er sucht sich seine Stoffe im Alltag und erzählt sie bis zu
einem Punkt, an dem man hängen bleibt. Da ist meistens die „offene Stelle“, da kommt Gott ins
Leben. Wer solche Gleichnisse heute erzählt, tut gut daran, nicht alles mit allem vergleichen zu
wollen, sondern offen zu sein für das, was das Alltagsbild stört. Das ist in der Regel die Stelle, wo
es sich lohnt, nachzudenken und sich auseinanderzusetzen.
Wem welche Geschichte erzählt wird
Ein Gespräch zwischen der alten Bessie, die Patchworkdecken näht, einem alten Priester (Padre)
und der zwölfjährigen Zoe, die gerade erst zugezogen ist und erste Bekanntschaften schließt (Clay
Carmichael, Zoe © Carl Hanser Verlag München 2011):
Bessie sah mich an. „Der Padre kommt mit seiner Predigt nicht voran.“ „Sind Sie Prediger?“, fragte
ich ihn. „Offenbar nicht“, antwortete er. „Jedenfalls kein guter.“ „Die Gemeinde beschwert sich, er
würde jeden Sonntag dasselbe predigen“, erklärte Bessie. „Und im Grunde haben sie ja recht“, sagte
der alte Mann heiter.
„Sie sagen jede Woche dasselbe?“, fragte ich. „So ziemlich.“ Bessie stach ihre Nadel wieder in die Decke. „Ich sage ihm immer, er soll nicht damit aufhören, bis sie auf ihn hören.“
( … ) „Und was ist es, was Sie jeden Sonntag sagen?“, wollte ich wissen. „Dass wir Gott lieben sollen
und einander“, antwortete der Padre ganz sachlich. „Darum dreht sich alles.“ Ich fand, dass seine
Botschaft viel für sich hatte. ( … ) „Vielleicht“, schlug ich vor, „liegt es daran, wie Sie es sagen.“
Immer dasselbe – ja, diese Botschaft hat tatsächlich viel für sich: Gott lieben und den Nächsten
wie sich selbst. Jesus hat nichts anderes gesagt. Und auch wenn es bei mir ein wenig anders klingt:
Gott sucht, Gott stört, Gott bleibt ein Geheimnis – so läuft das auf Ähnliches hinaus.
Immer dasselbe – und doch immer anders. Jesus hat bald vom Samaritaner, bald vom verlorenen
Sohn, bald von den vergrabenen Funden erzählt – immer wieder dasselbe und doch immer wie-
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der anders. Und du und Sie – einmal wird von Abraham erzählt, ein anderes Mal von Mose, von
Jesu Bergpredigt oder wie er ein Kind in die Mitte stellte. Liebt Gott und liebt einander.
Dabei geht es freilich nicht nur darum, die Leute durch Abwechslung geschickt zu unterhalten. Es
geht auch darum, dass die einfache Wahrheit viele Facetten hat. Und dass jeder Hörer anders
hört – ein reicher Mann anders als ein armer, ein junger anders als ein alter, eine Frau anders als
ein Mann.
Heute sprechen wir von Zielgruppen und von Milieus. Ich erzähle eine Geschichte nicht um der
Geschichte willen (und wenn sie mir noch so gut gefällt), sondern um der Hörer willen. „Was
dem Leben dient“ heißt ganz konkret: „Was denen, die es hören, leben hilft“.
Bevor ich eine Bibelgeschichte aussuche und bevor ich mich dann entscheide, wie ich sie erzähle,
mache ich mir klar, wem ich sie erzähle. Und ich frage mich: Was müssen meine Hörer hören?
Wenn ich die Gruppe gut kenne, ist es leicht. Wenn ich nur die Altersangabe habe – nun, dann
halte ich mich an sie. Ich habe mir ein einfaches Schema zurechtgemacht, das sich aus verschiedenen empirischen Studien und Setzungen der Entwicklungspsychologie speist.
Zielgruppen
Kinder suchen Geborgenheit und haben zugleich Sehnsucht. Sie können staunen – sie suchen einen großen Freund. Beziehungsgeschichten sind wichtig, Geschichten von Verlässlichkeit und
Vertrauen. Und wie sich Gegebenheiten verwandeln wandeln können: schwach in stark, stark in
schwach, klein in groß, ängstlich in mutig.
Thematisch gut geeignet: Begegnungsgeschichten Jesu, Erzelterngeschichten, Geschichten vom
jungen David
Jugendliche wollen aufbrechen, ihre Kräfte erproben. Sie beginnen Neues und prüfen Altes. Sie
sind kritisch, suchen ihren Standpunkt, ihre Identität, aber auch Halt und Orientierung.
Thematisch gut geeignet: Aufbruch- und Protestgeschichten: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32),
Jakob sieht die Himmelsleiter (Gen 28), Jona, die Mosegeschichten
Junge Erwachsene sind in der „Tretmühle“: Erfolg, Status, Einkommen, Aussehen, Ansehen. Bin
ich gut genug? Wie lange werde ich so gut sein, wie ich bin? Wann wird mich ein Jüngerer überholen? Ach Gott – ein wenig Ruhe …
Thematisch gut geeignet: Heilungsgeschichten Jesu, Psalmen, Rut, der Mythos vom Turmbau zu
Babel zusammen mit der Pfingstgeschichte, der „Tierfrieden“ (Jes 11,6–9) und andere Prophezeiungen
Eltern machen sich Sorgen – um ihre Kinder. Um die Zukunft. Um das, was sie ihren Kindern
aufbürden und hinterlassen. Und dann: Die Kinder gehen eigene Wege. Sind sie fit genug? Warum nehmen sie nicht an, was die Eltern ihnen mitgeben wollen? Warum werden sie so ganz anders, als die Eltern sich das gedacht haben?
Thematisch gut geeignet: die Mythen der Urgeschichte (so wie es Eltern mit ihren Kindern ergeht, ergeht es Gott in diesen Geschichten mit seinen Geschöpfen, den Menschen!)
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Erwachsene halten bisweilen inne in ihrer Routine und fragen sich: War das schon alles? Ist da
nicht „mehr“? Wer sieht mich noch, wie ich war – und was wird aus mir? Worauf blicke ich zurück? Und was war der Sinn?
Thematisch gut geeignet: Begegnungsgeschichten Jesu, wie: Die Frau am Jakobsbrunnen (Joh
4,1–26), der reiche Jüngling (Mt 19,16–26), Symbolgeschichten, wie der reiche Kornbauer (Lk
16,16–21), der Schatz im Acker und die Perle (Mt 13,44–46)
Zielgruppengenau erzählen
Nun gibt es in der Bibel für all diese Sehnsüchte und Bedürfnisse passende und weniger passende
Geschichten. Einige besonders geeignete sind oben bereits vermerkt. Wichtig ist, nachdem die
Entscheidung für eine Geschichte gefallen ist, dass sie ausdrücklich so erzählt wird, dass der Berührungspunkt zwischen Geschichte und Zielgruppe deutlich wird und die Pointe der Geschichte
bildet.
So erzähle ich Abrahams Weggeschichte für Kinder aus Saras Perspektive und auf den Augenblick zu, da Abraham ihr sagt: „Mach dir keine Sorgen, ich weiß, dieser Aufbruch ist richtig.
Denn Gott selbst hat mir dazu den Segen gegeben.“
Oder den Aufbruch des „verlorenen Sohnes“ für Jugendliche: „Er musste es tun. Er musste fort.
Auf eigenen Füßen gehen. Sein Vater konnte ihn nicht halten. Wollte er ihn überhaupt halten?“
Oder den Schritt aus der bergenden Arche (für Kinder, aber auch für Erwachsene): Wie unsicher
die Schritte waren. Sie hatten zu lange still beieinander gehockt. Sie waren es nicht mehr gewöhnt, sich zu bewegen. Und frische Luft. Fast hatten sie Angst, Angst vor der Freiheit. „So lange
hat Gott uns beschützt“, sagte Sem, Noahs Sohn. Noah schaute zum Himmel und sah den Bogen,
einen Bogen aus allen Farben der Sonne. Wie er schillerte. Ein Versprechen. „Und er wird uns
weiter beschützen“, sagte er. „Komm, Sem, bauen wir einen Altar.“
Wie zum Beispiel …
Manche Geschichten sind schon so oft missverständlich erzählt worden, dass es kaum noch anders zu gehen scheint. Paradebeispiele hierfür sind die Sintflut, die Weihnachtsgeschichte, Jona
und die Paradiesgeschichte, aber auch in weniger auffälliger Weise führt das gewohnte Erzählen
häufig auf Abwege.
Die Sintflutgeschichte (Gen 5 bis 9)
Was haben wir? Der Bibeltext erzählt, dass Gott enttäuscht war von seiner Schöpfung, insbesondere von seinen Lieblingsgeschöpfen, den Menschen. Was genau ihn so sehr enttäuschte, steht da
nicht – wird aber gern interpretiert: Die Menschen „stritten sich“ immer, erzählt man den Kindern. Die Menschen „beuteten die Natur aus“, erzählt man den Älteren. Im Kontext der biblischen Urgeschichte ist bereits Folgendes geschehen: Die Menschen haben sich von Gott entfernt,
um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen (Paradiesgeschichte, s.u.), sie haben sich gegeneinander gewandt (Kain und Abel) und einander aus Missgunst Gewalt angetan. Es gibt Opfer.
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Der Bibeltext erzählt von einer Flutkatastrophe – das ist ein mythisches Motiv: Götter schicken
Wassermassen, um die „lästigen“ Menschen loszuwerden. Damit erzählten Menschen von einer
bestürzenden Grunderfahrung: Katastrophen bedrohen das Überleben; der Mensch ist machtlos,
der Fortbestand des Lebens nicht gesichert. Da ist es ein Trost: Diese Unsicherheit bedeutet nicht
das absolute Nichts. Sondern hier ist der Wille höherer Mächte am Werk.
Der Bibeltext erzählt weiter von Noah, einem Menschen, der Gott „recht“ war. Noah hat sich die
Nähe zu Gott bewahrt. Er kann ihn „hören“. Und er hört, wie er sich retten kann. Er baut eine
Arche und überlebt die Katastrophe zusammen mit seiner Familie und mit den Tieren.
Der Bibeltext erzählt weiter, dass Gott der Katastrophe Einhalt gebot, weil es ihm leid tat, seine
Schöpfung zerstört zu sehen. Dass Gott an Noah dachte und ihm den Weg aus der Arche in ein
neues Leben eröffnete. Und nun: dass er die Enttäuschung über seine Geschöpfe überwand und
erklärte, sie so, wie sie nun einmal seien, lieben und annehmen zu können.
Wie Eltern sich damit abfinden, dass ihre Kinder sich selbstständig machen und anders leben, als
sich die Eltern das je ausgemalt haben, so wird es hier von Gott erzählt: Ja, er sagt „ja“ zu uns.
Zeichen dafür: der Regenbogen!
Es ist wichtig, sich diese Elemente der Geschichte zunächst einzeln anzuschauen. Denn das Missverständnis entsteht aus der Zusammenschau. Die theologische Setzung – Gott ist einer und Gott
ist allmächtig – führt zu der paradoxen Annahme, dass Gott sowohl die Flut schickt als auch vor
ihr rettet. Und weil Menschen gern kausal denken, wird daraus ein einfaches Schuld-StrafeSchema: Die Flut ist eine Strafe für die Bosheit der Menschen. Die Rettung ist Lohn für den einen
Guten. Am Ende sind – die Bösen tot und die Guten leben weiter?? – Nein, ausdrücklich: Das ist
falsch! Dagegen spricht, was am Ende von Gott erzählt wird: Er findet sich ab mit der Selbstständigkeit des Menschen und dem Risiko, dass der Mensch seine Freiheit missbraucht. Und der eine
Gute – Noah – ist am Ende doch ein Mensch wie alle Menschen auch, ein wenig gut, ein wenig
böse, eigenverantwortlich im Guten wie im Bösen.
Dann hat Gott sich geirrt und ganz sinnlos so viel Leben zerstört? Diesen Eindruck erwecken leider die meisten Erzählungen der Sintflutgeschichte. Und das liegt daran, dass die Erzähler einfach
nicht deutlich machen, was sie wissen (sollten): dass hier ein Mythos erzählt wird. Die Pointe ist:
Gott nimmt uns an, so wie wir sind. Diese Pointe wird als Weg, als Geschichte erzählt, mit den
Motiven und Mitteln, die zur Verfügung standen. Katastrophen geschehen, das ist wahr. Aber
hier geht es nicht um eine bestimmte. Hier wird die Katastrophe als Mittel erzählt, um das Verhältnis Gottes zu seinen Geschöpfen erzählend zu deuten. Es ist möglich, dass in alten Zeiten
Menschen weniger Anstoß daran genommen haben, dass in dieser Geschichte so viele Menschen
zu Opfern werden. Heute aber nehmen die Hörer Anstoß daran. Mit Recht.
Daher: Erzähle / erzählen Sie um Gottes Willen ganz deutlich: Das ist nicht so passiert. Das ist
eine Weisheitsgeschichte im Gewand eines Mythos! Und dann entdecke /n Sie gemeinsam mit
den Hörern, was darin über das Verhältnis von Gott und Mensch gesagt wird.
Noch ein Wort zur Zielgruppe: Vollkommen zur Geltung kann der Kern der Geschichte mit Erwachsenen, mit Eltern kommen, die (s.o.) ihre Kinder lieben, wie sie sind. Dennoch ist die „Arche Noah“ dermaßen eine Symbolgeschichte für Kinder geworden, dass sie auch weiterhin Kin-
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dern erzählt werden wird. Dann aber ist es vernünftig, sich auf einen Teilaspekt zu beschränken:
Wie Noah seine Familie und die Tiere in der Arche rettet und wie Gott dann wiederum die Passagiere der Arche rettet und ihnen neues Leben ermöglicht – und garantiert.
Die Weihnachtsgeschichte (Lk 1 und 2, Mt 1 und 2)
Was haben wir? Lukas erzählt, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, in einfachsten Verhältnissen, und dass die ersten Zeugen seiner Geburt einfache Hirten waren. Dabei betont er, dass das
Geschehen, von unten betrachtet, ein ganz gewöhnliches war, das aber von oben her gedeutet
wurde: ein Engel bei Zacharias, ein Engel für Maria, Engel am Himmel über Bethlehem, damit
den Hirten ein Licht aufgeht.
Mit mythischen Mitteln überhöht Lukas eine irdische Geschichte. Er erzählt damit in eine Menschengeburt all das hinein, was er von Jesus, dem Christus, erkannt hat und glaubt.
Matthäus erzählt von Josef, einem Nachkommen Abrahams und König Davids, und von seiner
Braut, die unter ungeklärten Umständen schwanger wird. Und dass Josef gegen alle Gepflogenheiten bei ihr bleibt. Matthäus erzählt von dem Kind, das geboren wird, von Gratulanten und
Feinden.
Die gewöhnliche Geschichte einer anstößigen Schwangerschaft dient Matthäus vor allem dazu,
christologische Deutungen einzubringen: Dass Josef bei Maria bleibt, wird als himmlische Intervention erzählt. Der Engel deutet, was geschieht. Weitere Deutungen: Weise Männer von fern bei
dem Kind – nicht nur den Juden, sondern der Welt ist der Heiland geboren. Der Hass des Herrschers, die Flucht – hier wird erzählt, dass Prophezeiungen wahr werden. Allein darum geht es
Matthäus mit seiner Symbolgeschichte: Jesus ist der erwartete Messias!
Was machen wir? Alle Jahre wieder, in jedem Krippenspiel geschieht es: Die Weihnachtsgeschichten des Lukas und des Matthäus werden zusammengefügt zu einer pseudo-historischen
Idylle. Eine Wanderung mit Eselchen. Hirten und Könige gemeinsam an der Krippe. Nebenfiguren werden hinzuerfunden: hartherzige Wirte, arme Hirtenjungen, ein sprechender Esel, Schildkröten, Schweine … Die fantasievollen Ausgestaltungen zeigen: Auch wir erzählen gern Geschichten. Und: Zur besonderen Stimmung von Weihnachten tragen sie bei und sind sehr willkommen.
Problematisch wird es wiederum, wenn das Missverständnis genährt bzw. nicht ausgeräumt wird,
dass diese legendenhaften Züge Anspruch auf Historizität erheben.
Jesus hat gelebt! Das ist Fakt und ist wichtig. Folglich ist Jesus auch geboren worden wie jedes
Menschenkind. Die Bedeutung, die diese Geburt hatte, können wir uns dann ausmalen, immer
wieder neu. Sie soll aber nicht an märchenhafte Klischees gebunden sein – denn sie ist gültig bis
heute. Und das vor allem musst du / müssen Sie überbringen!
Jona
Was haben wir? Eine Weisheitsgeschichte, die deutlich macht, wie Gott eingreifen kann, wenn
die Dinge in der von Gott selbstständigen Menschenwelt aus dem Ruder laufen. Da wird eine
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Stadt vor Augen gemalt, in der Böses geschieht. Wie in der Sintfluterzählung wird dieses Böse
nicht genauer qualifiziert. Die Nacherzähler entfalten gern die Themen Streit und soziales Unrecht. Sagen wir: Es gibt Opfer. Opfer, erzählt die Geschichte, mag Gott nicht, und so unternimmt er etwas. Er aktiviert einen Propheten.
Jona ist einer, der weiß, dass Gott keine Opfer mag. Einer, der von Ninive gehört hat, dass es dort
Opfer gibt. Einer, der das Gefühl hat, er müsste etwas tun („Gottes Stimme“). Der sich dann aber
doch vor der Größe der Aufgabe fürchtet und lieber weit fortgeht. Der später in sich geht (in den
Fisch) und umkehrt und Gottes Willen tut.
Jona rettet Ninive: Aus Tätern und Opfern wird eine neue heile Gemeinschaft. Jona hat sich derweil in ein Schuld-Strafe-Schema hineingeredet und -gesteigert, das ihn daran hindert, sich über
Ninives Heilung zu freuen. Zerstörung will er sehen, nicht Rettung. Und Gott greift noch einmal
ein und ermutigt ihn (wie der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn dem älteren Sohn zuredet
und Jesus den Frommen und Pharisäern): Freu dich doch, dass das Verlorene gefunden, das Kaputte geheilt ist. Warum kannst du dich nicht freuen?
Ja, das ist die Weisheitsgeschichte von Jona. Aber leider wird sie immer wieder anders erzählt: Als
habe Gott strafen wollen – Jona für seine Flucht, Ninive für seine Bosheit. Als habe Gott seine
Meinung geändert. Als habe es Jona historisch wirklich gegeben, alle Stationen seines Weges und
auch protokollierbare Eingriffe Gottes.
Missverständnisse – allesamt. Und sie verstellen den Blick auf die wahre Herausforderung: So
wie Jona können auch wir Gottes Stimme hören – nämlich: wissen, was gut und was böse ist –
und können uns durchringen, den Mund aufzumachen. Und, mit Gottes Hilfe: Wir können sogar
Erfolg haben. Und dann – dürfen wir uns freuen!
Die Paradiesgeschichte (Gen 2 und 3)
Was haben wir? Einen Garten, ein Schlaraffenland. Keine Schuld, keine Mühsal, keinen Hunger
oder Durst. Nur Leben, Leben in Fülle. So ist das in der Nähe Gottes.
Menschen, die anfangen, selbst zu denken, selbst zu urteilen. Und die am Ende nicht mehr hineinpassen in diesen Rundum-Sorglos-Garten. Die sich entfernen. Von Gott. Vom Schlaraffenland.
Erzählt wird dieser Prozess des Erwachsenwerdens als Mythos: Von einem Tabu ist die Rede, einem Verbot Gottes, von Verführung und von der Verletzung des Tabus. Von der darauf folgenden Strafe – Gottes Fluch.
In diesen Mythos verpackt sind die eigentlich spannenden Gedanken: wie es die Menschen treibt,
das Verbotene zu erproben. Wie die Menschen versagen, indem sie einander verraten, die Schuld
weiterschieben, anstatt zu ihrer Schuld zu stehen. Und schließlich: Wie Gott ist. Er lässt sie gehen,
doch nicht ohne Segen: Er machte ihnen Kleider von Fellen.
Dieser Mythos macht mit seinen Mitteln, also auf erzählerische Weise, deutlich: Das Leben der
Menschen auf der Erde ist schwer, ist mühselig, ist von Krisen und Auseinandersetzungen geprägt. Und das liegt nicht an Gott. Das liegt daran, dass der Mensch so ist, wie er ist: auf Selbst-
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ständigkeit bedacht, auf Grenzen-Erproben, auf Eigenmächtigkeiten. Diese Entfernung von Gott
hat Konsequenzen. Der Mensch muss damit leben; es gibt kein Zurück. Aber Gott geht ihm nach.
Stattdessen konzentrieren sich die Erzähler oft darauf, vom Zorn Gottes (der kommt gar nicht
vor!) zu erzählen, von Schuld und Strafe und – wiederum! – so, als sei das protokollierbar so und
nicht anders geschehen.
Gäben sie diese Geschichte zum Deuten frei, zur Entdeckung der Natur des Menschen und seines Verhältnisses zu Gott – wie viele Missverständnisse wäre vermieden!
Die Paradiesgeschichte ist keine Geschichte für Kinder. Jugendlichen kann sie Mut machen und
Augenmaß ans Herz legen beim Aufbruch. Eltern kann sie helfen, loszulassen – jedoch nur,
wenn sie erzählt wird ohne Strafe und ohne den „zornigen“ Gott. Als Parabel des Erwachsenwerdens.
Wie Kinder sie missverstehen, belegen übrigens schriftliche Nacherzählungen von Viertklässlern.
Die Geschichten erzählen alle – sachgemäß – vom Versagen der Menschen. Um dann in Verzweiflung zu enden: „Da hat Gott die Menschen für immer von sich getrennt.“
Sie wissen / du weißt es wohl besser: Hat er nicht! Zeit, das auch so zu erzählen!
Subjektiv, deutlich, offen
Es mag anschaulich geworden sein, worum es geht. Welche Bibelgeschichte auch immer erzählt
werden soll: Es gilt, vor dem Erzählen genau hinzuschauen. Was ist der Kern, was ist die Wahrheit, die sich lohnt? Was kann hindern, diesen Kern zu erkennen? Welche Missverständnisse
sind zu vermeiden? Erzählen wir deutlich!
Es gilt, die Position des Erzählers klar zu benennen. Erzählt wird nicht objektiv – wir lesen nicht
aus der Zeitung. Erzählen wir subjektiv: So haben es Menschen erlebt und empfunden. So empfinde ich – als Erzähler – es heute und so gebe ich es euch weiter –
… zum Bedenken! Es gilt, unabgeschlossen zu erzählen – nicht so, als wüssten wir, sondern so,
wie es ist: Wir glauben, wir ahnen, wir leben davon. Aber wie ist das mit den Hörern? Die sind
gefragt: Glaubst du das auch? Oder glaubst du das anders? Was empfindest du? Und was überzeugt dich? Sag mir deine Fragen. Lass uns gemeinsam auf die Suche nach Antworten gehen. Erzählen wir offen!
© Martina Steinkühler, in: Dam, H., hg., Aktiv in der Gemeinde, Göttingen 2012
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Zum Beispiel: Jesus Christus
Warum feiern wir Weihnachten? Weil Jesus geboren wurde. Und dass sich zu diesem
Fest die Menschen etwas schenken, hat ursprünglich mit der Freude über die Geburt
Jesu zu tun. Von ihm ging von Anfang an eine starke Faszination aus. Es war die Art
und Weise, wie er auf andere Menschen zuging. Er kümmerte sich in besonderer
Weise um die Armen. Jesus sorgte sich um Menschen in sozialen Notlagen, um Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten. Er war aber auch für die Reichen da – die
nach dem Sinn ihres Lebens suchten oder es durch Betrug zu etwas gebracht hatten.
Die Art und Weise, wie Jesus von Gott redete, ließ manchem den Himmel auf Erden
entstehen, als ob das verheißene Reich Gottes schon jetzt angebrochen wäre.
Was muss ich tun, um Gott nahe zu sein? Auf diese Frage geben die Weltreligionen
unterschiedliche Antworten. Nicht selten geht es um das Einhalten bestimmter Regeln und Frömmigkeitsübungen. Anders bei Jesus. Er steht dafür ein, dass jeder
Mensch einen Zugang zu Gott hat, der nicht daran geknüpft ist, dass bestimmte Bedingungen vorher erfüllt werden müssten: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig
und beladen seid; ich will euch erquicken“ (Matthäus 11,28).
Jesus setzt Zeichen: Zum Beispiel segnet er Kinder und stellt Frauen den Männern
gleich. Er geht zu den Menschen, sucht sie dort auf, wo sie leben, gibt sich sogar mit
Prostituierten ab. Er durchbricht religiöse, soziale, politische Schranken, indem er mit
Zöllnern und Sündern bei Tisch zusammen sitzt, isst, trinkt und betet. Er zeigt damit:
Jeder Mensch hat eine Würde – von Gott.
Kein Wunder, dass vielen Menschen buchstäblich ein Licht aufging. Gott nimmt
mich so an, wie ich bin. Aber ich muss nicht so bleiben, wie ich bin. Jeder Mensch
kann sich ändern. „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht
wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben“, sagt Jesus (Johannes
8,12). Wo ein Licht angezündet wird, wird es hell. Weihnachten heißt: Jesus ist wie
ein Licht für die, die im Dunkeln leben. Und wenn sich Menschen einander zuwenden, dann sorgen sie dafür, dass es beim anderen hell wird. Wo das geschieht, ist alle
Tage Weihnachten.
Hat Jesus wirklich gelebt? Auf diese Frage geben neben den vier Biographien im Neuen Testament, den Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes vor allem
außerchristliche Quellen Aufschluss. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass Jesus gelebt
hat. Dass er ein Produkt religiöser Phantasie sein könnte, vermuteten nicht einmal die
schärfsten Kritiker des Christentums.
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So schreibt der römische Historiker Tacitus (55–120 n. Chr.): „Christus war unter der
Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus zum Tode verurteilt
worden“ (Annalen 15,44). Pontius Pilatus gilt als historisch verbürgte Figur. Auch der
jüdische Historiker Josephus kommt auf Jesus zu sprechen. Im Jahre 62 n. Chr. „versammelte Annanias den Hohen Rat, ließ Jakobus, den Bruder Jesu, des sogenannten
Christus, und einige andere vorführen, erhob gegen sie Anklage als Gesetzesübertreter und ließ sie steinigen“ (Altertümer 20,9).
Und im jüdischen Talmud ist nachzulesen: „Am Vorabend des Pesachfestes hängte
man Jesus“ (Sanhedrin 43a). In seiner Biographie über Nero schreibt der römische
Historiker Sueton: „Mit Todesstrafen wurde gegen die Christen vorgegangen, eine
Sekte, die sich einem neuen und gefährlichen Aberglauben ergeben hatte.“ Und in der
Biographie über Kaiser Claudius schreibt er von diesem: „Die Juden vertrieb er aus
Rom, weil sie, von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhe stifteten.“
Chrestus heißt übersetzt „der Freundliche“. Damit ist Christus gemeint (wörtlich
übersetzt: „der Gesalbte“, „der mit Salböl Behandelte“). Unter dieser Bezeichnung
kann man sich in Rom möglicherweise nichts vorstellen, so dass Christus in Chrestus
umgewandelt wurde. Zwar beklagt der Kirchenlehrer Tertullian zu Anfang des 3.
Jahrhunderts, dass Christen fälschlicherweise als „Chrestianer“ bezeichnet wurden,
doch ist die in Chrestus enthaltene Wesensbestimmung keineswegs falsch, wenn man
Jesu wohltätiges Verhalten vor Augen hat.
Über den historischen Jesus lässt sich allerdings keine lückenlose Biographie schreiben, denn was über ihn gesagt wird, hat nicht selten Bekenntnischarakter, liefert eine
bestimmte Deutung gleich mit. Wo in der Geschichte der Kirche und der wissenschaftlichen Theologie versucht wurde, eine Biographie Jesu zu schreiben, sagen die
jeweiligen Texte mehr über den Verfasser als über Jesus aus.
Was wir aus den Evangelien wissen: Jesus war Jude und wurde in der Regierungszeit
Herodes des großen vermutlich im Jahre 7 v. Chr. geboren – und zwar in seiner Heimatstadt Nazareth in Galiläa (Markus 1,24; 6,1). Die bei Matthäus und Lukas berichtete Geburt Jesu in Bethlehem muss als theologische Ortsangabe verstanden werden.
Es handelt sich um eine Glaubensaussage, die sich auf die Verheißung des Propheten
Micha (5,1) bezieht, wonach der Messias wie einst David in Bethlehem geboren
werde.
Die Eltern Jesu waren Maria und Josef. Er hatte vier jüngere Brüder und einige
Schwestern. Wie sein Vater übte er den Beruf des Zimmermanns aus. Seine Muttersprache war Aramäisch, doch konnte er die in hebräischer Sprache abgefassten biblischen Texte lesen. Er ließ sich im Jordan taufen, nachdem er mit der Buß- und Tauf-
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bewegung des Johannes in Berührung gekommen war. Hier hatte er auch sein Berufungserlebnis.
Die Zeitspanne des öffentlichen Auftretens Jesu – in Galiläa und in Jerusalem – dürfte
sich auf etwas mehr als ein Jahr beschränken. Im Jahre 30 wurde er während der Passahfeiertage zum Tode verurteilt und am Kreuz hingerichtet. Jesus hat selbst nichts
Schriftliches hinterlassen. Was man sich von ihm erzählte, seine Worte und was Menschen mit ihm erlebten, ist er später aufgeschrieben worden.
Bleibt noch eine Frage: Ist Jesus wirklich auferstanden? Kann es eine Auferstehung
von den Toten als ein reales Geschehen tatsächlich geben? Für das Neue Testament
steht fest, dass es sich bei der Auferstehung Jesu um ein historisches Ereignis handelt,
mit dem die Geschichte des Christentums ihren Anfang nahm. Dass Jesus der verheißene Messias ist, lässt sich nur vor dem Hintergrund behaupten, dass er auferweckt
wurde. Und wäre er nicht auferweckt worden, so hätte sein Tod keine Heilsbedeutung. Jesus wäre mit seiner Mission gescheitert. „Ist aber Christus nicht auferstanden, so
ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch einer Glaube vergeblich“, ist Paulus überzeugt
(1. Korinther 15,14).
Es fällt auf, dass alle Berichte Jesu Auferstehung nicht als die Rückkehr eines Toten in
das irdische Leben beschreiben, nicht von der Wiederbelebung eines Toten ausgehen.
Vielmehr geht es um eine Verwandlung zu einem neuen, unvergänglichen Leben.
Dies wird schon an der Wortwahl sichtbar, die hier verwendet wird. Die Rede von der
Auferstehung beziehungsweise Auferweckung drückt das Geschehen metaphorisch
aus. Wie man vom Schlaf aufsteht oder geweckt wird, so soll es analog auch den Toten einmal widerfahren. Mehr noch als Auferstehung drückt Auferweckung aus, dass
ein Geschehen am Menschen vollzogen wird, der Objekt ist. Im übertragenen Sinne:
dass Gott handelt und nicht der Mensch aus eigenem Vermögen.
Die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer Auferstehung von den Toten
hängt letztlich damit zusammen, ob nur das geschehen kann, was sich menschlicher
Erkenntnis voll und ganz erschließt. Es kommt auf das Wirklichkeitsverständnis an.
Die biblische Sprache mit ihren Gleichnissen und Metaphern weist über das Empirisch-Faktische hinaus. Der Osterglaube ist nicht entstanden, weil bewiesen werden
konnte, dass das Grab leer war. An keiner Stelle berufen sich die Jünger Jesu auf das
leere Grab, sondern stets auf die Begegnung mit dem Auferstandenen. Der Vorgang
der Auferweckung fand jenseits menschlicher Beobachtung statt. Die Auferstehung ist
als Wunder verstanden worden, als Eingreifen Gottes in unsere Welt, menschlichem
Begreifen entzogen und dennoch nicht unzugänglich.
© Udo Hahn in: Das kannst du glauben. Für Konfis und Konfirmierte. Göttingen 2008
43
4 Von der Idee zum Unterrichtsentwurf
Einleitung
Wo spricht der „Stoff“ mich / mein religionspädagogisches „Ich“ an?
Die Lehrperson
Zielgruppe
Die Subjekte
Lernens
Wer sind die Kinder? Welche Unterrichtsbedingungen, -voraussetzungen finden sich in „meides
ner“ Klasse?
(schulischer und sozialer Kontext, religiöse Sozialisation, Verstehensstrukturen,
Vorwissen.
Kontext im RU)
Sachanalyse
Der Stoff
Wo berührt der „Stoff“ wichtige Bibelthemen /
theologische Themen?
Was ist daran heute und hier, für mich und
meine Kinder der Kern?
Didaktische Analyse
Wie verstehen Kinder den „Stoff“?
Wo finden Kinder Antwortwege auf ihre großen
Fragen?
Was also ist mein Unterrichtsthema, mein Unterrichtsziel?
Unterrichtsplanung
Wie kommen wir in eine fruchtbare Begegnung
„Kinder“, „Stoff“, „Thema“?
Wie lege ich die Stunde an?
In welchen Schritten plane ich den Lernweg?
Kompetenzen und
mehr
Welche Kompetenzen üben die Kinder, welches
Wissen eignen sie sich an? Welche Haltungen
werden angebahnt?
44
Einen Unterrichtsentwurf schreiben (L1)
1 Einleitung
Einleitung
Wie bin ich auf mein Thema gekommen? Was ist mir wichtig daran? Welche elementare Wahrheit …?
Welche Zugänge habe ich und welche Vorerfahrungen bringe ich mit?
2 a Situative Voraussetzungen
Was finde ich vor?
Die Lerngruppe: Zusammensetzung, Altersstruktur, Lernvoraussetzungen, Arbeitsklima, Interessen,
Herausforderungen, elementare Zugänge zu Themen des RU / zum Lernen und Verstehen?
Die Lernumgebung: Schule / Schulkonzept, soziale Milieus, Raum und Raumgestaltung, Zeit und Zeitgestaltung?
Die Lerngruppe im RU: elementare Zugänge, Störungen, besondere Prägungen und Interessen?
Der Kontext meiner Stunde: Welche Vorkenntnisse sind vorhanden (außerhalb der aktuellen Unterrichtseinheit? Welche Arbeitsformen sind bekannt?)
2 b Die Unterrichtseinheit (in der meine Stunde ein Teil ist)
Wo steige ich ein?
Warum und wozu wurde diese Einheit ausgewählt – bezüglich …
des Curriculums,
der Ziele, Kompetenzen
des pädagogischen und aktuellen Kontexts
ihrer Relevanz für die Kinder / das Fach?
Wie ist die Einheit aufgebaut und welchen Eigenwert
a. haben darin die einzelnen Stunden
b. hat darin meine Stunde??
3 Sachanalyse
Was muss / kann ich über den gewählten Stoff wissen?
Die fachwissenschaftliche Einordnung: exegetisch-hermeneutisch / kirchengeschichtlich / systematisch
/ religionswissenschaftlich / sozial-, kultur-, humanwissenschaftlich
führt zu einer theologischen Interpretation des Unterrichtsgegenstands
(Hier bereits elementarisieren! Nicht wissenschaftliche Vollständigkeit in der Ausführung, sondern ein
Überblick mit rotem Faden – z.B. drei Leitfragen / Schwerpunkte – ist hier gefragt!)
45
4 Didaktische Analyse
Jetzt kenne ich den Stoff und die Kinder – wie bringe ich beide zusammen?
Wo berühren sich die Interessen der Kinder und die Möglichkeiten des Stoffs?
Welche Aspekte des Stoffs wähle ich aus (didaktische Reduktion) und warum? (Elementare
Fragen)
Was können die Kinder lernen? Und: Was haben sie davon?
Wie wird meine Rolle als LehrerIn in dem Lernprozess aussehen, was sind meine Aufgaben
dabei? Wo schlägt mein Herz?
Wie kann der Lerngegenstand in seiner Form von den SchülerInnen ihnen gemäß wahrgenommen werden? (Elementare Zugänge)
Welches Unterrichtsmaterial(ien) soll(en) für den Lernprozess zur Verfügung stehen? (Biblischer oder anderer Text, Bild, Musik, Gegenstand …)
5 DidaktischDidaktisch -methodische Strukturierung
Jetzt weiß ich, was gelernt werden kann – wie initiiere und begleite ich den Lernprozess?
a. Diskussion der Möglichkeiten
Mit welchen Arbeitsformen will ich den Lernprozess ermöglichen? (Gespräch, Beschreibung,
ästhetische Gestaltung, Interpretation, Malen, Debatte, Internetrecherche ... in Einzelarbeit,
Gruppenarbeit, Plenum, Lehrervortrag, Schülerpräsentation ...)
Welches Methodenensemble soll die Stunde struktuieren?
Welche alternativen Möglichkeiten kann ich entwickeln? (Begründen Sie, warum Ihnen die
gewählte Variante am besten erscheint.)
Begründung der Methoden (Didaktisch-methodischer Zusammenhang)
Welche Medien werden benötigt? (Schulbuch, Tafel, OHP, Instrumente, Farbstifte, Computer,
Tücher, Puppen, Arbeitsblätter …)
b. Echt-Planung
Aufbau und (ungefähre) Zeitplanung der Unterrichtsstunde
Können die SchülerInnen den geplanten Unterricht durch Hausaufgaben vorbereiten, vertiefend begleiten oder zur Sicherung der Ergebnisse nachbereiten? Wie könnten die Hausaufgaben aussehen?
Welche Schwierigkeiten könnten im Verlauf auftreten?
46
6 Kompetenzen
Ich fasse zusammen bzw. bringe es auf den Punkt
Was können die Kinder (nachweisbar!) nach der Stunde (besser), was sie vorher noch nicht
(so gut) konnten?
Welche Inhalte können sie wiedergeben, deuten, in ihren Erfahrungsschatz integrieren?
Wo sind Fortschritte, z.B. in Methoden-, Ich-, Sozial-, Kommunikations-, Urteilskompetenz
angebahnt / belegbar?
7 . Verlaufsplan
8. Anhang: Literatur, Arbeitsmaterial, Tafelbilder, Sonstiges
Beispiel für einen Unterrichtsentwurf
Der folgende Entwurf ist nicht vollständig: Fußnoten und Literaturhinweise fehlen; die
„Kompetenzen“ sind nicht ausgearbeitet. Das Spiel ist nicht erprobt. Auch in den einzelnen
Abschnitten wäre bisweilen noch Weiteres zu sagen (s. Fragenliste). Der Entwurf zeigt aber
exemplarisch, wie die einzelnen Teile ineinandergreifen und wie viel Reflexion einer Stundenplanung vorausgeht. Am Ende finden Sie Literaturempfehlungen für Ihren Entwurf.
Nächstenliebe – wie Jesus sie meint (Klasse 3)
1 Einleitung
Nun soll ich „Jesus Christus“ unterrichten – und im Seminar haben wir uns viel Mühe gegeben, herauszuarbeiten, wie komplex das ist: Jesus ist nicht einfach ein „guter Mann“ – man
muss sich vom Ende her annähern: Weil mit dem Kreuz nicht Schluss war und die Menschen
nach Ostern erst recht begannen, von Jesus zu erzählen, weil sie ihn Messias nannten, Gottes
Sohn, Heiland, Erlöser und Herr – deshalb reden wir auch heute von ihm und deshalb gehört
er in den Religionsunterricht.
Ich habe aber Lust, noch weiter auszuholen, und direkt von heute herzukommen: Christliche
Nächstenliebe gilt als besonderer Wert, manchmal belächelt, oft bewundert. Das kann eine
Perspektive für meine Schüler sein, gerade in einer kalten Umwelt wie unserer, wo jeder an
sich denkt und helfen oft als „uncool“ gilt.
Wenn ich zeige, wie Jesus Nächstenliebe lebte – vielleicht können die Sch das attraktiv finden
und vielleicht prägt es sie, auch wenn ich ohne moralischen Zeigefinger ankomme? Das will
ich versuchen. Meine didaktische Idee heißt: „Nächstenliebe à la Jesus – heute attraktiv?“
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2 a Die Kinder
Die 3c ist eine muntere Gruppe, 13 Mädchen, 8 Jungen, die seit der ersten Klasse zusammen
sind. Nur Alina ist durch Zuzug am Anfang des Schuljahrs neu hinzugekommen. Sie hat
rasch Anschluss gefunden und gehört zu den leistungsstärksten Kindern der Klasse.
Die Klassengemeinschaft ist aufgrund des großen Engagements der Klassenlehrerin gut gefügt; die Schülerinnen und Schüler gehen lebhaft, bisweilen ruppig miteinander um; es gibt
einen tollen Zusammenhalt nach außen, auch wenn die inneren Beziehungen nicht sonderlich tief gehen. Es gibt kaum enge Zweierfreundschaften, aber auch keine Cliquen, die sich
gegenseitig ablehnen. Besondere Mühe hat sich die Klassenlehrerin, wie sie mir erzählte gegeben, Luise, Karl und Alissa einzugliedern, die durch ihr Äußeres und ihr Verhalten auffällig sind und daher in anderen Gruppen vielleicht Mobbing-gefährdet wären.
Lernklima
Den Religionsunterricht besuchen alle gemeinsam, denn ein alternatives Angebot gibt es an
der Schule nicht und kein Erziehungsberechtigter hat sein Kind bisher abgemeldet. So besteht die Gruppe aus drei evangelisch freikirchlichen Kindern (Luise, Marion und Karl); acht
evangelisch lutherischen, vier katholischen Kindern sowie fünf Kindern ohne Konfession;
Alina gehört einer hinduistischen Gruppierung an.
Die Klasse ist die ersten zwei Jahre von der Klassenlehrerin auch in Religion unterrichtet
worden (fachfremd); seit Beginn des dritten Schuljahrs hat eine Pastorin den RU übernommen, was zu gewissen Schwierigkeiten geführt hat: Die Pastorin zeigt offen ihre Abneigung
gegen den religionskundlichen und unspezifischen RU ihrer Vorgängerin; die Kinder wiederum reagieren befremdet auf die „Abfrage“ von Bibelgeschichten und Glaubenswissen.
„Das hatten wir nicht“ und „Das wollen wir nicht“ liegen eng beieinander. Es ist
vorhersehbar, dass sich bald auch die Eltern einschalten werden; Alinas Mutter und Antons
Eltern haben mich bereits einmal darauf angesprochen, ob man neuerdings „glauben müsse“,
um im RU eine gute Note zu bekommen.
Ich habe bisher im RU nur hospitiert; die Aufgabe, eine Unterrichtseinheit „Jesus Christus“
zu übernehmen, habe ich, glaube ich nur, bekommen, weil die Uni das verlangt. Die Pastorin
gibt nicht gern das Heft aus der Hand.
Lernvoraussetzungen
Neulich habe ich anlässlich einer Einheit über Gottesbilder einen Einblick in den kognitiven
Entwicklungsstand der Kinder bekommen können.5 Die meisten Kinder sind gerade irgendwo zwischen den Stufen 2 und 3 nach Piaget6 bzw. Oser / Gmünder7 – sie schaffen es bereits
ganz gut, Bilder von Gott symbolisch zu verstehen; fallen aber oft auch noch zurück in ein
wörtliches Verstehen.8
Die Sch sind durch ihre Klassenlehrerin offene Unterrichtsformen gewöhnt; in Deutsch und
Mathe machen sie Wochenplanarbeit, in Sachunterricht und Religion oft Stationen- oder
5
6
7
8
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Freiarbeit.9 Die neue Religionslehrerin arbeitet eher lehrerzentriert und kämpft entsprechend
mit Aufmerksamkeitsproblemen.
Ich habe Sorge, wie ich mit der Gruppe umgehen kann – ob sie schon wieder einen anderen
Unterrichtsstil hinnehmen werden?
2b Die Unterrichtseinheit
Die Stunde zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter, die ich für diese Arbeit entwerfe,
wird die vorletzte Stunde in einer Einheit „Nächstenliebe“ sein, die fünf Stunden (= Doppelstunden) umfasst.
Die Doppelstunden haben folgende Überschriften:
1. „Nächstenliebe: was ist das?“
2. „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“
3. „Kommt her zu mit alle, die ihr mühselig und beladen seid!“
4. „Wer ist mein Nächster?“
5. „Ich habe keinen Menschen …“
In (2) werden biblische Grundtexte des gelingenden Miteinanders entdeckt (Es ist dir gesagt,
Mensch, Micha 6,8; die Zehn Gebote. In (3) wird erkundet, wie Jesus selbst diese Gebote erfüllt (Heilandsruf, Mt 11,28–30, und Bartimäus, Mk 10,46–52), und in (3) erfahren die Kinder, wie Menschen nach Jesu Maßstab handeln können (der barmherzige Samariter, Lk
10,25–37).
Der Rahmen der Einheit – (1) und (5) – verortet das Thema in der Lebenswelt: Einem erfahrungsbezogenen Einstieg entspricht am Ende ein achtsamer Blick auf den einzelnen Schüler
sowie die Lebenswelt: Wo bin ich auf andere angewiesen? Wo brauchen andere Menschen
mich?
Die gesamte Einheit zielt auf achtsamen Umgang miteinander. Dazu üben wir Empathie. Es
soll nicht moralisiert, sondern erkannt werden: Wer sich geliebt weiß und aus Liebe handelt,
handelt ganz von selbst liebevoll – und damit heilsam. Jesus beansprucht – wie Gott (!) –
nicht unsere Opfer, sondern unser Herz.
3 Sachanalyse
Die letzte Aussage ist bereits das Ergebnis der Sachanalyse, die sich auf drei Schwerpunkte
konzentriert:
a) Biblische / christliche Ethik: Der Mensch vor Gott – der exemplarische Mensch Jesus
b) Gleichnisse verstehen – den „barmherzigen Samariter“
c) Der barmherzige Samariter – Wo setze ich Schwerpunkte?
9
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3a Der Mensch vor Gott – der exemplarische Mensch Jesus10
Während ich Fachliteratur zu diesem Thema suche, höre ich mit einem Ohr eine Episode,
die die Radiosprecherin erzählt: Ein kleines Mädchen durfte mit dem Vater den Weihnachtsbaum aussuchen. Und sie trugen dann einen Baum zur Kasse, der äußerlich recht
kümmerlich aussah – krumme Spitze, kahle Stellen, unregelmäßiger Wuchs. Da sagte die
Verkäuferin zum Vater: „Ist doch schön, dass Ihre Tochter Mitleid hatte. Der wäre sonst
noch zu Ostern hier gewesen …“ – So wie dieses kleine Mädchen, denke ich, verhält sich
Gott zu uns: Nennen wir es Gnade, Erbarmen oder einfach Liebe. Wir können krumm und
schief sein, innerlich wie äußerlich – Gott nimmt uns an. Das erzählen die
Erwählungsgeschichten (Abraham11, Jakob12, David13, Jesaja14, Jona15).
Gottes Liebe als Anfang
Das erzählt aber auch die Urgeschichte. Als Adam und Eva das Paradies verlassen, macht
Gott ihnen Kleider (das ist ein Zeichen für Schutz und Begleitung); als Kain in sein Exil aufbricht, gibt Gott ihm ein Schutzzeichen mit auf den Weg, als die Welt an ihrer Bosheit beinahe erstickt wäre (Sintflut), stellt Gott seinen Bogen in den Himmel – er garantiert Bewahrung und bietet seinen Bund.16
Diese feste, haltbare Beziehung Gottes zu den Menschen hat ihren Ausgangspunkt in der
Schöpfung. Aus freien Stücken schafft Gott die Welt und darin den Menschen, ihm zum Gegenüber. Gott will den Menschen – und er will ihn eigenständig und mit freiem Willen. Die
Lehre von Gottes Unveränderlichkeit17 hat hier ihren guten Sinn: Daran wird sich nie etwas
ändern.
Der Mensch ist nicht Gott
Damit kommt auch die andere Seite in den Blick: Der Mensch ist eigenwillig. Er strebt danach, selbst Gott zu sein – und Gottes Gottsein zu missachten.18 Der Mensch ist aber nicht
Gott und so macht er sich und anderen das Leben schwer. Er geht krumme Wege, er verletzt,
er richtet Schaden an.19 Dies alles kann Gott nicht gefallen.20 Straft er? Es gibt etliche Belege
in beiden Büchern der Bibel, dass das so gedacht und gedeutet worden ist. Mehr aber spricht
m.E. dagegen. Darauf kann hier nicht ausführlich eingegangen werden.
Regeln des guten Lebens
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Eines aber ist deutlich sichtbar und für meinen Zusammenhang von Belang: Gott macht den
Menschen seinen Willen deutlich. Er gibt ihnen Regeln: die Gebote und viele weitere. Diese
Gebote sind mit Gottes gutem Willen für seine Schöpfung begründet und zielen auf ein
friedliches Miteinander. Eine gute Zusammenstellung stellt der Spruch des Propheten Micha
dar:
Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort
halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. (Micha 6,8)
Im Mittelpunkt steht die Liebe und das ist, genau betrachtet, keine andere Liebe als die, die
Gott zuerst geschenkt und in die Welt gebracht hat. „Gefordert“ wird nichts Schweres und
Unmögliches, keine besondere Leistung, sondern einfach nur: sich einlassen auf die Liebe,
aus der alles entstanden ist, also schöpfungsgemäß, schöpfergemäß zu leben.
Gott wird Mensch
Was ich im Alten Testament lese, findet im Neuen Testament seinen Höhepunkt. So wie
Gott immer vorangegangen ist mit seiner Liebe – so geht er jetzt bis zum Äußersten. Er
kommt zu den Menschen als Mensch. So jedenfalls wird die Jesus-Geschichte christlich verstanden.21 Gott sucht das Verlorene – das drückt Jesus in seinen Gleichnissen aus (Lk 15)
und spricht damit zugleich von Gott und von sich.
Jesus selbst tut, was Gott mit Abraham, Jakob und David getan hat: Er ruft, er erwählt, er begleitet. Dabei gilt seine besondere Hinwendung und Liebe denen am Rand.22
Den Regeln des guten Lebens begegnet Jesus beim religiösen Establishment seiner Zeit in
verzerrter Form: Ein Wettbewerb um das rechte Verstehen und Halten aller Regeln ist an die
Stelle der Liebe getreten, die im Mittelpunkt der Gebote steht und ihr Geist ist. Dagegen
spricht Jesus sich immer wieder aus – also nicht gegen die Regeln, sondern gegen ihr Missverständnis.23
Jesus wiederholt und erneuert, was Micha (z.B.) fordert: Liebt Gott und liebt einander. Und
er bekräftigt, was auch das Alte Testament in vielfältiger Weise erzählt: „Wenn ihr Liebe habt
– dann kommt alles andere von selbst. Ihr müsst euch gar nicht anstrengen. Wenn ihr euren
Nächsten mit liebevollen Augen anschaut, dann seht ihr, was er braucht. Und dann könnt ihr
gar nicht anders – dann wollt ihr es ihm geben.“
Das einzige Gebot ist die Liebe. Aber gerade die kann man nicht befehlen. Das ist das Problem mit der Ethik. Darunter leidet immer wieder das Projekt „heile Welt“. Und darum
muss(te) Gott in die Welt kommen.
3b Gleichnisse verstehen – den „barmherzigen Samariter“
Die Gleichnisse Jesu haben immer wieder die Frage aufgeworfen: Wie sind sie eigentlich zu
deuten? Das beginnt bereits in den Evangelien. Im Markusevangelium sind die Gleichnisse
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als eine Art Geheimcode verstanden, die die Wahrheit verschlüsseln (Mk 4,11f.; Stichwort
Messiasgeheimnis24). Für seine Jünger macht Jesus eine Ausnahme und „übersetzt“ ihnen das
Gleichnis vom Sämann (Mk 4,14–20). Diese Stelle wird von Exegeten als sekundär (nachträglich eingefügt) betrachtet.25
Analogie
Diese „Übersetzung“, die darin besteht, dass „Jesus“ jedes einzelne Detail des Gleichnisses
mit einem Gleichheitszeichen versieht, erweist sich als wenig ergiebig. Der Leser erfährt
nichts Neues. Dagegen ist die Lehre ohne das Kleid der Geschichte viel weniger attraktiv als
das ursprüngliche Gleichnis. Der Reiz des Bildes geht verloren.
Tertium Comparationis
Die Gleichnisauslegung durch „Analogie“ wird heute nicht mehr praktiziert.26 Eine weitere
Möglichkeit: Man lässt dem Gleichnis seine Würde als Geschichte und hält nur Ausschau
nach dem einen Punkt, wo das Besondere liegt, wo das Bild in die Wirklichkeit ragt. Man
spricht vom Tertium Comparationis27 zwischen „Bildebene“ und „Sachebene“.
Im Falle des „Verlorenen Sohns“ etwa wäre dies die unerschütterliche Liebe des Vaters, der
jedes Aufrechnen von „Schuld“ hintansetzt und überwindet. „So“, sagt sich der Hörer, „ist
ein guter Vater. Das kann nur Vaterliebe.“ – „Und wer ist der beste und gütigste Vater?“ –
„Aha, in diesem Gleichnis geht es um Gott!“
Skandalon
Es scheint aber, dass in dieser Gleichnistheorie das Anstößige übersehen wird, das den
Gleichnissen Jesu innewohnt. Es ist nämlich, genau betrachtet, nicht wirklich so, dass sich
das Tertium Comparationis so nahtlos aus der Bildwelt und die Sachwelt übertragen lässt. So
sind nämlich die Väter der Welt in der Regel nicht wie der Vater im Gleichnis. So sind die
Hirten der Welt nicht wie der Hirt, der dem einen verlorenen Schaf stundenlang nachsteigt
und die anderen riskiert. So sind die Weinbergbesitzer der Welt nicht, dass sie die Zuletztgekommen genau so großzügig bezahlen wie die Ersten (usw.).
Das, was die eben erläuterte Gleichnistheorie „Tertium Comparationis“ nennt, ist in vielen
Gleichnissen der Stein des Anstoßes, das „skandalon“. Angemessen ist es, hier innezuhalten
und zu staunen: Gott ist also anders! Gottes Gerechtigkeit ist anders. Gottes Liebe ist ganz
anders …! Und da lohnt es dann, sich zu wundern und zu reiben und ins Grübeln zu kommen. Das ist die didaktisch fruchtbare Stelle.
Der barmherzige Samariter
Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter scheint auf den ersten Blick wenig anstößig. Da
liegt ein Schwerverletzter. Zwei gehen vorbei, ohne zu helfen. Einer hilft. Die dazu erzählte
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Typologie legt nahe, dass der, der hilft, nach Menschenmaßstäben eigentlich derjenige ist,
von dem der Verletzte am wenigsten hätte erwarten dürfen (ein Fremder, ein Verachteter in
den Augen frommer Juden). Das wirft ein schlechtes Licht auf die anderen beiden (gute Juden, fromm, im Gottes-Dienst). „Alles klar“, sagt sich der Leser. „Aufs Helfen kommt es an,
nicht auf den Status.“ Und der Übertritt aus der Bildebene in die Sachebene? Na klar: Sei so
wie der Samariter. Dann ist alles gut.
Den Anstoß finde ich erst, wenn ich den Rahmen dazu nehme. Jesus wurde gefragt, was „gutes Leben“ ist. Jesus verweist auf die Gebote und fragt zurück. Der, der gefragt hat, antwortet
weise – mit dem Doppelgebot der Liebe: „Gott lieben – deinen Nächsten wie dich selbst.“ So
weit, so gut. Aber nun gerät der Frager, ein Schriftgelehrter, in die Falle menschlicher Maßstäbe. Er will es genau wissen. Er will mehr Regeln, die er befolgen kann: „Wer ist mein
Nächster?“, fragt er nach.
Jesu Antwort ist das Gleichnis, in dem ein Mann Hilfe braucht und einer ihm hilft. Diese
Hilfe wird detailliert beschrieben: Öl auf die Wunden, Verbände, der Krankentransport, Kost
und Logis. Der Samariter tut das Nötige – ohne zu fragen und ohne auf Dank aus zu sein. Er
macht es perfekt – aber ohne sich aufzuopfern.
Am Ende kommt Jesus auf die Frage zurück: Wer ist dem, der unter die Räuber gefallen ist,
der Nächste gewesen?“ – Nicht der Volks- und Glaubensgenosse. Sondern der Fremde. Weil
es, wenn es ums Leben geht, ganz egal ist, wer was ist.
Der Schriftgelehrte kann die einfache Frage nicht falsch beantworten. „Der, die die Barmherzigkeit an ihm getan hat.“ Und dann kommt Jesus auch noch auf die allererste Ausgangsfrage
zurück, die Frage nach dem guten Leben: „Tu das Gleiche.“
Hier kommen wir dem Ärgernis auf die Spur: Dem Schriftgelehrten war es darum zu tun,
Regeln zu erfahren, die ihn sicher sein ließen, dass er auf dem richtigen Weg sei. „Wenn du
das und das tust, dann bist du Gott recht …“ - So hatte er sich das vorgestellt. Und da macht
Jesus nicht mit. Seine Antwort: „Ich kann dir nicht sagen, was du tun musst. Ich weiß ja
nicht, was dir begegnet. Ich kann dir nur sagen, wie du sein musst: achtsam und voller Liebe.
Und wenn du eine Regel willst, dann die: Dreh doch die Frage: Wer ist mein Nächster?, einfach um: Was würdest du denn brauchen, wenn DU in Not wärst? Der, der dann hilft, ist
dein Nächster. Na also. Noch Fragen?“
Der Schriftgelehrte wird sich ganz schön geärgert haben. Jesu Anspruch ist viel einfacher und
doch viel schwerer, als er es erwartet hat. Vor allem: Das ist nichts, womit man Ehre einheimsen und dann sicher sein kann. Nein, sondern das ist der immer währende Anspruch an
alle. Und ist nie „erledigt“. Unangenehm? Für den, der Liebe hat, wohl nicht …
3c Der barmherzige Samariter – wo setze ich Schwerpunkte
Der Wunsch, auf „Nummer Sicher“ zu gehen, das heißt eine Aufgabenliste zu haben, abhaken zu können und dann Ruhe zu haben, ist wohl ein allgemein menschliches Verhalten und
nicht auf die historische Situation zur Zeit Jesu beschränkt. Insofern ist die Polarität „Schriftgelehrte“, „fromme Juden“ einerseits, Jesus andererseits wohl nicht so entscheidend für unseren Zugang heute.
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Aber auch die „Nummer Sicher“ ist nur wichtig, wenn die Angst vor Gott einen treibt und
man glaubt, dass man bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, um Gott recht zu sein.
Dies aber ist nicht mehr das erste Problem, das Menschen heutzutage umtreibt.28
Mich persönlich fasziniert am meisten diese Idee, dass man alles recht macht, wenn man
liebt. Wenn man in dem Mann, der am Boden liegt, sich selbst sehen kann – und darum ganz
selbstverständlich alles Nötige unternimmt, um ihm aufzuhelfen – das ist eine so schöne
Vorstellung, das ist so viel mehr als eine Regel. Das ist eine Haltung, die man üben und kultivieren kann. Das ist für mich der Kern des Gleichnisses.
4 Didaktische Analyse
Brauchen die Kinder der 3c, die ich im Teil 2 beschrieben habe, eine Geschichte über das
„gute Handeln“, das aus Liebe erwächst? Ich habe ja dargestellt, dass es durchaus eine gute
Klassengemeinschaft gibt und die Klasse bereits viele Kompetenzen im sozialen Miteinander
eingeübt hat und praktiziert.
Dem Beobachter fällt aber auf, dass diese Gemeinschaft stark von Regeln bestimmt ist, die
innerhalb der Klasse gelten, sozusagen einem Verhaltenscodex innerhalb des Raumes Schule.
Ich kann mir vorstellen, dass dieselben Kinder nach außen weniger selbstverständlich teilen,
Rücksicht nehmen, Achtung erweisen. Der raue Ton in der Klasse legt dies ebenso nahe wie
die Tatsache, dass sich keine engen Freundschaften entwickelt haben.
Insofern fühle ich, dass das Thema „Nächstenliebe“ durchaus wichtig ist in dieser Klasse,
und während die Stunden (2) und (3) der Einheit wiederum mit Regeln arbeiten, die einem
„Verhaltenskodex“ zu entsprechen scheinen, ist es wichtig, dass es in Stunden (4) ganz konkret wird, emotional, möchte ich sagen.
Mir geht es darum, die Sch nicht zu „belehren“, sondern sie spüren zu lassen, worauf es ankommt. Dabei hilft mir die bereits erwähnte vorgebildetete soziale Kompetenz. Ich kann die
Rettungstat des Samariters als selbstverständlich darstellen. Und werde erst anschließend auf
das Skandalon kommen. Dass dieses Selbstverständliche das Gesetz der Nächstenliebe ist:
„Versetz dich in den Nächsten. Dann weißt du, was er braucht.“
Übrigens: Die Frage, warum die ersten beiden nicht helfen, wird in vielen Unterrichtsentwürfen in den Mittelpunkt gestellt.29 Mich interessiert sie eigentlich weniger. Vor allem für
meine Stunde möchte ich sie möglichst unterdrücken. Das Zeigen auf andere lenkt vom eigenen Handeln ab und macht passiv und selbstgerecht.
Elementare Fragen
Die Sch werden die Regeln, die man ihnen bereits beigebracht hat, sicherlich bisweilen auch
lästig finden. Die Tendenz, sie äußerlich zu erfüllen (also, wenn jemand hinguckt) und sie zu
28
29
54
umgehen, wenn es unbeachtet möglich ist, liegt nahe (vgl. Stufe 2 in Osers Modell des moralischen Urteils!)30.
Hier können die Sch Entdeckungen machen: Es kommt nicht darauf an, wie andere mich beurteilen. Es kommt darauf an, wie ich vor mir selbst (vor Gott) dastehen will – wie ich mich
selbst wohl fühle.
Ich bin gespannt, wie die Sch diesen Weg mitgehen können. Ich bin mir aber sicher, dass sie
emotional und kognitiv dazu in der Lage sind.
Elementare Zugänge
Um die beiden Effekte zu erzeugen, auf die ich setze – erstens das Helfen selbstverständlich
zu machen, zweitens die Frage der „Regeln“ in den Mittelpunkt der Reflexion zu stellen,
brauche ich eine geeignete Version des Gleichnisses. Nach einer Sichtung verschiedener
Kinderbibeltexte31 entscheide ich mich für eine eigene Erzählung, die ich aus der Sicht des
Überfallenen gestalten werde (Anhang 1). Ich werde sie zunächst nur knapp einleiten: „Jesus
erzählt, was Liebe ist.“ Dann gebe ich der Verzweiflung des Überfallenen viel Raum. Und
statt einer Auflösung fragt dann „Jesus“ die Kinder: Was wird der Samariter tun?“
Die Frage ist, ob wir ein Bild brauchen, um die Situation noch auf anderem Weg als über
Worte zu verdeutlichen. Die Sichtung der künstlerischen Darstellungen von Rembrandt bis
Kees de Kort zeigt, dass immer die Szene des Helfens dargestellt ist, nicht aber, wie hier vorausgesetzt, der Überfallene, bevor er Hilfe erfährt.
Schließlich bin ich auf ein Bild aus einer Kinderbibel gestoßen (Die Bibel mit Bildern von
Lisbeth Zwerger, Kath. Bibelwerk, Stuttgart 2000; Anhang 2): Auffällig nüchtern gestaltet
liegt da der Überfallene quer über der Straße. Und Menschen streben von ihm weg – die
Räuber, der Priester, der Levit; sie müssen an ihm vorbeigekommen, ja, über ihn hinweggetreten sein – ohne seine Not zu bemerken.32 Außerhalb des Bildes stehen die Dinge, die der
Verletzte dringend benötigt – Wasser, Salbe, Wein – sozusagen griffbereit.
Ich entschließe mich, das Bild nach der Erzählung einzusetzen – die Erzählung zuerst – wegen der Emotionalität (die dem Bild fehlt), das Bild dann, um die Situation des Verletzten
ganz deutlich zu machen und dem Impuls des Helfens zusätzlich Nahrung zu geben. Jedes
Kind kann an diesem Bild zum Samariter werden.
30
31
32
Gefunden auf der Homepage des rpi Loccum: http://www.google.de/imgres?imgurl=http://www.rpi-
loccum.de/bildru/bilder/zwerger_3g.jpg&imgrefurl=http://www.rpiloccum.de/bildru/zwerger_anregung.html&usg=__Jna6umgum6nMYtGADP0W1zsh_ao=&h=2968&w=2461&sz=1
006&hl=de&start=0&zoom=1&tbnid=n4cQ3eu6Xp07fM:&tbnh=136&tbnw=101&ei=VMLtTqisNMKfOuyP7acI
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1&ndsp=23&ved=1t:429,r:17,s:0&tx=55&ty=84; kommentiert von Steffen Marklein.
55
Die Kinder können sagen und zeigen, was der Verletzte braucht. Nach einer längeren Vertiefungsphase kommen wir auf die Grundfrage zurück: Was ist Liebe? Und ich erzähle den Kindern, dass die Leute, die Jesus gefragt haben, gern genaue Regeln haben wollten: Was muss
ich tun? Was kann ich lassen? Und Jesus antwortet mit der Geschichte von der Liebe. Die
Kinder versuchen sich daran, eigene Regeln zu formulieren – in Jesu Sinn.
Eine Achtsamkeitsübung kann die Stunde rahmen. Hier soll die Wahrnehmung geschult
werden. Möglich wären eine Traumreise oder auch ein Parcours für alle Sinne. In Anknüpfung an die Geschichte vom blinden Bartimäus aus der Stunde zuvor aber bieten sich SehÜbungen an: Sich blind führen lassen, fallen lassen, einen Menschen durch Tasten erkennen
(Haar, Gesicht – ganz vorsichtig!); sehend Haltungen und Mienen erkennen und deuten.
Am Ende (oder als Hausaufgabe) wäre es auch denkbar, dass die Kinder einen kurzen Dank
schreiben oder malen für einen Menschen, der ihnen schon einmal etwas Liebes erwiesen hat
(ohne Namen, rein beispielhaft).
Das bereitet Stunde (5) vor: Es kommt mir dabei darauf an, dass die Hilfeleistung nicht etwas
„Exotisches“ bleibt, wie etwa einen Unfallverletzten zu versorgen, sondern dass der Bezug
zum ganz normalen Alltag gelingt: Auch dem nervigen großen Bruder einmal ungefragt einen Gefallen zu tun, gehört dazu, oder ein Malheur in der Küche zu beseitigen, das man
nicht selbst angerichtet hat.
5 Die Stunde (Planung des Ablaufs)
Nachdem die Wahl und Vorstellung der Materialien bereits Entscheidungen zum Methodenensemble und Ablauf der Stunde vorweggenommen hat, übergehe ich hier den Punkt 5a
der vorgegebenen Gliederung eines Unterrichtsentwurfs und steige direkt in die konkrete
Planung der (Doppel-)Stunde ein.
Die Sch haben in Stunde (4) der Einheit keine Hausaufgabe bekommen. Ich vertraue auf den
emotionalen Eindruck, den die Bartimäus-Geschichte gemacht hat. Die Sch kommen in einen (annähernd, symbolisch) abgedunkelten Raum; auf dem Pult liegen Augenbinden
(Schals). Ich schreibe an die Tafel das Stichwort „Sehen“.
Wiederholung
Meine Erwartung ist, dass einige rasch an Bartimäus erinnern werden. Es folgt eine kurze
Wiederholung: „Der konnte nicht sehen.“ „Jesus hat ihn gesehen.“ „Jesus hat ihn sehend gemacht.“
Wahrnehmungsübungen / Vertrauen (Aufwärmphase)
Anschließend bitte ich die Sch, sich paarweise zusammenzustellen. Je einem werden die Augen verbunden. Die Paare üben „führen“ und „folgen“, anschließend kommen wir im Kreis
zusammen. Die Blinden erzählen, wie sie sich gefühlt haben. Dann auch die Begleiter.
Es folgt die „Vertrauensübung“ (mit denselben Paaren). Jeder lässt sich einmal rückwärts fallen und erlebt, wie er aufgefangen wird. Kurze Auswertung. „Ich kann mich auf dich verlassen.“
Präsentation der Geschichte
56
Mit einer Überleitung („Auch auf Jesus konnten sich die Leute verlassen. Und einmal fragten
sie ihn, wie viel er eigentlich von ihnen erwarte; wie viel Gutes sie tun müssten. Und Jesus
sagte: Liebe sollt ihr füreinander haben. Das ist alles.“ – „Wie viel Liebe?“, fragten. Da erzählte er ihnen folgende Geschichte … ) komme ich zum neuen Stoff.
„Geschichte“ bedeutet in der 3c: Sie setzen sich in den Erzählkreis (Kissen am Boden) und
hören zu. Ich erzähle frei von dem Überfall und der Not des Überfallenen. Verzweifeln, hoffen, enttäuscht werden – das geschieht zweimal. Nachdem der Bogen ein drittes Mal gespannt ist (verzweifeln, hoffen …) halte ich ein.
Kreative Aneignung der Geschichte
Ich lege das Bild (Anhang 2) in die Mitte. Die Kinder identifizieren die Personen. Was könnte der Dritte denn tun? Wir sammeln, wir entdecken die Hilfsmittel, die das Bild nahelegt.
(Aus meiner Kenntnis der Kinder und durch den Aufforderungscharakter des Bildes nehme
ich nicht an, dass jemand auf die Idee kommen wird, die Hilfe zu verweigern; wenn doch,
stelle ich seine Haltung in den Raum.)
Die Paare verteilen sich wieder im Raum und proben mit ihrem Partner.
Nach einer Weile versammeln wir wieder im Erzählkreis. Ich sage: „Und Jesus fragte ein paar
Kinder: Dieser dritte Mann, was hat der gemacht?“ Die Kinder erzählen von ihren Rettungen. Jesus bestätigt: „Genau das hat er gemacht. –Eigentlich logisch, oder?“
Ethisieren mit Kindern
Jetzt kommt der Teil der Stunde, den ich am schwierigsten finde – auch, weil ich schwer vorhersehen kann, wie die Kinder reagieren werden. Ich erinnere an die Ausgangsfrage: „Wie
viel Gutes muss ich tun? Wie viel Liebe brauche ich?“ Die Kinder gehen zu vieren zusammen
(Tischgruppen) und beraten. Aufgabe: die Antwort Jesu in einem Satz. Sie erhalten dafür ein
Arbeitsblatt (Anhang 3).
Anschließend stellen wir uns gegenseitig unsere Ergebnisse vor. Evtl. noch mit meiner Rückfrage: Kann man „Liebe“ eigentlich regeln? Oder: Wo „wohnt“ eigentlich die Liebe? (Gegensatz Herz und Kopf).
Anwendung
Eine Übung zum Schluss: Schau, was xy fehlt – was braucht er? Etwa zehn Sch erhalten Rollenkarten (Anhang 4; verlosen). Sie haben die Aufgabe, eine Haltung, Gestik, Mimik vorzuführen – die Kinder raten das Bedürfnis und machen Vorschläge, wie es zu erfüllen ist. Das
darstellende Kind verleiht dem, das die passendste Lösung vorgetragen hat, den Orden des
„guten Samariters“33 (auf der Rückseite der Rollenkarte, Anhang 5).
Aufgabe
Erinnere dich an eine Situation, in der du Hilfe erfahren hast. Schreibe einen Dank für die
Person, die dir damals geholfen hat (ohne Namen). Erzähle ihr, wie das für dich gewesen ist,
und mache ihr mit deinem Dank eine kleine Freude.
33
Die Termini „Samariter“ und „Nächstenliebe“ werden in der kommenden Stunde im Zuge der Wiederholung
eingeführt, eingeübt und aufgeschrieben.
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6 Kompetenzen
Im Curriculum finde ich einerseits Können-Ziele, die die Sch am Ende von Klasse 4 erworben haben sollen, andererseits Themen, die dabei im Mittelpunkt stehen. Die Verknüpfung
dieser Dimensionen ist Sache der Lehrkraft bzw. des schulinternen Stoffverteilungsplans.
Im Fall „Nächstenliebe“ sind wir einerseits beim „Stoff“ Jesus Christus, andererseits aber
auch beim sozialen Miteinander. Die Dimension „Gott“ / „Gottes Wille“ kommt durch Jesus
mit in den Blick.
Alles in allem und auf die Stunde (4) bezogen können die Sch
….
….
….
….
Mein besonderes Augenmerk liegt, wie gesagt, darauf, dass sie …
58
7 Verlaufsplan
7 Verlaufsplan
Zeit / Phase
Unterrichtsschritt
geschehen
/
- SozialSozial- / Lernformen
Material / Medien
59
Bemerkungen
Anhang 1
Erzählskizze Der barmherzige Samariter (Lukas 15)
Es war einfach Pech. Räuber haben ihn überfallen. Ausgeraubt, ausgezogen. Geschlagen und liegen
gelassen. Im Niemandsland, zwischen Jerusalem und Jericho. Er ist hilflos. Halb tot. Er kann nicht mal
schreien.
Niemandsland? „Ich lebe noch“, denkt er sich. „Es ist noch nicht aus. Wenn Gott will, kommt einer
vorbei und hilft …“ Die Kehle ist ihm trocken. Die Wunden schmerzen. Die Sonne brennt.
Da – sind das Schritte? Da – ist das eine menschliche Stimme? Ein Schatten fällt auf ihn. Er hebt die
Hand. Hilf mir, um Gottes Willen … - Es war wohl nichts. Nur eine Täuschung. Es war wohl nicht ein
gut gekleideter, vornehmer Mann … Es war wohl kein Mensch … Schon ist er fort. Und der Mann ist
allein.
Niemandsland … „Ich lebe noch“, denkt er. „Es ist noch nicht aus. Wenn Gott will, kommt einer vorbei und sieht meine Not …“ Die Wunden schmerzen. Ihm ist kalt bis ins Mark. Die Sonne – die Sonne
kann ihn nicht wärmen.
Da – Schritte. Langsam, bedachtsam. Einer, der im Gehen liest. Ein Schatten fällt auf ihn. Mit letzter
Kraft hebt er den Kopf, um zu sehen … - Es war wohl nichts. Nur eine Täuschung. Es war wohl nicht
ein frommer Mann auf dem Weg zum Tempel … Es war wohl kein Mensch … Es war nichts. Und der
Mann ist allein.
Niemandsland … Hölle. „Lebe ich noch?“, fragt er sich. „Ist’s noch nicht aus? Kann es sein – mit Gottes Hilfe: Es geschieht noch ein Wunder?
Da – Hufschlag. Ein Esel, ein lebhaftes Tier. Wie es tänzelt. Ein Kaufmann vielleicht, ein Samariter? Er
hat keine Kraft mehr, aufzublicken. Er kann seine Hand nicht mehr heben. „Jetzt oder nie“, denkt er.
Und seufzt … Und ein Schatten, ein Schatten kommt näher …
Anhang 2: Lukas 15 im Bild von Lisbeth Zwerger
61
Anhang 3: Arbeitsblatt: Wie viel Liebe?
Kannst du auf den Bildern die „Liebe“ sehen, von der Jesus erzählt? Die Menschen haben Jesus gefragt, wie viel Gutes sie tun müssen. Antworte für Jesus –
in einem Satz. Denk dabei an die Geschichte.
62
Anhang 4: Rollenkarten
Stelle dar, wie du dich fühlst. Du kannst Hände, Füße, Haltung und dein Gesicht einsetzen.
Deine Mitschüler erraten, was dir fehlt, und bieten dir Hilfe an.
Du hast eine ungerechte Note bekommen. Du
hast deine Lehrerin gebeten, noch mal darüber
nachzudenken – aber sie hat sich geweigert.
Jetzt gehst du nach Hause – da triffst du ein
paar Freunde. Sie sehen dir an, dass etwas
nicht stimmt …
Du hast dein Freundschaftsband verloren. Du hast
schon überall gesucht. Es ist einfach verschwunden. Jetzt sitzt du da und wartest auf deinen
Freund, mit dem du verabredet bist. Zwei Freunde
sehen dich sitzen. Sie sehen gleich, dass etwas
nicht stimmt ...
Dir ist furchtbar schlecht. Du hast auf der Party
viel zu viel Kuchen gegessen. Jetzt kommst du
vom Klo, wo du dich übergeben hast. Du bist
unsicher auf den Beinen. Deine Freunde sehen,
dass etwas nicht stimmt …
Du bist auf dem Weg zu deinem Freund. Du
nimmst eine Abkürzung, einen Feldweg. Da siehst
du vor dir einen großen Hund auf dem Weg sitzen.
Du hast panische Angst vor Hunden. Zwei andere
Freunde holen dich ein. „Was ist los, warum gehst
du nicht weiter?“ Sie merken, dass etwas nicht
stimmt …
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Anhang 5: Die Rückseite der Rollenkarte: Der SamariterSamariter-Orden
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5 Methoden
Beispiel 1: Ingo Baldermann und die existenzielle Bibellektüre
Ingo Baldermann, Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen; in: Michael Wermke (Hg.), Aus gutem Grund:
Religionsunterricht, Göttingen 2002, 103–111. Bearbeiteter Nachdruck des Aufsatzes aus „Bibel und Kirche“, 56.
Jahrgang, 1/2001, Verlag Katholisches Bibelwerk, 40–45.
Es waren die Kinder, die mir durch verschiedene sehr nachhaltige Signale deutlich machten, dass sie
von meinem Religionsunterricht mehr erwarteten als nur einen interessanten Umgang mit biblischen
Geschichten.
Kinderfragen, die aufs Ganze gehen
Ich unterrichtete damals in den Anfangsklassen des Gymnasiums, und auf meine nicht eben sehr geschickte Frage, welches denn die wichtigsten Fragen seien, die sie Gott stellen würden, schrieb mir ein
Junge dies auf: „Wie lange noch lebe ich? Wie lange lebt mein Hund noch? Wann geht die Welt unter?
Und Warum gibt es so viel Ungerechtigkeit?“
Und eine andere Klasse stellte mir am Ende einer Stunde auf einmal die Frage: „Jetzt sagen Sie uns
ehrlich – werden wir überhaupt noch erwachsen werden?“ Ich erinnere mich, dass ein eigentlich ganz
heiterer Unterricht vorausgegangen war; jedenfalls hatte ich nichts getan, um die Kinder durch erschreckende Szenarien in Weltuntergangsstimmung zu versetzen. Ich habe später begriffen, dass die
Kinder auf zerstörerische Eingriffe in die Ökologie weit sensibler reagierten als ich damals.
Deutlich war: Diese Wahrnehmungen bedrängten sie sehr, und sie erwarteten gerade vom Religionslehrer, dass er dazu nicht schwieg. Aber was sollte ich ihnen sagen, wenn ich ehrlich bleiben, sie nicht
billig vertrösten und sie doch nicht in hoffnungslose Ohnmachtsgefühle treiben wollte?
Es war in der Mitte der 70er Jahre, dass die Kinder mich so fragten, und die Fragen haben mich seither
nicht mehr losgelassen und meine ganze Arbeit verändert. Zusammen mit den Studierenden im Praktikum fragten wir uns: Wie können wir überhaupt antworten? Hinter der Frage der Kinder stand ja
nicht nur akute Angst, sondern auch, für uns noch beklemmender, so etwas wie die Ahnung einer
heraufziehenden tiefen Depression.
Wo finden wir glaubwürdig Antwort? Ich fragte mich: Was mache ich denn selbst, wenn ich mit solchen Fragen nicht fertig werde? Ich kehre immer wieder zu den Psalmen zurück, und zwar nicht mit
dem Rüstzug des historisch-kritisch geschulten Exegeten, sondern so, dass ich mich Worte der Psalmen selbst vorsage, etwa nachts, wenn ich nicht schlafen kann, oder beim Aufwachen im Morgengrauen. So hat mich das Wort: „Meine Zeit steht in deinen Händen“ (Ps 31,16) in einer sehr bedrängten
Zeit davor bewahrt, den Boden unter den Füßen zu verlieren; ich habe es mir immer wieder selbst
vorgesagt und dabei erfahren: So konnte ich wieder Atem holen.
Ich kenne ähnliche Erfahrungen mit anderen Psalmenworten: „Von allen Seiten umgibst du mich und
hältst deine Hand über mir“ (Ps 139,5); oder: „Ich werde nicht sterben, sondern leben“ (Ps 118,17). Ich
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weiß noch, dass ich mich später, in der Zeit der atomaren Bedrohung, buchstäblich festgehalten habe
an dem Wort: „Ich glaube aber doch, dass ich noch schauen werde die Güte des Herrn im Lande der
Lebendigen“ (Ps 27,13).Aber sind das Worte für Kinder?
Wir waren uns in der Praktikumsgruppe einig: Es hat keinen Sinn, den Kindern starke Worte des
Gottvertrauens zu präsentieren und an sie zu appellieren: So müsst ihr auch auf Gott vertrauen! Vertrauen lässt sich durch Appelle nicht lernen. Wir müssen versuchen, mit den Kindern dahin zu kommen, dass sie selbst zu einem solchen Umgang mit den Worten der Psalmen in der Lage sind.
Psalmen – eine Sprache für diese Kinder?
Wir lasen wieder die Psalmen, von Anfang an, und waren bestürzt: Das ist doch keine Sprache für
Kinder! Wir lasen noch einmal und fanden: Einige Worte stehen doch da, die so klingen, als wären sie
gerade für diese Kinder geschrieben, so etwa diese:
Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist (Ps 69,3)
Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser, weil ich so lange warten muss (Ps 69,4)
Ich rufe täglich, und du antwortest nicht (Ps 22,3)
Gewaltige Stiere haben mich umgeben (Ps 22,13)
Gelähmt sind mir Hände und Füße (Ps 22,17)
Ich bin wie ein zerbrochenes Gefäß (Ps 31,13)
Für uns war bestürzend, dass es sich dabei durchweg um Worte der Klage handelte, und zwar gerade
aus den schwersten Klagepsalmen, den Passionspsalmen 69, 22 und 31.Wir hätten lieber einen anderen Einstieg in die Psalmen gefunden. Aber wir wollten endlich heraus aus den alten Formen des Unterrichts, in denen wir den Kindern erklären versuchten, was dieser oder jener Bibeltext „eigentlich
sagen will“.
Wenn die Psalmen den Kindern wirklich helfen sollten, dann mussten sie direkt zu ihnen reden. Wir
waren an einem Punkt angekommen, an dem nur noch die Bibel selbst helfen konnte, nicht mehr kluge Worte über die Bibel.
Die Bibel bringt Kinder zum Reden
Also wagten wir den Sprung. Wir wollten mit den Worten beginnen, die uns die Psalmen selbst für die
Kinder anboten; wir nahmen uns vor, den Kindern diese Worte vorzulegen und zu warten, wie sie
damit umgehen würden, also nicht lenkend in das sich – hoffentlich – entwickelnde Gespräch einzugreifen. Wir nahmen für den Anfang kein leichtes Wort, sondern gleich einen schwere Metapher;
wir wollten aufs Ganze gehen und ja nicht diese Metapher durch vorausgeschickte Erklärungen entschärfen:
„Ich versinke im tiefen Schlamm, wo kein Grund ist“, stand an der Tafel, und wir warteten gespannt.
Zögernd entwickelte sich ein Gespräch, und zwar, sooft wir diesen Einstieg in einer neuen Gruppe
versuchten, immer in ähnlichen Strukturen, mit Äußerungen, die unsere Praktikumsgruppe geradezu
alarmierten, so aufregend war für uns das, was da geschah. Ich gebe dazu ein Gesprächsprotokoll wieder, das nicht bei diesem ersten Versuch entstand, sondern später, in einem 4. Schuljahr:
Das hört sich traurig an, wenn man das liest …
66
Da kann man auch denken, irgendwie, dass man in Dunkelheit versinkt,
dass keiner mehr mit einem spielt.
Das macht traurig.
Wenn man alleine ist …
Wenn man da drin versinkt, dass man um Hilfe schreit und keiner da ist.
Wenn du einsam und ganz allein in den tiefen Loch bist, wo dich keiner mehr rausholt.
Und nach einigen Gesprächsbeiträgen von anderen sagt der gleiche Junge noch einmal:
… dass der Schlamm bedeuten soll, dass – Traurigkeit ohne Grund – dass sie nicht aufhört,
unendliche Traurigkeit.
Was ist da geschehen?
Wir waren uns einig: In diesem Gespräch war etwas Unerhörtes passiert. Wir versuchten uns Rechenschaft zu geben: Was ist da geschehen? Die Kinder verstehen die schwere Metapher auf Anhieb sachgemäß, ohne irgendeine vorausgeschickte Erklärung von uns; damit hätten wir das Gespräch nur vereitelt. Sie kommen so auf eine sehr direkte Weise ins Gespräch mit einem biblischen Text. In diesem
Gespräch reden sie in dem Bemühen, das Psalmwort zu verstehen, von ihren eigenen Erfahrungen. So
kommt ein Prozess wechselseitiger Erschließung in Gang: Die Erfahrungen, die sie mitbringen, erschließen ihnen das Psalmwort, aber auch umgekehrt erschließt ihnen das Psalmwort eigene Erfahrungen, die bis dahin offenbar sprachlos geblieben waren.
Dabei erweisen sich gerade die Worte der Klage als eine einzigartige Hilfe für die Kinder zur
Versprachlichung ihrer Gefühle. Es hat uns immer wieder beeindruckt, was für eine dichterisch treffsichere Sprache Kinder finden können: „Traurigkeit ohne Grund, unendliche Traurigkeit…“
Die Klage ist dabei ein Medium, in dem Kinder wie in keinem anderen sich selbst entdecken, ihre ureigensten Erfahrungen, aber offenbar zugleich auch ihr Selbstbewusstsein, ihre Widerstandskräfte. Der
Umgang damit schließt autoritäre, moralisierende Formen der Gesprächsführung aus; wir gehen konsequent den Weg eigener Wahrnehmung und Entdeckung. Das aber, so entdeckten wir, ist dem Umgang mit der Offenbarung genau angemessen, denn Apokalypsis (griech.) heißt eigentlich Entdeckung.
Im weiteren Verlauf der Gespräche sind uns noch andere Punkte deutlich geworden, von denen das
Gelingen eines solchen Gesprächs abhängt: Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ein
ganzer Text eine Klasse zum Schweigen bringt, ein einzelner Satz aber zum Reden. Ein längerer Text
schafft offenbar erst einmal Distanz, ein einfacher Satz dagegen eine Nähe, der ich mich gar nicht entziehen kann. Das Gespräch lebt von Assoziationen, die sich einstellen, von Erinnerungen, die wieder
ans Licht kommen. Das braucht Zeit. Bewertungen wie „richtig“ oder „falsch“ könnten dieses Gespräch nur zerstören.
Dass die Kinder bereit sind, von so tief gehenden emotionalen Erfahrungen zu reden, hängt von der
Möglichkeit ab, dass sie nicht „ich“ sagen müssen, sondern in der dritten Person sprechen können, in
allgemeinen man-Sätzen oder unter dem Schleier der Wendung: „Vielleicht hat da einer…“. In besonderen Situationen (wie oben) kann der Schleier zerreißen; doch für den Einstieg müssen wir auch die
unschönen man-Sätze tolerieren.
Aneignung braucht Kreativität
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Aus diesem Einstieg aber, bei dem die Kinder ganz bei sich selbst und zugleich ganz in der Bibel sind,
ergibt sich eine Fülle didaktisch sehr ergiebiger und gut praktikabler Möglichkeiten kreativer Aneignung: Sprachliches oder nonverbales Gestalten, grafisch oder im gemalten Bild (manchmal waren die
Bilder geradezu bestürzend beredt), als Klangbild mit einfachen Instrumenten, als Pantomime oder
auch im Rahmen eines größeren Vorhabens (Wir schreiben und malen, spielen und tanzen unseren
eigenen Psalm!), das auch Phasen der Freiarbeit mit einschließt.
Als eine Arbeitsform, zu der wir dabei immer wieder zurückkehrten, sozusagen die Grundform, ergab
sich das Gespräch im Stuhlkreis mit Wortkarten, etwa in Aktendeckelgröße, auf denen einzelne Sätze
aus Psalmen standen.
Im Laufe der Zeit wurden es immer mehr Karten, zuerst waren es nur Sätze der Klage, dann auch Vertrauensworte, schließlich auch Sätze aus den großen Lobpsalmen; und in dem einleitenden Gesprächskreis holten sich die Kinder jeweils eine Karte ihrer Wahl, lasen sie vor und sagten auch ein paar Worte zur Begründung, warum es gerade diese Karte war.
Es war für uns ganz unerwartet, wie viel schon dieser einfache Vorgang zur Aneignung beitrug: Die
Worte der Psalmen wurden dadurch wirklich zu ihren eigenen Worten.
Das war allerdings nur möglich, weil wir in Luthers Übersetzung immer wieder eine Sprache fanden,
die ganz unmittelbar anspricht. Ich selbst habe häufiger auch Schwierigkeiten mit Luthers Übersetzung, besonders in den Paulusbriefen, auch bei Jesusworten. Da klingt sie manchmal gar zu altdeutsch,
so als sei das Altertümliche die dem Glauben gemäße Redeweise. Bei den Psalmen ist das völlig anders.
Bei Vergleichen fanden wir immer wieder: Während die anderen Übersetzer so formulieren, wie einer
am Schreibtisch meint, dass einer vielleicht so reden würde, wenn er verzweifelt wäre, klagt und schreit
und singt Luther wirklich; in seiner Übersetzung höre ich unmittelbar seine Angst und Trauer oder
den heißen Atem der großen Leidenschaft. Das macht seine Sätze, selbst wo sie in Metaphern reden,
auch für Kinder so beredt.
Eine Art von Alphabetisierung
Uns ist erst viel später klar geworden, in welche Nähe zur Theologie der Befreiung wir uns mit diesem
Umgang mit den Psalmen begeben hatten. Es war „kontextuelle Exegese“, die wir da mit den Kindern
betrieben: Auslegung der Bibel nicht aus dem historischen oder literarischen Kontext, sondern unmittelbar aus dem Kontext des eigenen Lebens, aus dem Gespräch mit den eigenen Erfahrungen und Erinnerungen.
Und ganz offenkundig wirkten diese Bibelworte befreiend: Sie gaben den Kindern die Möglichkeit, erst
einmal Distanz zu ihren Angsterfahrungen zu gewinnen und frei zu werden von ihrer diffusen Gegenwart, dann nach Gegenerfahrungen Ausschau zu halten und nach Worten, mit denen diese sich in die
Gegenwart holen ließen. Dadurch gewinnen die Kinder Selbstbewusstsein und Widerstandsfähigkeit;
beides ist lebensnotwendig für sie, und sie begreifen das auch.
Insofern hat unser Umgang mit den Psalmen etwas mit Alphabetisierung zu tun: Es ist ein Lernen der
Sprache der Hoffnung von den ganz elementaren Anfängen an. Denn indem die Kinder beginnen, ihre
Erfahrungen von Angst und Einsamkeit in Sprache zu fassen, geschieht schon etwas gegen die Herrschaft der Angst. Die Versprachlichung hilft zum Umgang mit der Angst und mit den tief sitzenden
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Verletzungen. So vollzieht sich in der Klage bereits ein Umschwung, sie ist der erste Schritt auf dem
Weg, Hoffnung zu lernen.
Geborgenheit mitten in der Angst
Aber noch mehr ist möglich. Ich sprach von Gegenerfahrungen; auch sie haben in den Psalmen Sprache gefunden: In den Psalmen finden sich Worte, die von Vertrauen und Geborgenheit inmitten der
Angst sprechen, und sie sind charakteristisch für den Umgang der Psalmen mit der Angst. Das Problem der Angst wird nicht „gelöst“; wer von uns hätte im Ernst eine Lösung für den täglichen Kampf
mit der Angst? Aber wir können der Angst Gegenerfahrungen entgegensetzen – wenn wir eine Sprache dafür haben, die der Suggestion der Angst standhält.
Die Sprache der Appelle oder der läppischen Mutmachversuche kann das nicht leisten; es muss eine
Sprache sein, die eine andere Wirklichkeit aufschließt: Deine Hand hält mich fest (Ps 63,9), Du hältst
mir den Kopf hoch (Ps 3,4), Du bist mein Fels (Ps 31,4). Kinder begreifen auf Anhieb das Tröstliche
dieser Worte, sie verstehen, dass sie unmittelbar mit den Erfahrungen der Angst und der „Traurigkeit
ohne Grund“ zu tun haben.
Das Tröstlichste von allen ist: Du bist bei mir (Ps23,4), und eben dies ist die Bedeutung des Namens
Gottes in der hebräischen Bibel. Er heißt: „Ich bin da, ich bin bei euch“ (2. Mose 3,14).
Die Kinder beziehen diese Du-Sätze zunächst auf zwischenmenschliche Erfahrungen, etwa wie schön
es ist, wenn die Mutter auf einmal sagt: „Ich bin doch da, ich bin bei dir!“ Und davon erzählen auch
solche Kinder in ganz warmen Farben, von denen wir ahnen, dass sie selbst diese Erfahrung ganz selten machen, wenn überhaupt. Kinder haben bis zu einem gewissen Grade noch die Kraft, Defizite in
Sehnsucht zu verwandeln, und die Psalmen helfen ihnen auch dazu, dieser Sehnsucht nach menschlicher Geborgenheit Sprache zu geben. Aber irgendwann kommt die Einsicht, vielleicht nur als Frage:
Das kann der doch auch sagen, wenn er ganz allein ist?
Und damit sind wir auf einmal an der Schwelle zu der Erfahrung, die wir mit dem Wort „Gott“ nur
sehr unvollkommen andeuten können. Hier aber können auch Kinder ohne religiöse Sozialisation und
Vorkenntnisse anfangen zu begreifen, dass wir mit der Bibel von einer Wirklichkeit sprechen, die sie
erfahren können, wenn wir von „Gott“ reden. Diese Möglichkeit, Kindern eine solche Erfahrung zu
öffnen, in der Gott nicht mehr erschreckend groß und zutiefst ambivalent ist, sondern ganz eindeutig,
ganz tröstlich, ganz mir zugewandt: das war am Ende für mich die erstaunlichste, größte Entdeckung
auf dieser Reise.
Das ist eine Erfahrung noch diesseits des törichten Streits, ob „es Gott gibt“ oder nicht – wie soll in
solcher Sprache überhaupt Sinnvolles zur Gottesfrage gesagt werden können? Wer bin ich denn, dass
ich mir anmaßen kann, so „über“ Gott zu reden? Nicht die Sprache des distanzierten klugen Redens
„über“ Gott, sondern nur die Sprache der Anrede, der Klage, des Vertrauens, des Lobes, das Nennen
seines Namens, kann Kindern eine eigene Wahrnehmung dieser Wirklichkeit eröffnen.
Hoffnung wächst aus Erfahrung
Hoffnung lässt sich nicht lernen abseits der Gottesfrage. Ich muss wirklich starke Gegenerfahrungen
aufbieten, wenn ich dem Druck der täglichen Erfahrungen und Ängste, der Nachrichten und der aggressiven Bilder standhalten will. Selbst die Vertrauensworte der Psalmen sind allein noch nicht genug,
um Hoffnung zu lernen: Sie sind erst die Schwelle, über die hinweg ich die ersten Schritte tun kann.
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Hoffnung braucht noch mehr Erfahrungen, etwa solche, wie sie in den großen Lobpsalmen zur Sprache kommen (etwa Ps 104 und 139), die unsere Augen erst richtig öffnen für die Schönheit des Lebens
und dafür, wie ich eingebettet bin in ein Netz, dass mich trägt, quellendes Wasser und mächtige Bäume, Luft zum Atmen und aufgehende Saat, so viel Licht und Farbe und Schönheit um mich, das Wunder des gestirnten Himmels und des neu geborenen Kindes (Ps 8), das doch schon vollkommen „bereitet“ ist (Ps 139,13).
Ich brauche das alles, um Gegenerfahrungen gegen die Macht der Hoffnungslosigkeit zu mobilisieren;
ich habe Hoffnung nicht mit einem Schlage gelernt, sondern muss sie täglich neu buchstabieren. Dazu
helfen mir die Schöpfungspsalmen mit ihren Argumenten, die Wundergeschichten im Neuen Testament mit ihren Erfahrungen (die mit Hilfe der Psalmen für Kinder ebenso beredt werden), die Auferstehungsbotschaft mit ihrer behutsamen eindringlichen Didaktik, mit der sie mich bis an die Todesschwelle und darüber hinaus führt.
Ein Lernen, das niemals endet
So beschrieb Manes Sperber den Umgang mit der Bibel im Judentum von Kind auf, und er fügt hinzu:
„Den Gelehrten nannte man nicht den Gelehrten, sondern den Lerner“. Das ist die Rolle der Lehrenden, die wir in diesem Unterricht auch erfahren haben: Die Psalmen machten uns alle gemeinsam zum
Lernenden, oft so, dass erst die Äußerungen der Kinder uns die Augen öffneten für eine Tiefe der Bedeutung, die wir vorher noch gar nicht wahrgenommen hatten.
So befreite uns dieser Unterricht aus der Rolle der Alles-schon-Wissenden; wir wurden selbst wieder
zu Entdeckenden; und die Psalmen befreiten uns damit auch aus der Rolle der Ermahnenden, Appellierenden, Glauben Fordernden. Sie ermöglichten eine Art des Umgangs, aus dem die Kinder anderes
mitnehmen konnten als theologische Richtigkeiten, Appelle und Ermahnungen: Worte die sie begleiteten und zu ihnen sprachen, wenn sie allein waren, und sie trösten konnten; es war eine Entdeckungsreise, auf der die Kinder mit ihren eigenen Erinnerungen auch ihre eigenen Ressourcen und Widerstandskräfte neu entdeckten.
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Beispiel 2: Hans Freudenberg und die Symboldidaktik
(Wermke, Aus gutem Grund RU, Göttingen 2002
Reli in einem dritten Schuljahr: In der Mitte des Stuhlkreises liegen Postkarten mit unterschiedlichen
(offenen und geschlossenen) Türen und Toren (Bauernhaus, Schule, Schloss, Garten, Kirche ...) –Die
Kinder wählen einzelne Motive aus, sprechen dazu, sehen sich selbst als Tür, berichten von eigenen
ambivalenten Erlebnissen mit einladenden und abweisenden Türen, schreiben kleine Beiträge zu einem „Tür-Buch“. Die Lehrerin führt ein Lied ein: „Sein Haus hat offne Türen, er ruft uns in Geduld,
will alle zu sich führen, auch die mit Not und Schuld“ (EG 225). Im Gespräch versuchen die Kinder zu
klären: Wem könnte so ein Haus gehören? Wie fühlt es sich an, vor so einer Tür zu stehen? Was erwartet mich …?
Am Beispiel der Zachäusgeschichte erfahren die Kinder, wie Gott durch Jesus Türen öffnet (die Tür
zum Haus und zum Herzen des Zöllners), aber auch Türen zu Kranken, zu Kindern. Unter Bezug auf
ihre eigene Lebenssituation lernen sie: Gott ist so eine Tür, die immer und für alle offen steht.
Die Mädchen und Jungen erfahren in der Metaphorik der geöffneten Tür: Eine offene Tür ist wie eine
Einladung, wie Arme, die sich mir entgegenrecken, wie ein aufmunternder Blick, wie ein tröstendes
Wort, wie der Anfang einer Freundschaft. Eine offene Tür verbindet Menschen und Räume, bietet
Zuflucht und Schutz. Türen öffnen Mauern, auch solche der Vorurteile und der Angst, Türen ermöglichen Begegnungen. Jesus ist die Tür zu Gott, in ihm wird Gott selbst zur Tür!
Sodann überlegen die Mädchen und Jungen in Anlehnung an das o.a. Lied: Wer kann durch diese Tür
gehen? Sie malen Bilder dieser Menschen (z.B. Kranke, Einsame, Alte), Tiere, sich selbst, schneiden
diese Bilder aus und kleben sie auf die Tür-Innenflügel eines vorbereiteten Kartons (vorn sind zwei
klappbare Papp-Türflügel angebracht; Stk). Die Kinder überlegen auch, welche Erfahrungen, Gefühle,
Ängste und Hoffnungen sie persönlich durch die offene Tür Gottes in dessen „Haus“ tragen möchten.
Beispiele werden auf Wortkärtchen auf das Innere der Tür geklebt. Im Halbkreis vor der Tür erzählen
die Kinder (freiwillig!): Wann habe ich diese Gefühle, Ängste … erlebt? Wie fühlt es sich an, damit zu
Gott kommen zu dürfen?
Noch längere Zeit wird die „Tür“ die Klassenwand schmücken und für ganz individuelle und persönliche Anliegen wie eine Gebetswand aufnahmebereit sein.
Relevanz und Lernmöglichkeiten des RU mit Symbolen
Biblische Sprache ist im Wesentlichen bildhaft-symbolische Sprache. Sie weist über sich hinaus auf
eine tiefere, hintergründige Wirklichkeit, die die Welt des Faktisch-Konkreten und Zweckrationalen
transzendiert. Im Beispiel: Vordergründig gesehen ist ein Haus die Summe architektonischer und
baumeisterlicher Aktivitäten. Im bildhaft-hintergründigen Sinn steht es für Geborgenheit und Heimat.
Als Symbol ist „Haus“ mehrdeutig: Es verweist auf Bedürfnisse und Lebensgründe, die wir nicht gelegt
haben, die unverfügbar sind. – In gleicher Weise steht „Weg“ für Aufbruch und Wagnis, für SichBewegen und Sehnsucht, ist „Brunnen“ Chiffre für (Lebens-)Durst, Reinigung, Quelle, Tiefe, Verwandlung, spiegelt sich im Sternenhimmel von 1. Mose 15 nicht nur das Bild kommender Generationen aus Abrahams Samen, sondern auch die Weite und Unendlichkeit Gottes.
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Symbole gleichen Schlüsseln zu den Tiefenschichten, zu den Gründen des Lebens und des Glaubens.
Sie speichern und vermitteln Jahrtausende alte Erfahrungen und wollen wieder in aktuellen Erfahrungen wirksam und (mit-)teilbar werden. Beispiel: Das „lebendige Wasser“ aus Joh 4 trägt in sich die
Frage, aus welchen Quellen sich unser Lebensdurst speist, was für uns sinnhaftes Leben, Erfüllung und
Lebensglück ist, welche (vielleicht verschütteten) Ressourcen vielleicht in uns aufgedeckt werden wollen. Symbole kann man nicht erfinden und nicht erklären; sie müssen sich einem über eigenes Erleben
und Erfahren, über Gefühle erschließen. Sie wirken, indem man sich auf sie und die in ihnen eingelagerten Erfahrungen und Sichtweisen einlässt, so wie sich im Eingangsbeispiel die Schülerinnen und
Schüler auf die „Tür“ als Symbol eingelassen und mit diesem Symbol kommuniziert haben.
In Aufnahme von Gedanken Fulbert Steffenskys lässt sich Religionsunterricht in einer Zeit vergehender Träume als Erinnerungs- und Zukunftswerkstatt begreifen. RU ist Mittler von verlässlichen „Bildern der Lebensrettung“: „Dass das Leben kostbar ist; dass Gott es liebt; dass einmal alle Tränen abgewischt werden sollen; dass wir zur Freiheit berufen sind und dass die Armen die ersten Adressaten des
Evangeliums sind … Dass das Recht siegen kann und dass man hoffen kann…“
Die Bilder und Symbole des Glaubens halten die Zusage wach, dass Menschen ihren Wert weder durch
Leistung gewinnen noch durch Versagen oder vermeintliche gesellschaftliche „Nutzlosigkeit“ verlieren. Wenn Symbole unverzichtbare Wegbegleiter der Reise von außen nach innen sind, ist es verständlich, wenn z.B. die Grundschulrichtlinien NRW (Ev. Religionslehre) die Einführung in die Bild- und
Symbolsprache der Bibel als grundlegende Aufgabe religiöser Bildung sehen. ( … )
Symbolerziehung in der Grundschule setzt sich als ganzheitlicher Prozess aus vielen „Bausteinen“ zusammen, die in unterschiedlicher Intensität und situationsbezogen zum Tragen kommen: Alles,was
geeignet ist, Türen und „Fenster zum Geheimnis der Welt“, wie der katholische Symboldidaktiker
Hubertus Halbfas formuliert, zu öffnen und den Symbolsinn zu alphabetisieren, hat hier Raum:
Handelnder Umgang mit symbolhaltigen Dingen. Viele Dinge des Alltags, nicht nur Türen, sind symbolträchtig und können Verborgenes offenbar machen: Steine und Blüten, Federn und Muscheln,
Baumscheiben und Baumrinde, Holzreste und Samenkörner, Tonscherben und Salz, Sand und Blätter,
Brot und Erde…
Nehmen wir als Beispiel die Steine: Steine eignen sich besonders gut, um von der ambivalenten Wirklichkeits- zur Symbolebene durchzudringen. Auf der Wirklichkeitsebene sind Steine sind hart und
kalt, kommen aus der Tiefe der Zeit, drücken Dauerhaftigkeit, Unendlichkeit und Festigkeit aus; auf
der Symbolebene bergen Steine vielleicht Urlaubserinnerungen und Geheimnisse, haben eine Geschichte, regen die Fantasie an („Welcher Stein möchte ich sein?“ – „Wo/Wann bin ich manchmal
selbst wie (ein) Stein?“ – Steine in Sprichwörtern und Redensarten, z.B. „Mir fällt ein Stein vom Herzen“), in biblischen Geschichten (z.B. Wasser aus dem Felsen, Ex 17), in Liedern (z.B.
„Ins Wasser fällt ein Stein …“) – Steine nützen und schützen: Aus Steinen kann man Brücken und
Häuser bauen. – Taufsteine und Grabsteine erzählen Lebensgeschichten.
Zur Stille finden – Aus der Stille leben
Der Weg von außen nach innen wird erschwert durch Stress und Hektik, Lärm und Gefühlsarmut,
durch Erleben der Wirklichkeit aus „zweiter Hand“. Er wird begünstigt durch Zur-Ruhe-Kommen
und Sensibilität, durch Schweigen-Können und Sich-Öffnen für das Leise, durch Entdecken der Lang-
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samkeit, und eine Kultur der Wertschätzung. Gute Erfahrungen machen Lehrerinnen und Lehrer mit
Phantasiereisen und Stilleübungen, meditativem Tanz und Arbeit mit Mandalas („Zur Mitte finden“ –
„Meine Mitte finden“).
Für H. Halbfas stehen Übungen der Stille am Anfang des Weges zur „heilsamen Mitte“, zum Ursprung, d.h. zu Gott; in der „Mitte“ verschränken sich Selbsterfahrung und Gotteserfahrung: Nicht im
(Sturm-)Wind begegnet Elia Gott (1. Könige 19), auch nicht im Erdbeben oder im Feuer, sondern im
stillen, sanften Sausen. „Nur im Schweigen gelangt der Mensch vor Gott“ (Romano Guardini).
Als Beispiel kann eine Imaginationsübung in Verbindung mit dem Wort aus Johannes 10 „Ich bin die
Tür“ dienen; nach entsprechenden Vorbereitungen im Blick auf Sitz und Atmung werde folgende Impulse gegeben: „Stell dir eine Tür vor … Sie führt zu einem (paradiesischen) Garten … Die Tür öffnet
sich … Schau den Garten … Schau, was wächst und gedeiht … Schau auch, was vergeht … – Weiterführender Impuls: Eine Stimme spricht zu dir: „Ich bin die Tür zum Leben …“ (vgl. G. und R. Maschwitz, Stille-Übungen mit Kindern).
Feste und Feiern
Im RU eines 2. Schuljahres ist die Josefs-Geschichte erarbeitet worden. Gestalterisch und mit Rollenspielen, erzählend und musizierend haben die Kinder Josefs Weg begleitet. Die abschließende Feier(Doppel-)Stunde lässt noch einmal Rückschau halten. Der Raum ist festlich geschmückt, Sets mit Motiven aus Gen 37ff liegen aus, kleine Köstlichkeiten für das Wiedersehens- und Versöhnungsfest (Fladenbrot – altägyptischer Salat – Pfefferminztee) sind vorbereitet. Ein Spiellied vergegenwärtigt noch
einmal Höhe- und Tiefpunkte der Erzählung. In einer Symbolhandlung teilt Josef sein buntes Kleid in
viele Streifen und macht so die Versöhnung und Geschwisterlichkeit erlebbar und auf eigene Erfahrungen und Träume hin transparent.
Feste sind Höhepunkte gemeinsamen Lebens und Lernens, sie stiften Gemeinschaft und machen Religion „sinnlich erfahrbar“. Handelnd werden so im gemeinsamen Feiern zentrale Inhalte christlichen
Glaubens anschaulich und leibhaftig. Wenn ein Fest gelingt, verhilft es zu einer vertieften und erweiterten Sicht der Dinge. Vieles kann unter Bezug auf Feste des Kirchenjahres, auf Gegenstände des
Lehrplans oder in Verbindung mit dem Schuljahr ein kleines oder aufwändigeres Fest begründen: Die
Heimkehr des verlorenen Sohnes (Lukas 15) ebenso wie ein „Bibel-Fest“ nach einer Unterrichtseinheit
„Bibel: Die gute Nachricht weitersagen“ oder ein Fest, das die Wunder der Schöpfung bestaunt oder
die Kinder Gäste „bei den Völkern der Erde“ sein lässt.
Feste vergegenwärtigen in Symbolen und Symbolhandlungen den Festanlass und bringen in spezifischen Symbolen und Ritualen das Geheimnis des zu Feiernden zum Leuchten, unterbrechen produktiv
den (Schul-)Alltag.
Erlaubnisraum Kirche (Kirchenraumerkundung)
Der Anspruch, gelebte Religion außerhalb der Schule zu entdecken, lässt sich – je nach örtlichen Gegebenheiten – besonders gut im Rahmen von Kirchgängen einlösen. Steine sollen zum Reden gebracht, eine eigene Beziehung bei den Schülern zu einem Ort aufgebaut werden, der vielen fremd ist.
Beispiel: Kinder eines 4. Schuljahres erkunden zunächst die Außenfassade einer Kirche, danach den
Innenraum: Jede(r) sucht einen Platz, der ihr/ihm besonders gut gefällt – Ich schließe die Augen. Ich
lasse den Raum auf mich wirken … Was empfinde ich? Welches Gefühl vermitteln mir die dicken
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Mauern? – Was interessiert mich besonders? Ich trete näher heran, untersuche es, versuche, nähere
Informationen darüber zu erhalten.
Kirchen sind nicht nur Raum, Stein, Holz, Bronze gewordene Religion, sondern symbolische Verdichtungen, die es zu entschlüsseln und zu erschließen gilt: Das Gebäude als Arche und bergender Ort, die
Kerzen auf dem Altar, das Taufbecken, die Glocken, die Bilder, der Altar, die Turmuhr. Die Auseinandersetzung mit diesen symbolhaltigen Ausstattungsgegenständen kann viel zur religiösen Bewusstseinserweiterung durch sinnliche Wahrnehmung beitragen.
Räumliche und sächliche Ausstattung
Eigentlich jeder Unterricht, insbesondere aber ein einem ganzheitlich symbolischen Ansatz verpflichteter Religionsunterricht verlangt nach einer anregungsreichen, einladenden Lernumgebung. Dies
bedeutet etwa die Einrichtung einer kleinen „Oase“, also einer Stilleecke. Hierhin können sich einzelne
Kinder auf Zeit zurückziehen und sich individuell und in eigenem Tempo beschäftigen.
Ein solcher Raum kann enthalten: Tücher – Kissen/Decken – Kerze – Krug/Schale mit Wasser – Symbolbilder – frische Blumen – ausgewählte Bilderbücher. Es bedeutet auch die Einrichtung eines Arbeitsateliers, z.B. mit Regalen – Arbeitsflächen – Materialecke (Schreibmaterialien – (Bild-)Karteien –
ausgewählte Psalmworte und Bibelverse – Knete – Bethelpuppen – Korken – Steine – Kassetten mit
meditativer Musik/Erzählkassetten – Klangschalen – Düfte (sparsam) – Mandalas – Gegenstände aus
der Natur – Holzreste etc.).
Der Religionsunterricht versteht seinen Beitrag zum „Haus des Lebens und Lernens“ so, dass er alle
Ansätze unterstützt, die Leben und Lernen vielfältiger, hoffnungsvoller, tiefer, reicher, widerstandsfähiger machen.
Auch religiöses Lernen muss „Sachen klären“ (H. von Hentig), muss dialog- und auskunftsfähig machen, muss Lernfortschritte belegen können. Jedoch stiftet allein die Belehrung z.B. über Hoffnungen
der Religion noch keine existenziellen Hoffnungsperspektiven zur Gestaltung des eigenen Lebenshauses. Darum stellt von Hentig der Zielperspektive „Sachen klären“ die andere zur Seite: „Personen stärken!“ Der Erschließung von biblischen Symbolen und Bildern, der Beheimatung in wohltuenden Erfahrungen der Menschen kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Noch einmal im Bild der Tür: Religionsunterricht, der in der beschriebenen Weise begabt, öffnet Türen (zu Geheimnissen und Hoffnungen, zum Nächsten, zu Träumen, die nicht zerplatzen dürfen, – zu Gott). Er bahnt Grenzüberschreitung an, nimmt den aufmerksamen Gastgeber in den Blick, der selbst zur Tür wird und freundlich
einlädt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken!“
H. Halbfas: Das dritte Auge. Religionspädagogische Anstöße, Düsseldorf 1982
G. u. R. Maschwitz: Stille-Übungen mit Kindern. Ein Praxisbuch, München 1993
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Beispiel 3: Elisabeth Buck und der Bewegte RU
(Wermke, Aus gutem Grund RU, Göttingen 2002
Von Zeit zu Zeit durchstöbere ich eine Schublade, in der ich besondere Schätze aufbewahre: Briefe und
Gemälde meiner Schülerinnen und Schüler aus dem Religionsunterricht.
Beispiel 1
Da fällt mir dann immer dieser Zettel in die Hand, geschrieben von der sechsjährigen Natalie an ihren
Klassenkameraden: „Lieber Christian, du bist ein Kaote. Du fengst mich immer in der Pause. Und zu
der Martina sagst du fette Kuh. Martina kann ga nichts dafür das sie so dick ist. Also gewöhn dir das
ab. Oder soll ich dich so nennen: Du alter Knochenkopf? Deine Natalie!“
Ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr sich dieses Mädchen empört hat, wenn man seine übergewichtige Banknachbarin beleidigt hat. Inzwischen ist Natalie fünfzehn. Die alten Erzählungen aus dem
Religionsunterricht über diesen Jesus von Nazareth, wie er sich vor etwa 2000 Jahren auf die Seite der
Außenseiter und Schwachen gestellt hat, diese Erzählungen sind für Natalie in ihrem Umgang mit
anderen noch immer relevant. Da lässt sie sich von keiner Respektsperson etwas anderes vormachen.
Beispiel 2
Ebenfalls in dieser Schublade liegt ein Gemälde, das mir die achtjährige Nadja geschenkt hat. Sie malte
die hebräischen Sklaven, wie sie aus Ägypten fliehen und einen Ausweg durch das Schilfmeer geöffnet
bekommen. „Cool“, sagen alle in ihren Sprechblasen auf Nadjas Bild. Cool, so fand Nadja diese ganze
wundersame Mose-Erzählung aus dem Alten Testament der Bibel, cool die Menschen, die aus der
Unterdrückung aufbrechen trotz der ungewissen Zukunft. Und cool, wie in dieser alten Geschichte
davon erzählt wird, dass da ein mächtiges, höheres Wesen mitwandert – diese mächtigste Person, die
man Gott nennt. Erstaunlich – ein Gott, der die Welt und das Universum geschaffen hat und sich auf
die Seite der armseligen Flüchtlinge stellt, statt auf die Seite der glänzenden, erfolgreichen ägyptischen
Weltmacht. Nadja macht das deutlich in ihrem Bild, indem sie den vordersten Sklaven mit geflickter
Kleidung zeichnet. Und Nadja fand es sehr aufregend, sich vorzustellen: Wenn es denn einen Gott
gibt, der das Leben erfunden hat, „kümmert der sich auch um mich?“ Wo es doch so viele, viele Menschen gibt auf der Welt!
Beispiel 3
Und dann liegen da auch in einer Ecke meiner Schublade zwei kleine Steine. Die hat mir Florian geschenkt, als er acht Jahre alt war. Ich erinnere mich, dass ich für jedes Kind seiner Klasse einmal kleine
Strandkiesel mitgebracht hatte. Jedes Kind untersuchte und erforschte seinen Kiesel nach allen besonderen Merkmalen: Wie ist seine Farbe? Sind Linien, Punkte, Flecken zu sehen? Welche Form hat er,
und gibt es da Schrammen, Ecken und Kanten? Später wurden die Steine alle wieder zusammengeworfen und gemischt. Und dann hat jedes Kind seinen Stein wieder herausgesucht. Das war uns Anlass
zum Gespräch: Jeder Stein ist einmalig. Jeder Stein hat viel erlebt auf seiner Reise vom Gebirge ins
Meer bis an das Ufer, wo er gefunden wurde. Da fiel der Vergleich mit uns selbst nicht schwer: Jeder
von uns ist einmalig. Jeder von uns hat viel erlebt, jeder von uns hat Ecken und Kanten, jeder hat auch
Schrammen und Narben durch das Leben mitbekommen.
75
Anschließend haben wir uns ein altes Lied aus der Bibel angesehen: „HERR, du erforschst mich und
kennst mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es, du verstehst meine Gedanken von ferne. … Von
allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. … Nähme ich Flügel der Morgenröte
und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich
halten… Du hast mich gebildet im Mutterleib. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht
bin…“ (Aus Psalm 139)
Florian hat das sehr gefallen. Er ist ein lebhaftes, fantasievolles Kind. Oft geben ihm seine Eltern und
Lehrer zu verstehen, dass seine „Ecken und Kanten“ stören. Ich konnte ihm ansehen, wie ihn das angesprochen hat: Da wird von einem Gott in der Bibel erzählt, der darauf Wert legt, dass seine verschiedenen Geschöpfe einzigartig sind. Und so hat Florian eine Woche später zwei Steine mitgebracht, die
er in seinem Garten aufgelesen hatte: „Da, Frau Buck, die sin’ für dich, weil, die sin’ ganz verschieden,
die zwei Steine.“
Relevanz und Kompetenz im Bewegten RU
Religionsunterricht lebt von der Kompetenz der Kinder, sich mit Fragen über Gott und die Welt aktiv
auseinandersetzen zu können. Diese Auseinandersetzung betreiben Kinder von sich aus, außerhalb der
Schule, mit Haut und Haar, mit Kopf, Herz, Hand und Fuß. Sie spielen „tot sein“, sie beerdigen tote
Mäuse und Kohlmeisen im Garten, sie beschriften Tonscherben als Grabstein und legen Blumen dazu.
Sie spielen „Himmel und Hölle“, sie spielen „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“…
Und gerade von grundsätzlichen Themen fühlen sich Kinder herausgefordert. Nämlich von Themen,
die ihr Selbstverständnis betreffen: „Wo komme ich her?, „Wohin gehen wir, wenn wir sterben?“ Ältere Kinder fangen an zu fragen: „Wozu lebe ich?“ Wenn Kinder spielen, wechseln sie ständig die Perspektive. Sie schlüpfen in die Rollen von Indianerhäuptlingen und Prinzessinnen. Sie schlüpfen aber
auch in die Rollen von Dienern und Sklaven. Sie spielen Polizisten und sie spielen Räuber. Sie klettern
auf Bäume und betrachten die Welt von oben. Sie kriechen auf dem Bauch durchs Gebüsch und sehen
sich die Dinge von unten an. Sie wechseln sowohl räumlich leiblich als auch mental immer wieder
Standort und damit den Blickwinkel. Und so sind sie neugierig und daran interessiert, auch existentielle Fragen von verschiedenen Standpunkten aus – und damit eben in unterschiedlicher Perspektive –,
zu untersuchen.
Im Bewegten Religionsunterricht, wie er in den neunziger Jahren entstanden ist, wird dieser Kompetenz
der Kinder auch innerhalb der Schule Raum gegeben, nämlich der Kompetenz, von Kopf bis Fuß danach zu forschen, wie man das Leben verstehen könnte. Wenn man Kinder ernst nehmen möchte,
muss man auch ihre Zugangsweisen ernst nehmen. Kinder lernen in allen Bereichen über das Wechselspiel von Wahrnehmung und Bewegung. Und so darf diese Zugangsweise auch im Religionsunterricht nicht außen vor bleiben. Der Bewegte Religionsunterricht lebt dadurch, dass Kinder Meister sind
im Rennen, Kriechen, sich Verstecken, Klettern, Tasten, Schnuppern, Springen, Schleichen… und dass
auf diese Weise die Gedanken der Kinder in Bewegung geraten.
Mit den Kindern zusammen geht es in diesem Unterricht auf Entdeckungsreise: Und zwar wird mit
den alten, archetypischen Erzählungen aus der Bibel gespielt. Diese Erzählungen über Erfahrungen mit
einem liebenden Gott fordern die Kinder heraus, sich in wechselnden Perspektiven auf deren Spuren-
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suche zu begeben. Mit Kopf, Herz, Hand und Fuß geschieht sie, diese Spurensuche, in Rollenspielen,
Symbolspielen, Pantomime oder in Tanzspielen, im Singen und Musizieren, im Spiel mit Sprache.
Diese Perspektivenwechsel erlauben es den Kindern und Jugendlichen, sich lebenswichtigen Grundfragen von verschiedenen Blickwinkeln und unterschiedlichen Standpunkten aus anzunähern:
Hat das Universum, hat das Leben, habe ich einen Ursprung in einem Urheber?
Von welchen ungewöhnlichen Erfahrungen mit einem solchen Urheber erzählen über Jahrtausende hinweg die verschiedensten Menschen?
Ist es ein liebendes Wesen?
Wenn es einen solchen liebenden Urheber gibt – nennen wir ihn Gott –, wie verändert das
meinen Umgang mit den Menschen neben mir?
Welchen Wert hat „Leben“?
Wie gehen wir mit „Schuld“ um, mit eigenem Versagen, mit Kränkungen durch andere?
Ist mit dem Tod alles aus?
Ist ein „Zuhause“ vorstellbar, wohin ich gehe, wenn ich gestorben bin?
Man kann es nicht oft genug betonen: Kinder kennen keine Gedankentabus und sie sind nicht zufrieden, wenn diese Fragen von vielen Erwachsenen in ihrer Umgebung einfach beiseite geschoben werden. Im Bewegten Religionsunterricht werden diese Fragen mit den Kindern bewegt, nicht über sie
hinweg.
Da wird im Alten Testament der Bibel von Erfahrungen berichtet, die umherziehende Nomaden mit
einem Gott gemacht haben. Diesen Gott haben sie als den „Einzigen“ anerkannt. Und dieser Einzige
zeigt Emotionen, die bei Menschen Widerhall finden: Liebe, Sorge, Mitleid. Die Geschichte dieses Gottes mit Menschen, die sich ansprechen lassen, wird als Liebesgeschichte erzählt. Diese Liebesgeschichte
verändert das Zusammenleben der Menschen. Denn aus der Liebesgeschichte zwischen diesem Gott
und den Menschen entstehen Regeln, die das Leben schützen und Freiheit ermöglichen:
Du musst niemand Höheren anerkennen über dir als allein Gott.
Du sollst dir regelmäßig Ruhe gönnen und der Liebe zwischen dir und Gott Zeit geben.
Die Würde des Alters ist unantastbar.
Das Leben ist unantastbar.
Die liebende Verbindung zweier Menschen ist unantastbar.
Arme müssen vor der Habgier reicher Menschen geschützt werden.
Der gute Ruf eines jeden ist unantastbar.
Und dann kommt im Neuen Testament der Bibel diese provokante Lebensgeschichte des Jesus von
Nazareth zur Sprache, an dem sich heute noch die Geister scheiden. Die Spurensuche nach den Überzeugungen und der Lebensart dieses Jesus finden Kinder höchst aufregend. Denn es zeigt sich dabei
auch an vielen Stellen ein großer Widerspruch zu heutigen Trends und gesellschaftlichen Mechanismen: Statt in einem Königspalast wird Jesus in einer Viehbaracke geboren, statt mit Bodyguards umgibt er sich mit Versagern und Außenseitern, statt Ellbogen zeigt Jesus seine helfende Hand.
Wie mit einem Brennglas wird hier die Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen herausgehoben: Es
finden sich in den frühen Schriften der ersten Christen erstaunliche Interpretationen. So soll sich hier
in der Person des Jesus von Nazareth Gott selbst in die Hände der Menschen gegeben haben und sich
ausgeliefert haben bis in die eigene Vernichtung hinein, bis in den Foltertod. Dieser Machtverzicht
77
Gottes, der keine Unterwerfung fordert sondern seine Freundschaft anbietet, bestimmt die Perspektive
christlicher Lebenseinstellung.
Dann ist da auch noch der Skandal, mit seinem Sterben sei es mit diesem Jesus nicht aus gewesen.
Viele Menschen waren erschreckt von Erlebnissen und Begegnungen, die sie zu der Überzeugung
brachten: Jesus ist auferstanden. Gott hat den Tod besiegt. Zahllose Menschen bis heute sind wie elektrisiert von dieser Geschichte, die unerklärbar geblieben ist. Auch wenn es immer wieder Erklärungsversuche gibt, sie werden diesem Ereignis jenseits der Grenze unserer erklärbaren Wirklichkeit nicht
gerecht. Gerade Kinder geben sich mit banalen Erklärungsversuchen nicht zufrieden und werden sogar ärgerlich, wenn ihnen eine Interpretation von Ostern als zu billig erscheint.
Mit Kopf, Herz, Hand und Fuß untersuchen Kinder diese Spuren religiöser Lebensdeutungen. Und
Kinder zieren sich nicht, dafür im Spiel die unterschiedlichsten Standpunkte auszuprobieren, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, sich anzunähern, um verschiedene Blickwinkel kennen zu lernen. Dafür sind sie zu ernsthaft an den relevanten Lebensthemen interessiert, als dass sie sich distanziert und
unberührt zurücklehnen wollten. Und dafür stehen sie zu sehr mitten im Leben: Im Pausenhof gibt es
ständig Situationen von Mobbing und Hierarchiekämpfen; Kinder erleben, dass ihre Wertschätzung
an ihre schulische Leistung gekoppelt wird; auch Kinder werden mit dem Tod junger Freunde oder
Verwandter konfrontiert und viele Eltern entziehen sich dem Gespräch; Eltern streiten sich und Väter
ziehen aus… Kinder haben ein Recht darauf, dass ihre Fragen über Gott und die Welt in der Schule
respektiert werden. Kinder haben ein Recht darauf, dass sie sich gemeinsam mit respektvollen Lehrerinnen und Lehrern mit diesen Fragen auseinandersetzen können. Und diese Auseinandersetzung, wie
gesagt, betreiben Kinder gerne und intensiv mit Haut und Haar, mit Kopf, Herz, Hand und Fuß, um
der notwendigen Perspektivenwechsel willen.
Beispiel 4
Zwölfjährige Schülerinnen und Schüler wünschen sich, Gedanken zum Thema „Tod“ zu gestalten.
Kurz vorher hatte es einen schrecklichen Unfall in unserer Gegend gegeben. Nach einem Discoausflug
waren zwei Autos mit jungen Leuten frontal zusammengestoßen. Sieben Jugendliche sind dabei ums
Leben gekommen und sieben Kreuze stehen seither an der Unfallstelle am Rand der B22 bei Bamberg.
Geschockt von diesem Ereignis haben die Jungen und Mädchen meiner Unterrichtsgruppe aber auch
dies bemerkt und wohl befremdet reagiert: Da stehen einzelne Holzkreuze ganz schlicht, andere Kreuze daneben sind überreich verziert mit geschnitzten Ornamenten und Dächern.
Die Kinder sammeln Ideen, wie man im Spiel darstellen könnte, dass der Tod keine Unterschiede
macht; die verschiedensten Menschen sollen in diesem Spiel dem Tod begegnen und ihr übliches
Machtgehabe wird sich als sinnlos erweisen. Frank will einen reichen Bankdirektor spielen, er bringt
das nächste Mal einen Aktenkoffer mit und Spielgeld. Martin und Christoph wollen Skinheads sein,
das martialische Outfit einschließlich eines Messers und zwei leerer Bierflaschen bringen auch sie das
nächste Mal mit. Und Liane spielt eine alte Bettlerin mit Stock. Markus möchte den Tod spielen, mit
schwarzem Umhang und schwarzer Gesichtsmaske.
Und so entsteht aus der gemeinsamen Planung folgendes Spiel: Alle Schülerinnen und Schüler stehen
im Kreis, ein paar Stühle nebeneinander bilden eine Parkbank in der Mitte. Nur „der Tod“ steht au-
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ßerhalb des Kreises. Aus dem Ring aller Kinder löst sich zuerst Liane als alte Bettlerin mit dem Stock,
humpelt zur „Parkbank“ und setzt sich mühsam. Als Nächstes treten Martin und Christoph als Skinheads aus ihrer Reihe. Sie stürmen zur „Parkbank“ und bedrohen die Bettlerin mit dem Messer. Bevor
sie ihr etwas antun, kommt würdevoll Frank, der Bankdirektor. Er setzt sich ebenfalls auf die Bank,
wenn auch in angemessenem Abstand zur Bettlerin. Die beiden Skinheads bleiben stehen und setzen
ihre Bierflaschen an den Mund. Plötzlich bricht Markus als Tod durch den Ring der Kinder. Er schreit
die Skinheads an: „Ihr seid jetzt dran. Ihr müsst mit.“ Die Skinheads wollen sich erst mit dem Messer
verteidigen, sie lassen die Bierflaschen auf dem Boden stehen und wollen den Tod abwehren, aber das
Messer fällt ihnen aus der Hand und der Tod zieht sie an der Hand aus dem Kreis nach draußen. Das
Messer liegt am Boden und bleibt zurück. Und wieder springt der Tod in den Kreis, um den Bankdirektor zu holen. Der will sich erst freikaufen. Er holt Geldscheine aus seinem Koffer, um den Tod zu
bestechen. Aber es nützt ihm nichts, der Tod zieht auch ihn aus dem Kreis, der Aktenkoffer und die
verstreuten Geldscheine bleiben zurück. Zuletzt holt der Tod nun die alte Bettlerin, die sich gar nicht
wehrt und ihren Stock zurücklässt. Außerhalb des Kreises legen die Spieler nun die restlichen Insignien ihrer Verkleidung beiseite und reihen sich ohne ihre Spielrolle wieder in den Kreis ein. Denn
auch sie möchten teilhaben an dem, wie sich das Spiel weiter entwickelt.
Nun steht also im Kreis die leere Bank und verstreut liegen Gegenstände am Boden: Ein Messer, Bierflaschen, ein Aktenkoffer, Geldscheine und ein Stock. Die Kinder haben für diese Szene eine Musik
ausgesucht, die wir nun mit dem Kassettenrecorder einspielen: Es ist ein Chorstück von Rudolf Mauersberger, das er nach der Bombardierung Dresdens im 2. Weltkrieg komponiert hat, – „wie liegt die
Stadt so wüst“.
Die Kinder stehen im Kreis, es klingt „wie liegt die Stadt so wüst“, – und im Kreis am Boden liegen die
Gegenstände, die ohne ihre Besitzer nun völlig sinnlos geworden sind.
Wer es möchte, kann nun selbst durch die Mitte des Kreises gehen und einen Gegenstand fallen lassen,
den er bei sich trägt: Eine Uhr, einen Kugelschreiber, ein Taschentuch, einen Busausweis…, was von
uns eben so alles zurückbleiben könnte, wenn wir einmal aus dem Kreis der Lebenden gehen.
Wir setzen uns alle. Eine lange, lange Gesprächsrunde schließt sich an. Sprichwörter eröffnen das Gespräch: „Arm oder Reich, vor dem Tod sind alle gleich.“ „Das Totenhemd hat keine Taschen.“ Und
dann sprudelt es aus den Kindern heraus, was sie bewegt: „Die meisten Leute sagen: Nur nicht daran
denken! Da darf man gar nicht darüber reden!“
„Mein Opa sagt aber manchmal, er würde jetzt gerne sterben, weil er nun lang genug gelebt hat.“
„Aber, was passiert denn, wenn man stirbt? Gibt es einen dann überhaupt nicht mehr, ist man dann
wie ausradiert?“ Viel Zeit braucht man für eine solche Gesprächsrunde, in der die Kinder ihre Vorstellungen über den Tod und ihre Fragen nach einem Leben nach dem Sterben zur Sprache bringen können. Und vielleicht wird sich herauskristallisieren: Wer über den Tod nachdenkt, wird sich bewusster
am Leben freuen können und wird das Leben ganz neu Wert schätzen. So hat man es schon vor Tausenden von Jahren ausgedrückt in einem Lied des Alten Testaments der Bibel: „Herr, hilf uns daran zu
denken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden.“ (Psalm 90, 12)
Solch ein Gespräch kann zu weiteren Fragen führen: Was gibt es denn alles für Vorstellungsmodelle
neben dem hinduistischen Glauben an die Wiedergeburt oder neben dem Volksglauben „Wir werden
alle Engel sein“? Womit rechneten die alten Erzähler aus dem Alten und Neuen Testament? Häufig
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erlebe ich, dass unter vielen Fundstellen einige besonders das Interesse der Kinder finden. Beispiel:
„Und Jesus schrie auf: Vater, ich gebe mein Leben in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, starb
er.“ (Lukas 23,46).
Manche Kinder finden sich gerade von diesem Aufschrei angesprochen. In einem Spiel können sie
dem nachsinnen: Jedes sucht sich ein Kind seines Vertrauens aus, – einen Helfer oder eine Helferin.
Dann stellt sich jeweils ein Kind mit geschlossenen Augen auf den Stuhl. Blind versucht es nun vom
Stuhl zu steigen und vertraut sich dabei den unterstützenden Händen seines Helfers an. Auch diese
Erfahrungen wollen dann im gemeinsamen Gespräch bedacht werden. Sie können auch nachwirken in
dem Lied Dietrich Bonhoeffers: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was
kommen mag…“
Wenn ich meine Schubladen durchforste, werfe ich in der Regel auch immer eine Menge weg. Unterrichtskonzepte, Arbeitsblätter, Texte, die mir nicht mehr gefallen oder von denen ich nicht mehr überzeugt bin, wandern in den Papierkorb. Natalies Brief, Nadjas Gemälde und Florians Steine und noch
einige andere Schätze, die mir Kinder geschenkt haben, werden nicht entrümpelt. Sondern sie weisen
mich immer wieder darauf hin: Mit ihrer ganzen Person stellen sich Kinder den wesentlichen Fragen
des Lebens mit Kopf, Herz, Hand und Fuß. Davor habe ich Respekt und davon möchte ich noch viel
lernen.
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Beispiel 4: Karlo Meyer und der interreligiöse Dialog
Karlo Meyer, Lea fragt Kazim nach Gott
Inhalt
Was wir wollen
Was wir vorbereiten und beachten
1. Religion erleben
Der muslimische Ruf zum Gebet
Kazim hört den Ruf zum Gebet
Bilāl, der erste Rufer
Glocken – der christliche Ruf zum Gebet
Ausrufen
2. Religion erzählen
Wie Mose berufen wurde. Leas Mutter erzählt
Wie Mohammed berufen wurde. Kazims Vater erzählt
Gott ruft Samuel. Leas Mutter erzählt
Ein Riecher für Gott?
3. Religion vollziehen
Kazim antwortet
Lea antwortet
Wie kann ich Gott antworten?
Exkurse
Eine Moschee von innen
Eine Kirche von innen
4. Deine Religion – meine Religion
Was unterscheidet uns?
Können wir zusammen beten?
Lasst uns zusammen feiern!
Anhang
Islam: Wann gibt es Grund zum Feiern?
Muslimische Feste
Rezepte für Feste
Literaturverzeichnis
Zur Aussprache des Arabischen
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Was wir wollen
Dialog zwischen Muslimen und Christen – für viele christliche Kreise noch immer ungewöhnlich, für andere inzwischen selbstverständlich. Wo Kazim und Lea, Aishe und Kai nebeneinander im Klassenraum sitzen, wo Nachbarschaften, Fußballmannschaften und Arbeitskollegien türkisch-deutsch und sonst multinational besetzt sind und mein Freund eine Türkin
heiratet, da wird geredet, auch über Glauben, über Religion und Religionen.
Und doch im Detail fehlt es schnell an Wissen. Die christliche und die muslimische Religion
mit ihrem Alltag in Deutschland sind daher das Thema des Heftes.
Grundsätzlich ...
→ Begrenzte, religiös zentrale Punkte der Religionen stehen im Mittelpunkt.
Religion in ihrer Praxis und in ihrer Lebenskraft ist das primäre Thema des Religionsunterrichts. Ein kleines Fenster zur Religion wird geöffnet, ein Ausschnitt, um in die Tiefe zu gehen und genau hinzusehen. Ein allgemeiner Überblick verstellt eher den genauen, respektvollen Blick. Es geht um ein erstes Kennenlernen, dem andere folgen.
→ Religiöse Rituale, religiöse Gebrauchsgegenstände, religiöse Gebäude und religiöse Erzählung sind gleichgewichtig.
Sie alle haben auch in der staatlichen Schule das Recht mit Kopf, Hand und Herz wahrgenommen zu werden. Ausgewählte Stücke aus religiösem Gebrauch werden genauso vorgestellt wie Geschichten.
→ Religion lebt in den Menschen, die Religion praktizieren.
Daher führen Kazim und Lea durch diese Einheit, zwei Kinder, die auch außerhalb dieses
Buches genauso heißen und in Hildesheim ihre Religion ausüben. Sie können z.B. als Passbild auf Arbeitsblättern erscheinen – nicht als Illustration, sondern als „Kontextualisierung“,
um deutlich zu machen: Dieses Zeugnis einer Religion/dieses Arbeitsblatt hängt mit einem
ganz bestimmten Menschen zusammen, der so seine Religion ausübt.
→ Ausgeübte Religion und ihre Zeugnisse brauchen Aufmerksamkeit und Geduld mit allen
Sinnen zum Hinhören, Riechen, Schmecken, Sehen und Fühlen.
→ Das Fremde ist anders und darf anders bleiben. Dazu setzen wir bewusst Grenzen. Eine
fremde Geschichte, ein fremdes Ritual, ein fremdes Bild, sie alle haben ihren eigenen Ort und
zu ihnen gehören bestimmte Menschen, die mit ihnen umgehen. Wir zeigen dies durch Fotos
von Lea und Kazim, zu deren christlicher oder muslimischer Tradition eine Geschichte oder
ein Ritual jeweils „gehören“ („Nicht allen gehört alles“). Ein Foto von Kazim erscheint zum
Beispiel auf der Oberseite eines Blattes zu islamischen Bildern. Die Materialien werden so
verortet. Das Thema des Blattes gehört dann explizit zu Kazim und seiner Tradition, nicht zur
christlichen. Des Weiteren unterscheiden grüne und violette Wandtafeln die Ergebnisse aus
der Arbeit an islamischen und aus der Arbeit an christlichen Traditionen. Grün ist traditionell
die Farbe Mohammeds und der Muslime. Violett ist traditionell die Farbe der Kirche. Als
drittes leiten Geräusche oder visuelle Hinweise eine religiöse Geschichte ein und beenden sie.
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Sie erhält so ihren eigenen Raum als etwas Anderes, etwas Fremdes im Raum der Schule. Ein
Ausschnitt des Gebetsrufes leitet zum Beispiel eine islamische Geschichte ein, eine Glocke
eine christliche.
→ Religion schafft Tiefe durch das persönliche Verhältnis zu ihr, durch eigenes Berührtsein.
Fremde und eigene Tradition sollen in Bewegung setzen, um mit Körper, Seele und Geist in
Beziehung zu treten zu Ritualen, Gedanken oder Geschichten – zu den großen Fragen der
Menschen.
→ Klare Grenzen und die tiefere persönliche Auseinandersetzung bedürfen der Balance. Vor
dem Berühren des Korans waschen sich Muslime rituell – vielleicht macht es Sinn, den Respekt vor dem fremden Buch ebenso deutlich zu machen. Eine Grenze erhält so einen leiblichen Ausdruck. Mit Fragen schaffen wir Brücken zum Eigenen: Wie drücken wir Respekt
gegenüber unserer heiligen Schrift aus? Was verdient sonst in unseren Augen einen Ausdruck
des Respekts? Wie zeige ich ihn?
Die genannten sieben Punkte machen mein Interesse deutlich, fremde und eigene Religion
nicht nur auf der Sachebene zu behandeln, sondern sinnenhaft-gestalterische Erfahrungen mit
Religion bei den Schülerinnen und Schülern selbst anzubahnen; nicht die Grenzen zu anderen
zu verletzen und doch Raum zu geben zur persönlichen Auseinandersetzung. Wichtig bleibt
dabei: Es geht um Menschen. Und: Es geht um Erfahrungen mit Gott.
Es geht um Menschen
Lea und Kazim, die uns durch die Einheit begleiten sind, wie erwähnt, keine abstrakten, erfundenen Wesen. Sie heißen tatsächlich „Lea“ und „Kazim“34. Beide leben in Hildesheim. Sie
gehen in die vierte bzw. in die fünfte Klasse.
Lernen Sie die beiden Kinder vorab ein wenig kennen, damit Sie sie bei Nachfragen auch für
die Schulkinder mit Leben füllen können:
→ Kazims Großeltern väterlicherseits
kamen vor mehr als dreißig Jahren
nach Deutschland. Sein Vater wurde
noch in der Türkei geboren, ist aber
schon hier aufgewachsen. Er arbeitet
in einer Zulieferfirma der großen Fabrik in der Stadt.
Die Familie wohnt in einem kleinen
Haus. Im obersten Geschoss wohnen
die Großeltern, im mittleren Geschoss
der Onkel und im Erdgeschoss Kazims
Familie: Vater, Mutter, die fünfjährige
Schwester und Kazim.
34
Bild von Kazims Familie Foto 0.3
Sprich: Kásem (das „z“ wird wie ein stimmhaftes „s“ gesprochen, das „i“ – im Türkischen ohne Punkt – wie das
kurze, unbetonte „e“ in „laufen“).
83
In den Ferien fliegt die Familie einmal im Jahr in die Türkei zu den anderen Großeltern. Sie
leben in der Nähe von Izmir. Kazim freut sich auf die Besuche. Es gibt dort so viele Verwandte, dass es noch kein Mal in den Ferien gelungen ist, alle zu besuchen; irgendeiner wird immer ausgelassen.
Kazim spielt gern Fußball. Als Stürmer seiner Mannschaft hat er schon einige Pokale gewonnen, einmal ist er sogar als bester Stürmer ausgezeichnet worden. Auch Computerspiele spielt
er gern. Er hat schon einen eigenen Computer auf seinem Schreibtisch. Sein Lieblingsfach ist
Geografie.
Kazim geht am Wochenende regelmäßig in die Moschee. Er lernt dort, die arabische Schrift
des Korans zu lesen, und kann diese schwierige Schrift schon ausgesprochen gut. Die Sprache
Arabisch kann er noch nicht, aber allein die Worte lesen zu können, ist schon ein Anfang.
Bald wird er mit Lesen den ganzen Koran durchgegangen sein, dann gibt es ein kleines Fest.
Kazim kennt nur wenige Geschichten aus dem Koran; der Koran ist ja auch kein Geschichtenbuch, es ist ein Buch der großen und kleinen Gottesreden. Ihm entspricht das Rezitieren
des Gotteswortes im ureigenen arabischen Wortlaut. Und deshalb lernt Kazim, in fremder
Sprache Gottes Wort zu rezitieren. Sein liebstes Wort ist Bismilla: „Im Namen Gottes, des
Barmherzigen“, so beginnt jede Sure des Koran. Kazim weiß, was man als gläubiger Muslim
tun und was man lassen sollte.
Das rituelle muslimische Gebet hat Kazim mehr von den Großeltern gelernt als von den Eltern. Er kann schon alle Bewegungen und die nötigen Koranverse. Die Großmutter hat es ihm
Stück für Stück beigebracht.
Sein Vater meinte zum Gebet: „Ganz regelmäßig habe ich nicht immer gebetet, beim Schichtbetrieb ist das auch schwierig; ich müsste eigentlich noch eine Menge nachholen.“ Seine Mutter hält guten Kontakt zur Moschee.
In der Kirche fragte Kazim zuerst: „Wer ist denn der da vorn?“ „Isa,“ sagte sein Vater, „den
die Christen ‚Jesus’ nennen.“
→ Leas Eltern sind in der DDR aufgewachsen, in der Nähe des Harzes.
Bild von Leas Familie
Lea hat eine ältere Schwester, die
schon mit ihrem Freund zusammengezogen ist und nicht mehr zu Hause
Foto 0.4
wohnt. Die jüngere Schwester besucht
die erste Klasse.
Leas Vater arbeitet in der großen Fabrik der Stadt, Leas Mutter hilft in einem Hotel am Empfang aus. Sie ist
sehr engagiert in der kirchlichen Arbeit im Kindergottesdienst, bei Familiengottesdiensten und darüber hinaus.
Leas Vater ist nie Mitglied der Kirche
gewesen, kommt aber ab und zu mit.
Die Familie wohnt in der Mietwohnung in einem großen Haus. Die Wohnung hat zwei Etagen
und Lea ist ganz stolz, dass sie vor kurzem in die zweite Etage umziehen konnte, als ihre
Schwester ausgezogen ist. Jetzt hat sie oben ihr eigenes Reich.
Lea geht regelmäßig in den Kindergottesdienst ihrer Gemeinde. Er findet immer am Freitagnachmittag statt. Auch zu Hause liest Lea gern in der Kinderbibel. Sie kann gut die Hälfte der
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Geschichten nacherzählen. Auch die Geschichten aus diesem Heft – von Mose am Dornbusch
und von Samuel – kannte sie schon. Ob sie eine Lieblingsgeschichte in der Bibel hat, kann sie
schwer sagen; es gibt einfach zu viele davon, die ihr gefallen.
Die Mutter hat immer sehr viel Wert auf die christliche Erziehung gelegt. Sie hat Lea beigebracht, abends zu beten. Im Augenblick tut Lea das nicht besonders regelmäßig. Regelmäßig
wird von der ganzen Familie vor dem Mittagessen gebetet.
Lea singt in ihrer Freizeit in einem Kinderchor. Ihr Lieblingslied ist „Herr, deine Liebe…“
In der Moschee hat ihr die Gebetsnische spontan gefallen.
Es geht um Erfahrungen mit Gott
In diesem Band wird das theologische Thema „rufen und gerufen sein“ behandelt. Beginnend bei den äußeren Phänomenen
Bild vom Koran
des muslimischen Gebetsrufs und dem christlichen Glockenläuten im ersten Kapitel, beschäftigt sich das zweite Kapitel mit
der Erfahrung, dass prophetische Menschen eine „Ansprache
Gottes“ in außergewöhnlicher Weise erfahren haben. Sie hörten
oder sahen etwas von einem Gottesboten und erhielten einen
Auftrag.
Dieses Angesprochensein durch Gott ist im christlichen wie
muslimischen Glauben jedoch nicht auf einzelne große Religionsgestalten beschränkt. Im
dritten Kapitel geht es darum, dass Christen wie Muslime sich von Gott angesprochen wissen
können und je auf ihre Weise „Gott antworten“ und zu ihm sprechen.
Aufgetragen ist beiden bei allen Unterschieden zwischen ihren Religionen ein Leben des
Friedens und der Liebe in Gott; diesem kann bei allen Unterschieden gemeinsam in einer besinnlichen Andacht und in einem fröhlichen Fest Gestalt gegeben werden; davon handelt das
vierte und letzte Kapitel.
Lehren und Lernen
Gelernt werden kann im Zusammenhang mit anderen Religionen auf einer Vielzahl von Ebenen – angefangen beim Schlichtesten, dem Wahrnehmen des anderen und den neuen Vokabeln.
Die Schülerinnen und Schüler können
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auf der Ebene der Sinne: genau hinhören auf etwas Fremdes; Fremdes riechen, fühlen,
schmecken und ansehen;
zur aufmerksamen Wahrnehmung von Unbekanntem heranziehen;
auf der Ebene des Wortschatzes: sachgemäß verstehen und verwenden: „Muslim/Muslima“, „Minarett“, „Moschee“, „Islam“, „Azzan/Ezan“, „Offenbarung“ u.a.;
auf der Ebene der (Kinder-)Theologie: islamische und christliche Geschichten inhaltlich wiedergeben, in denen Gott Menschen gerufen hat, und die Vorstellung kennen
und werten, dass Gott jeden Menschen ruft;
auf der Ebene des Sozialverhaltens: Andersartigkeit unter Menschen zunächst respektvoll hinnehmen, z.B. einen fremden Laut genau anhören und, auch wenn er als „lustig“ empfunden wird, um der anderen willen das Lachen zurückhalten.
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auf der Ebene des Dialogs: die Unterschiede und Grenzen zum Fremden achten und
doch mit eigenen Erfahrungen ins Gespräch mit dem anderen treten.
auf der Ebene der Persönlichkeitsbildung: den Fragen und Anstößen des religiösen
Materials eine eigene gestaltete Antwort geben in leiblicher, bildnerischer, lautmalerischer, musikalischer oder anderer Form.
Was wir vorbereiten und beachten
→ Laden Sie muslimische Kinder der Klasse nach Absprache mit den Eltern für diese Einheit
in Ihren Religionsunterricht ein.
→ Unterlegen Sie zwei deutlich voneinander unterschiedene Wandbereiche
•
mit grünem Papier (Grün ist traditionell die Farbe Mohammeds und der Muslime) –
für Ergebnisse, Bilder oder Gegenstände im Zusammenhang mit dem Islam;
•
mit lilafarbenem Papier (Violett ist traditionell die Farbe der ev. Kirche) – für Ergebnisse, Bilder oder Gegenstände im Zusammenhang mit dem Christentum.
Sie können einen gezackten, reißverschlussartigen Mittelbereich für Überschneidungen vorsehen, der allerdings nicht leichtfertig mit allzu viel Material gefüllt werden sollte; Grenzen
sind wahrzunehmen und zu wahren. Zur Unterstützung kann auf die eine Seite ein Bild von
Kazim und auf die andere Seite ein Bild von Lea gehängt werden.
→ Bringen Sie eine große Wortschatz-Tabelle an der Wand an (und geben Sie den Kindern
eine kleine Tabelle für die Mappen; M1). Sie kann, Stück für Stück ergänzt, wichtiges Wortmaterial aus dem Unterricht aufnehmen:
A) Kazim ist
__________,
seine Schwester
ist
____________.
[Platz für ein Bild]
C) Kazim geht in die
_____________ . [Platz für ein Bild]
E) Der ____________ ruft Muslime auf zum
Gebet.
Usw. (s. M1)
B) Lea ist
______________,
Ihr Vater ist
______________ .
[Platz für ein Bild]
D) Lea geht in die
______________ [Platz für ein Bild]
F) Die _____________ rufen zum christlichen
Gottesdienst.
Usw. (s. M1)
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→ Benutzen Sie das Wort „Allah“ lieber nicht als muslimischen Eigennamen für Gott, selbst
wenn Muslime es so gebrauchen. „Allah“ wird auch von arabischen Christinnen und Christen
als Wort für Gott verwendet, ebenso in der neueren Religion der Bahai. Es kann in der heutigen Verwendung einfach als „Gott“ übersetzt werden und sollte entsprechend vermittelt werden (grammatisch korrekt auch: „der Gott“). Ich gebrauche im deutschen Text durchgehend
das deutsche Wort. Die Übersetzung des Wortes „Gott“ ins Arabische mit „Allah“ führen wir
als einen unter vielen Punkten in der Wortschatztabelle ein.
→ Auch muslimische Schüler stammen nicht unbedingt aus besonders gläubigen Familien!
Selbst wo es so ist, wissen sie mit ihren neun, zehn oder auch elf Jahren längst nicht alle Hintergründe. Andererseits kann es sein, dass sie zu den Geschichten und Ritualen Variationen
kennen, die hier nicht aufgeführt werden. Es lohnt sich nachzufragen, offen zu bleiben, in
Betracht zu ziehen, dass Schüler mehr wissen – aber auch durchaus einmal nichts.
→ Bei den Sachinformationen und den Geschichten über eine andere Religion kann man
leicht das aus den Augen verlieren, womit die Schülerinnen und Schüler in ihrem eigenen
Inneren „umgehen“ oder auch „schwanger gehen“ können, das, wofür sich der Dialog persönlich lohnt, nämlich von anderen für sich selbst zu lernen und mit dieser „Aufgabe“, die das
Fremde für mich mit sich bringt, gestaltend umzugehen. Wir haben daher für jedes Großkapitel neben einer Zielperspektive auf der Ebene „religionskundlicher Kompetenz“ einen „existenziellen Herzschlag“ der entsprechenden Sequenzen formuliert. Letzterer macht die innere
Seite des Lernens aus. Wenn Sie diesen vorgeschlagenen oder einen anderen selbst gewählten
„Herzschlag“ im Gespür behalten, kann aus der bloßen Information über eine andere Religion
der Beginn eines Religionsdialogs im Klassenzimmer werden.
4 Meine Religion – deine Religion
Was Sache ist
„Identität und Verständigung“ sind die beiden Eckpfeiler, zwischen denen interreligiöse Dialoge sich abspielen. In den vorausgegangenen Unterrichtsvorschlägen haben sich die Kinder
(stellvertretend Lea und Kazim) ihre Glaubenstraditionen und -bezüge vorgestellt. Unterschiedliches und Gemeinsames sind dabei ganz selbstverständlich entdeckt und benannt worden. Und das ist gut so. Dennoch ist die Frage irgendwann „dran“, was aus den erkannten
Gemeinsamkeiten und Unterschieden folgt: Was gehört unaufgebbar zu christlicher bzw.
muslimischer Glaubensidentität, welche Grenzüberschreitungen sind im Interesse der Verständigung möglich und sinnvoll?
→ Was unterscheidet uns?
Die christliche und die islamische Tradition haben viele Gemeinsamkeiten. Beide sind monotheistisch und haben beide ein Buch im Zentrum ihres Glaubens, den Koran und die Bibel.
Beide leiten sich aus der jüdischen Tradition und der Tradition Jesu her und kennen viele gemeinsame Gestalten, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden können. Es beginnt
bei Adam, Noah (Nūh) und Abraham (Ibrāhīm), geht über Jakob (Ya’qūb), Josef (Yūsuf) und
Mose (Mūsā) bis hin zu Johannes dem Täufer (Yahyā), Jesus (Îsâ) und Maria (Maryam). Sie
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alle sind bei Muslimen hoch geehrt und werden als Propheten verstanden. Im Detail können
sich die Geschichten zu diesen Personen allerdings deutlich unterscheiden.
Gemeinsam betonen Christen und Muslime auch die Barmherzigkeit Gottes. Die Muslime
berufen sich auf sie vor jeder Lesung einer Sure: „Im Namen Gottes, des Gnädigen, des
Barmherzigen …“.
Unterschiedlich sind die beiden jeweils wichtigsten Elemente des Glaubens: Koran und Jesus
Christus.
Die Person Jesu Christi trennt beide Seiten, auch wenn die Muslime Jesus ehren. Aus Sicht
der Muslime ist er jedoch nicht Gottes Sohn; die Mehrheit der Muslime meint, er ist auch
nicht am Kreuz gestorben; praktisch alle Muslime halten fest, dass seine Todesart nicht geklärt ist; von seiner Auferstehung nach drei Tagen ist den Muslimen nichts bekannt. Aus Sicht
der Muslime ist er ein Prophet, der viele Wunder vollbringen konnte. Er habe schon für seine
Zeit ausgesprochen, was Mohammed später verkündet hat.
Christinnen und Christen sagen demgegenüber: In Jesus Christus hat Gott in dieser Welt als
Mensch gehandelt. Wie das genau vorzustellen ist, ist ein Geheimnis; der Ausdruck für dieses
Geheimnis ist: Jesus Christus ist „Gottes Sohn“.
Gott ist in seinem Sohn für die Menschen an das Kreuz und in den Tod gegangen; das heißt:
Gott erlebt bewusst den Tiefpunkt des Menschseins, Tod, Leid und Schuldsprechung. Seitdem
können alle wissen, dass Gott auch in Tod, Leid und Schuld an der Seite der Menschen ist,
dass er dieses Schicksal kennt. Seine Auferstehung zeigt, dass Gottes Kraft stärker ist als alles
andere. Gott überwindet für die Menschen Tod, Leid und Schuld, damit sie einmal ganz mit
ihm vereint sein können.
Der Koran ist der zweite Unterscheidungspunkt. Er hat für Christinnen und Christen keine
besondere Bedeutung. Sie glauben nicht, dass hier vom Anfang bis zum Ende das Wort Gottes zu lesen ist. Ob an wichtigen Stellen Gottes Wort oder Gottes Geist zu hören ist, lassen
viele offen.
Der Koran ist für Muslime, wie oben ausgeführt, Buchstabe für Buchstabe Wortlaut Gottes,
das durch den Engel Gabriel an Mohammed erging.
→ Können wir zusammen beten?
Manchmal sagt man die gleichen Worte und meint doch Verschiedenes, eine scheinbare
Übereinstimmung entsteht, hinter der sich doch recht unterschiedliche Ideen verbergen.
Christinnen und Christen feiern ihre Gottesdienste im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes
und des heiligen Geistes, Muslime empfinden diese dreiteilige Bezeichnung Gottes als anstößige Aufteilung des unteilbaren Gottes. Muslime feiern ihre Gottesdienste im Rückgriff auf
die „unverfälschte Offenbarung des Wortes Gottes im Koran“, Christen finden darin keine
besondere Offenbarungsbotschaft für ihr Glauben.
Im Respekt vor dem eigenen Bedeutungsgehalt des Wortes „Gott“ für Muslime und dem anderen Bedeutungsgehalt desselben Wortes „Gott“ für Christen sollte man sehr vorsichtig bei
gemeinsamen Gebetsveranstaltungen zu sein.
• Gebetsformulierungen können andere ungewollt vereinnahmen.
• Das Formulieren von angemessenen Gebeten kann dazu führen, dass man sich verpflichtet fühlt, Unterscheidendes oder für andere eventuell Anstößiges zu unterdrücken. Das wäre eine falsch verstandene Toleranz.
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Sinnvoll ist ein Weg, wie ihn die EKD unter der Bezeichnung „multireligiöses“ Beten vorschlägt.35 In einem gemeinsamen äußeren Rahmen können Muslime ihre Gebete sprechen,
während die Christen zuhören und die Worte der Muslime bedenken, dann sprechen die
Christen Gebete, die Muslime hören zu und bedenken deren Worte. Eventuell sprechen noch
weitere, die an keine Gottheit glauben, ihre Wünsche auf ihre Weise aus.
Der äußere Rahmen sollte so schlicht wie möglich sein; und wir sollten nicht beginnen, diese
Gebete wiederum zu interpretieren, auch hier droht oft eine Vereinnahmung.
Diese Vorüberlegungen sollen niemanden verunsichern, sondern den respektvollen Blick
schärfen und gerade Mut machen, wenn es die Situation in der Schule oder der Klasse erlaubt,
auch gemeinsam eine kleine andächtige Runde von Christinnen, Christen, Muslimen und
möglicherweise Nicht-(so-)glaubenden zu wagen.
→ „Lasst uns zusammen feiern“
Ein Fest hebt heraus aus dem Alltag, es hat seine eigenen Regeln der Freude und ermöglicht
neue Beziehungen zwischen den Menschen. Es ist interpretationsoffen. Wer mag, kann in
einem Fest mit Christen und Muslimen Jesu Geist am Werke sehen, der immer wieder und
gern mit verschiedenen Menschen gefeiert und gegessen hat, der von Gottes Fest mit den
Menschen erzählt hat und dessen Gegner ihn für seine Freude am feiernden Essen und Trinken kritisiert haben (Mt 11,19; Lk 7,34).
Muslime mögen hier Gastfreundschaft als wichtiges mitmenschliches Gebot Gottes sehen.
Ein Fest ermöglicht Gespräche jenseits eines schulischen Rahmens und jenseits eines festen
Strukturrahmens.
Neue Kräfte werden freigesetzt, neue Beziehungen werden möglich und neues Verstehen wird
angebahnt. Im Schmecken wird Andersartigkeit noch einmal neu wahrgenommen und verbindet doch zugleich.
Was die Schülerinnen und Schüler davon haben
Religionswissenschaftliche Kompetenz: Die Schülerinnen können wichtige Unterschiede zwischen christlichem und muslimischem Glauben benennen und Möglichkeiten gemeinsamer
Wege entwickeln.
Existenzieller Herzschlag: Im Wissen um die Unterschiede zwischen den Religionen probieren Schülerinnen und Schüler mit Herzen, Mund und Händen aus, wie sie spirituelle und gesellige Gemeinschaft praktizieren wollen, und erfahren dabei, was ihnen selbst die Form der
Gemeinschaft bedeutet.
35 Vgl. einschlägige EKD-Veröffentlichungen; aktuelle Liste unter www.kirche-islam.de. Vgl. auch H. Chr.
Goßmann (2003), „Interreligiöses Gebet“, PrTh 38/2, S. 123–127.
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Was unterscheidet uns?
Was wir brauchen
Foto V 8.4, Arbeitsblatt M34
Wie wir vorgehen
gWenn es räumlich möglich ist, setzen sich die Kinder heute vor die grün-violette Wand, an
der Ergebnisse, Bilder und die Wortschatztabelle hängen.
gSammeln Sie mit den Kindern die Unterschiede zwischen den beiden religiösen Traditionen. „Vielleicht sind auch noch Fragen offen geblieben?“; „Fällt euch etwas ein, was an der
Wand noch fehlt?“
gNennen Sie deutlich den Schwerpunkt der Stunde. „Ich habe euch heute etwas mitgebracht,
was beide Religionen sehr unterscheidet.“ (V8.4.)
Evtl. ist das Foto im Zusammenhang „Kirchenbesuch“ schon kommentiert worden; dann ist
hier eine inhaltliche Überleitung nötig. Es schließt sich folgende Erzählung an, die die Kinder
auf M34 mitlesen können:
Lea und Kazim sind in der Kirche
und Lea zeigt Kazim etwas, was bei ihr ganz anders ist als bei ihm.
Lea: „Guck mal, das ist Jesus.“
Kazim: „Stirbt der gerade?“
Lea: „Ja, seine Feinde haben dafür gesorgt, dass er an ein Kreuz genagelt wurde,
um ihn zu töten.
Eigentlich wollte er Gutes für die Menschen tun,
aber seine Feinde haben es nicht verstanden.
Das ist traurig, doch wir wissen, dass die Geschichte damit nicht aus ist.
Nach drei Tagen ist er auferstanden. Gott hat ihn auferweckt vom Tod.
Die ersten Christinnen und Christen haben begriffen:
Als Jesus am Kreuz gelitten hat, hat Gott selbst dort gelitten.
Als Jesus gestorben ist, ist Gott selbst dem Tod begegnet.
Gott hat ihn auferweckt, damit alle wissen,
dass Gott ganz mit Jesus verbunden war.
Kazim sagt: „Ich glaube nicht, dass Gott leiden und den Tod an sich selbst spüren kann.“
Lea: „So ein Kreuz habe ich bei euch auch nirgends gesehen.“
Kazim: „Wir haben keine Kreuze. Ich kenne den Mann auch:
Isa heißt er bei uns, das ist arabisch und heißt Jesus.
Er ist ein Prophet, aber er ist, glaube ich, gar nicht am Kreuz gestorben.
Gott hat ihm vorher geholfen, so dass ein anderer gekreuzigt wurde.“
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Lea: „Wir sind überzeugt: Jesus wurde gekreuzigt und
Gott erlebte mit ihm den Tod und hat ihn dann auferweckt.“
Kazim: „Dafür habe ich bei euch nirgends einen Koran gesehen.
Da steht doch Gottes Wort drin.
Warum ist er bei euch nicht in der Kirche?“
Lea: „Der Koran ist für uns nicht wichtig.
Keine Ahnung, ob da Gottes Wort drin steht.
Wir hören durch Jesus Christus von Gott.“
Kazim: „Eine ganze Menge Unterschiede sind das zwischen uns.“
Lea: „So bleibt wenigstens genug, worüber wir uns unterhalten können.“
gIm Nachgespräch sollten Koran und Jesus Christus als wichtigste religiöse Elemente der
jeweiligen Religion deutlich werden, durch die sich beide auch deutlich unterscheiden.
Gehen Sie (wieder) darauf ein, dass der Koran für Muslime wörtlich „Gottesrede“ ist, die
Bibel demgegenüber für Christen eine Sammlung von Erfahrungen mit Gott.
Sicherung
Neu in der Wortschatztabelle:
Q) Muslime glauben: Gott hat seinen Willen
in besonderer Weise mit Worten deutlich
gemacht, Wort, die jetzt in einem Buch stehen, dem ___________.
R) Christen und Christinnen glauben: Gott hat
seinen Willen in besonderer Weise mit dem Leben einer Person deutlich gemacht, dem Leben
von ______________.
r „Fallen euch noch weitere Unterschiede zwischen Kazims und Leas Religion ein?“
g Erarbeiten Sie mit der Klasse „Wichtigkeitsbilder“. Das geht so: „Faltet ein Blatt und malt
auf eine Seite einen Koran, auf die andere Seite Jesus Christus und ein Kreuz.“ Dazu wird
noch einmal besprochen: Der Koran ist das Wichtigste in Kazims Religion. Jesus Christus
und das Kreuz sind das Wichtigste in Leas Religion. Diese beiden sind die grundlegenden
Unterschiede.
r „Male hinten auf die „Koran-Seite“ etwas, das dich an Kazims Religion besonders angesprochen hat, hinten auf die „Kreuzseite“ malst du, was dir an Leas Religion gefällt.
Die violette und die grüne Seite unseres Aushangs helfen dir beim Erinnern.
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Literaturempfehlungen
Zum Nachschlagen
Adam, Lachmann, Ritter, Elementare Schlüsselbegriffe (TLL1), Göttingen 2002 (2. Auflage)
Adam, Lachmann, Reents, Elementare Bibeltexte (TLL2), Göttingen 2006 (3. Auflage)
Bitter, Englert, Miller, Nipkow, Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002
Klassiker
Baldermann, Ingo, Wer hört mein Weinen?, Neukirchen 2008 (9. Auflage)
Berg, Horst Klaus, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, München 1991
Berg, Horst Klaus, Grundriss der Bibeldidaktik. Konzepte, Modelle, Methoden, München 1993
Oberthür, Rainer, Kinder und die großen Fragen, München 1995
Oberthür, Kinder fragen nach Leid und Gott, München 1998
Schweitzer, Friedrich, Das Recht des Kindes auf Religion, Gütersloh 2005 (2. Auflage)
Schweitzer, Fdr. / Nipkow, K.E., Faust-Siehl, G. / Krupka, B., Religionsunterricht und Entwicklungspsychologie.
Elementarisierung in der Praxis, Güterloh 1997 (2. Auflage)
Materialien (Beispiele)
„Wer bist du, Gott?“. Eine Unterrichtseinheit zur Gottesfrage für die Klassen 3–6. Erarbeitet von Petra Freudenberger-Lötz. Stuttgart 2001
Schulz, Petra / Stockmann, Luise, Jesus. Stationen für Kinder. Kopiervorlagen für die Grundschule, Göttingen
2008
Spuren lesen. Religionsbuch für das 1./2. Schuljahr, hg. von Freudenberger-Lötz, P., Diesterweg und Calwer
Kinder fragen nach dem Leben. Religionsbuch für das 1. Und 2. Schuljahr, Cornelsen
Buck, E., Bewegter Religionsunterricht, Göttingen 2010 (5. Auflage)
Macht,. S., Wie ein Fenster zu Gott. Gleichnisse sehen lernen, Göttingen 2009
Religion, Empirie, Religiöse Sozialisation
Schweitzer, Friedrich, Lebensgeschichte und Religion, Gütersloh 2010 (7. Auflage)
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